MOULIN ROUGE mit Nicole Kidman | Film 2001 | Kritik

In ihrer ersten Zusammenarbeit haben Baz Luhrmann und Catherine Martin den Paso Doble feurig in Szene gesetzt. Mit ihrem zweiten Streich katapultierten sie Shakespeare in die 1990er Jahre. Der dritte Film dieses kongenialen Paares nimmt sich nun Paris und die Bohème vor: Liebe auf den ersten Blick und ganz großes Theater! Vorhang auf für Moulin Rouge mit Nicole Kidman (Eyes Wide Shut) und Ewan McGregor.

Die Liebe lieben

Inhalt: 1900, Paris. Ein englischer Schriftsteller verliebt sich in eine französische Kurtisane. Sie stellen zusammen ein spektakuläres Musical auf die Beine  und haben währenddessen eine Liebesaffäre hinter dem Rücken des Geldgebers, dem die Kurtisane versprochen wurde… Schauplatz ist das berüchtigte Varieté-Theater Moulin Rouge auf dem Montmartre, Paris.

Hinweis: Folgender Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle Streaming-Angebote zu dem Film Moulin Rouge finden sich bei JustWatch. Aktuell wird Moulin Rouge übrigens als Musical umgesetzt, hier geht’s zur offiziellen Website.

Nicole Kidman in dem Film Moulin Rouge

Totale: Moulin Rouge im Zusammenhang

Historischer Kontext

Im antiken Griechenland, lange vor Christus und unserer Zeitrechnung, erzählte man sich bereits die Geschichte von Orpheus und Eurydike. Er war ein Sohn von der Muse der epischen Dichtung und der beste Sänger seiner Zeit. Sie war eine Nymphe und starb an einem Schlangenbiss. Für seine große Liebe stieg Orpheus in den Hades hinab, das Totenreich der griechischen Mythologie. Oder auch: die Unterwelt. Dort setzte Orpheus seinen Gesang ein, um sogar den Höllenhund zum Schweigen zu bringen. Doch Eurydike sollte er nicht zurückbekommen…

Wir sind Geschöpfe der Unterwelt. Wir können uns nicht leisten zu lieben. | Monsieur Zidler in Moulin Rouge

Im modernen Frankreich, lange vor Luhrmann und seinem Musical, wurde anlässlich der Weltausstellung im Jahr 1889 das echte Moulin Rouge eröffnet  benannt nach der roten Mühle auf dem Dach dieses Etablissements. Einer der Gründer des Varieté-Theater im Pariser Stadtviertel Montmatre war Monsieur Zidler, Charles Zidler. Lange nach dessen Tod rückte er als fiktive Figur wieder ins Rampenlicht  1952 wurde er in einem Film von einem britischen Schauspieler namens Mr. Kasket verkörpert, Harold Kasket. In Luhrmanns Moulin Rouge heißt der Betreiber des Varieté nun Harold Zidler, zusammengesetzt aus historischer Wirklichkeit und dem Einfluss der Rezeptionsgeschichte rund um das Moulin Rouge.

Aus dem Hades über Bollywood zu uns

Ich meine, die Show wird ein formidables, opulentes und monströses, glamouröses und gigantisches Verwirrspiel – ein Hochgenuss der Sinnesfreuden! | Monsieur Zidler in Moulin Rouge

Im zeitgenössischen Indien, lange vor den Dreharbeiten und ihren Schwierigkeiten, da war der australische Regisseur Baz Luhrmann auf Recherche-Reise in Indien. In einem gewaltigen Kino sah er sich einen Bollywood-Film an  zusammen mit 2000 Inder*innen, in deren Volkssprache, Hindi.  

Da gab es niedrigste Komik und dann großes Drama und Tragik und dann bricht ein Song aus. Und das über dreieinhalb Stunden lang! Wir dachten, wir hätten plötzlich Hindi gelernt, weil wir alles verstanden. Es war unglaublich. Wie involviert das Publikum war! Wie uncool  ihrer Coolness regelrecht beraubt, vereint im Teilen dieser einen Geschichte. Voller Spannung dachte ich, »Können wir so etwas im Westen machen? Können wir jemals hinter diese intellektuelle Coolness, diese vermeintliche Coolness kommen, sie überwinden?« Dazu brauchte es die Idee einer komischen Tragödie.

