Im Großen und Ganzen ist der Film Mr. Nobody eine Romanze. Über den vielen kleinen menschlichen Dramen, die sich darin abspielen, steht die Schönheit des eigentlichen Protagonisten. Das ist die Zeit. Unaufhaltsam und allgegenwärtig lenkt sie Liebende zueinander hin und voneinander weg, entscheidet über Leben und Tod und was auch immer dieses »Schicksal« sein soll. Viele Filme stellen die Zeit selbst ins Rampenlicht – seien es Thriller wie Memento und In Time , Fantasy-Streifen wie The Fountain , Echtzeit-Filme wie Victoria – doch Mr. Nobody ist mit seiner atemberaubenden Zeitstruktur für mich bis dato der hervorragendste Beitrag zum faszinierenden Wesen der Zeit.
Zur Einstimmung, erinnern wir uns an die Geburt von Mr. Nobody. Anhand diesem Filmausschnitt lässt sich die Faszination für die Zeit, eingefangen vom Regisseur Jaco van Dormael, besonders schön in aller Kürze illustrieren (alle nachfolgenden Szenen sind aus dem englischen Original, das bei YouTube schlicht fiel umfangreicher ausschnittweise zu finden ist).
Orientierung im Film
So wie die hermeneutische Spirale beim wiederholten Lesen einer komplizierten Lektüre bestenfalls dafür sorgt, dass man von Mal zu Mal mehr vom Inhalt versteht, so gibt es dieses Phänomen natürlich auch bei Filmen. Mr. Nobody ist ein solcher Film, den man viele Male sehen und immer wieder neu erleben und durchdringen kann. Mit jedem Mal gewinnt man mehr Orientierung in der komplexen narratologischen Struktur dieses Films – und wird zugänglicher für die Ideen, die darin verwoben sind. Im Folgenden möchte ich, als Orientierungshilfe für Kennerinnen des Films Mr. Nobody , dessen Erzählstruktur aufdröseln und in einer Übersicht darstellen. Dabei werden natürlich wichtige Wendungen in der Handlung offengelegt, deshalb vorweg der ausdrückliche Hinweis:
Dieser Blogbeitrag enthält Spoiler!
Wer sich vorweg einen Überblick über Plot und Produktion verschaffen möchte, der kann dies im entsprechenden Wikipedia-Eintrag oder in der Filmstarts-Rezension tun. Wir behandeln den Film hier nicht chronologisch, sondern springen direkt zu seinem Kern.
Schlüsselszene in Mr. Nobody
Die Schlüsselszene in Mr. Nobody ist diejenige am Bahnhof, an der sich der junge Nemo Nobody zwischen seinen sich trennenden Eltern entscheiden muss. Bleibt er bei seinem Vater, am Gleis, oder geht er mit seiner Mutter und steigt in den Zug? Es geht um diese Szene:
Der Clou in Mr. Nobody ist nun der, dass dieser Film beide Möglichkeiten durchspielt. Am Bahnhof spalten sich die Zeitstränge auf. Der Zuschauer bekommt zu sehen, was geschehen wäre, wenn Nemo bei seinem Vater geblieben wäre – und ebenso, was geschehen wäre, wenn er bei seiner Mutter geblieben wäre. Hier trifft Nemo Nobody (später verkörpert von dem Schauspieler Jared Leto) eine scheinbar zentrale Entscheidung für sein Leben. Später im Film muss man sich fragen, ob diese Entscheidung wirklich zentraler ist als diejenige, womit ich morgens mein Brot beschmiere? In der kleinen Entscheidung und Sekunde entfaltet sich das Multiversum.
Filmtipps gefällig? Aller guten Dinge sind drei: Hier gibt’s Blogbeiträge zu Absolute Giganten (1999), Oh Boy (2012) und Hin und weg (2014)
Nemos Herzdamen
Ein weiteres Schlüsselelement des Films Mr. Nobody lässt sich an einem Standbild aus dem Film darstellen. Es geht um die drei Frauen, die in Nemos Leben je ihre Rolle spielen werden, von links: Jeanne, Elise und Anna. Mit welcher wird er wohl glücklich?
Die Zeitstruktur
Nun zur Zeitstruktur des Films . Ich empfehle, Mr. Nobody unbedingt im Director’s Cut (138 Minuten) zu sehen, um sich »in Ruhe« auf diese Wucht an Handlung einzulassen. Die hier dargelegte Zeitstruktur wird nämlich in keiner Weise chronologisch wiedergegeben, sondern ist in einem Schnitt montiert, den ich »assoziativ-emphatisch-dynamisch« nennen würde. Wichtiger, als einen Sinn in der Bild- und Szenenfolge zu suchen, ist es, sich möglichst rasch in einem neuen Bild/einer neuen Szene zu orientieren. Also, Zeitstruktur 101: Ausgehend von der Schlüsselszene am Bahnhof werden hier die Zeitstränge (Z) geordnet dargelegt.
