Warum gibt es den Krieg – nicht einen bestimmten, sondern im Allgemeinen? Und: Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien? Diese Frage erschien Albert Einstein im Juli 1932 »beim gegenwärtigen Stande der Dinge als die wichtigste der Zivilisation« – drum machte er sie zum Thema eines Briefwechsels mit Sigmund Freud. Zwei der größten Denker ihrer Zeit sinnen in Warum Krieg? darüber nach, wie sich Frieden etablieren lasse. Ein Jahr, bevor Adolf Hitler an die Macht kam.
Weltfremde Theorie?
Hinweis: Der Brief, den Sigmund Freud im September 1932 an Albert Einstein schickte, lässt sich im Projekt Gutenberg nachlesen , bereitgestellt von Spiegel Online.
Regalfach: Warum Krieg? im Zusammenhang
Für alles, was sich die Menschen seit jeher nicht beantworten konnten, hatten sie lange Zeit ihre Gottheiten. Wie Platzhalter in der Sinnbildung unseres Seins. Fast jede Religion, die mehrere Götter und Göttinnen verehrte, sah den Krieg als eigenen Zuständigkeitsbereich.
Historischer Kontext
So hatten die Griech*innen der Antike ihren Gott des Meeres, der sie seit Menschengedenken umgab. Ebenso gab es einen Gott des Todes, der unausweichlich war, und einen Gott des Eifers, einer urmenschlichen Eigenschaft. Und irgendwo dazwischen, zwischen dem, was immer da und unausweichlich und tief dem Menschen innewohnend war, lag der Krieg. Ares hieß der Gott des Krieges bei den Griechen. Der »städtevertilgende Ares«, wie Hesiod ihn in seiner Schöpfungsgeschichte – der Theogonie [936] – nannte, rund 700 Jahre vor Christus.
Das Christentum glaubte nur noch an den einen Gott, der die Welt und die Menschen erschaffen hatte. Als Schutzpatron der Krieger galt fortan der Erzengel Michael, oder auch der eine oder andere Heilige, St. Georg zum Beispiel. Die Frage, warum es überhaupt Leid in der vom allmächtigen Gott geschaffenen Welt gibt, wurde trotzdem gestellt – als Frage nach der »Gerechtigkeit Gottes« (Theodizee). Der Theodizee-Begriff geht dabei auf den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zurück. Dieser erklärte alle Leiden der Menschheit als notwendiges Übel » in der besten aller möglichen Welten « – ein Optimismus, den schon der französische Philosoph so naiv fand, dass er als Antwort darauf die Satire Candide schrieb. Darin sollte der gleichnamige blauäugige Held die Welt in all ihrer Schrecklichkeit erleben (hier ein Blogbeitrag über die Theater-Adaption von Candide im Minack Theatre, Cornwall). Eine Antwort indes fand der Held nicht, auf die drängende Frage: Warum Krieg?
Im Menschen lebt ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten. Diese Anlage ist in gewöhnlichen Zeiten latent vorhanden und tritt dann nur beim Abnormalen zutage; sie kann aber verhältnismäßig leicht geweckt und zur Massenpsychose gesteigert werden. | S. 19 1 Albert Einstein
Persönlicher Kontext
Ich bin 1989 geboren, » das Jahr des Mauerfalls «, wie man mir später sagte. Nicht »das Jahr, in dem in Äthiopien, Afghanistan, Eritrea, Georgien, Guatemala, Indonesien, Kambodscha, Kolumbien, dem Libanon, Mosambik, Namibia, Nicaragua, Nordirland, Osttimor, Panama, Rumänien, Sri Lanka, im Südsudan, Suriname, dem Tschad und natürlich Israel und Palästina gerade Krieg oder kriegsähnliche Zustände herrschen.« – wäre ja auch arg sperrig gewesen. »Das Jahr des Mauerfalls« ist die griffigere Formel und auch tatsächlich die größere Besonderheit und Seltenheit. Dass Menschen sich vereinigen statt einander zu bekriegen. Der erste Krieg, den ich bewusst wahrnahm, war der Kosovokrieg 1998/99 (siehe: Gedanken einer schlaflosen Nacht )
Erst lange nach den Anschlägen vom 11. September 2001 lernte ich, dass es keinen »guten« oder »gerechten« Krieg geben kann, auch keinen »Krieg gegen den Terror«, wie ihn erst Ronald Reagan, dann George W. Bush proklamierte, im Namen der USA. 2004 gab Bush erstmals öffentlich zu, dass er Zweifel an den Geheimdienstberichten über Massenvernichtungswaffen im Irak hatte – also Zweifel an dem offiziellen Grund für den völkerrechtswidrigen »Krieg gegen den Terror«, den er kein ganzes Jahr zuvor begonnen hatte. 2004, da ging ich gerade in die 10. Klasse – und wir beschäftigten uns mit der Frage, was eigentlich der Unterschied sei, zwischen Krieg und Terror?
