Zuletzt aktualisiert am 17. Dezember 2018 um 9:39
Ich möchte etwas Bedeutsames schreiben wie »wir leben in zynischen Zeiten«. Doch inzwischen hab ich zu viele Interviews mit Noam Chomsky gesehen, dem amerikanischen Philosophen. Er wird im Dezember 90 Jahre alt – und nicht müde, uns auf die verkehrte Welt hinzuweisen, in der wir leben. Hier im rechtschaffenen Westen mit weißer Weste, umgeben von Schurkenstaaten und schwarzen Schafen. Wir leben eben nicht heute erst in zynischen Zeiten, in solchen sind unsere Großeltern schon aufgewachsen. Nun findet in der dauerbespaßten Internetgesellschaft der Gegenwart ein Opa wie Chomsky kein Gehör mehr. Da muss man andere Geschütze auffahren, will man Missstände anprangern. Und deshalb sprechen wir heute über den Rapper Childish Gambino und sein Musikvideo zu This Is America . Das ist gestern durch die Decke gegangen, völlig zu recht.
Nachtrag: Inzwischen hat Michael Moore eine neue Dokumentation herausgebracht – Fahrenheit 11/9 – die das Amerika der Gegenwart auf bedrückende Weise einfängt. Sehr sehenswert!
Tanze, wenn es nicht zum Lachen reicht
Zig Millionen Views in kürzester Zeit und ein Medienecho, das von Schock bis Loblied durch die News hallt. Binnen weniger Stunden hat Childish Gambinos Video zu This Is America im Internet eine Diskussion zum Thema Waffengewalt ins Rollen gebracht, die bitter nötig und nach diesem Wochenende mal wieder topaktuell ist. Eigentlich. Aber der normale Gang der Dinge – dass Donald Trump am NRA-Podium irgendwas Empörendes sagt – ist längst nicht mehr der Rede wert. Warten wir lieber auf das nächste Attentat, den nächsten Amoklauf, um dann zu sagen:
Jetzt hört aber auf, das Thema Waffengewalt sofort zu politisieren! Erst trauern wir um die Opfer und schicken den Angehörigen unsere Gebete und danach können wir reden.
x-beliebiger US-Republikaner nach x-beliebigem Massaker
Dass jetzt zum Beispiel so ein »Danach« gerade wäre, merkt man deshalb nicht, weil es ja stets etwas Anderes gibt, das gerade mehr Lärm macht. Und ist es außerhalb unserer Grenzen, umso besser! Der Iran-Deal! Nordkorea! Darüber lässt sich doch prima streiten. Im schlimmsten Fall müssen wir nicht unsere eigenen Gesetze und Gewohnheiten ändern, sondern die von Anderen fremdbestimmen. Denn wir tragen ja Verantwortung.
Unsere Verantwortung
Was rede ich von »wir«, obwohl es um Waffengewalt in Amerika geht? Das tue ich, weil Amerika global den Westen repräsentiert und wir uns dazuzählen. Die amerikanische Kultur ist in unserer omnipräsent. Insofern ist Kritik an Amerika immer auch Selbstkritik. In Sachen Waffengewalt gilt das in besonderem Maße: Das Engagement deutscher Waffenhersteller in Amerika ist beschämend (wie die Tagesschau noch im Februar ausführlich berichtete, siehe: Waffen bauen, Einfluss nehmen ).
Ich schreibe diese Zeilen in Aachen, nur drei Autostunden entfernt von Emsdetten. Dort hat der Gesellschaftsverband L & O Holding seinen Standort, zu dessen Unternehmen auch SIG Sauer gehört. Dieser Waffenhersteller exportiert nicht bloß nach Amerika und unterstützt finanziell dortige Waffenlobbys (unter anderem im US-Wahlkampf und damit indirekt den von diesen Lobbys gepushten Kandidaten Donald Trump). SIG Sauer produziert auch auf amerikanischem Boden und gehört inzwischen zu den fünf größten Waffenherstellern innerhalb der USA.
Deutsche Waffen im amerikanischen Blutbad
Zum Massaker in Las Vegas (59 Tote) brachte der Attentäter deutsche Waffen mit. Beim Blutbad in Orlando (49 Tote) mordete der Schütze mit einer deutschen Waffe. SIG Sauer ist sogar stolz darauf, das amerikanische Law Enforcement ausrüsten zu können . Amerikanische Polizisten haben in diesem Jahr bereits 378 Menschen erschossen (wie die Zahl weiter steigt, ist hier zu sehen ). Im Jahr 2017 waren es 987 Menschen. In Deutschland: 7 . Bei einem Viertel der Einwohnerzahl. Aber Zahlen sind sowieso Unsinn in einer Diskussion, in der es um Gefühle geht.
