Osama ist »der Film, den es bisher nicht geben konnte«. Das heißt: bis nach dem Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan im November 2001. Geschrieben und inszeniert von dem afghanischen Filmemacher Siddiq Barmak erzählt Osama die Geschichte eines Mädchenschicksals während der Taliban-Herrschaft. Es handelt sich um den ersten komplett in Afghanistan gedrehten Film, seit die Taliban 1996 das Filmemachen verbot. In Deutschland kam Osama am 14. Januar 2004 ins Kino.
Ein Mädchen im Männerstaat
Kabul in den späten 1990er Jahren. Die Kamera eines Dokumentarfilmers fängt eine Frauendemonstration ein. Hunderte Alleinstehende und Witwen fordern das Recht auf Arbeit ein, um sich und ihre Familien ernähren zu können. Unter der Taliban ist den Frauen nicht nur das Arbeiten untersagt. Sie dürfen auch nicht ohne männliche Begleitung das Haus verlassen. Falls doch, dann nur in Ganzkörper-Verschleierung. (Weil Männer beim Anblick von Weiblichkeit ihren Trieben erlegene Tiere sind, so die sinngemäße Rechtfertigung der Taliban.) Die Machthaber lösen die Demonstration mit Gewalt auf und wir folgen dem Mädchen Osama nach Hause. Dort lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in Elend und Hunger. Die Großmutter kommt auf die Idee, dem Mädchen die Haare abzuschneiden. So kann es – als Junge verkleidet – Geld für die männer- und mittellose Familie verdienen kann, unter ständiger Lebensgefahr.
Die Art des Storytellings, die uns mit der Situation der Frauen vertraut macht, mutet etwas holprig an. Da werden entgegen des ungeschriebenen Film-Gesetzes »show, don’t tell« in aller Überdeutlichkeit Drehbuch-Zeilen formuliert wie »Wenn der Vater noch am leben wäre, dann würden wir wenigstens satt werden, Gott, du hast ihn mir genommen in den Kämpfen und Kabul – wenn wenigstens mein Bruder noch leben würde und nicht als Märtyrer gestorben wäre!« Was das mangelnde »Zeigen« von entsprechenden Bildern angeht, verwundern auch einige Szenen zu Beginn des Films, in denen die Protagonistinnen etwa Taliban-Mitgliedern begegnen, die jedoch nicht zu sehen sind. Die Kamera verweilt einfach auf der einen Seite des Gesprächs, ohne Gegenschuss. Das mag irritieren.
Golbahari: Bettlerin, Filmstar, Flüchtling
Doch wer will das einem Film vorwerfen, der für mutmaßlich unter 50.000 Dollar produziert wurde [zum Vergleich: das von Hollywood produzierte Afghanistan-Drama Drachenläufer verfügte über ein Budget von 20 Millionen (!) Dollar] und zwar überwiegend mit Laien. Die Hauptdarstellerin Marina Golbahari lernte der Regisseur Siddiq Barmak als bettelndes Mädchen kennen, das tatsächlich unter den Taliban gelebt – oder: überlebt – hat. Vor diesem Hintergrund ist ihr wirklich starkes Schauspiel umso ergreifender, muten Angst und Verzweiflung doch erschreckend echt an. Golbaharis Performance trägt maßgeblich zum enormen Erfolg des Films Osama bei, der den Golden Globe Award für »Bester fremdsprachiger Film« gewann und mit über 3 Millionen Dollar ein vielfaches seiner Produktionskosten einspielte.
Inzwischen, betont Regisseur Barmak im Interview (das als Bonusmaterial auf der DVD zu sehen ist), habe sich die Situation für Mädchen und Frauen in Kabul gebessert. Doch er betont: »Kabul ist nicht Afghanistan«. Und selbst wenn die Stadtbevölkerung des Landes als »weltoffener« gilt, sprechen bestimmte Entwicklungen doch für sich. Die Schauspielerin Marina Golbahari lebt aktuell in einer Asylunterkunft in Frankreich. Sie ist nach Todesdrohungen aus ihrer afghanischen Heimat geflohen. Der Grund für die Drohungen: Sie hat sich unverschleiert auf einem Filmfestival fotografieren lassen.
Lesetipp: Eine empfehlenswerte, ergänzende Lektüre zu dem Film Osama ist Siba Shakibs Buch Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen aus dem Jahr 2002, über das Leben der Afghanin Shirin-Gol. Kleiner Auszug:
Shirin-Gol hockt an der Ecke im Bazar, […] streckt ihre Hand unter ihrem Tuch hervor und bettelt. Das darf sie. Das ist keine Arbeit. Das dulden die Taleban [Schreibweise des Buchs]. Weil sie nicht selber für Shirin-Gol und die restlichen soundsoviel zigtausend Bettelfrauen aufkommen wollen. Betteln erlaubt.
Fazit zu Osama
Ein mutiges Filmprojekt , das Originalschauplätze in all ihrer Trostlosigkeit zeigt. Nicht nur damit beschwört er eine gespenstische Atmosphäre herauf. Osama strahlt Authentizität aus, in seinem schonungslosen Blick auf die rigorose Unterdrückung von Frauen. Vollzogen wird diese Unterdrückung von ungebildeten Männern, die sich auf einen schwammigen Ehrbegriff stützen. Der Film ist freigegeben am 12 Jahren (FSK). Er empfiehlt sich jedoch eher für Zuschauer*innen ab 15 Jahren als wichtiges Zeitdokument über die jüngere Geschichte und mittelalterliche Zustände im 21. Jahrhundert.