Heute geht es um Georg Simmel und seine Philosophie des Geldes . Das hier ist der zweite Beitrag eines Exkurses zu den Themen moralisches Handeln, Geld und Gerechtigkeit. Zuletzt ging es um moralisches Handeln, anhand der Theorie der ethischen Gefühle von Adam Smith – jenem Denker, der auch Der Wohlstand der Nationen schrieb, im Jahr 1776. In dieser Zeit setzte in England die Industrialisierung ein, die sich bald auf Europa und Nordamerika ausweitete, und mit ihr der Kapitalismus. Im Zuge dieser Strömungen entstanden im 18. und 19. Jahrhundert etliche Werke über die Bewegungsgesetze des Geldes. Allein, dass keines das Geld selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung machte. Und dann kam Georg Simmel und sein »genialer Wurf«, wie Simmel-Fachmann Ingo Meyer es nennt: Simmel habe »das Allertrivialste, das wir alle heute in der Tasche haben«, als Symbol dafür genommen »wie die Gesellschaft zu der geworden ist, die sie ist.« [1]
Ich wander durch all eure Hände
Seeed · G€LD
Baby, komm tanz mit mir
Ich lasse mich gerne verschwenden
Werd nie mein Glanz verlier’n
Geld und Gesellschaft
Wenn der Mensch das animal symbolicum ist, wie der Philosoph Ernst Cassirer es einst definierte, mit der menschlichen Fähigkeit zur symbolischen Formgebung als Ursprung allen kulturellen Schaffens, dann nimmt das Geld in diesem Schaffen eine zentrale Rolle ein. Vordenker, der Simmel war, erweist sich seine Analyse der damaligen Gesellschaft auch noch als bemerkenswert fruchtbar für die heutige Gesellschaft. Im folgenden Beitrag geht es also um das Thema Geld, anhand der Philosophie des Geldes von Georg Simmel. Dabei handelt es sich um ein 800 Seiten starkes Werk, dessen Kernthese hier nur grob nachvollzogen werden kann, mit Fokus auf die ersten beiden Kapitel. Zunächst ordnen wir den Denker historisch und das Werk biografisch ein: In welche Phase seines Schaffens fällt die Schrift? Danach betrachten wir die Werttheorie von Simmel und wenden uns abschließend der Frage zu, ob Geld einen eigenen Substanzwert hat?
Als Quellen liegen mir die Philosophie des Geldes im Nachdruck des Anaconda Verlages von 2009 vor, basierend auf der zweiten Auflage von 1907. Ergänzend dazu Werner JungsEinführung zu Simmel, 2016 im Junius Verlag erschienen, Klaus Lichtblaus Buch über Simmel von 1997 – und zu guter Letzt der radioWissen-Beitrag zur Philosophie des Geldes aus 2018.
Georg, Gertrud und die Großstadt
Georg kommt 1858 in Berlin zur Welt, die Hauptstadt des Deutschen Reiches mit einer Bevölkerung von knapp einer halben Millionen Menschen. Trotzdem gilt sie als »bieder und verschlafen« – doch das ändert sich in den folgenden Dekaden. Berlin mustert sich »zu einer boomenden Banken- und Handelsmetropole«, in die der »Kolonialhandel und die Aufbruchsstimmung der Gründerzeit große Mengen Kapital« hineinspülen. [2]
Als Georg 1885 Dozent für Philosophie an der heutigen Humboldt-Uni wird, zählt Berlin schon über 1,2 Mio. Einwohner*innen. Eine von ihnen ist die Künstlerin Gertrud Kinel, die den Dozenten Georg 1890 zum Mann nimmt. In diesem Jahr erscheint sein Aufsatz Zur Psychologie der Frauen , zwei Jahre später Einiges über die Prostitution in Gegenwart und Zukunft . Ein früher Biograf ordnet diese Zeit der frühen Schaffensphase zu, in der sich Georg auch intensiv mit der Evolutionstheorie beschäftigt und sie mit der Entwicklung der Kultur in Zusammenhang bringt. Ein interessantes, aber anderes Thema. Einen Betrag über Evolutionstheorie und Kulturentwicklung gibt’s in Zukunft mal.
Die Jahrhundertwende
Die Jahrhundertwende markiert den Beginn der mittleren Schaffensphase von Georg – zur selben Zeit, da Gertrud sich ihrerseits der Philosophie zuwendet. Sie veröffentlicht 1910 etwa die Schrift Realität und Gesetzlichkeit im Geschlechtsleben und unterstützt die Frauenbewegung. Auch ein spannendes, anderes Thema. Mehr zu den Anfängen der Frauenbewegung gibt’s im nächsten Jahr.
