In dem Sammelband Philosophie des Films (2005) fasst der Herausgeber Dimitri Liebsch einige Grundlagentexte von – einschließlich ihm selbst – 10 Philosophen zusammen (allesamt Männer), die im 20. Jahrhundert zum Thema »Film« schrieben. Im Folgenden soll der Beitrag von Stanley Cavell besprochen werden: Was wird aus den Dingen im Film? Für besagten Band wurde der Text erstmals ins Deutsche übersetzt, von Prof. Dr. Miriam Strube . Das Essay gilt als guter Zugang für wesentliche Elemente aus den Schriften Cavells, der sich »als wichtigster Vertreter der Philosophie des Films in den USA« profiliert hat, so Liebsch.
Gedanken eines Grenzgängers
Stanley Cavell war ein US-amerikanischer Philosoph mit jüdischem Migrationshintergrund und ein begeisterter Schüler des Sprachwissenschaftlers John Austin – bis er selbst zu einem viel geachteten Professor wurde. Am 19. Juni 2018 verstarb Cavell im Alter von 91 Jahren. Etliche Nachrufe gedachten dem unkonventionellen »Grenzgänger zwischen Philosophie, Literatur und Hollywoodfilmen« ( WZ ).
Seine Fähigkeit, sich bruchlos zwischen den Welten des Alltagslebens und der Künste , der akademischen und der populären Philosophie zu bewegen, mündete in Studien […], die den populären Film nachhaltig als ein (potenziell) ethisch anspruchsvolles Kunstmedium in den Kulturwissenschaften etabliert haben.
Maria-Sibylla Lotter, im Nachruf über Cavell ( NZZ , 2018)
Liebsch über Cavell
Der Anarchismus des Films liegt bereits in dem Umstand begründet, daß wir Nicht-Sichtbares vor Augen haben.
Dieses Zitat von Cavell stellt Dimitri Liebsch seinem eigenen Beitrag voran. Er beschreibt den Zitierten darin als Denker, der sich »eher locker« auf die analytische Philosophie stützt und Film selbst als eine Art Philosophie auffasse. Cavell sehe in Filmen »Gedankenfutter«, das wie für die Philosophie gemacht scheine. Filme seien dazu gedacht, all dasjenige neu auszurichten, was Philosophie seither gesagt habe, »über Realität und ihre Repräsentation, über Kunst und Nachahmung, über Größe und Konvention, über Urteilsvermögen und Vergnügen, über Skeptizismus und Transzendenz, über Sprache und Ausdruck.« 1
Filme vermögen Cavell zufolge die Sicht der Zuschauer auf die Dinge der Welt in spezifischer Weise zu verändern – sie leisten einen Beitrag zur Philosophie.
Jens Eder, im Journal of Literary Theory
Oh, und sympathisch: Cavell hatte nachweislich ein Interesse für Mainstream-Kino. Während sich Philosophie-Kollegen wie Gilles Deleuze »eher am Kanon der Cahiers du cinéma « orientierten (Liebsch), bezog sich Cavell gerne mal auf gute alte Blockbuster. So auch in dem Essay, um den es hier gehen soll.
Wer mag, kann Cavell hier noch in Bild und Ton erleben – im Rahmen eines langen, persönlichen Interviews:
Was wird aus den Dingen im Film?
Als Arbeitstitel bezeichnet Cavell diese Leitfrage für seinen Text. Er will wissen: »Kann man davon ausgehen, daß es eine besondere Beziehung […] zwischen den Dingen und ihren Projektionen im Film gibt?« Zwei Denkmodelle einer möglichen Beziehung nennt Cavell zu Beginn seines Essays.
- Eine Beziehung im Sinne einer Entwicklung von Etwas zu etwas Anderem, wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird.
- Eine Beziehung gleich einem Übergang , wie von der Nacht zum Tag.
Zunächst geht es Cavell darum, die » Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit der Dinge « zu beleuchten. In Anlehnung an Heidegger, doch am Beispiel von Charlie Chaplin und Buster Keaton – worin sich schon Cavells typische Gratwanderung zwischen Hoch- und Popkultur zeigt.
Heidegger spricht in (seinerseits typisch) anspruchsvoller Weise noch von der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit »des Zeugs«. Dieses gehe als »Zuhandenes […] seiner Zuhandenheit verlustig«. Cavell übersetzt für uns, dass von einem »Bruch mit den Selbstverständlichkeiten« die Rede ist.