Der Unterschied zwischen Krieg und Terror
Terror hat politische, religiöse und wirtschaftliche Gründe. Hierfür nutzen die Terroristen Bomben und Sprengstoffe. Das Geschehen kommt an bestimmten Orten vor und an bestimmten Zeitpunkten. […] Kriege werden zwischen Staaten ausgefochten und Terroristen sind schlicht und einfach Kriminelle, die nur ihren eigenen Neigungen folgen.
Das ist eine Antwort, wie sie jemand aus der Klasse 10 im Jahr 2017 beantwortet. Ungefähr so habe ich es mir auch erklärt, in der Schule damals. Da möchte man noch eine klare Linie ziehen können, zwischen Kriminellen und den Menschen, die wir an die Macht wählen. Später ließ ich mich dann von den Argumenten Noam Chomskys überzeugen, demnach jeder US-Präsident seit 1945 ein Kriegsverbrecher ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen Krieg und Terror – Krieg ist der Terror der Stärkeren.
Die Frage nach dem »Warum?« blieb jedenfalls bestehen: Warum Krieg? Deshalb griff ich zu, als ich das Buch mit eben diesem Titel entdeckte. Ein Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud.
Leselupe: Warum Krieg? im Fokus
Erster Eindruck | zum Inhalt des Buchs
Wir sehen, das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft. Es ist noch immer Gewalt, bereit sich gegen jeden Einzelnen zu wenden, der sich ihr widersetzt, arbeitet mit denselben Mitteln, verfolgt dieselben Zwecke; der Unterschied liegt wirklich nur darin, daß es nicht mehr die Gewalt eines Einzelnen ist, die sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft. | S. 28f.
Sigmund Freud
Von der Gewalt Einzelner zur Gewalt aller und gegen die Einzelnen, die den Frieden bedrohen. Das Recht – das sich von der Idee her schon in Hesiods Werke und Tage abzeichnet – ist eine große Errungenschaft der Menschheit . Es soll für Ruhe sorgen, zwischen Familien und ganzen Völkern.
Theorie und Empörung
Aber ein solcher Ruhezustand ist nur theoretisch denkbar, in Wirklichkeit kompliziert sich der Sachverhalt dadurch, daß die Gemeinschaft von Anfang an ungleich mächtige Elemente umfaßt, Männer und Frauen, Eltern und Kinder, und bald infolge von Krieg und Unterwerfung Siegreiche und Besiegte, die sich in Herren und Sklaven umsetzen. | S. 30
Feststellungen über Feststellungen. Einstein und Freud reflektieren in Warum Krieg? den Werdegang dessen, was wir Zivilisation nennen – von den Anfängen, die im Dunkeln verborgen liegen, hin zu seinem ungewissen Ausgang. Ein Prozess, den Freud »mit der Domestikation gewisser Tierarten vergleichbar« findet, vielleicht, denn »ohne Zweifel bringt er körperliche Veränderungen mit sich«. Ebenso aber eine Erstarkung des Intellekts und eine Verinnerlichung unserer aggressiven Neigungen. Unsere Psyche wandelt sich in einer Art, dass der Krieg ihr »in der grellste Weise« widerspricht. Und deshalb, so Freud in Warum Krieg? , »müssen wir uns gegen ihn empören !« Gut gebrüllt, Löwe. Doch in der Empörung gipfelt dann auch die Suche nach Mittel gegen den Krieg.
Sie sehen, es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man bei dringenden praktischen Aufgaben den weltfremden Theoretiker zu Rate zieht. Besser, man bemüht sich in jedem einzelnen Fall der Gefahr zu begegnen mit den Mitteln, die eben zur Hand sind. | S. 43
Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werks
Dass der Briefwechsel unter dem Titel Warum Krieg? die Frage nicht soweit erschöpfend beantwortet, dass man den Kriegsgrund bei der Wurzel packen und beseitigen könnte – das lässt sich schon vor der Lektüre erahnen. Wir schreiben das Jahr 2018 und noch herrscht der Krieg: in Syrien, im Südsudan und Jemen, in der Ostukraine. Steven Pinker erklärt die Gegenwart in seinem Buch Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit (2011) zur friedlichsten Zeit, die es jemals unter Menschen gab. Doch gelöst ist das Problem gewiss nicht.
Die gute Erde stirbt
Das Buch, in dem der Verlag Diogenes den Briefwechsel Warum Krieg? veröffentlicht hat, enthält außerdem ein Essay des Biochemikers und Science-Fiction-Autors Isaac Asimov: Die gute Erde stirbt (auch nachzulesen im Spiegel vom 17. Mai 1971 ). Darin setzt sich Asimov noch mit einem anderen Problem auseinander – dem der Überbevölkerung. Ausgehend von der Frage, wie viele Menschen die Erde überhaupt aushält? Zur Antwort führt Asimov einige Zahlen an. 20 Billionen Tonnen etwa, darauf beläuft sich seiner Schätzung nach die Masse lebender Zellen auf Erde.
