Es mag nur Nerds interessieren. Solche, die mit bewegten Bildern arbeiten und zuweilen das Wesen ihres Gegenstandes hinterfragen. Oder solche, die einen präzisen Sprachgebrauch anstreben. Ein Hoch auf die Wortklauberei! Als Mitglied beider Lager, der Bewegtbild- und Sprach-Freunde, kann ich nicht über meine baldige Teilnahme an der Jurysitzung zu einem Festival schreiben, das um dieser Frage willen seinen Namen geändert hat: Was ist der Unterschied zwischen Film und Video?
Aller guten Differenzen sind Drei
Man kann Film und Video auf drei Arten unterscheiden. Die erste und ursprüngliche ist rein technisch. Ich berücksichtige mal den Aspekt der Ursprünglichkeit und nenne sie die historisch-technische Unterscheidung .
Die zweite und altmodische Erklärung ist ästhetisch bestimmt. Obwohl dieser Aspekt schon vorher Diskussionsstoff liefern mochte – im damals noch kleineren Kreise kreativer Amateurfilmemacher*innen – kann man diese Unterscheidung getrost der frühen YouTube-Ära zuordnen. Die heute [Stand: Februar 2019] zweit-populärste Internetseite der Welt (nach Google, vor Facebook) ist 2006 an den Start gegangen und verändert seitdem unsere Art und Weise, Bewegtbild zu produzieren und zu rezipieren. Ich nenne sie schlicht die ästhetische Unterscheidung . Diese ist schon weniger eng gefasst und hilft – mit Begriffen wie »Video-Ästhetik« – über das Bewegtbild-Medium in seiner visuellen Vielfalt besser sprechen zu können.
Komplexe Welt
Diese Vielfalt ist es aber, die auch die rein ästhetische Unterscheidung hinfällig macht. Wir leben in einer komplexen Welt. Begriffe sollen helfen, sie begreifbar zu machen. Über Dinge reden, Dinge differenzieren, benennen, erarbeiten können. Seit der menschliche Geist auf die Welt Einfluss nimmt und seine Ideen in der Kreation von Werkzeugen, Bau- und Kunstwerken verwirklicht, ist die Welt zunehmend komplexer geworden. Die Grenzen zwischen Dingen, die einst klar voneinander zu differenzieren waren, verwischen.
Was bleibt, sind Begriffe, die man synonym verwenden kann . Film und Video zum Beispiel. Ich gehe nicht ins Kino, um ein Video zu sehen, aber das YouTube-Video, das ist sehe, kann ein Film sein. Film ist Video ist Film – und nichts davon muss mit einer Video- oder Filmkamera gedreht werden. Begriffe, die einst zur Unterscheidung in einer komplexen Welt dienten, sorgen für Verwirrung in einer über komplexen Welt.
Hier macht es Sinn, die Begriffe neu zu überdenken und eine andere – ich schlage vor – rezeptive-subjektive Unterscheidung vorzunehmen.
Der Unterschied zwischen Film und Video
Die historische-technische Unterscheidung
Film war unsere erste Möglichkeit, bewegte Bilder in und für Massen zu produzieren. Dazu musste das Medium Film erfunden werden. Das berühmte Trägermaterial, das man auf Rollen lagert und mittels der gelochten Ränder auf Zahnrädern durch Filmkameras zieht, um damit Bilder einzufangen. Später rattern die gleichen Rollen durch Filmprojektoren, um die Bilder wiederzugeben. Dabei kam der Begriff Film zur Verwendung, weil film unter anderem im Englischen (wie auch im Deutschen) eine Bezeichnung für »dünne Schicht« ist – und das schon aus einer Zeit lange vor dem Film als Kunstform, als man noch über Felle und Häute sprach (auch die können spannend sein, haha).
Zur Etymologie des Wortes »Film« empfehle ich einen Blick in den entsprechenden Beitrag des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS).
Es war einmal ein Wort
Die dünne Schicht chemischer Substanzen, die auf Licht reagiert und das Bild festhält, diese Schicht ist es also, die dem Filmmaterial seinen Namen gibt. Von der Schicht über das Material wanderte der Begriff schließlich zu der Kunstform Film, die sich im 20. Jahrhundert vom Schwarzweiß-Stummfilm zum farbgewaltigen Blockbuster entwickelte.
