TRAUMNOVELLE + EYES WIDE SHUT | Buch 1926, Film 1999 | Vergleich

Die Augen weit geschlossen – mit diesem Titel verabschiedete sich Stanley Kubrick im Alter von 70 Jahren aus einer Welt, die ihn als größten Filmemacher seiner Zeit, vielleicht aller Zeiten feierte. Knapp eine Woche nachdem er den finalen Schnitt von Eyes Wide Shut dem Cast und seiner Familie gezeigt hatte, starb er im Schlaf. Die Idee zur Umsetzung dieser Literaturverfilmung war ihm schon 1968 gekommen. Wie bei Arthur Schnitzler, dem Autor der Vorlage zu Eyes Wide Shut – die Traumnovelle – war die Idee über Jahre in ihm herangereift.

Der missverstandene Pornograf

[…] keinem von beiden entging, dass der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt. | S. 7 1

Zum Inhalt: Es geht um ein Ehepaar, das nach abendlichen Feierlichkeiten, bei denen beide Ehepartner je mit anderen Gästen geflirtet haben, heimkehren und über ihre heimlichen Gelüste sprechen.

Doch aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen, und sie redeten von den geheimen Bezirken, […] wohin der unfassbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär’s auch nur im Traum, verschlagen könnte. | S. 7

Die offenbarten Fantasien stehen zwischen ihnen, als Frau und Mann spätabends noch voneinander getrennt werden. Er – ein angesehener Arzt – muss beruflich das Haus verlassen, zu einem verstorbenen Patienten. Im Folgenden erlebt er eine Nacht voller mysteriöser und sexuell aufgeladener Zwischenfälle.

Nicole Kidman und Tom Cruise in Eyes Wide Shut .

Hinweis: Der folgende Text enthält einige Zitate aus der Traumnovelle und verrät – im Abschnitt »Entsorgte Frauen« – eine größere Wendung der Geschichte. Ansonsten spoilerfreies Lesen, viel Spaß! Aktuelle Streaming-Angebote zu Eyes Wide Shut gibt’s bei JustWatch.

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Totale: Das Werk im Zusammenhang

Historischer Kontext

Es war ihm, als schwiege der Tote mit ihnen; nicht etwa weil er nun unmöglich mehr reden konnte, sondern absichtsvoll und mit Schadenfreude. | S. 19

Der Österreicher Arthur Schnitzler (1862-1931) war selber Arzt, aber auch ein Geschichten-Erzähler. Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Schriftstellers zeigen, dass er an dem Stoff, aus dem später die Traumnovelle würde, schon seit 1907 arbeitete, rund 20 Jahre vor dem fertigen Werk . Ein Werk, über das ein Kritiker später schreibt:

Einzelheiten sind entzückend. Im Ganzen ist man nicht recht von der Notwendigkeit des Buches überzeugt. | S. 115

Entzückend, wie ein Literaturkritiker über »Notwendigkeit« nachsinnt. Im Ganzen bin ich nicht recht von der Notwendigkeit dieses Blogs überzeugt. Oder dieses Zitats. Oder, klar, wenn wir schon dabei sind, auch der Traumnovelle , um die es hier geht. »Notwendigkeit« ist ein ausgesprochen seltsamer Anspruch an die Kunst. Ein anderer Kritiker schreibt:

Wir würden nicht anstehen, den künstlerischen Wert dieser epischen Dichtung anzuerkennen, wenn es uns nicht gar so verhängnisvoll vorkäme, die Verwirrung im Gefühlsleben des modernen Menschen noch zu vergrößern. Erleben wir nicht des Verwirrenden genug? Und […] ist es nicht eine Gegenwartsaufgabe unserer Epik, dem deutschen Menschen als Gegengewicht gegen den importierten Kult des Muskels und des Kraftmeiertums eine feine abgeklärte Gefühlskultur zu bieten? | S. 115

Auch der Anspruch einer irgendwie gearteten »Gegenwartsaufgabe« von Kunst scheint verfehlt. Zumal sich ihr Wirken in einer immer neuen Gegenwart entfaltet. Im Falle der Traumnovelle war die epische Dichtung die Vorlage für einen Film. Dieser wiederum wusste »die Verwirrung im Gefühlsleben des modernen Menschen noch zu vergrößern«, nur eben 70 Jahre später. Ob wir der Verwirrung nicht genug erleben? Eine Frage, die jede Generation aufs Neue stellen wird – im Angesicht ihrer beunruhigenden Träume und Triebe und Themen.

