Girl | Kritik: Victor Polster als tanzendes Transgender-Mädchen

Das belgische Transgender-Drama Girl nimmt einen bemerkenswerten Blickwinkel ein. Während viele Filme zu dem Thema den Reaktionen der Außenwelt viel Platz einräumen, legt Girl den Fokus auf den inneren Konflikt seiner Protagonistin. In keiner Szene weicht die Kamera von ihrer Seite. Das gesamte Umfeld des titelgebenden Mädchens ist so unterstützend, wie es scheinbar nur sein kann. Trotzdem ist der Druck für die junge Heldin schwer zu ertragen.

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Die mit dem Druck tanzt

Die 15-jährige Lara (Victor Polster) ist ein Transgender-Mädchen. Sie möchte sich einer Hormontherapie und Geschlechts-Umwandlung unterziehen. Gleichzeitig tanzt Lara leidenschaftlich Ballett an einer renommierten Akademie. Ihre sportlichen Ambitionen geraten in Konflikt mit den Hürden ihrer körperlichen Veränderungen.

Buch- und Filmtipp zum Thema »Transgender«:

  • Wenn Kinder anders fühlen – Identität im anderen Geschlecht: Ein Ratgeber für Eltern (Taschenbuch, 2016)
  • Tomboy (Blu-ray · Spielfilm, 2012)

Totale: Girl im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Girl ist ein Debütfilm. Der belgische Regisseur Lukas Dhont, geboren 1991, hat bis dato mit einigen Kurzfilmen sein Händchen für sensibles Storytelling bewiesen. Zuletzt mit L’Infini (22 Minuten, 2014) über einen Jungen, einen Mann und das Tier in uns allen. Als Dhonts erster Spielfilm lief Girl nun in der Sektion »Un Certain Regard« – zu deutsch: »ein gewisser Blick« – bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2018. Der Beitrag gewann die Caméra d’Or (Goldene Kamera) sowie die Queer Palm . Dabei handelt es sich um einen individuell gesponserten Preis für ausgewählte LGBT-Filme innerhalb der Filmfestspiele von Cannes.

Ebenfalls in Cannes ausgezeichnet wurde der Hauptdarsteller von Girl – Victor Polster, für seine schauspielerische Leistung als Transgender-Mädchen – mit dem Un Certain Regard Jury Award . Auf dem London Film Festival wiederum räumte Lukas Dhont im Oktober 2018 die Trophäe für den besten Debütfilm ab. Bei den Oscars 2019 ging der somit bereits vielfach ausgezeichnete Film Girl als belgischer Beitrag ins Rennen für die Kategorie »Bester fremdsprachiger Film«, wurde jedoch nicht nominiert (der Oscar ging an Alfonso Cuaróns Roma ).

Persönlicher Kontext

Mehr als das Thema des Films – Transgender – war mir nicht bekannt, als ich Girl am Donnerstag, 19. Oktober im Apollo Kino in Aachen zu sehen bekam. Es war der Kinosaal IV, in dem rund 20 Stühle auf eine kleine Leinwand ausgerichtet sind, während man von rechts durch die Wand noch dumpf das Theken-Geschehen von nebenan hört. Zumindest in stillen Szenen, von denen Girl so einige hat. Trotzdem entfaltete das Drama bei dem überschaubaren Publikum, mit dem ich diesen Film sah, eine enorme Wirkung.

Eher zufällig hab ich mich in den Wochen vor diesem Kinobesuch im Rahmen meines Fernstudiums mit Simone de Beauvoir (siehe den Beitrag: Gibt es das schwache Geschlecht? ) und Judith Butler ( Das Unbehagen der Geschlechter + Vorwort im Fokus ) auseinandergesetzt. Im Zuge dessen sah ich auch die WDR Doku über Transgender-Kinder , die ich Cisgender-Menschen als »Vorbereitung« auf den Film Girl empfehlen kann. Mir hat die Doku geholfen, gleich zu Beginn in den Film und die innere Zerrissenheit der Hauptfigur hineinzufinden – wobei es Girl im Laufe seiner rund 100 Minuten gelingt, auch ohne einen solchen »betreuten Einstieg« seine volle Wirkung als Identitätsdrama zu entfalten.

