Was hat die, was ich nicht hab? Was kann der, was ich nicht kann? Wer hat sich das nicht schon einmal gefragt? Und zu recht, wenn man diese Lektüre zurate zieht: Malcolm Gladwell legt in Überflieger schonungslos offen, was erfolgreiche Menschen von weniger erfolgreichen unterscheidet – und wie unsere Gesellschaft dazu neigt, »Genie« zu hypen.
Die Vermessung des Glücks
Wenn Du das nächste Mal ein Interview mit einem Menschen siehst, der in welchem Bereich auch immer alles erreicht hat, was man erreichen kann, am besten noch in jungen Jahren, alle Rekorde gebrochen, alle Erwartungen übertroffen, dann erblasse nicht in Neid und Demut vor dieser Überlegenheit (dem ehrfürchtigen Fanboy in mir fällt das manchmal schwer). Zunächst muss man sich vor Augen führen, in welcher extremen competition wir uns befinden. Yuval Noah Harari schreibt es in Eine kurze Geschichte der Menschheit (Kapitel: Die Vermessung des Glücks ) sehr schön:
In einem Dorf vor x-tausend Jahren…
Damals habe sich ein 18-Jähriger allein mit seiner kleinen Dorfgemeinschaft messen müssen. Im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Jungs/Mädchen seines Alters standen also ein paar Kids, die viel zu jung, ein paar Greise, die viel zu zahnlos waren, und vielleicht noch vier, fünf andere 18-Jährige, von denen einer die Nase schon zweimal gebrochen hatte und ein anderer sowieso keinen geraden Satz herausbekam.
Prima! Der 18-Jährige in einem Dorf vor x-tausend Jahren sagte: Läuft bei mir. Heute hingegen ist eine 18-Jährige, die nicht bei den Amischen oder im Amazonas lebt, ziemlich sicher mit dem Internet verbunden. Die ganz normale junge Frau kann sich im weltweiten Wettbewerb mit den paarhundert (erfolg)reichsten Individuen an der Spitze einer Population von knapp acht Milliarden Menschen wiederfinden… das nur als Randnotiz.
Hoffnung für Ottos! Otto-Normalos!
Zurück zu Gladwell, der im Buch Überflieger nun die paarhundert Individuen an der Spitze untersucht. Zeichnet sie jenes »Genie«, jenes »Talent« aus, das den Rest von uns chancenlos in den Schatten stellt? Die Antwort ist: Ja und nein. Aber vor allem NEIN! Hier ist Überflieger / Outliers die perfekte Ergänzungslektüre zu Harari. Erst Recht für jene 18-Jährige, die mit Minderwertigkeitskomplexen kämpft (und für 28-jährige Fanboys, die das Gefühl haben, ihr Zug sei abgefahren). Gladwell führt eine Reihe von bemerkenswerten Beispielen auf, um – in beschwingt lockerer Erzählweise – ein paar Thesen zu bekräftigen. Dazu zählen:
Die 10.000 Stunden Regel
»Die großen Künstler waren nicht groß, weil sie bei Geburt malen konnten«, rappt Macklemore in Ten Thousand Hours , »die großen Künstler waren groß, weil sie viel gemalt haben.« (Zeile für Zeile erklärt werden die Lyrics übrigens bei genius.com ) Klingt bestechend einfach und logisch und Gladwell belegt es in Überflieger mit Beispielen. Ob Bill Gates oder die Beatles, wenn man in den »Lebensläufen« übelster Meister ihres Fachs nachschaut, findet man sie in der Regel. Die (mindestens) 10.000 Stunden (das sind je nach Tagessatz locker 10 Jahre!), die sie investiert haben, noch bevor sie groß rauskamen, die Großen.
Nachtrag: Wie brandaktuell die 10.000-Stunden-Regel ist, zeigte sich zuletzt bei der Winter-Olympiade 2017 – hier geht’s zum Blogbeitrag .
Nach dem Durchbruch oft gefeiert, als sei ihnen das Genie in die Wiege gelegt, ist nichts wahrer als der gute alte Spruch: Übung macht den Meister. Nun, das ist verdammt viel Zeit. Ist der Zug also nicht doch schon abgefahren? Ja, erst recht, wenn man sich nicht auf die »eine Sache«, der man sein Leben widmet, festlegen möchte. Die Moral von der Geschicht ist auch nicht, dass jeder die Welt erobern muss. Es ist nur nennenswert, das jeder es kann .
Die Macht des Zufalls
Na ja, fast jeder. Man muss nur zwischen Januar und März geboren werden, das wäre schonmal ein großer Vorteil. Diese Feststellung macht Gladwell zumindest für Weltklasse-Football-Spieler. Es ist wirklich beeindruckend, wenn er listenweise Spitzenspieler samt deren Geburtsdaten aufführt – ein groooßer Teil von ihnen ist in eben jenen Monaten geboren – und der Autor daraus seine Schlüsse zieht.
Es sei nur soviel gesagt: Der Wachstumsvorsprung eines fast 11-Jährigen und einer gerade 10-Jährigen hat einen lächerlich großen Einfluss auf die frühe Karriere von Sportlern. Das ist wichtig. Denn nur wer früh entdeckt wird, wird früh gefordert und bekommt damit eine frühe Gelegenheit, seine 10.000 Stunden vollzumachen. Nicht vergessen: Talent = Geschick + Fleiß (oder so, Mathe ist nicht meins…)
Empfehlung für Überflieger
Hiermit möchte ich eine dringende Leseempfehlung für Überflieger aussprechen. Für alle Normalsterblichen mit leichtem Hang zu Minderwertigkeitskomplexen aufgrund der immensen Krassheit menschlicher Schaffenskraft.