Wo soll der »westlichste Poetry Slam Deutschlands« daheim sein, wenn nicht in der westlichsten Großstadt Deutschlands? In Aachen, diesem harten Pflaster für Maschinenbaustunden und hübschen Fleck am Drei-Länder-Eck, steigt allmonatlich der satznachvorn. – ein Poetry Slam Event, das seit 1997 regelmäßig stattfindet und damit eine echte Institution darstellt. Das merkt man, wenn man pünktlich um 20 Uhr ankommt und nicht mehr reinpasst, in den Laden, in den sich Fans und Poeten tummeln. Selbst zum 19 Uhr, pünktlich zum Einlass, ist man eigentlich zu spät, denn dann reicht die Schlange vor dem Veranstaltungsort schon bis hinter die Werbereklame zwei Hausnummern weiter, wo die Freie Christengemeinde ihren Sitz hat. Auf der Reklame steht „Hoffnung für alle“. In Wahrheit besteht eher Hoffnung für alle bis zu diesem Schild, dass man noch gute Plätze ergattert – für alle jenseits der Reklame sieht’s eher nach Stehplatz vor der Bar aus.
Nachfolgend der Erfahrungsbericht vom letzten satznachvorn. des Jahres 2017, von einer Besucherin, für die es der erste satznachvorn. ihres Lebens war. Wie einschneidend war dieses Erlebnis?
Keine Selbsthilfgruppe – sondern Poetry Slam
»Es ist die erste Veranstaltung, die wir als Neu-Aachener besuchen. Und keine drei Stunden später feierlich zum Monatsritual erklären. Von außen eher unscheinbar (abgesehen von der ellenlangen Warteschlange) lädt die „ Raststätte “ jeden ersten Freitag im Monat zu „satznachvorn.“ ein. Dabei handelt es sich weder um ein Logopädie-Training noch um eine Selbsthilfegruppe für Junggesellen. In dem heruntergeputzten, charmanten Schuppen versammelt sich ein Publikum so bunt wie ein Strauß Wildblumen. Gekommen, um zu lauschen, was das noch gemischtere Ensemble an Poetry Slammern aus ganz Deutschland zu posieren hat. Gekommen, um mitzuentscheiden, wer von den acht Rednern in die nächste Runde kommt.
Wir haben Glück und noch Sitzplätze ergattert. Einige böse Blicke bohren sich in meinen Rücken, aber da wir unseren Freund mit der Knieverletzung nicht stehen und nicht alleine sitzen lassen wollen, haben wir die Stuhlreihen eben mal um eine nach hinten erweitern lassen. Ansonsten ist die Lage entspannt, die Stimmung ausgelassen. Es plöppt das Flensburger (schmeckt scheinbar auch den Aachenern) und applaudiert das Publikum.
Eric Jansen und Oscar Malinowski
Die Moderatoren und ebenfalls Poetry Slam erprobten Eric Jansen und Oscar Malinowski treten auf die bodenebene Bühne. Sie liefern sich ein schlagfertiges Wortgefecht, bei dem jeder humoristisch sein Fett wegkriegt. Am liebsten würde ich jetzt schon meine Stimmpappe heben – für die gelungene Einführung. Doch das war nur das Vorspiel. Die drei Minuten reichen aus und die Publikumslust ist groß genug auf die oder den, der jetzt die Bühne betritt.
Alle kommen auf ihre Kosten. Am Anfang noch etwas zaghaft, reißen die Menschen bald fleißig ihre Stimmpappe in die Höh, der stille After-Applaus sozusagen, nachdem sich der Künstler hinter die Bühne begeben hat. Ob Froschliebhaber wie Jonas Grumbkow, Apfelprinzen vom Bartflüsterer, Russenfamilie von Benjamin Poliak oder feminine Melancholie von Rebecca Heims, es kommt kaum ein Thema zur Sprache, womit das Publikum nichts anzufangen weiß. All die Slammer sind einzigartig in ihrer Vortragsweise, ihren Geschichten und ihrer Ausstrahlung. Am meisten beeindruckt hat mich Benjamin Poliak, der 17-Jährige aus Essen mit seinem wunderbaren Charisma und einem Sinn für Humor, der bei mir so hart ins Schwarze trifft, dass ich weinen musste.
Inspiration und Blasendruck
Auch Rebecca Heims liefert ab, eine Hater-Story über aufgesetzte Typen auf WG-Partys, unhöfliche Menschen und volle Supermärkte. Dieser Aggro-Spirit inspiriert mich bis in die WC-Pause hinein, wo ich das Maulaufreißen gleich an den zwei Teenagern übe, die sich vor mich drängeln wollen, nachdem ich bereits eine halbe Stunde damit beschäftigt war, meine Blase vom Sterben abzuhalten. Aber nicht mit mir! Dank Rebecca Heims hat sie überlebt.
Ein weiteres Highlight an diesem Dezemberabend ist der Bartflüsterer, der seinem Namen alle Ehre macht. So ein hipper Vollbart ist ja Geschmacksache (nicht meins), aber die Worte, die sich hinter dem dichten Wuchs den Weg zum Publikum bahnen, haben mich. Im Plauderton, als wäre jedes Wort improvisiert, gibt er der bärtige Mann ein Märchen zum Besten. Das erzählt er zwar von der Mitte an und bricht es abrupt ab, aber macht es so schön absurd und fantastisch, dass ich mehr davon möchte. Zum Schluss ist es auch Jonas von Grumbkow, der mich mit seinem heldenhaften Einsatz für Frösche und seiner kultivierten Ausstrahlung für sich eingenommen hat.
Gewinner des Abends
Gewonnen hat an diesem Abend Benjamin Poliak, vollkommen verdient. Mit seinem gesellschaftskritischen Text Wer hat Recht? und Liebestext River flows in you beweist er, dass seine Art von Poetry Slam nicht nur humorvoll, sondern tiefsinnig und reich an Gedanken ist, die zum Hören gemacht sind. Raststätte, wir kommen wieder. Nächstes Mal mit sitzweitervorn.«
Einen weiteren Erfahrungsbericht, aus anderer Feder zu einer anderen Veranstaltung, gibt’s hier: Bemerkungen eines Bandbattlebesuchers