Der Autor von Im Rausch der Stille , Albert Sánchez Piñol, ist Anthropologe – und das merkt man seinem Insel-Abenteuer an. Der Regisseur von Cold Skin , Xavier Gens, ist Horror-Filmemacher – und auch das merkt man seiner Adaption dieses Abenteuers an. In beiden Werken geht es um den »schmalen Grat zwischen Mensch und Kreatur«, doch nur eines schert sich dabei spürbar um die Frage, was der Mensch eigentlich ist? Ein Vergleich zwischen Film und Vorlage.
Mehr oder weniger menschlich
Ein junger, desillusionierter Mann möchte Europa den Rücken kehren. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verschlägt es ihn auf eine einsame Insel nahe der Antarktis. Dort soll er als Wetterbeobachter arbeiten. Seine einzige Gesellschaft: Ein einsamer Leuchtturm-Wärter, der in Sichtweite wohnt. Doch wie sich schon bald herausstellt, sind die beiden Männer nicht allein auf der Insel.
Hinweis: Dieser Beitrag enthält keine Spoiler, was das Überleben auf der Insel anbelangt. Allein in den Absätzen »Einige Unterschiede« und »Mensch und Kreatur« werden Details besprochen, die sich manch Leser*in vielleicht selbst entdecken möchte. Der Film Cold Skin ist seit Anfang März 2019 via Streaming-Diensten verfügbar.
Totale: Cold Skin im Zusammenhang
Historischer Zusammenhang
In dem Roman Im Rausch der Stille (2002) erfährt man (im Rahmen einer Rückblende, die es nicht in den Film geschafft hat) über die Hauptfigur, dass es sich um einen irischen Freiheitskämpfer handelt. Dieser ist enttäuscht von seinen eigenen Leuten: Kaum an der Macht, entpuppen sie sich nicht weniger despotisch als ihre Vorgänger.
Von da an stellte sich mir nur noch eine Frage: Wollte ich in einer von Gewaltspiralen gesteuerten Welt bleiben, die das Unglück der Menschen endlos fortsetzte? Meine Antwort lautete nein, nie mehr und nirgends, und darum entschied ich mich für die Flucht in eine Welt ohne Menschen. 1
Dass diese Geschichte ausgerechnet von einem Iren erzählt, sorgte seit Erscheinen des Buchs (2005 auch in deutscher Übersetzung) für Diskussionsstoff. Denn geschrieben wurde der Werk auf katalanisch – womit es als ein Vertreter der überschaubaren Sparte katalanisch-sprachiger Literatur auf den Markt kam. Doch der Debütroman des Katalanen Albert Sánchez Piñol , der mit der Wahl des irischen Helden eine nationalistische Instrumentalisierung des Buchs durch sein eigenes Heimatland Katalonien umschiffte, ging seinen Weg: Übersetzt in mehr als 30 Sprachen gilt Im Rausch der Stille inzwischen als internationaler Bestseller, der 15 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung mit Cold Skin – Insel der Kreaturen nun auch aufwändig verfilmt wurde.
Buch & Film sind unter folgenden Links im Onlinehandel erhältlich:
- Im Rausch der Stille als Taschenbuch
- Cold Skin als Blu-ray
- Cold Skin als Stream (Prime Video)
Persönlicher Kontext
Mit dem Auftrag, anlässlich des Filmstarts in Deutschland eine Rezension zu Cold Skin – Insel der Kreaturen zu schreiben (für kinofilmwelt.de ), bin ich bei den Recherchen neugierig geworden: Die Romanvorlage wurde von einem Anthropologen geschrieben, so, so! Davon ist dem Film nicht mehr viel anzumerken, abgesehen von einer etwas plakativen Randnotiz (wortwörtlich: »Darwin was wrong!«, heißt es als Notiz in einem Logbuch).
Die Anthropologie ist die Wissenschaft vom Menschen, die im Anschluss an die Evolutionstheorie von Charles Darwin erst so richtig ins Rollen gekommen ist – zu einer Zeit, da Metaphysik und Religionen nichts Neues mehr herzugeben schienen und Naturwissenschaft noch nicht so weit war, das Wesen des Menschen mit Gewissheit zu bestimmen (ist sie heute noch nicht). Als naturwissenschaftliche Anthropologie untersucht diese Disziplin den Homo Sapiens als biologisches Wesen. Als philosophische Anthropologie – die mich im Rahmen meines Studiums an der Fernuniversität Hagen beschäftigt – geht es ihr um den Menschen als Subjekt, nicht als Objekt.
Was anthropologische Sichtweisen angeht, finden sich in Im Rausch der Stille sowohl naturwissenschaftliche als auch philosophische Beobachtungen. Besonders in die Tiefe gehen sie allerdings nicht.