Wenn etwa ein Werkzeug zerbricht und nicht mehr zu seinem zugedachten Zwecke taugt, offenbart sich uns in diesem Bruch die Dinge – und zwar auffällig, aufdringlich und aufsässig. »Diese Art, die Dinge unserer Welt wahrzunehmen und zu begreifen« erkennt Cavell als Kernstück der Stummfilm-Komödie. Hier kommen Keaton und Chaplin ins Spiel. Wohlgemerkt dienen ihre Filme nur als Beispiele und nicht, um Allgemeinsätze über die Kraft filmischer Bilder zu formulieren, betont Cavell.
Lesetipp: Hier geht’s zu einem Blogbeitrag über A Casing Shelved (1970), mehr Kunstprojekt als Film.
Der General und Goldrausch
Die von ihm herangezogenen Filme sind Der General (1926) von und mit Buster Keaton, sowie Goldrausch (1925) von und mit Charlie Chaplin. Beide thematisieren den Umgang eines liebenswerten Tollpatsches mit den Widrigkeiten ihrer jeweiligen Abenteuer. Keaton in seiner Rolle als Johnnie Gray begegnet den Problemen auf seiner legendären Lokomotiven-Verfolgungsjagd mit einer stoischen Resignation, inklusive ewiger Rest-Hoffnung – ein Mann, der sich nicht unterkriegen lasse:
Er verkörpert sowohl die Notwendigkeit, in einer ungewissen Welt vorsichtig zu sein, als auch die unumgänglichen Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Wie intensiv wir auch hinschauen mögen, es gibt immer etwas hinter unserem Rücken, es gibt immer Raum für Zweifel.
Steve Cavell über Buster Keaton in Der General
Im Kontrast dazu steht Chaplins »Welt der Dinge« und sein Umgang mit ihnen. Wenn er etwa als einsamer Goldgräber einen alten Schuh wie selbstverständlich zu Abend isst (in einer Not-Situation), oder mit Brötchen einen Tanz aufführt (in einer Luxus-Situation), behandelt er die Dinge nicht als das, was sie in Wirklichkeit sind – sondern macht Gebrauch von der menschlichen Fähigkeit, die Wittgenstein mit »sehen als« auffasst:
In dieser menschlichen Fähigkeit, etwas als etwas zu sehen, sieht Wittgenstein unsere Fähigkeit zu einer Vertrautheit im Verstehen begründet.
Stevel Cavell
Haltung vs. Imagination
Unsere Vorstellungskraft kann demnach als eine Art Zufluchtsort dienen, an dem sich extreme Eindrücke der Wirklichkeit ertragen und verarbeiten lassen – und an dem sich der Mensch ungeachtet seiner äußeren Umstände glücklich wähnen kann.
So zeigten [Cavell zufolge] Keatons und Chaplins Komödien unterschiedliche Bedingungen menschlichen Glücks auf: die Fähigkeiten, angesichts der Zumutungen der Welt Haltung zu bewahren (Keaton) oder ihnen durch Imagination zu entfliehen (Chaplin).
jens eder, im journal of literary theory
Cavell definiert die philosophische Richtung des Skeptizismus als »die Einsicht, man könne von uns im strengen Sinne nicht sagen, daß wir die Existenz der Welt der materiellen Dinge überhaupt kennen und uns ihrer sicher sind.« Mit dieser Einsicht in sich aufgenommen, zeigen uns die Stummfilm-Komödien von Keaton und Chaplin – auf je eigene Weise – Wege auf, mit den materiellen Dingen umzugehen, vermittels äußerer und innerer Fähigkeiten.
Belle de jour und der Konjunktiv
Der zweite Teil von Was wird aus den Dingen im Film? handelt von Dingen anderer, nicht-materieller Art – wie menschliche Träume und Wünsche. Dazu werden die grammatikalischen Begriffe Indikativ und Konjunktiv auf das filmische Erzählen angewandt. Die Darstellung der film-inhärenten Wirklichkeit entspricht dem Indikativ, inszenierte Fantasien und Tagträume dem Konjunktiv.
Filmtipp: Ein spannender Film über den »filmischen Konjunktiv« – Was wäre wenn? – ist Jaco van Dormaels Mr. Nobody . Hier geht’s zu einem Beitrag über die Zeitstränge dieses Films.
