Als Rotem mit seiner Bande musikalischer Multitalente zurück auf die Bühne kommt, während die Zugabe-Rufe des Publikums im johlenden Applaus aufgehen, versammeln sie sich ganz ruhig hinter ihren Instrumente. Rotem schließt seine Gitarre an. Ohne ein Lächeln. Er wirkt müde oder nachdenklich oder… man weiß es nicht. Die Band da oben kommt jedenfalls nicht in Partylaune zurück aus dem Backstage-Bereich, in den sie sich vorhin nach furiosem Ausklang zurückzog. Stattdessen tritt Rotem jetzt ans Mikrofon und sagt, in sattes, rotes Licht getaucht: »Sometimes I think about suicide.« Und singt ein Lied dazu. Shit … was für ein Bruch, denke ich. Dabei ist es bereits mein drittes Konzert von theAngelcy . Diese Band packt mich jedes Mal aufs Neue, mit ihrer unvergleichlichen Mischung aus Frohsinn und Melancholie.
Die Menschen müssen weinen
Am Dienstag, 5. Juni trat die israelische Band theAngelcy um 20.30 Uhr im zakk – Zentrum für Kultur und Kommunikation – in Düsseldorf auf. Erst fünf Tage vorher hat Sonia via Facebook Wind davon bekommen. Und das, obwohl die Band schon Mitte Mai ihre aktuelle kleine Deutschland-Tour via Post angekündigt hat. Mit einem Bild von fünf der sechs Musiker*innen beim Fotoshooting mit Selfie-Stick. Dazu kurz und knackig die Ansage: »Wir herüberkommen!«
Gebrochenes Deutsch, das könnte Frontsänger Rotem Bar Or selbst geschrieben haben. Vor über zehn Jahren reiste er als Straßenmusiker durch Europa, lebte monatelang obdachlos in Frankreich und Deutschland, übernachtete in Parks, nur er und seine Gitarre im Schlafsack.
Von Mai bis November war das. Im November wurde es zu kalt. Also fand ich eine Freundin in Hamburg und blieb erstmal bei ihr.
Rotem Bar Or im Gespräch mit Jule Seibel, David Zimmermann ( Philipp , aus dem Englischen übersetzt)
Ein Fall für die Danke-Polizei
Von der Freundin in Hamburg lernte Rotem – das erzählte er beim Konzert in Düsseldorf – deutsche Wörter wie »Penner« oder »Saftsack« (»sack of juice«, übersetzte er für seinen Drummer Udi Naor , »sack of jews!?«, »no!«). Später am Abend fragte Flötist, Klarinettist (und so viel mehr) Uri Marom das Publikum, ob man noch »vielen Dank« sage, oder das altmodisch sei? Oder »Dankeschön« vielleicht? Es werde schon keine »Danke-Polizei« geben, meinte Udi, seinerseits im gebrochenen Deutsch.
Die Band hat schon viele Abende hierzulande verbracht. Gesehen habe ich sie erstmals vor zwei Jahren, im Druckluft in Oberhausen. Damals standen wir, das Publikum, in einem überschaubaren Halbkreis um die Bühne verteilt und erlebten ein wundervoll intimes Konzert, erst von dem belgischen Indie-Pop-Duo Douglas Firs als Vorband, dann von dem erstklassigen Ensemble, das sich theAngelcy nennt. Schon damals mit heiterem Smalltalk und ruppigen Humor zwischen den Liedern.
Hier mein Konzertbericht vom 5. März 2016: Sechs Engel in Oberhausen · und hier, nachträglich, vom 10. Januar 2019: theAngelcy mit NODYSSEY in Köln .
Dieses Mal kam theAngelcy ohne Vorband auf die Bühne, und in etwas anderer Besetzung: Den Kontrabass spielte, statt wie bei meinen bisherigen theAngelcy -Konzerterlebnissen (neben Oberhausen sah ich die Band am 21. April 2017 im Treibsand , Lübeck) nicht die Musikerin Gal Maestro . Stattdessen der Mann, der hier kurz dem Konzert neben Drummer Udi (blaues Shirt) in die Kamera lächelt. Nicht.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram anplaying Tonight at #zakkdüsseldorf !!!
Übrigens: Udi Naor ist auch als Fotograf unterwegs, hier geht es zu seiner Foto-Website .
Der Killer, der Kläger
Zum Auftakt an diesem Abend im gut besuchten zakk spielte die Band den Song Rebel Angel , der vermutlich speziell als Auftakt-Song für Live-Auftritte geschrieben wurde. Rotem Bar Or singt in seiner unverkennbaren Stimme:
I work for the angelcy,
can’t you see how sweet I can be?
I’m a killer,
I kill with words […]
Der selbsternannte Killer ist tatsächlich ein eher pazifistisch anmutender Poet. In Texten von bemerkenswerter Klarheit tut er seine Traurigkeit kund. Sei es über die Politik des Staates Israel. Sei es über den Krieg oder die menschliche Dummheit im Allgemeinen. Neben Liedern ihres Albums Exit Inside (2016) – etwa meinem Lieblingssong Secret Room oder auch People of the Heavens , das mit an Klapperschlangen in Wüsten erinnert – gaben theAngelcy viele neue Stücke zum Besten. Das zweite Album ist in Arbeit, »im Januar kommen wir wieder«, versprach Rotem (sie hielten das Versprechen – am 10. Januar 2019 erlebten wir theAngelcy erneut, dieses Mal in Köln).