Baz Luhrmann im Gespräch mit Geoff Andrew (The Guardian), 07.09.2001

Westliche Coolness

Im laufenden Produktionsprozess, lange vor den 8 Oscars-Nominierungen und der Aufnahme in Die 100 bedeutendsten Filme des 21. Jahrhunderts (BBC), verstrickte Luhrmann für seinen Angriff auf die westliche Coolness einige Elemente aus bekannten Opern wie La Bohème und La traviata mit Songs der jüngeren Musikgeschichte. Hunderte Titel wurden dazu durchgehört, auf der Suche nach den richtigen Zeilen, um die Geschichte von Christian (Ewan McGregor) und Satine (Nicole Kidman) zu erzählen, dem Schriftsteller und der Kurtisane. Dazu kam schließlich Musik von David Bowie, Fatboy Slim und vielen anderen zusammen. Besonders famos: Die Tanzperformance zu den Tracks Lady Marmalade und El Tango De Roxanne.

Reinhören? Her gibt’s den Soundtrack zu Moulin Rouge:

Apropos Musik: Hier geht’s zu einer Übersicht von 30 Musikvideos mit berühmten Hollywood-Schauspieler*innen.

Persönlicher Kontext

Im provinziellen Westmünsterland, lange vor meinem Auszug in die weite Welt (Köln) und meiner eigenen Karriere als Musical-Star (Lüge), kaufte ich mir im Alter von 14 Jahren den Film Moulin Rouge als DVD. Irgendwo hatte ich darüber gelesen und ahnte ja nicht, dass dieses abgedrehte Bilderwerk meine gerade aufblühende, jugendliche Coolness wegwischen würde wie Schminke vom Gesicht. Ich habe sie seither nicht wiedergefunden. Die Coolness.

Close-up: Moulin Rouge im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Wie schon in Luhrmanns Spielfilmdebüt Strictly Ballroom (1992) öffnet sich zu Beginn von Moulin Rouge ein roter Vorhang. Zusammen mit William Shakespeares Romeo + Julia (1997) bilden diese drei ersten Langfilme des Regisseurs dessen sogenannte Red Curtain Trilogy (Roter-Vorhang-Trilogie)  zumindest erzählt man sich das im Internet. Tatsächlich hatte Baz Luhrmann vermutlich nur Lust auf diesen und jenen und den nächsten Film, ohne rote Vorhänge im Besonderen zu berücksichtigen.

Wie sehr Luhrmann Lust auf Moulin Rouge hatte, das merkt man dem Film von der ersten Sekunde an: Hinter dem geöffneten Vorhang erscheinen (wie in Stummfilmen zu eben jener Zeit, in der Moulin Rouge spielt) die Vorspanntitel, Schwarzweiß mit leichtem Sepia-Stich, körnig und flackernd. Vor der großen Leinwand zappelt, am unteren Rand, ein Miniatur-Dirigent zur orchestralen Musik. Eine Texttafel verweist uns auf Ort und Zeit, die den Schauplatz der Geschichte markieren: Paris, 1900.

There was a boy
A very strange enchanted boy

They say he wandered very far
Very far over land and sea

Echte Künstler, falsche Kulissen

Diese Zeilen aus einem Popsong von Eden Ahbez (1948), damals performt von Nat King Cole, werden hier von einem melancholisch dreinschauenden Mann aus einer Dachluke heraus in die Pariser Nacht gesungen. Diesen Mann lernen wir später als Henri de Toulouse-Lautrec kennen, ebenfalls ein historischer Charakter, ein eigensinniger, Absinth-abhängiger Künstler und mit van Gogh und Gauguin einer der bekanntesten Post-Impressionisten seiner Zeit. In Moulin Rouge wird er verkörpert von John Leguizamo, der dazu extra in besondere Fuß-Prothesen in Kniehöhe schlüpfte, um die Behinderung Toulouse-Lautrecs darzustellen.

Doch in der ersten Einstellung, singend aus dem Dachfenster, sind Absinth und Behinderung noch nicht zu sehen. Nur ein einsamer Mann, der über einen verzauberten Jungen singt. Dazu wird das Gesicht Ewan McGregors in der Rolle des Christian eingeblendet, in der rechten Bildhälfte, mit weichen Rändern. Dann folgt eine weiche Blende zu einem Panorama von Paris. Die Kamera fliegt heran, saust in die Gassen, passiert Priester und Prostiuerte, steigt hoch zu einem Fenster und rein in die Absteige unsere Helden, jenem verzauberten Junge: Christian. Retrospektiv wird er uns seine Geschichte erzählen, in einem knallbunten, schnell geschnittenen Bilderreigen.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Schon der oben geschilderte Auftakt ist in einer Mischung aus Live-Action-Aufnahmen mit echten Schauspielern, am Computer animierten Gebäuden und einem Miniatur-Modell der Kulisse entstanden. Dabei ging es nie darum, ganz Paris heraufzubeschwören. Für Baz Luhrmann und die Szenen- und Kostümbildnerin Catherine Martin (seit 1997 Luhrmanns Ehefrau, seit 2014 Oscar-Preisträgerin) stand ganz und gar das Moulin Rouge als Schauplatz im Fokus, um das herum sich die Kamera völlig frei und wild bewegen sollte. Gedreht wurde deshalb der gesamte Film im Studio, unter Einsatz verschiedenster Techniken.

