In diesem Beitrag geht’s um die Philosophie im Mittelalter und insbesondere um den Universalienstreit, der im Mittelalter einen Höhepunkt fand. Wie im Beitrag zur Geschichte der Philosophie beschrieben, fassen wir diese Epoche vom Jahr 600 bis etwa 1500. Die Philosophie dieser Zeit war – wie zu jeder Zeit – eine Auseinandersetzung mit den Themen ihrer Zeit. Im Folgenden geht’s um zwei Fragen: Was waren die philosophischen Themen des Mittelalters? Und was hat es mit dem Universalienstreit auf sich?
Philosophie im Mittelalter
Wenn wir den Auftakt des Mittelalters hier ums Jahr 600 ansetzen, dann ist klar, dass das Mittelalter da nicht bei null begann. Viele Jahrhunderte philosophischen Treibens gingen dieser Epoche voraus – und auch wenn viele Werke der Antike verloren oder verschollen waren, gab es doch einige kluge Köpfe der Spätantike, die das mittelalterliche Denken von Anfang an prägten. Dazu gehören Augustin oder Boethius und deren christlich-philosophische Schriften. Augustin formulierte etwa die Lehre von der Erbsünde. Das ist die Idee, dass alle Menschen am Sündenfall Adams und Evas teilhätten, somit schon sündhaft zur Welt kämen und die Erlösung durch Gottes Gnade daher bitter nötig hätten – eine Vorstellung mit großen Auswirkungen aufs Mittelalter, in dem die Bibel als Maß aller Dinge galt und Wahrheit oft eine Sache biblischer Auslegung war. Mit der Autorität über die Wahrheit geht bis heute ein Anspruch auf Macht einher, den damals eben – mit der Bibel wedelnd – die Kirche für sich erhob.
Der Kirchenvater Augustin war in seinem Denken noch beeinflusst durch Platon und dessen Ideenlehre , um die es bereits in einem vorherigen Beitrag ging. Augustin interpretierte die platonischen Ideen als Gedanken Gottes, also der Schöpfung vorausgehend. Doch der Einfluss Augustins begann zu schwinden, als im 12. und 13. Jahrhundert die Werke von Aristoteles ins Lateinische übersetzt wurden. Aristoteles war nicht nur ein Schüler von Platon, sondern auch einer seiner Kritiker. Und damit schlittern wir in den Universalienstreit des Mittelalters.
Realismus vs. Nominalismus
Wir erinnern uns, dass Aristoteles zum Beispiel Platons »Idee des Menschen« kritisierte. Ohne sein Argument nochmal in Gänze wiedergeben zu wollen, steht letztlich die Frage im Raum: Kommt der »Idee des Menschen« bzw. dem Begriff »Mensch« eine eigene Existenz zu? Breiter gefragt: Gibt es Allgemeinbegriffe wirklich, oder sind es bloß menschliche Konstruktionen? Die Begriffe sind die »Universalien«, um die es im Universalienstreit geht. Darin stehen sich zwei Positionen gegenüber: Der Realismus und der Nominalismus.
Der Realismus behauptet: Ja, Begriffe existieren – ähnlich eben, wie Platons Ideen. Sie sind für uns nicht wahrnehmbar, aber ihnen kommt ein eigener ontologischer Seins-Status zu. Das heißt, es gibt sie, so wie es Wolken und Sterne am Himmel gibt. Das heißt auch, dass wir diese Begriffe nicht einfach nach Lust und Laune ändern oder umdeuten können. Sie stehen fest. Ein bekannter Vertreter des Realismus war zum Beispiel Anselm von Canterbury, um den es im Beitrag über die Gottesbeweise ging.
Der Nominalismus erwidert: Nein, Begriffe existieren nicht als eigene Wesenheiten, sondern nur als konstruierte Wortgebilde für die eigentlichen, existierenden Einzeldinge. Die Begriffe sind von Menschen gemacht und können demnach auch von Menschen geändert werden. Diese Position fand im Zuge der Aristoteles-Übersetzungen im Mittelalter Zuspruch und wurde als Via moderna bezeichnet, als »neuer Weg«, im Kontrast zum Realismus als Via antiqua . Tatsächlich ist der Nominalismus auch näher am naturwissenschaftlichen Weltbild der Gegenwart, während der Realismus doch eher einem dogmatischen Weltbild in die Hände spielt.
Zur Umkehrbarkeit der Systeme
Zum Stichwort Realismus vs. Nominalismus zitiere ich hier nochmal Hannah Arendt, die über die Geschichte der Philosophie als eine »Geschichte von festgefahrenen Philosophenschulen« schrieb. Diese Geschichte sei von Umkehrungen bestimmt und vorwärtsgetrieben worden, sei es die Umkehr von einem Idealismus in einen Materialismus, von einer Transzendenz- in eine Immanenzphilosophie, von einem Hedonismus in einen Spiritualismus – oder eben von einem Realismus in einen Nominalismus. Arendt schreibt:
»Worauf es hier ankommt, ist lediglich die Tatsache der Umkehrbarkeit, daß nämlich alle diese Systeme so angelegt sind, daß man sie beliebig vom Kopf auf die Füße[…] stellen kann, wobei entscheidend ist, daß es für solche Umkehrungen keinerlei äußerer Veranlassungen bedarf, also keiner geschichtlichen Ereignisse […] Innerhalb der akademischen Tradition sind dies wirklich reine Verstandesoperationen.« [1]
Das nur so am Rande, nachdem uns in den vergangenen Beiträgen schon ein paar solcher »umkehrbarer Systeme« begegnet sind. Arendt plädiert also dafür, diesen rein operativen Umdenk-Aktionen keine allzu große historische Bedeutung beizumessen. Gibt es trotzdem einen Grund, warum der Universalienstreit ausgerechnet im Mittelalter einen Höhepunkt fand?
Vielleicht deshalb, weil die kirchlichen Autoritäten im Mittelalter so sehr an ihren Dogmen festhielten. Der Begriff dógma kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Beschluss oder Meinung. Bezeichnet wird damit eine feste Definition, die als unumstößlich wahr gilt, ohne sie besser zu begründen als: »Das ist so, weil – hat Gott so gesagt.« Oder: »Steht so in der Bibel.«
In der jüngeren Philosophie-Geschichte beruft sich der
Universalien-Realismus stattdessen eher auf die Natur und ihre
Gesetzmäßigkeiten. Der australische Philosoph David Armstrong etwa, der 2014 erst
verstorben ist, war als ein solcher Universalien-Realist. Damit lassen wir das
Mittelalter nun fürs Erste fast hinter uns. Im nächsten Beitrag widmen wir uns
Machiavelli, dessen Lebenszeit von 1469 bis 1527 genau in den Umbruch vom
Mittelalter in die Neuzeit fällt – und dessen Werk selbst diesen Umbruch auch
spürbar macht.
[1] Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben , S. 372.