Randnotiz: Hier geht es zu einer Antwort auf die Frage: Was haben Kubricks Filme gemeinsam?

Persönlicher Kontext

Als ich Eyes Wide Shut zum ersten Mal gesehen habe, via DVD auf einem alten PC, da war ich etwa 15 Jahre alt und voreingenommen von ein paar Standbildern des Films, die ich bei damaligen »Internet-Recherchen« entdeckt hatte. Mit viel nackter Haut und Masken, das machte mich doch neugierig. Und was soll ich sagen? Ich war enttäuscht. Mein erster Eindruck von dem Werk war wohl der, den Filmkritiker Scott Wampler 1999 erlebte, als er Eyes Wide Shut im Kino sah.

Die meisten Leute damals reagierten mit: »Das war’s? Das ist der skandalöse Film, über den wir in den vergangenen zwei Jahren so viel gehört haben?« Erstens: Wie verdammt undankbar musst du sein, um Stanley Kubricks letzten Film so niederzumachen?

Scott Wampler ( Birth.Movies.Death. ) in: Be Thankful For Eyes Wide Shut

Ja, okay, stimmt, sorry… Zweitens verweist Wampler darauf, dass die meisten Beschwerden über den Film Zu lang! Für einen »Sex-Film« ziemlich kalt! Sinnlos! – den Anschein machten, als hätten die Kläger*innen nie zuvor einen Kubrick-Film gesehen. Und in meinem Fall traf das zu.

Dem Großmeister gerecht werden

Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr, ob ich A Clockwork Orange damals vor oder nach Eyes Wide Shut gesehen habe. Es war jedenfalls etwa zur selben Zeit (Pubertät) aus etwa denselben Gründen (nackte Haut) mit etwa derselben Reaktion (»Hä?«). Rückblickend bin ich dem großen Stanley Kubrick nicht gerecht geworden, mit meinen niederen Motiven und noch niedriger Filmbildung (obwohl… was war mit 15 Jahren niedriger?). Es lohnt sich, das Œuvre dieses Regisseurs in chronologischer Reihenfolge zu sehen – und bloß nicht auf einem alten Computer. Auch nicht auf einem neuen Smartphone!

Apropos Smartphone… (und apropos pubertärer Lüstling):

Die wirkliche Pornografie in diesem Film besteht in seiner nachwirkenden Darstellung des schamlosen, nackten Reichtums von Manhattan um die Jahrtausendwende – und von dem obszönen Effekt dieses Wohlstandes auf unsere Gesellschaft und unseren Geist. Der kurzsichtige Fokus nationaler Kritiker*innen auf den Sex und die oberflächliche Psychologie in Bezug auf das Filmpaar […] sagen mehr über die Blindheit unserer Eliten hinsichtlich ihrer Umgebung aus, als über Kubricks Unzulänglichkeiten als Pornograf . Für diejenigen mit offen Augen sind da jede Menge »money shots« [hier: kostspielige und Wohlstand in Szene setzende Einstellungen].

Tim Kreider, in: Introducing Sociology

Neuentdeckung des Films

Damit meint Tim Kreider etwa die Referenzen des Films an den europäischen Dekadentismus rund um die letzte Jahrhundertwende. Referenzen wie den glamourösen Eröffnungswalzer und etliche europäische Charaktere. Gemeint ist ebenso das weihnachtliche Setting, das die Konsumgesellschaft in Bestform zeigt. Auch was die Hauptfigur Dr. William Harford bereit ist, in einer Nacht an Geld auszugeben, sowie nicht zuletzt das ganze mysteriöse Treiben in der Villa zeigen deutlich: Hier versinken Menschen (und menschliche Moralvorstellungen) im Geld.

Die literarische Vorlage – Schnitzlers Traumnovelle – lernte ich durch mein Studium an der Fernuniversität Hagen kennen (Studiengang: Kulturwissenschaften, Fach: Literaturwissenschaft, Modul: L1). Das wurde letztendlich auch zu meiner Neuentdeckung des Films . In Schnitzlers Novelle ist die bürgerliche Moral des 19. Jahrhunderts noch ein relevanter Maßstab. Eine Zeit, in welcher der Umgang mit Sexualität wesentlich befangener war, als in den späten 90er Jahren oder heutzutage.

