Zuletzt gesehen: Funny Ha Ha von Andrew Bujalski. Ein kleines, leises Werk, das ganz unverhofft im Nachhinein mit reichlich Bedeutung aufgeladen wurde. Denn dieser Low-Budget-Indie-Film gilt inzwischen als Ausgangspunkt für das gehypte, geliebte, gehasste Subgenre des sogenannten Mumblecore. Warum und… zu Recht?
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Film legt weit mehr wert darauf, eine bestimmte Atmosphäre einzufangen, als mit Wendungen zu überraschen. In diesem Sinne kann ich guten Gewissens ein spoilerfreies Lesen wünschen.
Totale: Funny Ha Ha im Zusammenhang
Cineastischer Kontext
Ein Jahrtausendauftakt muss episch sein, im Kino erst recht. Mit Harry Potter und Der Herr der Ringe gehen 2001 zwei jetzt schon legendäre Literaturverfilmungen an den Start, im Epos-Format. Das Filmjahr 2002 ist dann das Jahr der großen ersten Fortsetzungen (oder ersten großen zweiten Teile): Harry Potter und die Kammer des Schreckens , Der Herr der Ringe: Die zwei Türme , Star Wars: Episode II , Men in Black II … Franchises belegen die Spitzenplätze der Kassenschlager-Bestenlisten, da zeichnet sich ein Trend ab, dessen Höhepunkt anscheinend noch immer nicht erreicht ist (Stand: April 2018). Bei der Oscarverleihung räumt A Beautiful Mind von Ron Howard vier Trophäen ab, darunter Bester Film . Als bester fremdländischer Film wird die europäische Koproduktion No Man’s Land unter der Regie des Bosniers Danis Tanović ausgezeichnet – beim Europäischen Filmpreis geht die größte Ehre dem Spanier Pedro Almodóvar und seinem Werk Sprich mit ihr zu.
Unter den weniger beachteten und dennoch bemerkenswerten Filmen des Jahres 2002 finden sich etwa Tötet Smoochy , der dänische Wilbur Wants to Kill Himself , die BDSM-Romanze Secretary , der Stalker-Thriller One Hour Photo , der französische Extremfall Irreversible und ach, so viele mehr…
Links:
Den of Geek:
Top 30 der unterschätzten Filme 2002
(englisch)
Rolling Stone:
The Best and Worst Movies of 2002
(englisch)
Wikipedia:
Filmjahr 2002
Klein und unscheinbar indes erblickt 2002 auch der Debüt-Spielfilm des amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Andrew Bujalski das Licht der Welt: Funny Ha ha . Im Jahr 2004 gewinnt Bujalski bei den Independent Spirit Awards für Hollywood-unabhängige Filmproduktionen den Someone to Watch Award .
Einer der einflussreichsten Filme der Nuller-Jahre. | A.O. Scott, Cheffilmkritiker bei The New York Times
Persönlicher Kontext
Someone to Watch also… das habe ich mir auch gedacht, als ich beim Eintauchen ins Subgenre Mumblecore ausgehend vom deutschen Zweig des German Mumblecore immer wieder auf die »amerikanischen Gründerväter« dieser schönen Art des Filmemachens gestoßen bin, mit wenig Budget und einfacher Technik, zuweilen ohne Drehbuch… als »Godfather« des Mumblecore gilt Andrew Bujalski und dessen Film Funny Ha Ha wird retrospektiv gar als »erster Mumblecore Film« bezeichnet. Wie konnte ich diesen Film bei meinen Mumblecore-Recherchen also auslassen?