Close-up: Cold Skin im Fokus
Erster Eindruck | zum Inhalt
Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als wir denken. Und deshalb glauben wir, dass wir denen, die wir lieben, nie ganz nah sind. 2
Roman und Verfilmung beginnen mit diesem Satz. Von manchen Leser*innen (siehe: Merthen Worthmann, DIE ZEIT ) wird er als dick auftragende, »scheppernde Sentenz« empfunden, andere (siehe: aus.gelesen ) sind davon »verzaubert«. Ich muss mich zu Letzteren zählen, die sich von großen Worten leicht beeindrucken lassen. Im Film Cold Skin – Insel der Kreaturen , wo ich diesem Satz (gesprochen aus dem Off) zum ersten Mal begegnet sind, wird er von einer beeindruckenden Eröffnungs-Einstellung begleitet:
Unten im Meer sehen wir Delfine, die unter einem Schiff her schwimmen – die Kamera fliegt durch den Delfin-Schwarm hindurch, durchbricht die Meeresoberfläche und steigt hoch bis zur Schiffsreling, an der unsere Hauptfigur steht. Im Film heißt der junge Mann »Friend«. Im Buch ist er der namenlose Ich-Erzähler, der mal seine Gedanken sprechen lässt, mal Tagebuch führt.
Dass mich der Kapitän an Land begleitete, verstand ich als zusätzlichen Freundschaftsdienst. Nichts verpflichtete ihn dazu. […] Er behandelte mich mit der Liebenswürdigkeit eines beauftragten Henkers. 3
Blumentopfscherbe im Nirgendwo
In der Tat überlässt der Kapitän – als er später mit seiner Crew wieder in See sticht – unseren Helden dem sicheren Tod, wie es aussieht. Die Insel so winzig, dass sie auf der Karte »unter dem farbigen Schnittpunkt der Breiten- und der Längengrade verschwand« liegt, laut jenem Kapitän »in dem am wenigsten befahrenen Ozean des Planeten, auf demselben Breitengrad wie die Einöde von Patagonien.« Eine »Blumentopfscherbe« nennt er diese Insel.
Der junge Mann soll in diesem Nirgendwo den Posten des Wetterbeobachters übernehmen. Doch sein Vorgänger ist verschollen, dessen Haus verwüstet. Als sich unsere Hauptfigur trotzdem darin einrichtet, erlebt sie dort ihr blaues Wunder, schon in der zweiten Nacht…
Wenig später vernahm ich ein entferntes, angenehmes Geräusch. Ungefähr so, wie wenn man in der Ferne das Getrappel einer kleinen Ziegenherde hört. Anfänglich verwechselte ich es mit Regen, einem Geräusch von vereinzelt fallenden, dicken Tropfen. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Es regnete nicht. 4
Angriff der Froschkerle
Bei dem Geräusch handelt es sich um »Getrappel« – allerdings nicht von Ziegen, sondern merkwürdigen, zweibeinigen Kreaturen, die aus dem Meer geklettert sind. In größter Feindseligkeit attackieren sie das Haus des Wetterbeobachters und trachten nach dessen Leben. Der Leuchtturm-Wärter indes hat sich in seinem Turm verschanzt. Denn diese Gefahr durch Horden von »Froschkerlen«, wie der forsche Kerl sie schimpft, kennt er nur zu gut – Nacht um Nacht greifen sie an.
Diese Angriffe sind spektakulär inszeniert – aufwändiger und stimmungsvoller als alles, was man bisher von Xavier Gens gesehen hat. Rund 10 Jahre nach seinem Debütfilm Frontier(s) (2007) kann man sehen, dass dieser Regisseur mehr und mehr sein Handwerk gelernt hat. Nichtsdestotrotz bleibt er seinem Fokus – Action und Gewalt – zum Nachteil der feinen Nuancen der Romanvorlage treu.
Offizieller Trailer zum Film Cold Skin :
Unterschiede zwischen Buch und Film (Spoiler!)
- Ähnlich wie in Ian McEwans Am Strand , der uns mit einer Rückblende von einem steinigen Meeresufer in die Vergangenheit seiner Protagonisten, gibt es auch in Im Rausch der Stille eine Rückblende, um den Hintergrund des Helden zu erhellen. Doch im Film fällt die Rückblende weg, die Vergangenheit des Helden bleibt dunkel.
- In der Romanvorlage trägt der Leuchtturm-Wärter den schönen Namen Batís Caffó – im Film heißt er, warum auch immer: Gruner.
- Gruner versteckt eine der Kreaturen bei sich im Leuchtturm. Im Film bekommen wir diese früher zu sehen, als im Roman: Als unser Held erstmals durch das Fernglas zum Leuchtturm sieht, da bewegt sich, wenn man genau hinschaut, bereits eine Silhouette in der Nähe von Gruner, die nur diese Kreatur sein kann. Schönes, kleines Detail.