Ein Blick hinter die Kulissen des Films:

Das Ergebnis ist ein zweistündiges Feuerwerk großartiger Szenen: stark gespielt und choreographiert, opulent ausgestattet, vielleicht etwas zu hektisch geschnitten. Der Film hält gekonnt die Waage zwischen Komik und Tragik und vergeht wie im Flug. Bei so viel Augenschmaus und Liebesschnulz vergisst man glatt, dass der Umgang mit Prostiuierten hier bis zur Verharmlosung romantisiert wird.

Bei mir persönlich trifft der temporeiche Stilmix einen Nerv. Auch nach dem 10. Mal sehen finde ich Moulin Rouge damals wie heute… hach… schööön… aber man kann’s natürlich – immer – auch anders sehen:

Moulin Rouge scheiße finden

Die Bloggerin Stephanie Gallon lässt sich von den prächtigen Bildern und wuchtigen Liebesliedern nicht einlullen. Für sie ist der Schriftsteller Christian nicht wirklich in Satine verliebt, sondern – »wie so viele Künstler der Bohème« – in eine abstrakte Idee. Sie argumentiert auf ihrem Blog:

Er liebt die Liebe, und sie wird seine Leidenschaft, projiziert auf eine Frau […]

Dass Christian indes kein Stück verstanden hat, was Liebe wirklich ist, das beweist er dann im großen Finale:

Als Satine sein Herz bricht, wartet er, bis sie auf der Bühne steht. Er wartet, bis ihr großer Traum wahr wird, und dann tut er etwas so abscheuliches, dass ich es nicht aushalte, diese Szene zu schauen. Er bezahlt sie. Vor aller Augen, im vollgepackten Theater, führt er sie vor. »Ich bin gekommen, um meine Hure zu bezahlen.«

[Satine] opfert alless, damit Christian leben kann – und am Ende ist sie ein gebrochenes Häufchen Elend auf der Bühne. Natürlich kann ein Held das so nicht stehenlassen. Die Leute könnten denken, er sei ein schlechter Typ oder so. […] Der Film endet mit einem leidenschaftlichen Liebesduett, in dem Satine und Christian sich vertragen. […]

Und dann stirbt Satine. 

Stephanie Gallon

Ihre Geschichte wird seine – mal wieder

Es ist traurig, es ist künstlerisch, und es ist eine Erinnerung daran, dass Liebe vergänglich ist und wir sie jeden Tag zu schätzen wissen sollten. Das Ganze bringt Christian endlich dazu, eine Geschichte zu Papier zu bringen.
Und ich hasse das! Ich hasse es, dass Satines Geschichte Christians Geschichte wird. Christian schaut vom Rande aus zu, als Satine Liebe für einen anderen Mann vorgaukelt, um das Theater zu retten. Satine ist die treibende Kraft hinter allem, und sie stirbt. Ein passenderes Ende wäre gewesen, wenn Christian vom Duke erschossen worden wäre. Christian stirbt im Namen der Liebe. Stattdessen haben wir eine Frau, die für die Kunst eines Mannes stirbt.

Es ist nicht romantisch. Es ist nicht gut gemacht. […] Das Schauspiel war großartig, aber die Autoren hätten mehr Zeit mit echten Menschen verbringen sollen, bevor sie versuchen, über sie zu schreiben.

Stephanie Gallon

Hier eine Vorschau zum Film, der auf YouTube auch in voller Länge verfügbar ist:

Fazit zu Moulin Rouge

Gewiss, Moulin Rouge trieft vor Klischees und altbekannten Versatzstücken aus dem Romanzen-Baukasten. Im theatralischen Tamtam wirkt vieles arg dick aufgetragen und anderes flach. Absinth wird verherrlicht, Narkolepsie veräppelt, Vergewaltigung verharmlost – unterm Strich täuscht hier ein farbenfrohes Spektakel über jede Menge Missstände hinweg. Trotzdem halte ich Moulin Rouge für einen sehenswerten Film. Man kann ihn, ohne sich groß Gedanken zu machen, als beeindruckendes Seherlebnis genießen. Man kann aber auch, mit Fokus auf die Problemfelder, genauer hinsehen, drauf zeigen, diskutieren

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