Gesehen via: Vimeo on Demand | Leihgabe für 2,79 €
Close-up: Funny Ha Ha im Fokus
Erster Eindruck | zum Inhalt des Films
In der ersten Einstellung sehen wir eine Zimmertür. Die Wände ringsum und die Tür selbst sind beklebt mit etlichen Bildern, nackter Haut und Tattoos, viele Tattoos. Eine junge Frau im grünen Shirt betritt das Zimmer. Sie wirkt ein wenig neben der Spur, spricht undeutlich, wie mit schwerer Zunge. Das Ganze hat wenig Bühnenstück-Charakter: Tür öffnet sich, Auftritt der Figur, der wir über den Rest des Filmes folgen werden. Ihr Name ist Marnie. Die erste Worte in diesem wie improvisiert wirkenden »ersten Mumblecore-Film« sind:
»Hi.«
»Hi, how you doin‘?«
»Alright… you do tattoos, hu?«
»This is the place, ya. Wanna get tattooed?«
»Yeah, I was thinking about gettin‘ a tattoo.«
Wo es wehtut
Der Mann berät sie eine Weile. Sie fragt, wo es am wenigsten wehtut. Er sagt, das Erste schmerze am meisten, egal wo. Sie verrät, sie sei ein wenig betrunken, ob das den Schmerz nicht betäube? Wenn sie betrunken sei, erklärt der Mann in aller Ruhe, dann werde er’s nicht machen. Sei zu schwierig, sie werde nicht stillhalten. Und außerdem werde sie es sicher bereuen.
Als junge Frau, die Angst hat, verletzt zu werden, aber Entscheidungen fürs Leben treffen will – so lernen wir Marnie kennen. Im Verlauf des Films begleiten wir sie, zu Hauspartys von alten College-Freunden, beim Einkaufen und Flirten, auf der Suche nach Arbeit und einem Freund. Alles nicht so einfach, diese Übergangsphase von der Schule ins Berufsleben. Obwohl klug, umgänglich und aufgeschlossen, ist Marnie, ob selbst gewählt oder aus den Umständen heraus, oft allein, mit sich selbst und selbst in Gesellschaft. Etwa bei Treffen mit einem jungen Typen, der gerne ihr Freund werden würde. Seine Annäherungsversuche sind plump, seine Art ist aufdringlich, doch sie weist ihn nicht ab. Sie hängen miteinander rum, zweisam einsam, wie darauf wartend, dass das Leben mal losgeht. Gespielt wird dieser Möchtegern-Freund vom Regisseur selbst, Andrew Bujalski.
Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films
Die Frage, mit der Bujalski bei Aufführungen des Films am häufigsten konfrontiert wird, lautet: Ist Funny Ha Ha improvisiert oder scripted, nach eine Drehbuch inszeniert? Im Gespräch über German Mumblecore zumindest hört man oft die Grundannahme heraus, das Genre des Mumblecore zeichne sich (unter anderem) durch improvisierte Dialoge aus. Dazu sagt »Godfather« Bujalski:
Die Frage wird mir zunehmend unangenehmer, vor allem, weil die Unterteilung zwischen »scripted« und »improv« eine große Vereinfachung ist. Wir könnten das Transkript der Dialoge im Film ausdrucken und neben die finale Drehbuchfassung halten. Mit einem Computer könnten wir den Prozentsatz der Worte im Film berechnen, die aus dem Drehbuch stammen. Aber das würde uns nicht über das tatsächliche Zwischenspiel zwischen dem Drehbuch und den Schauspielern und mir verraten, über die kurze Probe-Phase, die Drehbedingungen und all die anderen Dinge, die in eine Performance einfließen. Mal ganz abgesehen vom Schnitt, in dem entschieden wird, welche improvisierten Momente überhaupt jemals gesehen werden – und welche geschriebenen Momente. Und was ist mit Gesten? Und dem Tonfall? Sind die improvisiert oder scripted? Wie können wir’s wissen? | Andrew Bujalski, in: Decade: Andrew Bujalski On “Funny Ha Ha” (hier im Original )
Marnie und der letzte Satz
Dass sich jeder neuen Zuschauerin wieder die Frage nach dem Improvisationsanteil stellt, spricht für den Film. Er wirkt authentisch. Die Hauptfigur Marnie wird gespielt von Kate Dollenmayer, deren Karriere als Schauspielerin nur von 2002 bis 2005 andauerte – und zwei Filme umfasste, beide von Bujalski. Nach dem abrupten Ende von Funny Ha Ha bleibt bei mir der Eindruck, dass ich Kate Dollenmayer als Marnie gerne noch länger begleitet hätte.