Hier und jetzt soll es um die Philosophie des Geldes gehen. Mit der Zunahme des Kapitals und der Zahl der Wohlhabenden im Berlin des späten 19. Jahrhunderts ist Geld allgegenwärtig geworden. Doch anders als viele andere geht Simmel das Thema philosophisch an. Ihn beschäftigen die Fragen nach dem Geld und der Geldwirtschaft v. a. hinsichtlich ihres Einflusses auf das moderne Leben und die Kultur (Jung, S. 51). Fragen wie: Welche Rolle spielt Geld in unserem Wertesystem? Wie hat es sich im Laufe der Zeit verändert? Und wie kommt es, dass sein Stellenwert schon fast universell zu nennen ist? [3] Um sein Anliegen deutlich herauszustellen, unterstreicht Simmel gleich in der Vorrede: »Keine Zeile dieser Untersuchungen ist nationalökonomisch gemeint.« Er will klarstellen, dass das Geld Dimensionen hat, die über die Ökonomie weit hinausgehen. [4]
Simmel und die Soziologie
Wer heute am ehem. Wohnhaus der Simmels in Berlin vorbeigeht, liest dort auf einer Gedenktafel von Georg als dem »Begründer der deutschen Soziologie«. Dennoch weist Klaus Lichtblau darauf hin, dass Simmel »gerade der Soziologie nur einen sehr beschränkten Erklärungsanspruch bezüglich einer Analyse der Eigenart des modernen Lebens« zugesprochen habe.
Simmel wird man insofern nur dann voll gerecht, wenn man [den] grundsätzlichen pluralistischen Charakter seines Denkens und Schaffens berücksichtigt. Seine eigene Gelehrsamkeit erwuchs [aus] der Überzeugung, daß nur bei Berücksichtigung [der] unterschiedlichen disziplinären Zugangsweisen sich zumindest in einem formalen Sinne so etwas wie eine einheitliche Erfahrung der Moderne gewinnen läßt. – S. 19
Dass Simmel im Übrigen ein eigenes Verständnis von Soziologie hatte, geht schon aus seiner Schrift Das Problem der Sociologie von 1894 hervor. Anders als etwa Marx abstrahierte Simmel bewusst von den Absichten und Interessen der Handelnden und konzentrierte sich ganz auf die sozialen Wechselwirkungen zwischen Individuen und Gruppen.
Warum eine Philosophie des Geldes?
Simmels Soziologie entspricht – als Wissenschaft sozialer Wechselwirkungen – genau derjenigen bereichernden Ausnahme, die Wilhelm Dilthey in seiner ansonsten harschen Kritik an der Soziologie seiner Zeit gelten lässt. Schon in einem früheren Werk – Über sociale Differenzierung von 1890 – stellt Simmel außerdem klar, dass es sich bei der Soziologie um eine »Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz« handele, die Ergebnisse anderer Wissenschaften als neuerliche Synthese zusammenführe.
Wissenschaften wie die Nationalökonomie etwa. Solche Einzelwissenschaften sind für Simmel in zweierlei Hinsicht begrenzt: Nach unten hin stößt jede Einzelwissenschaft auf eine Grenze durch begriffliche und methodologische Voraussetzungen. Diese sind Ergebnisse erkenntnistheoretischer Reflexionen, die der Einzelwissenschaft selbst vorausgehen. Und nach oben hin stößt jede Einzelwissenschaft auf eine Grenze, über die hinaus es philosophisch spekulativ wird. Als dergestalt begrenzt erscheint Simmel auch der von Marx und Engels begründete historische Materialismus, der Theorien zur Erklärung von Gesellschaft und Geschichte umfasst. Simmel beabsichtigt, diesem Materialismus ein philosophisches Stockwerk zu unterbauen.
[…] derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden. – S. 17
Insofern heißt Simmels Werk von 1900, das sich nicht nur als Synthese, sondern auch als Analyse versteht, nicht Soziologie des Geldes . Seine Wahl fällt auf das Fach Philosophie. Diese bezeichnet der Denker als Pendant zur Kunst. In letzterer ginge es stets um ein einzelnes Motiv, von dem ausgehend sie jede mögliche Erweiterung desselben zum Allgemeinen empfinden lasse – wie ein Geschenk. In der Philosophie hingegen geht es um die Gesamtheit des Daseins, das ob seiner Größe auf ein einzelnes Motiv gebracht werden muss, von dem her eine Erweiterung desselben zum Allgemeinsten nachzuzeichnen ist – wie eine Bringschuld.