Randnotiz , zufällig gesehen: Auch in der WDR Doku über »Die Welt eines Autisten« kommt – eher nebensächlich, aber doch deutlich – zur Sprache, dass sich der Protagonist Markus im falschen Körper gefangen fühlt.

Close-up: Girl im Fokus

Erster Eindruck | zum Auftakt des Films

Wir lernen die 15-jährige Lara eines Morgens beim Aufwachen kennen. Ihr kleiner Bruder turnt auf ihr herum. Später sticht das Mädchen sich im Bad eigenhändig Ohrlöcher – und wird dabei von ihrem Vater überrascht, der aber locker reagiert. Das wäre dann auch schon die kleine Familie, die Lara als nächste Vertraute umgibt. Enge Freund*innen hat sie keine. Über die abwesende Mutter erfahren wir nichts. Den Beginn des Films markiert der Umzug in eine neue Stadt . Der Vater hat eine neue Arbeit gefunden, der Bruder die Schule gewechselt – nur, damit Lara an einer der besten Akademien des Landes ihren Traum verwirklichen kann: professionell Ballett tanzen.

Ebenfalls sehenswert: Die Filme Billy Elliott – I Will Dance (apropos Ballett) und Herzen schlagen laut mit Kiersey Clemons (apropos Vater-Kind-Beziehung), sowie die Serie Pose über die LGBT-Community im New York der 80er Jahre.

Schon früh drängt sich das Gefühl auf, man säße in einem rasenden Zug, der zum Entgleisen verurteilt ist . Da zwingt sich ein Mädchen während der Pubertät zu einem schmerzhaften Extremsport, der ihr ein unerbittliches Training aufzwingt. Gleichzeitig soll eine Hormontherapie eingeleitet werden, samt einer Geschlechtsumwandlung. Die unmittelbaren Nachwirkungen der notwendigen Operation – sie werden Lara in aller Klarheit von Fachleuten erklärt – dürften ihr das harte Ballett-Training zumindest für eine Zeit lang unmöglich machen. Und »eine Zeit lang« ist zu lang für die tänzerischen Ambitionen, die Lara verfolgt. Das Dilemma ist klar. Der Druck spürbar. Und man wünscht sich von irgendwoher eine helfende Hand, die der Heldin das Gewicht von den Schultern nimmt. Dass selbst eine noch so aufopferungsvolle Elternfigur diese helfende Hand nicht sein kann, wird im Verlaufe des Films auf erdrückende Weise klar.

Hier gibt’s die Filmkritik als Video :

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Der Regisseur überfrachte sein Thema, schreibt Barbara Schweizerhof ( ZEIT Online ) – und arbeitet als Schwachstelle des Films die Ballettszenen heraus. Allerdings mit der Bemerkung, dass Dhont »die problematischen Realitäten einer Ballerinakarriere mit Magersucht und Körperverschleiß« ausblende – wobei doch eine Berücksichtigung auch noch dieser Aspekte erst recht eine Überfrachtung des Films mit sich gebracht hätte. Angesichts der (im entsprechenden ZEIT -Artikel berücksichtigten) Tatsache, dass Girl vom Leben eines echten Transgender-Mädchens mit Ballerina-Ambitionen inspiriert wurde, erscheint mir die Überfrachtung als das eigentliche Thema des Films: Es ist der Druck von innen und außen, um den sich Girl dreht.

Aber muss es denn ausgerechnet das strenge Ballett sein, möchte man der 17-Jährigen zwischendurch zurufen, Weiblichkeit hat doch noch so viel mehr Ausdrucksformen in der Welt.

Barbara Schweizerhof ( ZEIT Online )
Gefangen in der Zweigeschlechtlichkeit

Ja, es muss ausgerechnet das strenge Ballett sein. Warum das so ist, kann man die Filmheldin fragen wollen – oder gleich Nora, jene echte Transgender-Ballerina. Erstere ist die Figur eines Drehbuchs, Letztere das Kind einer prägenden Gesellschaft. Wenn Schweizerhof dem Regisseur vorwirft, durch eine Reduktion seiner Hauptfigur »auf den Konflikt des Gefangenseins im falschen Körper« sperre er sie »damit erst reicht ein in ein duales Geschlechterschema« – dann geht dieser Vorwurf ins Leere. Denn das Gefangensein im dualen Geschlechter-Schema ist doch der Ursprung des Problems , um das sich dieser Film dreht.