Am Freitag sprach Donald Trump auf einer Veranstaltung der Waffen-Lobby NRA. Obwohl er zuvor versichert hatte, er wolle sich um strengere Waffengesetze bemühen, hat der demente Clown das bei dieser Gelegenheit erwartungsgemäß vergessen. Stattdessen schilderte er, wie Frankreich die Ausmaße des Attentats in Paris im Jahr 2015 leicht hätte eindämmen können, wenn die Bevölkerung nur bewaffnet gewesen wäre – indem er auf geschmacklose Art und Weise in die Rolle der Attentäter schlüpfte und spielerisch darstellte, wie sie »einen nach dem anderen« ohne Gegenwehr erschießen konnten (zu sehen in diesem Video ab Minute 02:53 ).
Donalds Timing
Das sind die Momente und Szenen, die mir mangels Schlagfertigkeit nicht einfallen, wenn’s hierzulande heißt »so schlimm könne der ja nicht sein«. Doch, kann er, ist er, aber wir haben uns daran gewöhnt. Deshalb hat Trumps Auftritt die Waffengewalt auch nicht in gebührendem Maße zurück ins Gespräch gebracht. Und wenn Donald, der Pseudo-Politiker es nicht schafft, dann muss Donald, der Vollblut-Künstler ran. Die Rede ist von Donald Glover – so der bürgerliche Name des Rappers Childish Gambino.
Einen Tag nach Trumps hochnotpeinlicher Ansprache vor der Waffenlobby, trat Childish Gambino in der Fernsehshow Saturday Night Live (SNL) auf – das Video ist inzwischen nicht mehr auf YouTube verfügbar – und präsentierte dort den Song This Is America . Es beginnt mit Gospelgesang und harmlosen Zeilen:
This Is America
We just wanna party
Party just for you
We just want the money
Money just for you
I know you wanna party
Party just for me
Girl, you got me dancin’…Ganzer Songtext mit Interpretationen auf genius.com
Wir wollen nur Party, Geld und tanzen. Das ist Amerika. Zum ersten Refrain kommt der Break, der heitere Klang vom Auftakt wird düster und die subtile Gesellschaftskritik deutlicher: Eigentlich geht’s nur ums Geld. Aber es wäre nach wie vor viel zu subtil, um irgendwie Wellen in der Waffen-Debatte schlagen zu können. Zumal: Waffen!? Die werden doch kaum thematisiert – im Song. Und damit beginnt das geniale inszenierte Spiegelbild der Gesellschaft, die hier kritisiert wird.
Grausame Beiläufigkeit
Erst im Musikvideo zu This Is America , das am selben Tag wie Donald Glovers Auftritt bei SNL veröffentlicht wurde, sind Waffen zu sehen. Und sie kommen zum Einsatz. Die Art und Weise, wie dies geschieht, ist der Grund für den Wirbel um das Video. Denn die Waffengewalt, die im Song nicht vorkommt (also nicht zur Sprache kommt, nicht im Gespräch ist), die findet in grausamer Beiläufigkeit statt. Bevor ich mehr darüber schreibe, sollte man das Video auf sich wirken lassen. Grausam ist es, ja, aber nicht grausamer als die Realität, vor der man sich bekanntlich nicht in Watte packen sollte. (Als wenn ein deutscher Mittzwanziger vom Lande auch nur einen Schimmer von realer Grausamkeit hat… entschuldigt meinen moralinsauren Ton.)
Die Referenzen zum realen Horror
Beim ersten Schuss, den Childish Gambino in den Nacken eines verhüllten Menschen abfeuert, steht er in einer markanten Pose da. Sie erinnert nicht zufällig an Jim Crow. Das war in den USA des 19. Jahrhunderts die geläufige Bezeichnung für den stereotypischen Schwarzen, tanzend, singend und nicht besonders schlau. Jim Crow gehörte zum begrifflichen Instrumentarium in der systematischen Rassendiskriminierung gegen Afroamerikaner. Heute ist der Stereotyp vom schwarzen, jungen Mann übrigens der Gefährder mit der Waffe in der Hand, als der Childish Gambino hier auftritt.