Warum eine Philosophie des Geldes ?
Nun wählte Simmel als Motiv seiner philosophischen Gegenwartsbetrachtung nicht die Arbeit oder die Produktion – wie es jene Theoretiker des historischen Materialismus taten – sondern das Geld als »die reine Form der Tauschbarkeit« (Simmel, S. 155).
Indem Simmel bewußt der Allmacht des Geldes und einer durch sie geprägten Kulturindustrie einen hervorragenden Stellenwert in seinen kulturkritischen Schriften einräumte, vollzog er gleichsam eine »materialistische« Wende innerhalb der bürgerlichen Kulturphilosophie der Jahrhundertwende, die er nur deshalb nicht als materialistisch bezeichnete, weil sie nicht bei der Behauptung einer Vorrangstellung der ökonomischen Sphäre stehenblieb, sondern gerade deren Wechselwirkung mit den verschiedensten anderen gesellschaftlichen Bereichen zum Gegenstand hatte. – Lichtblau, S. 16
Werner Jung weist auch auf Simmels Lebensumstände hin, als Gründe für dessen gesteigertes Interesse an der Geldwirtschaft – also »die Erfahrungen des großstädtischen Lebens und Simmels Einsicht in den […] wechselseitigen Zusammenhang der Geldwirtschaft mit dem Anwachsen der Großstädte.« (S. 52) Im Erscheinungsjahr der zweiten Auflage der Philosophie des Geldes , 1907, ist die Berliner Bevölkerung bereits auf über zwei Mio. Menschen angewachsen. Ringsum den Denker herrscht ein wuseliges Miteinander.
Gegensätzliche Weltanschauungen stehen im Raum: der bürgerliche Individualismus mit seinem Bestehen auf persönlichen Freiheitsrechten auf der einen Seite und das sozialistische Bestreben bzgl. einer zunehmenden Vergesellschaftung der ökonomischen Produktionsmittel und der zentralen politischen Institutionen auf der anderen Seite. Simmel will diese sich scheinbar ausschließenden Parteistandpunkte begreifbar machen, »als wechselseitig aufeinander bezogene Momente eines übergreifenden Entwicklungsprozesses auf dem Weg zu einer genuin modernen Gesellschaft«, so Lichtblau (S. 25).
Kernthese und Werttheorie
Die Kernthese der Philosophie des Geldes besagt, dass sich mit wachsender Differenzierung und stetig komplexeren Wechselwirkungsprozessen die Abhängigkeit von einer festen Gruppe löse, zugunsten rein relativer Abhängigkeiten – womit die individuelle Freiheit wachse.
Zur Herleitung und Erläuterung dieser These betrachten wir Simmels Schrift nun etwas genauer. Die Philosophie des Geldes umfasst zwei Teile. Im ersten, sogenannten analytischen Teil will Simmel »das Wesen des Geldes aus den Bedingungen und Verhältnissen des allgemeinen Lebens verstehen lassen«, im zweiten synthetischen Teil geht es ihm umgekehrt um »Wesen und Gestaltung des [Lebens] aus der Wirksamkeit des Geldes.« (S. 15)
Der Sinn und Zweck des Ganzen ist nur der: von der Oberfläche des wirtschaftlichen Geschehens eine Richtlinie in die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zu ziehen. – S. 16
Der analytische Teil untersucht die Voraussetzungen, die »dem Geld seinen Sinn und seine praktische Stellung« zuweisen, in der seelischen Verfassung der Menschen, in ihren sozialen Beziehungen und in der logischen Struktur der Wirklichkeiten und Werte (S. 14) – was uns zu zwei wichtigen Begriffen bringt: Wert und Wirklichkeit . Man mache sich selten klar, schreibt Simmel,
daß unser ganzes Leben […] in Wertgefühlen […] verläuft und überhaupt nur dadurch Sinn und Bedeutung bekommt, daß die […] Elemente der Wirklichkeit über ihren Sachgehalt hinaus unendlich mannigfaltige Maße und Arten von Wert für uns besitzen. In jedem Augenblick, […] lebt [unsere Seele] in der Welt der Werte, die die Inhalte der Wirklichkeit in eine völlig autonome Ordnung faßt. – S. 23
Wert und Wirklichkeit existieren als zwei Ordnungen berührungslos nebeneinander. Oberhalb von diesen Ordnungen liegt, was ihnen gemein ist: die Inhalte oder das Bezeichenbare »an der Wirklichkeit und in unseren Wertungen, das, was gleichmäßig in die eine wie in die andere Ordnung eintreten kann.« (S. 26) Simmel vergleicht es mit dem metaphysischen Konzept der Ideen bei Platon. Mehr zur Ideenlehre gibt’s in einem eigenen Beitrag, unten verlinkt.