Gleichzeitig zu kritisieren, Girl reduziere sich auf einen Konflikt und sei gleichzeitig mit all den zerrenden Mächten, die einen solchen Konflikt erst ergeben, überfrachtet, das mutet mir nach einem etwas zu bemühten Anspruch an einen Debütfilm (!) an. Auch den »Betroffenheitskitsch«, den etwa die Filmkritikerin Antje Wessels ( Wessels Filmkritik ) trotz wohlwollender Haltung der zweiten Hälfte von Girl zuschreibt, kann ich selbst in dem Film nicht wiederfinden. Im Gegenteil empfand ich die angespannte Atmosphäre zum Auftakt der Geschichte sehr nachvollziehbar gesteigert, gehalten und in einem geradezu unausweichlich scheinenden Ende gelungen aufgelöst.

Regisseur Lukas Dhont im Interview zu dem Film Girl (Englisch):

Wer darf Transgender-Menschen spielen?

Lukas Dhont erzählt im Interview, dass für die Hauptrolle von Girl sowohl Cisgender-Jungen und Mädchen als auch Transgender-Jugendliche gecastet worden seien. Die Wahl fiel auf Victor Polster , weil er den schwierigeren Herausforderung dieser besonderen Rolle – nicht zuletzt im Tänzerischen – am besten gewachsen war.

Nun hat vor kurzem die Schauspielerin Scarlett Johansson ( Her ) Schlagzeilen gemacht , weil sie von einer Transgender-Rolle in dem Projekt Rub and Tug zurückgetreten ist. Der Grund waren lautgewordene Vorwürfe, die Rolle solle von einem Transgender-Menschen gespielt werden. Diese Idee klingt, abhängig vom zugrunde liegende Prinzip, ziemlich absurd. Schauspiel ist die Darstellung performativer Akte – etwas, das nach heutigem Verständnis dem sozialen Geschlecht (aka Gender) verdächtig nahe kommt: Wir performen, wer wir in unserem Leben zu sein empfinden. Und Schauspieler*innen performen, wer auch immer sie auf der Bühne oder vor der Kamera gerade zu sein vorgeben.

Die Forderung, eine Transgender-Figur müsse von einem Transgender-Menschen gespielt werden, regt zu dem Vergleich an, dass auch Väter nur von Vätern und Politikerinnen nur von Politikerinnen gespielt werden dürften. Man mag diesem Vergleich einen Kategorien-Fehler ankreiden: Eine Familienrolle oder ein Berufsbild seien doch nicht vergleichbar mit dem sozialen Geschlecht. Aber warum eigentlich nicht? Weil Letzteres fix ist? Diese Behauptung geht mit der Idee einher, dass das soziale Geschlecht außerdem an ein körperliches gebunden sei – und eben diesen allzu etablierten Gedanken sollen uns Filme wie Girl doch zurecht austreiben.

Stars, weil sie Stars sind

Wir haben uns daran gewöhnt, dass Männer in Frauenrollen schlüpfen (siehe etwa Divine in Hairspray ). Und Frauen in Männerrollen (Cate Blanchett in I’m Not There ). Ebenso sollten Transgender-Rollen unabhängig vom Gender besetzt und gespielt werden dürfen. Der einzige legitime Grund, sich etwa über die Besetzung von Scarlett Johansson in einer Transgender-Rolle zu beschweren, ist die anzunehmende Motivation, dass damit ein kommerziell einträchtiger Star einer womöglich schauspielerisch geeigneteren Person vorgezogen wird. Aber selbst diesen Grund müsste man dann im gleichen Maße auf alle Hollywood-Filme anwenden, die nach diesem Motiv verfahren: Ein Star wird ob seines Star-Faktors besetzt.

Wie angenehm, dass ein solch leiser, kleiner Debütfilm wie Girl in solch schlauchende Endlos-Debatten nicht reingezogen wird. Einfach, indem gar keine Stars beteiligt sind, sondern einfach nur sehr fähige Menschen.