Das ist nur eine von vielen Referenzen, die sich in dem Video zu This Is America finden lassen. So erinnert der zweite Waffeneinsatz überdeutlich an den Anschlag in Charleston im Jahr 2015, als ein junger Mann neun Afroamerikaner in ihrer Kirche erschoss.
Die Würde der Waffe ist unantastbar
Dass Waffen in diesem Amerika mit mehr Respekt behandelt werden als Menschenleben, verpackt das Video in einer üblen Geste: Nach jedem Mord wird die Waffe in das rote Tuch eines Dienstjungen gebettet, der extra dafür heraneilt. Die Leichen indes bleiben liegen oder werden weggezerrt.
Und immer wieder lenkt die Kamera den Blick zurück auf Childish Gambino, den irren Tänzer, umgeben von weiteren Tänzern, die ihn in manchen Momenten regelrecht anhimmeln zu scheinen. Denn nicht vergessen, es läuft ja noch das coole, subtil gesellschaftskritische Lied mit dem Spaßfaktor, während drumherum unkommentiert die Gewalt tobt. Gewalt als Symptom einer vom Kapitalismus gepeitschten Gesellschaft, in der finanzstarke Unternehmen ungestört Waffen in den Umlauf bringen können. Denn die Kassen klingeln lauter als die Knarren knallen.
Am Ende die Angst
Im alptraumhaften Ausklang des Videos ist schließlich die blanke Angst in den Augen des um sein Leben rennenden Rappers zu sehen. Als schwarzer Mann Mitte 30 gehört Donald Glover aka Childish Gambino zu der Personengruppe, die es besonders oft trifft, wenn amerikanische Polizisten am Abzug sind. Wer die Aufnahmen von Bodycams gesehen hat, die solche Morde zuweilen aufzeichnen, kann die Angst nachvollziehen. Ich erinnere an den grauenvollen Tod von Philando Castile , der bei einer Wagenkontrolle im Beisein seiner Familie erschossen wurde und am Tatort vor laufender Kamera verblutete.
Damals habe ich mir dazu die Worte Trevor Noahs angesehen, dessen Daily Show eigentlich der Comedy gewidmet ist. Oft sind es ehrlich gesagt die Comedians, deren Beiträge zu aktuellen Themen des Tagesgeschehen mir erhellender und menschlicher erscheinen, als die der klassischen Berichterstattung. Die etablierten Nachrichtensender wie CNN und MSNBC sind nicht die Fake News, als die Trump sie deklariert – aber in ihrer Suche nach Schlagzeilen fehlt es doch oft an Empathie und Verantwortungsbewusstsein.
Wenn Comedians zur Vernunft rufen
Auch das ist kein neues Phänomen. Trevor Noahs Vorgänger, der großartige Jon Stuart, ist im Jahr 2004 bekanntlich in der CNN-Show Crossfire aufgetreten . Darin sollte es der Idee nach um politische Debatte gehen, die jedoch oft in pure Hetze seitens der Moderatoren abdriftete. Der Comedian (!) Stuart sagte dazu, während der Live-Sendung:
Es schadet Amerika. Hier ist, was ich euch sagen wollte, Jungs: Hört auf damit. Ihr tragt Verantwortung gegenüber dem öffentlichen Diskurs und versagt kläglich.
Drei Monate später wurde das Format komplett eingestellt. Nachdem die amerikanische Bevölkerung heiß diskutiert hatte über den bemerkenswerten Auftritt dieses Mannes, der doch eigentlich lustig sein soll. Und nicht so ernst.
Donald Glover ist ebenfalls Comedian. Seine Karriere begann im Jahr 2005 als Autor für The Daily Show und damit eben jenem Jon Stuart. Auf YouTube wurde er durch Derrick Comedy bekannt (kleiner Leckerbissen daraus: Girls Are Not To Be Trusted ). Hierzulande kennt man Donald Glover aus Comedy-Serien wie Community (in der er den Charakter Troy Barnes spielt) und Atlanta (in der er ebenfalls Regie führt). Kurzum: Er ist ein absolutes Multi-Talent und Musiker nur eine seiner Berufungen.
Man möchte sich wünschen, sein Musikvideo This Is America hätte dieselbe Wirkungskraft, wie Jon Stuarts Auftritt in Crossfire – und die verantwortungslose Bewaffnung der US-Bevölkerung wird in drei Monaten eingestellt. Ein dämlicher Traum in diesen zynischen Zeiten.
Inzwischen – gen Ende des Jahres 2018 – hat das Video This Is America knapp eine halbe Milliarde Aufrufe bei YouTube.