Unterhalb von Wert und Wirklichkeit liegt wiederum das, dem sie selbst beide gemein sind: die Seele, die diese Ordnungen »in ihre geheimnisvolle Einheit aufnimmt« (S. 27) oder aus sich heraus erzeugt. Hier vergleicht Simmel Wert und Wirklichkeit mit verschiedenen Sprachen der Seele für die Inhalte der Welt. Zustande gebracht wird unser Weltbild durch einen Prozeß der Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt, auf zweierlei Weisen: logisch , indem jene bezeichenbare Inhalte mal als Inhalte der Vorstellung und mal als Inhalte der Wirklichkeit begriffen werden; psychologisch , indem das ichlose Vorstellen, das keinen Unterschied zwischen Person und Sache macht, in sich auseinandertritt – so wie es bei jedem Kind irgendwann passiert.
Das Begehren der Anderen
Im ersten Kapitel – unter dem Titel Wert und Geld – entfaltet Simmel nun eine Werttheorie und beschreibt den Wert, im Kontrast zur Wirklichkeit, als eine rein subjektive Größe. Zugrunde liegt ihm ein individueller Akt der Wertschätzung. Mit Rückgriff auf Kant – die Möglichkeit der Erfahrung bilde erst die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung – beschreibt Simmel die Möglichkeit des Begehrens als Möglichkeit der Gegenstände des Begehrens.
Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht – heißt uns ein Wert. – S. 34
Wie auch immer »Dinge« definiert werden mögen, der Wert sei keine Eigenschaft dieser Dinge, sondern ein subjektives Urteil über sie. Und so »wie die Welt des Seins meine Vorstellung ist, so ist die Welt des Wertes meine Begehrung«, schreibt Simmel (S. 39).
Auf dieselbe Weise, wie Vorstellungen nun zu Wahrheiten (zu wahr Seiendem) werden – nämlich vermittels der Relativität – so werden Begehrungsobjekte zu Werten (S. 129). Anders gesagt: Die Tatsache des wirtschaftlichen Tausches löse, laut Simmel, die Dinge von dem »Eingeschmolzensein in die bloße Subjektivität der Subjekte und läßt sie […] sich gegenseitig bestimmen.« Und weiter:
Den praktisch wirksamen Wert verleiht dem Gegenstand nicht sein Begehrtwerden allein, sondern das Begehrtwerden eines anderen. – S. 59
Alles ist wechselwirksam
Und was soll die Beschränkung aufs Wirtschaftliche? Man müsse sich klarmachen, bemerkt Simmel, »daß die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander als Tausch gelten kann« – jede Wechselwirkung sei als Tausch zu betrachten. Das kann ein Gespräch sein, eine Liebesbeziehung oder auch nur ein Blick. Wert und Tausch sind aufs Engste miteinander verwoben. Und »das Wertmaß und mithin das Medium, in dem Tauschakte vollzogen werden, ist für Simmel das Geld« (Jung, S. 58). Er beschreibt es »als Gipfel und reinsten Ausdruck« des wirtschaftlichen Wertes (Simmel, S. 102).
Nur das Geld […] ist nichts als die reine Form der Tauschbarkeit, es verkörpert das Element oder die Funktion an den Dingen, durch die sie wirtschaftliche sind, die zwar nicht ihre Totalität, wohl aber die seine [des Geldes] ausmacht. – S. 155
Inwieweit reicht die historische Verwirklichung des Geldes an die Idee seiner als »reine Form der Tauschbarkeit« heran? Darum dreht sich das nächste Kapitel der Philosophie des Geldes .