Zur Etymologie des Wortes »Video« genügt – zumindest für eine oberflächliche Herleitung – ein Blick in den Stowasser . Dieses Standardwerk findet sich bekanntlich im Regal eines jeden Latinum-Absolventen (der das Buch danach nicht vertickt oder geraucht hat). Vom Lateinischen video (ich sehe) rührt dieser Begriff her und prägte eine andere Technik des Aufzeichnen bewegter Bilder: das Magnetband-Verfahren.
Während Filmmaterial auf Filmrollen gelagert und gehandhabt wird, hausen Magnetbänder zum Schutz der Daten, die sie tragen, in Plastik-Kassetten. Videokassetten eben. Die historisch-technische Unterscheidung zwischen Film und Video bezieht sich also auf das Material und die Technik, mit der Bewegtbilder aufgezeichnet wurden. Mit der Etablierung digitaler Aufzeichnungsmethoden büßt diese schöne, saubere Unterscheidung leider an Relevanz ein.
Einen sehr lesenswerten, englischen Artikel zum Thema (obwohl schon aus dem Jahr 2007) findet man auf der Website Destination Creation .
Die ästhetische Unterscheidung
Man könnte auch von der eigentlich-finanziellen Unterscheidung sprechen: Filmrollen sind teuer, Magnetband-Kassetten sind es nicht (so sehr). Dementsprechend auch die ganze Technik drumherum, die beim Film groß und sperrig, zuweilen spektakulär kostspielig war. Alfred Hitchcock hat für seine Kamerafahrten noch Zimmerwände verschieben dürfen, siehe: Cocktail für eine Leiche / Rope (1948). Die Aufzeichnung via Kassette ging stattdessen mit weniger und handlicherem Equipment vonstatten. Das Fernsehen entdeckte die Technik für die alltägliche Berichterstattung – und ebenso taten es Amateurfilmer, die ihren Traum vom eigenen »Film« realisieren (oder einfach nur den Urlaub dokumentieren) wollen.
Die geringeren Kosten für Videoaufnahmen gingen mit einer geringeren Qualität einher. Man muss kein Experte sein, um eine Video- von einer Film-Aufzeichnung zu unterscheiden. Das Bild ist unschärfer, verrauschter und besitzt nicht die »filmtypische« Tiefenunschärfe, weil Video-Kameras eher selten mit entsprechend lichtstarken Objektiven ausgerüstet sind (mithin das kostspieligste Zubehör am Film). Hinzu kommt, dass die leichteren Videokameras oft aus der Hand beziehungsweise auf der Schulter geführt werden konnten.
Video-Ästhetik als Stilmittel
Das hat zur Folge, dass man von Film- oder Video-Ästhetik (oder -look) sprechen kann. Dabei handelt es sich auch um Stilmittel, die immer wieder gerne zum Einsatz kommen. Es werden ganze Kinofilme in Video-Ästhetik gedreht, um die Authentizität einer Geschichte zu unterstreichen. Sehr beliebt im Horrorgenre, mit frühen Vertretern wie Blair Witch Project (1999, entstanden mit einer Film- und einer Videokamera), oder Paranormal Activity , der übernatürliche Phänomene durch die heimische Videokameras eines heimgesuchten Pärchens darstellt.
Das Manifest Dogma 95 der dänischen Regisseure Lars von Trier und Thomas Vinterberg verbindet die Vorgaben, 35mm Filmmaterial verwenden, aber aus der Hand drehen zu müssen – und ohne künstliches Licht, was eine gewisse Video-Ästhetik zur Konsequenz hat. Kurzum: Die ästhetische Unterscheidung lädt zur Vermischung ein: Film und Video werden zu Kunstformen, frei für’s kreative Spiel. Zu dem Thema hatte ich im März 2011 die Gelegenheit, Kameramann und Oscar-Preisträger Anthony Dod Mantle ( 127 Hours , Das Fest, Slumdog Millionär, T2 Trainspotting ) ein paar Fragen zu stellen, hier geht’s zum Interview .
Ein zeitgenössisches Projekt, das an Dogma 95 erinnert, sind die grandiosen Takeaway Scenes .