Dass der Film dem Mumblecore zugerechnet, ja gar an dessen Anfangspunkt gestellt wird, soll nicht zuletzt an besagtem Ende liegen. Es ist nicht nur abrupt, sondern auch unverständlich, dieses Ende. Die letzte Zeile des Films, ausgesprochen von Marnies Schwarm Alex (Christian Rudder), der eine andere Frau geheiratet hat, kommt genuschelt daher. Obwohl Bujalski ahnte, dass 80 Prozent der Zuschauer den Satz nicht verstehen würden, hat er das Ende so belassen. Immerhin hat er später verraten , wie dieser letzte Satz lauten soll. Alex sagt zu Marnie, während die beiden auf einer Wiese sitzen:
I think the world of you, Marnie.
Lesenswerte Kritiken/Reviews zum Film:
A. O. Scott:
Postgraduate Depression, When True Love Is as Elusive as High Pay and Low Rent
(englisch, 2005)
Film Walrus:
Review
of
Funny
Ha Ha
(englisch, 2008)
Thema des Films
Zwischen jetzt und was da komme – die Übergangszeit zwischen Schule und Berufswelt, sie hat etwas Magisches und Deprimierendes zugleich. Sie bietet sich einfach an, als kreatives Experimentierfeld. Für Identitätskrisen, Selbstfindungstrips, Solipsismus und/oder Narzissmus, ein irgendwie geartetes »um sich selbst drehen«. Ich habe meinerseits im Alter von 22/23 Jahren mit dem Projekt Wir drehen uns die Zeit und Stimmung zwischen Schule und Zukunft in Spielfilmlänge zu konservieren versucht. Was ich nicht lassen konnte – Stereotypen und konventionelle Filmdramaturgie, die mit ihrem effekthascherischen Klimax vom einzufangenden Klima ablenkt – das umgeht Bujalski sehr gut.
Er lässt sich einfach auf den Stillstand ein und schafft es, die magisch-deprimierende Atmosphäre dieses Lebensabschnitts auf 16mm-Film zu bannen. Seine Protagonistin Marnie ist im Film 24 Jahre alt, ebenso wie der Regisseur selbst damals war. Sein Blick ist nicht von oben herab, sondern die Mitsicht. Bujalski weiß, wovon er spricht. Seine eigene kulturelle Standortverbundenheit macht Funny Ha Ha glaubwürdig.
Fazit zu Funny Ha Ha
Der Film ist ein Ausschnitt aus einem Leben einer jungen Mittzwanzigerin, die noch nicht weiß, wohin mit sich. Marnie stellt nicht viele Ansprüche, sie zeigt keine großen Ambitionen. Sie ist bescheiden, sie ist hübsch, sie ist weiß, wie die ganze Community, in der sie sich bewegt. Manch Kritiker stellt die Relevanz des Films ins Frage, bezeichnet den Inhalt als banal, beliebig, unnötig. Ich denke mir, eben ob der Authentizität, mit der dieser Lebensabschnitt, den Banalität ja durchaus auszeichnen kann, festgehalten wird, ist Funny Ha Ha ein wertvoller Film.
Wenn sich die Menschen gegen Ende des laufenden Jahrhunderts fragen werden, wie amerikanische Mittelschichtskinder zu Beginn dieses Jahrhunderts (und Jahrtausends) wohl ins Erwachsenenleben gestartet sind, so ohne große Kriege, Krisen und Dramen, dann wird Funny Ha Ha ein relevanterer Film sein, als Harry Potter oder Der Herr der Ringe . Der Film ist ein Blick aufs Leben, so langweilig es zuweilen auch sein mag.