In einem der neuen Lieder sang der Frontmann (sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiert):
We don’t need no holy land
We just need a home
Und dass, wenn Menschen ein Land wären, er selbst ein Fluss sein wolle. Zeilen und Bilder wie diese sind es, die dem instrumentalen Feuerwerk, das die sechs großartigen Musiker*innen auf der Bühne abliefern, das Krönchen aufsetzen.
Neben Rotem, Udi, Uri und dem Mann am Kontrabass singen und spielen noch Maya Lee Roman als tanzlustige Streicherin und Mayaan Zimry mit. Letztere steht die meiste Zeit mit Udi hinterm Drumset. Wenn sie nach vorne kommt und an Rotems Seite tritt, dann für ein wundervolles Duett: Giant Heart . Die Band kommt als derart eingespieltes, kongeniales Team daher, dass man kaum glauben mag, diese Konstellation habe tatsächlich erst vor ein paar Jahren zueinander gefunden.
Treu im Variantenreichtum
2010 , als Rotem Bar Or nach seinen vier Lehr- und Wanderjahren als Straßenmusiker in Europa (und Asien, laut Deutschlandfunk Kultur ) in die Heimat Tel Aviv zurückkehrte, nahm sein Schaffensdrang eine Richtung an. Mithilfe von Freund*innen und seines damaligen Managers Yaron Gan machte er sich an die Zusammenstellung einer Band . Wer theAngelcy live erlebt, merkt ziemlich deutlich, dass die Ansprüche an die Mitglieder dieser Band-to-be nicht eben niedrig waren.
2011 gab es sie dann endlich, die Band theAngelcy (so übrigens auch die seitens der Künstler*innen gewünschte Schreibweise). Der Begriff stand lange davor für einen Song-Zyklus, für ein lyrisches und musikalisches Universum des noch obdachlosen und unbekannten Rotem Bar On, ehe daraus der Name seiner Band werden würde.
Zwei der sechs Musiker*innen verließen über die vergangenen sieben Jahre das Ensemble und wurden ersetzt, doch im Kern und Klang blieb theAngelcy sich bis heute treu, was auch immer das heißt. Die Musikvideos der Band zum Beispiel könnten stilistisch unterschiedlicher kaum sein. Besonders aus dem Rahmen fällt das Video zum neuesten Lied I worry . Es sorgen sich: Ein Mädchen und ein Kampffisch. Oder ein Mädchen über den Kampffisch? Oder nur das Mädchen und der Kampffisch ist ein Symbol für… ach, schaut doch selbst.
Im Interview mit Noemi Schneider ( Deutschlandfunk Kultur ) gab Rotem Bar On einen für seine Musik bezeichnenden Kommentar ab:
Die Leute haben gesagt: Ich sei talentiert, aber, ehrlich gesagt, wenn du jemandem einen Song vorspielst und der sagt dann: »Wow du hast Talent, dass muss im Radio laufen«, dann ist das genau die falsche Reaktion. Die richtige Reaktion wäre, wenn die Person weint .
Rotem Bar Or
Wie stößt man denn auf theAngelcy ?
Bevor Sonia und ich gemeinsame Wege gingen, pflegten wir eine Brieffreundschaft und eine Spotify-Playlist . Darüber führten wir einen Gedankenaustausch, der sich mal im Prosa der Briefe, mal in den Lyrics der Lieder ausdrückte. Für Letzteres stöberten wir nach Songtexten und Stimmungen, um die Zeilen und Rhythmen der oder des Anderen aufzugreifen.
We don’t have to talk, let’s dance | aus: Better Days (Edward Sharpe)
Give me touch, cause I’ve been missing it | aus: Touch (Daughter)
Und so weiter. Ein musikalisches Ballspiel, hin und her und hinhören, welche Botschaft wohl im neuen Lied mitschwingt. Schrecklich romantischer-kitschiger Kram natürlich, aber so stolpert man eben über ein Kollektiv von Musiker*innen, die sich »Agentur der Engel« nennen. Sonia hat mir ihren Spotify-Fund über das Lied Secret Room näher gebracht, vor ein paar Jahren. Seitdem feiern wir diese Perle von einer Band – und freuen uns auf das nächste Album!
If you want my future, take my painful memories,
if you want my beauty, take my disease,
and if you want my passion, take my violence,
if you want to be with me, take my loneliness,
take it all. | aus: Secret Room (theAngelcy)
Nodyssey ist da!
Nachtrag: Das neue Album ist da! Woohoo! Es trägt den Titel Nodyssey und ist ganz großartig – hier kann man reinhören:
Weblinks:
- Offzielle Website von theAngelcy | die Band stellt sich vor (auf Englisch)
- Konzertbericht aus Tel Aviv von Christoph Schrag, Hendrik Schröder: Die Träumer von Tel Aviv (erschienen in Melodie&Rhythmus 1/2013)
- Konzertbericht aus Berlin von Kilian Braungart ( é-clat )
- Martin Pfnür ( Die Süddeutsche ) über theAngelcy : Resonanz durch Präzision (7. August 2015)
- Marcel Menne ( Plattentest ) über das Album Exit Inside : Eine Heerschar von Engeln (22. Januar 2016)
- Laura Külper ( Jüdische Rundschau ) über theAngelcy : Voller Wärme mit einem Hauch Weltschmerz (7. April 2016)