Zeitstrang 1 – Nemo bleibt beim Vater
Z 1: In diesem Zeitstrang verliebt sich Nemo in Elise. Als Erwachsene wird Elise von der Schauspielerin Sarah Polley verkörpert.
Z 1.1: Elise erwidert seine Liebe nicht, weil sie in die Sportskanone Stefano verknallt ist.
Z 1.1.1: Wütend über die Zurückweisung rast Nemo auf seinem Motorrad davon. Dabei verursacht ein nasses Blatt auf dem Asphalt einen schweren Unfall. Während Nemo im Koma liegt, versöhnen sich seine Eltern.
Z 1.1.2: Statt mit Elise, bändelt Nemo mit einem anderen Mädchen von der Bank an, nämlich Jeanne (Schauspielerin, später: Linh Dan Pham). Sie verlieben sich ineinander und Nemo verspricht ihr, reich und erfolgreich zu werden – und es wird wahr. Doch Nemo bleibt unglücklich, trotz seines Reichtums und Jeannes Liebe. Nachdem er seinen ganzen Besitz auf sie und ihre Söhne überschrieben hat, wirft Nemo eine Münze und entscheidet, seine Familie zu verlassen. Eine Verwechslung ermöglicht es ihm, die Identität eines Typs namens Daniel Jones anzunehmen und in dessen Hotelzimmer zu wohnen. Zu spät findet er heraus, dass Jones offenbar in kriminelle Machenschaften verstrickt ist. So wird Nemo, der ein Auftragskiller für Jones hält, von diesem in der Hotelbadewanne erschossen. Sein Leichnam landet im Wald – wo er später von der Polizei entdeckt und Jean gezeigt wird.
Z 1.2: Elise erwidert Nemos Liebe – und sie heiraten.
Z 1.2.1: Sie haben Kinder zusammen, doch Elise wird depressiv. Ihre Heirat bereuend, entscheidet sich Elise schließlich, Nemo zu verlassen. Zuletzt sehen wir sie in „Elise’s Beauty Salon“ arbeiten und ihren alten Schwarm Stefano die Haare schneiden – doch diese Szene entpuppt sich als Theaterstück, das der junge Nemo sich anschaut.
Zeitstrang 2 – Nemo geht mit der Mutter
Z 2: In diesem Zeitstrang begegnet Nemo dem Mädchen Anna (Schauspielerin, später: Diane Krüger) am Strand.
Z 2.1: Nemo beleidigt Annas Freunde: »Sie sind Idioten. Ich gehe nicht mit Idioten schwimmen.« Wir erfahren nicht weiter, was aus ihm wird… vielleicht ein einsamer Griesgram ohne Freunde.
Z 2.2: Nemo beleidigt Annas Freunde nicht, stattdessen verlieben sie sich ineinander.
Z 2.2.1: Nemo und Anna heiratet. Sie haben Kinder und Nemo arbeitet für eine wissenschaftliche TV-Show über – bis er einen Autounfall hat (nachdem ihm ein Vogel gegen die Windschutzscheibe flog) und in folge dessen in einem See ertrinkt. Besagte TV-Show thematisiert, natürlich, das Thema »Zeit« – und deutet bereits das Ende des Films „Mr. Nobody“ an.
Z 2.2.2: Die Liebe zwischen Nemo und Anna erfährt einen herben Rückschlag, als Anna, die Tochter von Nemos Stiefvater, mit diesem nach New York zieht. Nemo wird ein Poolboy, bis er Anna wieder trifft. Sie gibt ihm ihre Nummer und sie verabreden sich am Leuchtturm. Ein Regentropfen aber landet auf dem Zettel mit Annas Nummer und verwischt diese, sodass Nemo vergeblich und ewig am Lighthouse auf Anna wartet, als Obdachloser auf einer Bank.
Zeitstrang 3 – Zugzwang
Z 3: In diesem Zeitstrang lebt Mr. Nobody als letzter sterblicher Mensch in der Zukunft. Ein Journalist interviewt den klapprigen Greis, der aus seinem Leben erzählt – aber welchen? Ist er nun bei seinem Vater geblieben oder mit seiner Mutter gegangen? Es stellt sich heraus: weder noch. Der alte Nemo erzählt dem eifrigen Journalisten:
We only live in the imagination of a 9 year old child. We are imagined by 9 year old child, faced with an impossible choice.
Im Schach, erklärt er, nennt man es »Zugzwang«, wenn die einzige richtige Bewegung diejenige ist, sich nicht zu bewegen. Der Junge Nemo hat sich weder für Vater noch Mutter entschieden, sondern ist am Bahnhof davongelaufen, weggelaufen von beiden.
Am Ende des Films, wenn der alte Mr. Nobody stirbt, kommt die Expansion des Universums (wie in der TV-Show, siehe den obigen Clip über Quantenphysik erklärt) zum Halt und Zeit kehrt sich um. Hier erweist sich die Zeitstruktur von Mr. Nobody als durchdachtes Konstrukt in einem geschlossenen Rahmen.