Der Substanzwert des Geldes
Im zweiten Kapitel – Der Substanzwert des Geldes – befasst Simmel sich mit der Frage, ob dem Geld selbst ein Wert zukomme. Immerhin sind wir es von manchen Messmitteln gewohnt, dass sie in derjenigen Qualität, die sie messen, mit dem gemessenen Ding übereinstimmen: Ein Längenmaß muss lang sein, eine Balkenwaage zur Gewichtsmessung schwer – und ein Wertmaß demnach wertvoll, nicht wahr? Nein. Dieses logische Prinzip gilt nur für das Messen durch unmittelbare Gleichungen zwischen Gegenstand und Messgerät. Doch die Annahme einer unmittelbaren »Beziehung zwischen dem Objekte und dem Geldpreis« ist, wie Simmel im vorausgegangenen Kapitel noch schrieb, wortwörtlich mittelalterlich. Er vergleicht diesen gedanklichen Irrtum mit der Vorstellung des Rechts als etwas, das inhaltlich im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Individuum an und für sich stehe – wohingegen Recht »in Wirklichkeit […] doch nur ein Verhältnis von Menschen untereinander« sei. (S. 149) Zurück zum Messen von Gewichten respektive Werten.
»Wo […] das Messen nur durch unmittelbare Gleichung zwischen zwei Quanten [im wirtschaftlichen Sinne: Mengen eines bestimmten Materials] geschehen kann«, fasst Simmel zusammen, »da setzt es Qualitätsgleichheit voraus. Wo aber eine Änderung, eine Differenz oder das Verhältnis je zweier Quanten gemessen werden soll, da genügt es, daß die Proportionen der messenden Substanzen sich in denen der gemessenen spiegeln, um diese völlig zu bestimmen.« (S. 159)
Ohne, daß zwischen den Substanzen selbst eine Wesensgleichheit bestehen muss – und gar, wenn ganz wesensfremde Glieder in die Messung miteinfließen. Es genüge »das Bestehen eines Gesamtverhältnisses, um die Quanten der Glieder aneinander zu messen.« Mit der Einführung eines Gesamtgeldquantums und eines Gesamtwarenquantums zeigt Simmel, dass auch x-beliebige Geldmenge und x-beliebiger Gegenstand aneinander messbar sind, gleichgültig, ob das erstere selbst ein Wert ist oder nicht . (S. 160) Schon hier wird klar, worauf die Sache hinausläuft: Geld selbst hat für Simmel keinen Substanzwert – zumindest nicht mehr. Er verweist, seiner Zeit voraus, auf den vollständigen Relativitätscharakter:
Wenn etwa vorausgesetzt würde, daß die Gesamtsumme des Geldes […] den Gegenwert für die Gesamtsumme der Verkaufsgegenstände bildete, so brauchte man dies noch nicht als ein Messen des einen am deren anzuerkennen. Es ist eben nur das Verhältnis beider zu dem wertsetzenden Menschen und seinen praktischen Zwecken, das sie untereinander in eine Beziehung von Äquivalenz setzt. – S. 161
Die Philosophie des Geldes bietet keine Entstehungsgeschichte der modernen Geldwirtschaft, also des Kapitalismus zu Simmels Lebenszeit. Laut Werner Jung hätten manche Interpreten darin einen Skandal gesehen: Simmel nimmt die herrschende, kapitalistische Gesellschaft einfach hin, als factum brutum , ohne systematisch nach ihrer Genese zu fragen (S. 59). Unsystematisch, stattdessen fragmentarisch zeichnet Simmel die Entstehung der Geldwirtschaft dennoch in groben Zügen nach. Etwa, wenn er nun im zweiten Kapitel einige historische Beispiele des Naturalientausches anführt, für eine Formel, die er schon im ersten Kapitel erläutert – nämlich,
»daß man von allen Waren sagen konnte, sie seien in gewissem Sinne Geld. Jeder Gegenstand b, der gegen a, und von seinem nunmehrigen Besitzer gegen c vertauscht wird, spielt insofern, jenseits seiner Dingqualitäten, die Rolle des Geldes« (S. 150).
Wie kann das sein, wenn doch die Dingqualitäten einer Muschel, einer eisernen Hacke oder was im Laufe der Geschichte sonst so als Geld diente, dermaßen unterschiedlich sein können?