Hier dient Belle de jour – Schöne des Tages (1967) von Luis Buñuel als Beispiel. Das Besondere an diesem Film über eine verheiratete Frau mit masochistischen Neigungen ist, dass die Fantasien und Träume der Protagonistin (gespielt von Catherine Deneuve) filmtechnisch unauffällig in die »wirklichen« Handlungen eingeflochten sind – sie heben sich in keiner Weise visuell oder akustisch vom Plot ab und werden von uns doch als Konjunktiv erkannt.
Cavell stimmt zu, Buñuel mit dieser Wirkung einen »künstlerischen Triumph« zuzuschreiben. Doch er warnt vor dem Fehlschluss, die intellektuelle oder technische Entdeckung als ausschlaggebend für die künstlerische Leistung zu sehen. Der Film Trans-Europ-Express (1966) von Alain Robbe-Grillet fällt ihm als Negativbeispiel ein. In diesem surrealen Film kommt ebenfalls ein gleitender Übergang von Indikativ und Konjunktiv zum Einsatz – jedoch nennt Cavell das Werk eine »mehr oder weniger uninteressante Arbeit«.
Der Gegenstand eines Kunstwerks
Ein Verfahren, daß an einem Kunstwerk entdeckt wurde, hat niemals einen höheren künstlerischen Wert, als das Werk selbst. Das ist für Cavell »eine Sache der ästhetischen Logik«. Dennoch kommt er zu der Einsicht, dass im Falle von Belle de jour das besagte Verfahren der künstlerischen Leistung des Films zuzurechnen ist – und zwar, weil es in Buñuels Film »seinen natürlichen Gegenstand gefunden hat«. Cavell geht sogar noch einen Schritt weiter und verallgemeinert:
Wenn wir diesen Film als ein Hauptwerk des Mediums Film ansehen, heißt das: In Belle de jour hat der Film einen seiner Hauptgegenstände gefunden.
Stanley Cavell
Doch was ist dieser Gegenstand? Ist es »die masochistische Natur der weiblichen Triebe (Sarris)? Oder »die Balance zwischen Sadismus und bürgerlicher Kultiviertheit« (Rubinstein)? Oder menschliche Identität, wie Cavell vorschlägt? (An dieser Stelle weist er darauf hin, daß es seiner Meinung nach zu den Aufgaben von Kritiker*innen gehört, den Gegenstand eines Werkes genau benennen zu können – wie man schon ahnt: leichter gesagt, als getan.)
Das Naturell des James Stewart
Um dem Gegenstand weiter auf die Spur zu kommen, berücksichtigt Cavell weitere Filme, die eines gemeinsam haben: den Schauspieler James Stewart . Dessen Naturell bringe eine Qualität mit sich, die Cavell als »Bereitschaft zu leiden« beschreibt. Cavell weiter:
Es ist genau diese Qualität, die ihm Zugang zur Gesellschaft all der Frauen gewähren würde, deren Identitätssuche den Konturen des filmischen Gegenstandes nachzuspüren scheint – jenem Gegenstand, dem ich Ausdruck verleihen möchte.
Stanley Cavell
Man könne diesen Gegenstand als Identifizierung oder das »Bewohnen eines weiblichen Bereiches des Selbst« bezeichnen; ganz gleich, ob das Selbst der betroffenen Person männlich oder weiblich ist.
Fazit zu Was wird aus den Dingen im Film?
Letztlich zieht Cavell aus seinen Erörterungen die Lehre: Die Frage, was aus bestimmten Menschen wird, wenn sie gefilmt werden, lasse sich ebenso wie die Frage, was aus den Dingen werde, nur vermittels einer einzigen Datenquelle beantworten: Den Erscheinungen und Bedeutungen jener Personen und Objekte, die in den Filmen oder auch einzelnen Szenen gefunden werden und die für uns relevant sind. Solcherlei Erscheinungen zum Ausdruck zu bringen, die Bedeutungen zu bestimmen und die Relevanz herauszuarbeiten – dafür gibt es die Kritik.
Die Aufgabe der Filmkritik bestehe darin, die filmspezifische Form und Bedeutung solcher dargestellten Dinge zu beschreiben; die Aufgabe der Filmtheorie darin, sie zu erklären.
jens eder, im journal of literary theory