Eigentlich wollte ich über das Œuvre Stanleys Kubricks schreiben (und vor allem mal das Wort Œuvre benutzen). Fast bin ich mit einer neuerlichen Sichtung seiner Filmografie durch und geplättet von der großen Kunst des Meisterregisseurs. Doch ehe ich ihn gebührend beweihräuchern kann, scheint es mir, muss ich Platons Ideenlehre darlegen. Durch das Kennenlernen derselben habe ich Kubricks Filme mit anderen Augen sehen gelernt. Soll heißen?
Im Folgenden geht es, wieder einmal, um ein eher philosophisches Thema. Wem das zu dröge ist: Hier gehts zu einem Video, das Gras beim Wachsen zeigt .
Kubricks eigenartige Handschrift
Stanley Kubrick also, ein Regisseur, dessen Fußspuren durch die Filmgeschichte sich als Meilensteine in quasi jedem Genre niederschlagen (mehr über die Anfänge der Filmgeschichte gibt es im Blogbeitrag über die Roundhay Garden Scene ). Vom trieb- und rätselhaft Kern menschlicher Psyche ( The Shining ) bis hin zur höchsten, menschenfernen Intelligenz ( 2001: Odyssee im Weltraum ) deckt Stanley Kubrick dabei die ganze Bandbreite menschlichen Seins ab. Selbst wenn ihn nicht alle mögen, ist man sich doch einig, dass da jemand etwas Großes hinterlassen hat. Ein wunderschönes Gesamtwerk, könnte man sagen, schöne Filme, schlicht und einfach.
Nun ist aber keiner seiner Filme wie der andere. Stanley Kubrick hat seine Bildsprache, seinen Stil, sein Tempo jeder Filmgattung gekonnt angepasst, sich immer wieder neu erfunden und doch eine Art Handschrift beibehalten. Deshalb eignet sich Stanley Kubricks Werk ausgezeichnet für die Frage: Was ist eigentlich Schönheit?
Das verbindende Element
Das führt uns nun unmittelbar zu Platon, der wie ich finde, die schönste Antwort auf die Frage nach dem Schönen liefert. Um sich ihr anzunähern, gilt es zunächst, zwei wichtige Begriffe zu erläutern:
Wissen hat für Platon nur dann die Chance, wahr zu sein, wenn es allgemeingültig ist, sowie unveränderlich und begründet. Für all das Wissen, das für über unsere Sinne anzusammeln meinen (indem wir sehen, hören, riechen…), gilt das nicht: Unsere Sinne können uns täuschen und wahrnehmbare Dinge können sich verändern. Ergo: empirisches Wissen, das wir vermittels unserer Sinne anreichen, hat keinen Anspruch auf Wahrheit.
Ideen hingegen ist für Platon etwas, das wir nur vor unserem geistigen Auge sehen können. Wenn es Wahrheit gibt, dann nur im Reich der Ideen – und nur im Rahmen dessen, was wir von diesem Reich mit unserem geistigen Auge einsehen können. Im Gegensatz zum Wissen ist Wahrheit nämlich: unveränderlich, perfekt und über jeden menschlichen Einfluss erhaben.
[Die gedankliche Vorarbeit zu Platons Ideenlehre hat übrigens Sokrates geleistet, jene antike Nervensäge mit ihren „Was ist bla ?“-Fragen.]rund und rational
Ein Beispiel für eine Idee im Sinne Platons (siehe: Platons Ideenlehre ) wäre unsere Definition von einem Kreis: Die Menge aller Punkte im gleichen Abstand zu einem gegebenen Mittelpunkt. Egal wie sauber du den Zirkel anlegst oder die Maschine drucken lässt, einen perfekten Kreis kann es niemals geben, nicht in der wirklichen Welt, in der wir einen Kreis unters Mikroskop nehmen können – irgendein Punkt wird schon abweichen. »Aber was ist mit Vektorgrafiken?«, möge der Designer pöbeln. »Pixelfehler!«, pöbel ich zurück. Den perfekten Kreis gibt es nur im Bereich der Gedanken. Dort können wir uns eine Vorstellung machen von einem perfekten Kreis.
