Die Bundesrepublik feiert ihr 70-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass hat DIE ZEIT (Nr. 21/2019) ein Interview mit Stephan Grünewald auf Seite 3 gepackt. Das ist der Autor des Buches Wie tickt Deutschland? (2019, hier verfügbar ), in dem der Psychologe die Bundesrepublik als Patientin auf die Couch legt. Der Vergleich eines Staats mit einem mehr oder weniger menschlichen Organismus ist nicht neu (Platon, Hobbes), aber immer wieder spannend. Das ZEIT-Interview enthält etliche Schlagworte und Thesen aus Grünewalds Buch – und ist somit ein kleiner Vorgeschmack auf die Lektüre. Also, wie geht’s der BRD?
Das letzte Paradies
Zunächst spricht Grünewald im Interview anlässlich seines Buchs Wie tickt Deutschland? von einer »großen inneren Unruhe und Aufgewühltheit« seiner nach außen hin so coolen Patientin. Der Grund: »Die Bundesrepublik ist eigentlich eines der letzten Paradiese , eine Art wunderbares Auenland mit niedriger Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Stabilität, guter Gesundheitsversorgung.« Eines der letzten Paradiese, wirklich? Nicht eher eines der ersten? Mal abgesehen davon, dass sich das Auenland als paradiesischer Vergleichs-Zustand nicht so gut datieren lässt – wann gab’s denn mehr solcher arbeitsreicher, stabiler, gesunder Paradiese? Vor oder während des 20. Jahrhunderts? Oder habe ich den Begriff »Schwellenländer« nie verstanden und gemeint sind Staaten auf dem absteigenden Ast?
Ein bunter Gefahren-Korb
Der Autor von Wie tickt Deutschland? setzt fort: »[…] dieses Auenland ist bedroht durch viele Gefahren, ob das jetzt der Klimawandel ist, der Terrorismus, die Digitalisierung, die Globalisierung, die Migrationsfrage.« Bei diesem bunten Gefahren-Korb juckt es mich in den Fingern, ein bisschen zu sortieren: Klimawandel – ja, Gefahr. Terrorismus – na ja, vielleicht nach Herzkrankheiten und Krebs, Demenz, Tuberkulose, Ertrinken, Bränden und Drogenmissbrauch auch eine Gefahr, aber eigentlich ziemlich weit unten auf der Liste . Digitalisierung, Globalisierung – na jaaa, wenn man Industrialisierung und Technologisierung auch als Gefahr einstufen möchte, statt als Fortschritt, okay. Migrationsfrage – ist, wie der Begriff schon nahelegt, eher ne Frage als eine Gefahr. Die Antwort darauf entscheidet, wie viel Gefahr für wie viele Menschen besteht.
Wie tickt Deutschland? …rückwärtsgewandt?
Weiter im Interview anlässlich von Wie tickt Deutschland? : Grünewald diagnostiziert eine Orientierungskrise, nachdem in den Neunzigerjahren eine »Entideologisierung in eine entfesselte Beliebigkeit« stattgefunden habe. »Der innere Kompass ging verloren« – und wurde durch die Raute ersetzt. Auf besagte Orientierungskrise habe die BRD »mit einer Art Regression« reagiert. Grünewald: »Man hat die politische Verantwortung an eine gute Mutter abgegeben, an Angela Merkel, die das Land seit über 13 Jahren führt.« Regression heißt Rückschritt – in der Psychologie vielleicht Rückfall? – jedenfalls: zurück zu einem Punkt, an dem wir schonmal waren.
Aber wann haben wir denn zuvor die Verantwortung an eine »gute Mutter« abgegeben? Frühestens rund um die Geburt der BRD, ließe sich vermuten, aber auch das erste Kabinett Adenauers war natürlich noch ein bisschen zu (komplett) männlich für den Mutti-Vergleich. Der »gute Vater«, unter dem Merkel politisch großgeworden ist, führte das Land bekanntlich ganze 16 Jahre – vielleicht liegt in dieser Beständigkeit die Regression, die Grünewald meint?
Lesetipp: Grünewald, Grunwald, so’n Zufall! Hier geht’s zum Beitrag über Armin Grunwalds Interview anlässlich Der unterlegene Mensch – ebenfalls ausdrücklich keine Buchkritik.
Wie tickt Deutschland? …so nicht.
Nochmal zu Merkel und ihrer Raute. Grünewald dazu: »Als dann 2015 so viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, als also sinnbildlich die Raute geöffnet wurde, wirkte das auf viele, als hätte die Mutter ihre eigenen Kinder verraten. So erklärt sich die Wut, die Merkel zum Teil entgegenschlug und letztlich das Ende ihrer Kanzlerschaft einläutete.« Letzter Einwand meinerseits: War es nicht eher die Zeit – nicht die Wochenzeitung, sondern die physikalische Einheit – die das Ende der Kanzlerschaft einläutete? Merkel wurde 2017 wiedergewählt und tritt bei der nächsten Bundestagswahl – nach vier Legislaturperioden – nicht mehr an. Ein bisschen spitz, die These, dass die »Wut« über die Flüchtlinge ihr Ende einläutete.
Das war’s auch schon , mit meinem akuten Mitteilungsbedarf über die Morgenlektüre. Für mich hat das Interview als »Vorgeschmack« auf die Lektüre von Wie tickt Deutschland? eher nicht funktioniert – dieser Vergleich zwischen BRD und einer 70-jährigen Patientin vor der »zweiten Reifeprüfung« hinkt mir doch zu sehr. Nun denn, hiermit schließe ich den Beitrag und starte etwas verspätet in einen neuen Tag im Auenland…