Das mexikanische Filmdrama Roma ist ein Herzensprojekt des gefeierten Regisseurs Alfonso Cuarón ( Gravity ) – und man merkt es dem Werk in jeder seiner langen Einstellungen an. Cuarón schrieb das Buch, er führte Regie und die Kamera und die Geschicke beim Schnitt. Mehr aus einer Hand geht’s kaum, bei einem Film dieser Größenordnung. Roma dauert 135 Minuten und spielt in den 1970er Jahren. Erzählt wird die Geschichte von Cleo (Yalitza Aparicio).
Hinweis: Dieser Blogbeitrag enthält keine »Spoiler« (ein Begriff, der so gar nicht in den Kontext dieses Filmes passt – hier geht es nicht um Twists, sondern Tiefe, Weite, Schönheit, Schmerz…). Hier geht’s zu aktuellen legalen Streaming-Möglichkeiten .
Vertrieben um zu dienen
Die Mixteken sind eine Gruppe mexikanischer Ureinwohner mit Wurzeln in der Mixteca-Region. Dort lebten sie bis zur spanischen Eroberung, in Folge derer sie schließlich – im Laufe des 20. Jahrhunderts – wegen zunehmender Armut ihre Heimat verlassen und in die Großstädte ziehen mussten. Roma ist ein Viertel in Mexiko-Stadt. Dorthin hat es die Mixtekin Cleo verschlagen…
Zum Inhalt: Cleo Gutiérrez arbeitet als Dienst- und Kindermädchen für die Familie Antonio in Mexiko-Stadt. Im Haushalt leben neben Mutter und (selten anwesendem) Vater noch vier Kinder samt Großmutter und Hund. Es gibt alle Hände voll zu tun. In der wenigen Freizeit, die Cleo hat, kommt sie einem jungen Mann namens Fermín näher – mit schwerwiegenden Folgen.
»Para Libo«
Gewidmet ist der Film – so die erste Einblendung vor dem Abspann – einer gewissen »Libo«. Dabei handelt es sich um Liboria Rodríguez, einem Dienstmädchen aus dem Haushalt der Familie Cuarón. Denn Roma ist ein sehr persönlicher Film des Regisseurs.
80 Prozent der Szenen im Film entstammen meiner Erinnerung. Wir haben in einem Haus gedreht, das die exakte Nachbildung des Hauses meiner Kindheit war. Die Familie in unserem Film ist identisch mit meiner Familie vor 40 Jahren, und diese Geschichte dreht sich um eine Person, die ich mit am meisten liebe.
Alfonso Cuarón im Gespräch mit Goldene Kamera
Zeitgeschichte nur am Rande
Jeder noch so gelungene Film findet seine Kritiker. Bei Roma ist es niemand geringerer, als Richard Brody ( The New Yorker ), der sich zu einem regelrechten Zerriss des Films verpflichtet fühlt. Ihm ist die Hauptfigur zu still und das ganze Drumherum zu wenig dokumentarisch. Zu verschiedenen Themen, die Roma nur am Rande anschneidet, fragt Brody:
Wie lautete die Gesetzeslage Mexikos zu der Zeit? Waren die gezeigten Vorgänge üblich, ungeachtet legaler Strukturen? […] Worum geht’s da genauer? […] Was waren die Besonderheiten der politischen Konflikte in Mexiko?
Richard Brody ( The New Yorker )
Okay, Roma war also nicht der Film, den Brody sehen wollte. Wer sich hingegen auf Cuaróns Werk einlässt, ohne es mit Fragen zu löchern, die ein Filmdrama rund um das Schicksal eines Kindermädchens nun wirklich nicht beantworten muss, wird eine bewegende Geschichte in bedrückender Schönheit erzählt bekommen. Dass im Hintergrund etwa, während studentischer Unruhen, das Fronleichnam-Massaker von 1971 angedeutet wird, muss man schon vorweg wissen oder anschließend recherchieren – Roma bleibt als Drama mit dem Fokus ganz bei seiner Hauptfigur Cleo.
Die Kraft sanfter Schwenks
Mein Eindruck des Films ist noch frisch, doch ich habe keinen Zweifel, dass die Begeisterung lange nachwirken wird. Roma ist nicht nur in wundervollen Bildern erzählt – von der ersten bis zur letzten Einstellung, die dem Werk einen bescheiden-schönen Rahmen geben – sondern entfaltet durch seine ruhige Kameraführung auch eine ungeahnte Kraft. Sämtliche Szenen sind mit wenigen Einstellungen, zuweilen nur einer Einzigen gedreht, oft bloß ein sanfter Schwenk durch ein sorgsam inszeniertes Panorama. Anders als Cold War (2018), der – ebenfalls in schwarzweißen Bildern – die 50er Jahre Polens und Frankreichs im schmalen 4:3-Format heraufbeschwor, setzt Cuarón für die 70er Jahre Mexikos breite, weitschweifige Aufnahmen.
Kein nostalgisches Rückblenden-Schwarz-Weiß, sondern ein digitales, mit tausend Farben Grau und einer verblüffenden Plastizität. Roma macht die Vergangenheit gegenwärtig, man lebt in ihr.
Christiane Peitz ( Die Zeit )
Liest man sich durch Kritiken zu Roma, macht es den Anschein, dass insgesamt wohl weniger über den Film geschrieben wurde, als seine Auswertungsgeschichte (Netflix statt Kino, trotz seiner cineastischen Güte und Wucht). Darum soll es hier nicht gehen, da ich den Film zwar via Netflix, aber trotzdem auf einer Leinwand sehen konnte – nicht halb so groß, wie in den meisten Kinos, doch groß genug, damit der Film seine ganze Wirkung entfalten konnte.
Lesetipp: Hier geht’s zur Filmkritik von Christiane Peitz ( Der Tagesspiegel ), mit reichlich Infos über die Streaming-Auswertung von Roma – unter dem Titel Bilderpracht und Branchenkrieg .
Fazit zu Roma
In großen Totalen toben Kinder, Tiere und die Elemente und lassen alles so unmittelbar und echt wirken, als entzöge sich das Geschehen vor der Kamera eine Regie. Das verschafft diesem durchaus schwermütigen Film eine beeindruckende Leichtigkeit und Authentizität. Es reizt, einzutauchen und mitzufühlen – auch wenn das, was Cleo erlebt, unsäglich schmerzhaft ist. Roma ist ein Meisterwerk. Das letzte Wort überlasse ich der Filmkritikerin Manohla Dargis.
Roma hat keine starke Geschichte; es gibt keine aufkommenden Vorfälle oder Geheimnisse zu lösen. Stattdessen erschafft Cuarón Szene für Szene eine feinkörnige Vision einer Frau und einer Welt, die von einer Kolonial-Vergangenheit geprägt ist, welche die Gegenwart unerbittlich belastet – am auffälligsten im surrealen Zwischenspiel voller Waffen, Diener und Feuersbrunst.
Manohla Dargis ( The New York Times )