Beileid aus der Transgender-Community

Es gibt noch einen anderen Grund, darauf zu bestehen, dass eine Transgender-Person für eine Transgender-Rolle besetzt wird – nämlich der, dass diese Person dann wenigstens (stellvertretend für die ganze Community) dafür bezahlt wird. Und zwar eine Entschädigung, sozusagen. Hier die harsche Gegenrede zu meinem Loblied auf den Film, geschrieben von einer IMDb-Userin, die Girl mit 1 von 10 Punkten abstraft:

Wenn männliche, nicht-transsexuelle Regisseure darauf bestehen, die Trans-Community alljährlich mit der Verlässlichkeit eines Uhrwerks zu demütigen, dann könnten sie wenigstens eine*n von uns dafür bezahlen. Dieser Film trifft alle wunden Punkte: Trans-Mädchen gespielt von einem Cisgender-Mann, nicht-transsexueller, männlicher Autor, fetischisierende Darstellung von Genitalien, »Du wirst nie echt sein«, Demütigung, Selbsthass, Selbstverletzung… Ich bin eine Trans-Frau. Ich lebe dieses Leben und ich kenne Menschen, die dieses Leben leben. Der schlauchende Tropus, den dieses Drehbuch auf die Leinwand klatscht, ist – obwohl enthusiastisch gespielt und übersprudelnd vor Schweiß und Tränen seitens des ganzen Produktionsteams – jenseits von beleidigend, schlichtweg falsch.

Es ist als wenn ein Mann versuchen, sich die Erfahrungen einer Frau vorzustellen – um dann Teile dieser Vorstellung in ein recyceltes Skript zu schreiben, einen Mann für ihre rolle zu casten, und… warte, nein, es ist nicht »als wenn« so, es ist »genau« so. Mein Beileid gilt den Schauspielern und der Crew, die offensichtlich ihr ganzes Können in etwas investiert haben, das momentan lautstark von der Transgender-Community bedauert wird.

IMDb-Review der Userin professrimdb (übersetzt aus dem Englischen)
Spielen, tanzen, suchen, finden…

Dem erneut angeführten Vorwurf der Besetzung eines Cisgender-Mannes für eine Transgender-Frau möchte ich hinzufügen, dass die hier geforderte »(geschlechter-)politische Korrektheit« ein wenig an der Realität einer Filmproduktion vorbei zielt. Immerhin war hier die ohnehin schon seltene Kombination von großen Schauspiel- und Ballett-Fähigkeiten gesucht. Nach diesen Kriterien – und nicht nach einer bestimmten Geschlechtsidentität – wurde gecastet, gender-neutral und ziemlich lange. Laut Robert Hofmann bedurfte es über 500 Schauspieler*innen, ehe die Wahl schließlich auf Victor Polster fiel.

Randnotiz: Mir drängt sich erneut der Verdacht auf, dass »wir« alle – Frauen, Männer, Cis- und Transgender, Hetero- und Homosexuelle – unsere jeweilige Zugehörigkeit als Zugehörigkeit zu einer »Einheit« zu denken verlockt sind. Dabei ist die Cisgender- ebenso wie die Transgender-Community in sich genauso bunt und verschieden, wie »wir« als Gesamtheit.

Fazit zu Girl

Mich persönlich hat der Film emotional gepackt. Der Druck, unter dem die Hauptfigur leidet, wurde spürbar, insbesondere gen Ende unerträglich. So erging es auch den (Cisgender-)Frauen, die neben mir im Kino saßen und mit denen ich den Film anschließend diskutierte. Im Namen dieses kleinen Cis-Testpublikums wage ich trotz oben zitierter Gegenrede das Fazit: Girl ist ein gelungener Debütfilm, von einzelnen Szenen bis hin zur Gesamtstimmung. Der Film ist stark besetzt und von einer präzisen Kameraarbeit begleitet. Man achte auf die Spiegelbilder im Film, die ohne Worte viel über das Innenleben der Hauptfigur erzählen.

Dennoch geht mir die Kritik seitens besagter Transgender-Frau nicht aus dem Kopf. Bemerke ich hier stereotypische Erzähl-Traditionen nur deshalb nicht, weil ich zu isoliert in meiner Cisgender-Bubble bin? Dieser Frage möchte ich auf den Grund gehen und mir gezielt die Filme von Transgender-Regisseur*innen ansehen. Eine Zusammenstellung bemerkenswerter »Trans and Gender Nonconforming« Filmemacher*innen findet man bei IndieWire (Englisch).

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