Die beschränkte Aufnahmefähigkeit unseres Bewußtseins einerseits, die kraftsparende Zweck-mäßigkeit seiner Verwendung andererseits bewirkt, daß von den unzähligen Seiten und Bestimm-ungen eines Interessenobjekts immer nur eine geringe Zahl wirklich beachtet werden. – S. 163
Jener wertsetzende Mensch mit seinen praktischen Zwecken ist das Entscheidende. Dieser Mensch setzt seine Werte vielmehr nach seinen jeweiligen Bedürfnissen als nach der wirklichen Beschaffenheit der Dinge. Simmel stellt die Mechanismen der Individualwirtschaft detailliert dar, nicht nur als Analogie zur Wirtschaft überhaupt, sondern dieser vorausgehend: »die fortwährenden subjektiven Abwägungen müssen als Niederschlag das objektive Verhältnis zwischen Ware und Preis erzeugen.« Er übertreibt nicht, wenn er schreibt:
Ein Maßverhältnis zwischen zwei Größen nicht mehr durch unmittelbares Aneinanderhalten herzustellen, sondern daraufhin, daß jede derselben zu je einer anderen Größe ein Verhältnis hat und diese Verhältnisse einander gleich oder ungleich sind – das ist einer der größten Fortschritte, die die Menschheit gemacht hat, die Entdeckung einer neuen Welt aus dem Material der alten. – S. 183
Die unverkaufte Ware indes, die sei nur eine Ware »der Möglichkeit nach« – wie Simmel mit Aristoteles sagt – erst im Moment ihres Verkaufs werde sie zur Ware »der Wirklichkeit nach«. Ebenso ist das Geld »erst in dem Augenblick, wo es kauft, d. h. die Funktion des Geldes übt, wirklich Geld« (S. 169).
Funktion schlägt Substanz
Simmel zeigt, dass die Funktion des Geldes, »Werte zu messen, ihm den Charakter eines Eigenwertes nicht aufzwingt« (S. 175) – und meint, allein diese Möglichkeit lasse doch das innerliche Wesen des Geldes erkennen. Während es » seinem Stoffe nach als unmittelbar wertvoll empfunden worden« ist (S. 177), über viele Jahrtausende hinweg, sei die moderne Entwicklung absehbar, mit ihrem Giroverkehr und internationalem Wechselversand (so Simmels Stand der Dinge).
Der modern entwickelte Verkehr strebt offenbar dahin, das Geld als substantiellen Wertträger mehr und mehr auszuschalten, und er muß dahin streben, weil auch die gesteigertste Edelmetallproduktion nicht ausreichen würde, alle Umsätze in bar zu begleichen.« – S. 179
Das klingt so pragmatisch, wie es eben praktisch ist, bargeldlos zu zahlen. In Zeiten von E-Cash und Kryptowährungen erscheint Simmel aktueller denn je.
Geld war einmal ein Wertäquivalent, das wir mit Händen greifen konnten – »Der Silber- oder Goldgehalt einer Münze bestimmte, was man mit ihr machen konnte« [5] Doch irgendwann wurden die Metalle knapp und in der Neuzeit machten sich Geldscheine breit: bedrucktes Papier. Die älteste, erhaltene Banknote stammt aus China – das erste Land der Welt, in dem Papiergeld schon viel früher, um das Jahr 1000, zum Einsatz kam [B]. Die logische Weiterführung der bezifferten Zettel sind nun, im Computerzeitalter, digitale Datensätze. Der Funktionswert des Geldes ist von derart großer Bedeutung, dass es keinen Substanzwert mehr braucht. Simmel sagt:
Nicht was das Geld ist, sondern wozu es ist, verleiht ihm seinen Wert.
In einer Welt, in der es nichts zu tauschen gibt, ist Geld nichts wert. Nun sind Tauschakte aber, wie gesagt, ja nicht nur wirtschaftlich – manche z. B. sind kriegerisch. Simmel nennt die Ermöglichung von Symbolen durch die psychologische Heraussonderung des Quantitativen (S. 191) eine »Geistestat von außerordentlichen Folgen«. Wir müssen uns vor Augen führen, nicht nur, wie viel wir mit der Symbolwerdung des Geldes gewonnen haben, sondern wie viel weniger wir zu verlieren hätten, wenn diese Entwicklung auch in anderen Bereichen so weit reichte. Simmel ersinnt ein Kriegsspiel, »in dem alle Heeresmassen, alle Chancen, alle Intelligenz der Führung einen vollständigen symbolischen Ausdruck fände«, womit der physische Kampf unnötig gemacht werden würde – ein Gedanke, den die Geschichte mit Ignoranz strafte: In zwei Weltkriegen wurde der physische Kampf bis aufs Letzte ausgetragen. Doch die Weiterführung solch tödlichen Kriegstreibens sollte, im Computerzeitalter, bloße Simulation sein. Das wäre eine außerordentliche Geistestat.