Ein anderes Beispiel wäre der rationale Mensch: Der Gedanke, ein Mensch habe widerspruchsfrei zu sein, in Wort und Tat und Look und Typ, ist so offensichtlich eine Vorstellung, die in der Wirklichkeit keine Entsprechung findet. So schwer das manchmal zu ertragen ist: Ein Politiker muss nur einigermaßen widerspruchsfrei sein, um ins Amt gewählt zu werden, so wie ein Kreis nur einigermaßen rund sein muss, um den Schüler weiterzubringen. (Wobei gewisse Staatspräsidenten auch ein Viereck zeichnen und behaupten könnten »Das ist ein Kreis«, um von seinen Anhängern gefeiert zu werden; die Frage ist einfach, inwieweit das jeweilige geistige Auge die Idee der Rationalität zu beleuchten vermag, in diesem Fall eben gar nicht).
Die Idee der Schönheit
Ein weiteres Beispiel dafür, was eine Idee (also das eigentlich Wahre) vom Wissen unterscheiden, ist die Schönheit. Wenn es Schönheit gibt, so Platon, dann nur als Idee. Eine Idee zeichnet folgende Eigenschaften aus, sie ist…
- vollkommen
- unveränderlich.
- nur dem Denken zugänglich
- Urbild & Ursache
- zeitlich unbegrenzt
Ein Ding hingegen, das wir als schön empfinden – sei es ein schöner Brauch, oder Mann, oder Song (oder schönes Wetter) – dann tun wir das, weil wir die Idee der Schönheit kennen. Unser geistiges Auge beleuchtet sie, sozusagen, im weiten Reich der Ideen. Ein Ding zeichnet folgende Eigenschaften aus, es ist…
- unvollkommen
- veränderlich
- nur den Sinnen zugänglich
- Abbild und Wirkung
- zeitlich begrenzt
Was von Stanley Kubrick bleibt
Ein Brauch gerät in Vergessenheit, ein Mann stirbt, ein Song geht vorbei – und schönes Wetter zieht weiter. Wie komme ich, der ich eine Kubrick-Kollektion durchgesuchtet und als ganz großes Kino empfunden habe, gedanklich zu Platon? Na, selbst wenn die Menschen irgendwann nicht mehr ins Kino gehen werden und Stanley Kubrick lange tot ist und all seine Filme, trotz Überlange, mal vorbeigehen, bleibt etwas hängen. Etwas, das vollkommen wirkt und woran sich auch nichts ändert; Etwas, worauf ich nicht mit dem Finger zeigen, sondern was ich nur denken kann, die Ursache für meine Begeisterung: die Schönheit eben. Kubrick hat sie erkannt, die Idee der Schönheit – und er hat sie uns in seinen Filmen zugänglich gemacht.
Was ist Schönheit also? Ist es der alte Mann, der einem Mädchen nachstellt? Ist es eine Bande sich kloppender Affen, ein Axtmörder im Labyrinth, eine Gruppenvergewaltigung, ist es Krieg? Nein. Was Stanley Kubrick uns zeigt ist ausgesprochen unschön. Was Kubrick offenlegt, ist die Hässlichkeit unseres Seins in all ihren Facetten. Er zeigt uns auch schöne Bilder, gewiss, durchkomponiert, hochästhetisch, farbgewaltig, doch was er zwischen den Bildern und Zeilen und Werken vermittelt, das ist die eigentliche Schönheit. Wir können sie nicht benennen, mit Worten…
Aber daß es dieses ganz unmittelbare Erkennen gibt, dieses Erschrecken vor dem Schöne, wie es bei Plato […] heißt, daran kann wohl nicht gezweifelt werden. – Werner Heisenberg, in: Quantentheorie und Philosophie