Weitere Bücher von und zu Arthur Schnitzler:

  • Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke (2018)
  • Arthur Schnitzler: Die besten Geschichten (2017)
  • Arthur Schnitzler: Meistererzählungen (2018)

Die Hörner abstoßen

Diese »gesellschaftliche Moral«, die einerseits das Vorhandensein der Sexualität und ihren natürlichen Ablauf privatim voraussetzte, anderseits öffentlich um keinen Preis anerkennen wollte, war aber sogar doppelt verlogen. Denn während sie bei jungen Männern ein Auge zukniff und sie mit dem andern sogar zwinkernd ermutigte, »sich die Hörner abzulaufen«, wie man in dem gutmütig spottenden Familienjargon jener Zeit sagte, schloss sie gegenüber der Frau ängstlich beide Augen und stellte sich blind. | S. 119

Die Augen fest verschlossen. Stefan Zweig beschreibt in Die Welt von Gestern altmodische Sichtweisen zur Sexualität, die sich zuweilen hartnäckig gehalten haben. Kubrick greift diesen Umstand auf. Durchweg glaubwürdig lässt er die vom Schauspieler Tom Cruise verkörperte Figur im Streit mit der Ehefrau Zeilen über die unterschiedlichen »Denkweisen von Männern und Frauen« aussprechen. Diese übertragen Zweigs Feststellungen zum 19. Jahrhundert bruchlos ins späte 20. Jahrhundert.

Dass ein Mann Triebe empfinde und empfinden dürfe, musste sogar die Konvention stillschweigend zugeben. Dass aber eine Frau gleichfalls ihnen unterworfen sein könnte, dass die Schöpfung zu ihren ewigen Zwecken auch einer weiblichen Polarität bedürfe, dies ehrlich zuzugeben, hätte gegen den Begriff der »Heiligkeit der Frau« verstoßen. | S. 119

Close-up: Das Werk im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Werks

Die Heiligkeit der Frau. Der Film Eyes Wide Shut beginnt mit einer Totale von einem edel anmutenden Zimmer. Mit großem Spiegel und roten Verhängen, Tennisschlägern hinter einer goldenen Stehlampe in der Ecke. Zu beiden Seiten des Raumes: Säulen, wie sie das Tempeldach des Parthenon stemmen. Dazwischen steht eine Frau (Nicole Kidman), die ihr schwarzes Kleid von den Schultern gleiten lässt. Unterwäsche sie keine und steht jetzt nackt da, mit einem Körper wie ihn die in Stein gemeißelten Göttinnen jener Griechen zur Schau stellen.

Die Eröffnungszene des Films:

Arthur Schnitzlers Traumnovelle beginnt mit einer Erzählung in der Erzählung. Die Eltern lesen dem Kinde eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Sie scheint Tausendundeine Nacht entnommen zu sein, über »vierundzwanzig braune Sklaven«, die »die prächtige Galeere« des Prinzen Amgiad ruderten. Als das Kind eingeschlafen ist, ziehen sich die Eltern in ihr Gemach zurück. Dort lassen sie den zurückliegenden, gestrigen Abend Revue passieren – ein Ballfest, an dem sie teilgenommen haben. Sie schwelen in der Vergangenheit und so führt eines zum anderen…

Untreue in Gedanken

Albertine, ob sie nun die Ungeduldigere, die Ehrlichere oder die Gütigere von den beiden war, fand zuerst den Mut zu einer offenen Mitteilung; und mit etwas schwankender Stimme fragt sie Fridolin, ob er sich des jungen Mannes erinnere, der im letztverflossenen Sommer am dänischen Strand eines Abends mit zwei Offizieren am benachbarten Tisch gesessen [habe]. | S 7-8

In Kubricks Film heißen sie nicht mehr Albertine und Fridolin, sondern Alice und William. Während Schnitzlers Novelle ein Streifzug durch eine Wiener Nacht ist, die stellenweise an Richard Linklaters Before Sunrise (1995) denken lässt, spielt Kubricks Adaption in New York und beginnt mit jenem »Ballfest«, das in der Novelle schon in der Vergangenheit liegt. Doch es ist und bleibt ein Offizier, von dem die Frau ihrem Mann später erzählt, ein Offizier, den sie einmal im Urlaub gesehen und von dem sie fantasiert hat. Untreue in Gedanken – das setzt die Handlung in Gang, sowohl die der literarischen Vorlage als auch die der Verfilmung.