- Apropos schön: Der Film beschönigt unser Bild von der Hauptfigur sehr. Vielleicht wurde das als nötig empfunden, um mehr Identifikations-Potential zu schaffen. Eben deshalb finde ich es umso interessanter, dass der Autor Albert Sánchez Piñol gerade darauf verzichtet hat. Sein Ich-Erzähler behandelt die Kreatur, mit der Gruner lebt, ziemlich schändlich und längst nicht so liebevoll, wie der Held des Films.
Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werks
Der letzte Blitz jener Nacht erhellte meinen Verstand. Ich hatte tausend namenlose Ungeheuer gegen mich. Doch in Wirklichkeit waren sie nicht meine Feinde, so wie Erdbeben nicht die Feinde der Gebäude sind, sie sind einfach. 5
Auch im Film sind sie einfach. Ihre Herkunft wird nicht erklärt, ihre Motivation schon gar nicht. Das ist angenehm. Auch wenn die Verfilmung notgedrungen viele interessante Beobachtungen und Gedanken aus der literarischen Vorlage vermissen lässt, macht sie doch die wichtigste Regel ihres Fachs genau richtig: Show, don’t tell . Der Film Cold Skin – Insel der Kreaturen bietet trotz öder Kulisse seine Schauwerte und spannenden Konfrontationen, zwischen zwei Männern im Kampf ums blanke Überleben, sowie zwischen Mensch und Kreatur.
Mensch und Kreatur
Jener beschönigte Held aus dem Film bemächtigt sich im Roman der Kreatur, die bei dem Leuchtturm-Wärter wohnt. Die Art und Weise, wie er mit dieser dem Menschen nicht unähnlichen Kreatur umspringt, verrät mehr über den Mann als das Wesen in seiner Hand:
Ich packte sein linkes Fußgelenk. Ich hob den Körper hoch, als wäre es ein Baby, damit ich es besser betrachten konnte. Ja, es war ein Weibchen. Das Geschlecht war von keinerlei Schamhaar bedeckt. 6
Der Schädel hat nicht die Einbuchtungen des geborenen Verbrechers, ebenso wenig die Höcker des frühreifen Genies. […] Sein Volumen ist etwas geringer als bei den slawischen Frauen und ein Sechstel ausgedehnter als bei der bretonischen Ziege. 7
Der Körper ist wunderbar gebaut. Europäische Mädchen würden in Ohnmacht fallen, wenn sie ihre schlanke Figur sähen. 8
Ich habe einen Bleistift unter die Brüste gelegt, doch er fällt hinunter, als ob sie von einem unsichtbaren Faden nach oben gezogen würden. Mit diesen Äpfeln hätte Newton seine Theorie schwerlich aufstellen können. 9
Der Hass des Mannes, mal wieder
Nach all den sexistischen Beobachtungen empfindet der Mann schließlich doch mehr für die Kreatur, als nur forschende Neugier.
Und ich stellte fest, über mich selbst erschrocken, dass es mich gar nicht interessierte, ob sie mehr oder weniger menschlich, mehr oder weniger Frau war. Es stimmte nicht: Am siebenten Tag ruhte der liebe Gott nicht. Am siebenten Tag schuf er sie und verbarg sie vor uns unter den Wogen. 10
Doch wer eine Liebesgeschichte zwischen Mensch und Kreatur erwartet, nach dem Vorbild von Shape of Water (2017) etwa, wird enttäuscht sein: Unser »Held« behandelt die Kreatur, die bald sogar einen Namen bekommt (Aneris) mit stumpfem Hass . Davon ist im Film nichts zu finden – was nach Frontier(s) (2007) fast überrascht.
Ich packte sie an einem Fuß und zerrte sie aus ihrem Versteck hervor. Ich befahl ihr aufzustehen, um sie mit einer Ohrfeige niederzuschlagen, die so heftig war, dass meine Hand auch am nächsten Tag noch rot war. Sie rührte sich nicht vom Boden und krümmte sich weinend. 11
Fazit zu Cold Skin – Insel der Kreaturen
Eine interessante, kurzweilige Lektüre und ein beeindruckender, spannender Film. Insofern kann ich beide Formate dieser Geschichte empfehlen – und sogar beide zusammen, da sie jeweils mit formateigenen Mehrwerten auftrumpfen. Es ist, so oder so, ein kaltes Insel-Kammerspiel über zwei einsame, verbissene Männer. Insofern etwas karg und einfältig, dieses Survival-Abenteuer.
Das bessere Ende , im Übrigen, kommt dem Film zu – mit einer gelungenen Schluss-Einstellung, die den Rahmen der Geschichte abrundet.