Die fortschreitende Differenzierung unseres Vorstellens bringt es mit sich, daß die Frage des Wieviel eine gewisse psychologische Trennung von der Frage des Was erfährt – so wunderlich dies auch in logischer Hinsicht erscheint. – S. 191
Differenzierung heißt Fortschritt. Und so, wie die Erfindung der Taschenuhr dem Menschen ein neues Verständnis von Pünktlichkeit brachte, geht mit der Erfindung des Geldes ein neues Verständnis von Vertrauen einher, in sämtlichen Lebensbereichen – ein Geldvertrauen als allgemeine und verbindliche Instanz (und Ersatz für das, was mal das Gottvertrauen war).
Verkürzt gesagt behauptet Simmel, mit Geld geht alles. Man kann, sagt Simmel zynisch, auch Liebe kaufen. […] Allerdings, in der Moderne, das ist Simmels geniale Idee, nur noch über Geld. Nicht mehr über [herkömmliches] Vertrauen, nicht mehr über Dankbarkeit, nicht mehr über Verwandtschaftsbeziehungen. Das ist modern. – RadioWissen
Moderne Menschen sind frei. Egal, wo sie herkommen, wen sie lieben oder woran sie glauben – vor dem Geld sind alle gleich. Alle brauchen es, alle wollen es, alle wissen das. Andererseits schafft Geld neue Ungleichheiten, wie diejenigen zu spüren bekommen, die keines haben. Wer Miete zahlen kann, denkt darüber selten als Preis für Privatsphäre nach. »Simmel nennt das die Veräußerlichung von Beziehungen: Wer bezahlen kann, schützt gleichzeitig sein Innerstes. Wer Geld auf den Tisch legt, erspart sich Fragen und ist unabhängig.« [6]
Hans-Peter Müller, Prof. für Soziologie an der Humboldt-Uni zu Berlin, bringt’s auf den Punkt: Geldbesitz verleihe beides, »Potenz im Sinne von Macht und Potenzial im Sinne von Möglichkeiten. Und plötzlich werden aus Denkmöglichkeiten reale Möglichkeiten.« [7] Wer hingegen kein Geld hat, ist raus aus dem Raum realer Möglichkeiten. Moderne Menschen sind also frei und abhängig zugleich. Ich wiederhole die Kernthese der Philosophie des Geldes :
Mit wachsender Differenzierung und stetig komplexeren Wechselwirkungsprozessen löst sich die Abhängigkeit von einer festen Gruppe zugunsten rein relativer Abhängigkeiten – womit die individuelle Freiheit wächst. Der magische Mehrwert des Geldes bestehe darin, sagt Müller, dass es sich zum absoluten Mittel heraufschwinge. Und der Witz sei:
Das absolute Mittel wird dann , in verkehrter Weise, auch zum absoluten Zweck. Die Menschen vergessen über den permanenten Gelderwerb und der ewigen Lust daran, es zu vermehren, wozu sie es verwenden wollten. Wir können zwar zwei Autos besitzen oder mehrere Uhren kaufen – doch irgendwann ist der Bedarf gedeckt. Beim Geld, so Simmel, verhält es sich anders. Es gibt keine Sättigungsgrenze, man kann immer noch mehr Geld haben. – RadioWissen
Genau das sei
es, was Simmel philosophisch und soziologisch zu fassen versuche. Was lernen
wir daraus? Dass wir unsere Ziele nicht aus den Augen verlieren sollten, und
dass Geld allein ein Ziel ohne Linie ist – und damit kein richtiges Ziel. So
viel zu Georg Simmel und seiner
Philosophie des Geldes
, ein wie gesagt
sehr umfangreiches Werk, das wir hier nur in groben Zügen nachvollziehen
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[1] RadioWissen: Georg Simmel – Die Philosophie des Geldes , Sendung vom 19.09.2018.
[2] RadioWissen: Georg Simmel – Die Philosophie des Geldes , Sendung vom 19.09.2018.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] RadioWissen: Georg Simmel – Die Philosophie des Geldes , Sendung vom 19.09.2018
[6] RadioWissen: Georg Simmel – Die Philosophie des Geldes , Sendung vom 19.09.2018
[7] ebd.