Davon sind 10 Prozent oder zwei Billionen Tonnen tierisches Leben. Fürs erste kann diese Zahl als Maximalwert betrachtet werden, da sich das pflanzliche Leben der Quantität nach nicht vermehren kann, ohne daß die Sonnenstrahlung erhöht oder seine Fähigkeit, das Sonnenlicht zu verarbeiten, verbessert wird. Das tierische Leben dagegen kann sich quantitativ nicht vermehren, ohne daß sich die Pflanzenmasse vermehrt, die ihm als Grundnahrungsmittel dient. | S. 51
Dass sich die Zahl der Menschen vermehrt, begründet Asimov mit einem Rückgang des nicht-menschlichen tierischen Lebens auf Erden.
Jedes zusätzliche Kilogramm Menschheit bedeutet mit absoluter Zwangsläufigkeit ein Kilogramm nicht-menschlichen tierischen Lebens weniger. Wir könnten also argumentieren, daß die Erde maximal eine Menschheitsmasse ernähren kann, die der gegenwärtigen Masse allen tierischen Lebens entspricht. Das wären nicht weniger als 40 Billionen [Menschen]. […] Allerdings würde daneben keine andere Spezies tierischen Lebens existieren. | S. 51
Abstrakter Stolz
In seinem Essay malt uns Isaac Asimov ein Bild, wie die Welt beschaffen sein müsste, um so viele Menschen zu beherbergen – und wie rasant sie diesem Bild entgegen strebt. Auch hier mögen Leser*innen erahnen, worauf die Berechnungen hinauslaufen: Es wird eng auf Erden . Zu eng. Nun mögen die Warnungen eines Science-Fiction-Schriftstellers in ihrer Brisanz etwas überhöht wirken – nichtsdestotrotz: die Weltbevölkerungsuhr tickt und die Zahlen sprechen für sich.
Nun könnte man denken, dass hier zwei Probleme in einer Lösung aufgehen: Indem wir mehr Kriege ausfechten, dezimieren wir die Weltbevölkerung? Doch die Zeiten, in denen Kriege mit gegeneinander antretenden Heerscharen ausgetragen werden, ist längst Geschichte. Einerseits kurbelt unser Kriegstreiben seit jeher unseren Innovationsgeist an und fördert so paradoxerweise den Fortschritt, andererseits bremst unser Kriegstreiben diesen Fortschritt durch Zerstörung und Konkurrenzdenken auch aus – viel mehr, als wir uns leisten können.
Die Welt ist zu klein für jenen Patriotismus, der zu Kriegen führt. Wir dürfen zwar auf unser Land, unsere sprache, unsere Kultur oder unsere Traditionen stolz sein, aber es darf nur jener abstrakte Stolz sein, den wir einem Baseball-Team entgegenbringen – ein Stolz, der nicht von Waffengewalt gedeckt werden kann. | S. 60f.
Buchtipp zum Thema Krieg: Die Kinder des Dschihad (2006).
Fazit zu Warum Krieg?
Im August 1939 schrieb Albert Einstein einen weiteren Brief. Adressiert an den amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt warnte er darin vor der möglichen Entwicklung einer Atombombe seitens Deutschland – und dass man deren Wissenschaftlern voraus sein müsste. 6 Jahre später warfen die Amerikaner selbst Atombomben ab, über Japan. Sigmund Freud sollte diese dunkle Wendung der Geschichte nicht mehr erleben – er starb 1939 in London. Dort versteckte er sich bereits vor den Nazis, die vier Schwestern von Freud später in Konzentrationslagern ermoden würden.
Ein neuer Kanon
Warum Krieg? Keine Antwort. Was tun, gegen Krieg? Das machen Einstein und Freud vor: Meinungsaustausch. Den eigenen Horizont erweitern. Als Schritt in diese Richtung schlägt Thomas Kerstan in der aktuellen Ausgabe von DIE ZEIT einen neuen Kanon von Kulturgütern vor, von Literatur über Musik bis hin zum Film. Ein solcher »gemeinsamer Fundus an Wissen« mag helfen, gegen den Krieg. Dieser (vorläufige) Kanon umfasst übrigens ein Werk von Einstein – aber nichts von Freud. »Das Schöne ist: Beschränkung führt zu Entscheidungen«, schreibt Kerstan. Freud musste anderen weichen, George Lucas vielleicht, und seinem Krieg der Sterne, IV – denn der ist drin, in diesem Kanon (Allgemeinbildung im Fach Kunst und Ästhetik!).
Bildung ist extrem wichtig für einen Menschen. Sie gibt Halt selbst in düsteren Zeiten. Sie befreit aus der Not und führt aus der Enge der Vorurteile, sie ermöglicht den Aufstieg, sie fördert das soziale Miteinander.
Thomas Kerstan
Hinweis: Vorschläge für den neuen Kanon sind übrigens ausdrücklich gewünscht! Wer ZEIT ONLINE also bestimmte Werke vorschlagen möchte, kann das hier tun .
Im Zuge von »Warum Krieg?« mag man fragen: Warum überhaupt irgendwas? Hier gibt es weitere Gedanken zur allgemeinen Sinnsuche und der ewigen Frage nach dem »Warum?«