Todschick und tiefenscharf
Eine zeitgenössische Unterscheidung wird notwendig (möchte sagen, »notwendig« – Not ohne Anführungsstriche sollte man sich für echte Probleme aufheben). Denn weder die historisch-technische Unterscheidung, noch die inzwischen auch historisch-ästhetische Unterscheidung machen in der Gegenwart Sinn. Wer von »Video-Ästhetik« spricht und damit eine wacklige Kameraführung, Tiefenschärfe oder Bildrauschen meint, bezieht sich auf eine historische Video-Ästhetik, die längst nicht mehr gegeben ist. Wer daheim ein YouTube-Video für dieses inzwischen ziemlich etablierte Interweb aufzeichnet, kann das locker in 4K und feinster Filmausleuchtung tun. Ästhetisch todschick und trotzdem nicht teuer.
Worin liegt also heute der Unterschied zwischen Film und Video?
Die rezeptiv-subjektive Unterscheidung von Film und Video
Wir leben in verwirrenden Zeiten, in denen man (wenn man es durch die Pforte schafft) in ein Greenscreen-Studio gelangen kann, in dem Schauspieler und Action-Kino-Ikone Dwayne Johnson (weise wie Yoda, nur größer, brauner und mit mehr Tattoos) mit Vloggerin Sonja Reid (aka OMGitsfirefoxx ) vor der Kamera steht. »Was wird hier gedreht?« »Ein YouTube-Video .« Okay, Dwayne.
Wir steuern ebenso auf eine Zeit zu, in der Netflix interaktive Funktionen ausbaut (siehe: Kritik zur interaktiven Black-Mirror -Folge Bandersnatch ). In Zukunft werden wir selbst Entscheidungen für unsere Lieblings-Charaktere treffen können, per Knopfdruck. Oder per Stimme, das wäre so witzig, dass es sicher real wird – dass man dem Idioten im Horrorfilm zuschreien kann: » NEIN, MANN! Geh nicht da rein! Der Killer, MANN! DER KILLER!!!« – könnte auch sehr schnell sehr langweilig werden, na ja. Filme und Serien werden das Multiversum widerspiegeln, dass unsere Gehirne seit Urzeiten eingespeichert haben: Es könnte ja alles ganz anders verlaufen.
Die Entscheidungsvielfalt. Interaktive Filme übernehmen damit ein tragendes Element aus Videospielen, die man übrigens nie als »Filmspiele« bezeichnet. Beim Gaming macht »video« (ich sehe) auch bestechend viel Sinn. Denn das »Ich«, das erlebende und entscheidende Subjekt, steht eigentlich im Mittelpunkt der Handlung. Ein wundervolles, beeindruckendes Beispiel für Interaktivität im Film ist der Kurzfilm Possibilia vom Regisseur-Duo Daniels.
Story vs. Subjekt
Man kann sich darauf verständigen, »Film« und »Video« einfach synonym zu verwenden, weil die Unterscheidung der Mühe nicht wert ist. Ein Film ist ein Video ist ein Film. Von dieser Tatsache muss man nicht abrücken, um trotzdem eine Unterscheidung oder vielmehr Gewichtung vorzunehmen. Wir haben es immer mit Bewegtbild zu tun, aber was hat jeweils mehr Gewicht?
Eine Film erzählt eine Geschichte. Die Story mit ihren Charakteren und deren Abenteuern steht im Mittelpunkt. Zuschauer verfolgen das Geschehen, rezipieren es.
Ein Video rückt das Subjekt in den Fokus, vor oder hinter der Kamera. Sei es in einem klassischen Vlog, in Webvideos, die informieren oder unterhalten sollen, geliked und geteilt werden wollen. Im Mittelpunkt steht das handelnde, agierende, reagierende Subjekt.
Ein Bewegtbilderreigen kann nach wie vor beides sein, von Minute zu Minute und je nach Rezeption sein Wesen ändern. Ich kann eine Filmszene sehen, betrachten, der Geschichte folgen – und sie dann als Video teilen. Diese Unterscheidung stelle ich einfach mal zur Disposition. Als wie gehaltvoll sie empfunden wird, sei den Leser*innen selbst überlassen.