In Der seltsame Fall des Benjamin Button gibt es eine wundervolle Szene. Darin verursacht eine unglückliche Verstrickung von Zufällen einen Unfall, der einer jungen Tänzerin das vorzeitige Karriere-Ende beschert. Aufgebaut nach dem Schema »Wenn dies, dann das …« und so weiter. Eine solche Hommage an den Konjunktiv , bloß in Spielfilmlänge und ordentlich durchgeschüttelt, so darf man sich Mr. Nobody vorstellen.
Niemands Qual der Wahl
Ein Film über den Einfluss einer Entscheidung auf den Lauf der Zeit. Universell und individuell. Das klingt nach einem gewaltigen Thema, um es in 138 Minuten abzuwickeln. Regisseur und Drehbuchautor Jaco van Dormael ist sich der Intention seines Werks allerdings so gewiss, dass er trotz hochkomplexer Struktur nie in Nebensächlichkeiten abdriftet. Schließlich verdreht er sämtliche Fasern seiner Geschichte(n) zu einem roten Faden. Doch zunächst streut der Film Verwirrung. Nach einem kurzen Prolog über die Lernfähigkeit einer Taube , überrollt die Zuschauer*innen eine großartig geschnittene, aber scheinbar völlig zusammenhangslose Bilderflut, die regelrecht nach Aufklärung schreit.
Zum Inhalt: Es verlangt volle Aufmerksamkeit, der vagen Rahmenhandlung zu folgen, die im Jahre 2092 den letzten sterblichen Menschen in den Fokus nimmt. In einer sehr futuristischen Anlehnung an The Truman Show (1998) erregt der 118-jährige Nemo Nobody als letzter Sterblicher das Interesse der dank Zell-Erneuerung inzwischen unsterblichen Menschen. Ein junger Journalist will den Greis über dessen Leben interviewen und bekommt gleich mehrere Versionen aufgetischt. Welche davon ist Realität, welche bloß Wunschdenken, Traum oder Fiktion?
Kino für Fokussierte
Nur wenige Monate nach Mr. Nobody begeisterte der Regisseur Christopher Nolan seine Fangemeinde mit einem Thriller über Traum- und Zeitebenen. Ein Thema, das schon viele Filmperlen hervorgebrachte. (Nicht zu vergessen: Krzysztof Kieślowskis großartigen Przypadek / Der Zufall möglicherweise aus dem Jahr 1987, als Vorläufer zu Lola rennt. ) Während Nolan seinen Inception (2010) jedoch für ein breites Publikum angelegt hat und die Zuschauer*innen praktisch bei der Hand nimmt, um sie durch seinen Kosmos zu führen, spricht Mr. Nobody eine wesentlich kleinere Zielgruppe an. Van Dormael fordert die Konzentration seiner Zuschauer*innen schonungslos heraus, ohne in den Surrealismus eines David Lynch zu verfallen.
Heimliche Heldin des Films: die Zeit
Aus einer Schlüsselsituation ergeben sich mehrere Plots: Der 9-jährige Nemo muss sich (in einer Rückblende) an einer Bahnstation zwischen seinen geschiedenen Eltern entscheiden. Will er bei seinem Vater bleiben, oder mit seiner Mutter in den Zug steigen? Die Wahl wird sein ganzes weiteres Leben beeinflussen. Der Film nimmt sich einfach beider Möglichkeiten an und erzählt alternative Werdegänge. Diese Idee ist nicht neu. Van Dormael selbst griff sie bereits 1984 in seinem Kurzfilm È pericoloso sporgersi auf. Das Setting der Bahnstation in Mr. Nobody weist sogar extreme Ähnlichkeit zur Kurzfilmvariante auf.
Tiefer eintauchen? Hier geht es zu einem Blogbeitrag über die Zeitstruktur im Film Mr. Nobody von Jaco van Dormael.
Über 2 Jahrzehnte nahm sich der Regisseur Zeit, um die Idee wachsen zu lassen und seinen Erfahrungshorizont zu erweitern, ehe er sich an die Leinwandadaption traute. Jetzt liefert er ein ausgereiftes Meisterwerk ab, das nicht nur dramaturgische, sondern vor auch visuelle Maßstäbe setzt. Der Film sprudelt vor inszenatorischen und kompositionellen Ideen, baut in einem selbstsicheren Stilmix sogar Fernsehshow- und Stummfilm-Elemente homogen ein, ohne erzwungen zu wirken. Es bleibt zu vermuten, dass Improvisation bei den Dreharbeiten hinten anstehen musste: Mr. Nobody ist ein von vorne bis hinten streng durchdachter und intelligenter Film, der für seine ohnehin schon unterhaltsame Story eine atemberaubende Bildsprache findet.
Achtung! Der Trailer nimmt einige schöne Momente und Bilder vorweg – doch ansonsten macht er gekonnt neugierig auf mehr:
Jung wie alt grandios: Die Schauspieler*innen
Immer wieder erweisen sich einzelne Schnitte und Übergänge als Bonbons , die den Zuschauer*innen zur Belohnung für die ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dass Jaco van Dormael nach 13 Jahren Sendepause Mitteilungsbedürfnis an den Tag legt, schlägt sich in satten 138 Minuten Spieldauer nieder. Dass das Science-Fiction-Mindfuck-Liebesmelodram trotzdem nie langatmig wirkt, ist neben der rasanten Inszenierung einem gut aufgelegten Schauspieler*innen-Ensemble zu verdanken. Allen voran Diane Kruger ( Inglourious Basterds ) als Anna und Jared Leto ( Requiem For A Dream, Panic Room, Lord of War ), der sich abermals als starker Charakterdarsteller erweist. Ob nun im Normalzustand oder mit einer Tonne Make-Up im Gesicht als 118-jähriges Urgestein. Im Jugendalter wird Nemo Nobody von Toby Regbo verkörpert. Dessen Leistung sowie die seiner Filmpartnerin Juno Temple gehören zu den besten des Films.
Fazit zu Mr. Nobody
Das i-Tüpfelchen stellt ein Soundtrack dar, der von Buddy Holly über die Pixies bis hin zu Nena ein ganze Palette an musikalischer Untermalung liefert, die dem facettenreichen Werk nur gerecht wird und die Zuschauer*innen auf ihrem wirren Weg zum sicheren Ende begleitet. Denn trotz komplizierten Handlungsverlaufs steuert Mr. Nobody auf eine sinnvolle Auflösung zu, die jeder noch so absurd erscheinenden Szene ihre Existenzberechtigung gibt. Sogar der lernfähigen Taube.