Eyes Wide Shut gibt es in voller Länge unter anderem auf Youtube zu sehen – hier mit einem Trailer zum Film verlinkt:

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werks

Vielleicht gibt es Stunden, Nächte, dachte er, in denen solch ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber von Männern ausgeht, denen unter gewöhnlichen Umständen keine sonderliche Macht über das andere Geschlecht innewohnt? | S. 54

Der Erzähler in Schnitzlers Novelle hat im Laufe der Nacht noch Begegnungen mit der Tochter eines verstorbenen Patienten, der mädchenhaften Tochter eines Kostümhändlers und einer Prostituierten, ehe eher zu der geheimen Orgie gelangt, wegen der die Traumnovelle sowie Eyes Wide Shut wohl am ehesten in Erinnerung bleibt: Was geht da vor sich, in der Villa voller maskierter »Kavaliere« und nackter Frauen? Was auch immer es ist, für die Beteiligten ist es – wie sich bald herausstellt – eine todernste Angelegenheit.

Entsorgte Frauen

Eine der Frauen warnt unseren männlichen Helden vor den Konsequenzen seiner Anwesenheit in der Villa. Es sei ihm verboten, dieser Orgie beizuwohnen. Am nächsten Tag ist die Frau tot. Später, in der Leichenhalle, bekommt Fridolin/William sie zu sehen – ehe er sich schockiert abwendet.

[…] was da hinter ihm lag in der gewölbten Halle, […] ihm konnte es nichts anderes mehr bedeuten als, zu unwiderruflicher Verwesung bestimmt, den bleichen Leichnam der vergangenen Nacht. | S. 94

Angeblich soll diese Frau an einer Überdosis gestorben sein. William erfährt davon in einem Café, an dessen Wänden zahlreiche antike Porträts von Frauen hängen – während im Hintergrund Mozarts Requiem zu hören ist.

Das Setting und die Musik machen diesen Moment zeitlos, universell. Kubricks letzten drei Filme formen eine Art thematische Triologie über den Frauenhass unserer Kultur.

In The Shining verachtet Jack Torrance seine Frau und sein Kind und versucht, sie zu ermorden, so, wie sein Vorgänger dessen Frau und Töchter ermordet hat. […] In Full Metal Jacket herrscht bei den Marines eine institutionalisierte Misogynie – und die Abwesenheit von Frauen (wir sehen lediglich zwei Prostituierte und eine Sniperin) ist so offensichtlich, dass sie zur eindringlichen Präsenz wird. Der Höhepunkt des Films ist die Hinrichtung eines 15-jährigen Mädchens. Das Requiem in dem Sonata Café [in Eyes Wide Shut ] wird nicht nur für [jene gestorbene Frau] gespielt, sondern für all die anonymen, verbrauchten Frauen, die von Männern aus Williams Gesellschaftsschicht benutzt und entsorgt wurden – über alle Jahrhunderte hinweg.

Tim Kreider, in: Introducing Sociology

Ein Videoessay zu Kubricks Verteidigung

Dass Stanley Kubrick – der Frauen häufig weniger als Subjekte, denn als Objekte inszeniert hat – selbst kein misogynistischer Filmemacher sei, das verteidigt die Filmkritikerin Nikki Martin in einem Videoessay, am Beispiel von Lolita (1997), Dr. Strangelove (1964) und eben Eyes Wide Shut . Hier ist Nikkis Beitrag:

Fazit zur Traumnovelle & Eyes Wide Shut

Ein Werk von literarischer und cineastischer Kraft , das lange nachwirkt: Obwohl die Traumnovelle ein so dünnes Büchlein ist, dass man es fast schneller durchgelesen als den rund zweieinhalbstündigen Film gesehen hat, ist es reich an Deutungsebenen und bemerkenswerten Momenten. Kubrick ist es gelungen, die Vielschichtigkeit der Vorlage in seiner Verfilmung zu bewahren. Wenn man nur nicht in der falschen Annahme ran geht, »leichte Erotik« serviert zu bekommen, sind die Traumnovelle und Eyes Wide Shut zwei bereichernde Werke – ob »notwendig« oder ihre »Aufgabe erfüllend«, das sei dahingestellt.

(…) diese scherzhafte, fast übermütige Art, in der zugleich eine milde Warnung und die Bereitwilligkeit des Verzeihens ausgedrückt schien, gab Fridolin die sichere Hoffnung, dass sie, wohl in Erinnerung ihres eigenen Traum –, was auch geschehen sein mochte, geneigt war, es nicht allzu schwer zu nehmen. | S. 96-97

Fußnoten

  1. Alle Seitenangaben beziehen sich auf: Schnitzler, Arthur (2013): Traumnovelle. Hg. v. Sabine Wolf. Stuttgart: Reclam (Reclam XL, Nr. 19042)

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