Beamter für die britische Kolonialpolizei und Soldat im Spanischen Bürgerkrieg. Das sind zwei Stationen im Leben eines Mannes, der als Eric Arthur Blair geboren und als George Orwell weltberühmt wurde. Heute geht es um sein Essay Warum schreibe ich? . Seine Antworten nämlich sind so persönlich wie allgemein gültig: Warum schreibt man überhaupt?
Den Schriftsteller George Orwell lernen die meisten von uns – mich eingeschlossen – in der Schule schon kennen. 1984 und Farm der Tiere , das sind die dystopischen Klassiker, die dort besprochen werden. Mit etwas Glück schiebt der etwas faule Lehrer den Röhrenfernseher rein (heute mag in jedem Klassenraum ein Beamer hängen), und man schaut die Verfilmung von 1984 aus dem Jahr 1984. Dieser Film gehört (mit Miloš Formans Amadeus , zufällig auch aus dem Jahr 1984) zu den zwei absolut prägendsten Filmerlebnissen aus meiner Schulzeit – also der richtigen actual Schulzeit, stets von acht bis nachmittags in dem hässlichen Bau, der einst ein Kloster gewesen war und immer noch nach Weihrauch roch.
Chomsky über Orwell
Orwell begegnete ich erst wieder, als ich Noam Chomsky kennen lernte. Leider nicht persönlich, sondern wiederum über den Film Captain Fantastic , in dem Chomskys statt Jesus‘ Geburtstag gefeiert wird. Danach jedenfalls verschlang ich einige seiner Schriften und stieß dabei immer wieder auf Orwell. In einem Interview mit Amy Goodman ( Democracy Now! ) sagte Chomsky:
Orwell ist berühmt für seine Suche und seine sardonische Kritik rund um die Art und Weise, wie das Denken gewaltsam kontrolliert wird – in totalitären Dystopien. Viel weniger bekannt ist seine Erörterung dessen, wie gleiche Ergebnisse [Gedankenkontrolle; Anmerk. d. Bloggers] in freien Gesellschaften erzielt werden. (hier geht’s zum Interview im Original )
Als dessen bestes Werk bezeichnet Chomsky, der den Schriftsteller sehr schätzte, nicht etwa einen der Klassiker im hiesigen Schulkanon, sondern „Mein Katalonien“. Darin erzählt Orwell seine Erlebnisse aus dem Spanischen Bürgerkrieg – Eindrücke, mit denen Chomsky gerne seine Kritik an unserer heutigen Gesellschaft unterstreicht. (Ein anderer Denker und Schriftsteller, über den man bei Chomsky stolpert, ebenfalls lesenswert: Bakunin )
George Orwell in Friedenszeiten
Orwell indes sah sich weniger als politischer Schriftsteller. In Friedenszeiten hätte er kunstvolle Bücher geschrieben, »umfangreiche lebensnahe Romane mit unglücklichen Enden« habe er schreiben wolle, so erklärt sich Orwell selbst, der aber eben nicht in Friedenszeiten lebte. Ganz und gar nicht. In seine Lebensspanne von 1903 bis 1950 fallen die Weltwirtschaftskrise, zwei Weltkriege und der Holocaust. So kommt es, dass Orwell doch ein politischer Schriftsteller geworden ist – doch nicht nur und erst recht nicht im tiefsten Herzen.
Wir müssen nicht darüber spekulieren, warum dieser Mann – einer der wichtigsten Schriftsteller Englands, wenn nicht gar der Welt – überhaupt irgendwas geschrieben hat. Die Antwort darauf hat er selbst gegeben, ungeschönt, ehrlich und angemessen ausführlich, in seinem Essay: Warum schreibe ich? (hier geht’s zum Essay im Original )
Im Folgenden gebe ich die vier Antriebe, die George Orwell für sich und Schriftsteller im Allgemeinen nennt, gemäß seiner eigenen Zusammenfassung wieder.
4 Gründe, warum Schriftsteller schreiben
(i) Purer Egoismus
Orwell nennt es – in angenehmer Offenherzigkeit – das Verlangen, klug zu erscheinen und von Anderen besprochen, ja, nach dem Tode erinnert zu werden. „Es ist Humbug so zu tun, als sei dies kein Antrieb, und ein starker“, so Orwell. Schriftsteller teilten diese Charaktereigenschaft mit Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern, Anwälten, Soldaten und erfolgreichen Geschäftsleuten. Kurz: Mit der ganzen „top crust“ der Menschheit, man möchte es wörtlich übersetzen: der obersten Kruste. Klingt so herrlich.
Die meisten Menschen, so Orwell, seien nicht selbstsüchtig, im Gegenteil, sie geben fast ihren Sinn dafür auf, sich als Individuen zu sehen. Stattdessen opfern sie sich für andere auf oder ersticken schlicht an harter Arbeit. Auf der anderen Seite stünde eine Minderheit „begabter, willensstarker Menschen, die dazu bestimmt sind, ihr eigenes Leben bis zum Ende zu leben – und Schriftsteller gehören dazu.“ Ernsthafte Schriftsteller übrigens sieht Orwell als eitler und selbstsüchtiger an als Journalisten – allerdings (immerhin) weniger interessiert an Geld.
(ii) Ästhetischer Enthusiasmus
Die Wahrnehmung der Schönheit in der Welt um uns herum und in Wörtern und ihrer Komposition, der Klang bestimmter Geräusche, die Festigkeit guter Prosa oder der Rhythmus einer guten Geschichte, all sowas entzückt. Den Drang, wertvolle oder wichtige Erfahrungen mit der Welt zu teilen, darin findet Orwell einen weiteren Grund zum Schreiben. Die Berücksichtigung einer gewissen Ästhetik im Schriftbild begleite gar jedes Buch, „über dem Level eines Fahrplan“.
(iii) Historischer Impuls
Das Verlangen, Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wahren (nicht alternativen) Fakten auf den Grund zu gehen und sie zu sammeln, schlicht und einfach für die Nachwelt – na, wenn das nicht einer der nobelste Grund ist, zu Feder zu greifen oder in die Tasten zu hacken, je nach Zeitalter.
(iv) Politische Zwecke
Dabei meint Orwell „politisch“ im weitesten Sinne. Den Wunsch, die Welt in eine bestimmte Richtung zu lenken, und Einfluss zu nehmen auf die Ideen der Menschen, welche Gesellschaft sie als lebenswert empfinden. Das ist es also, was George Orwell antrieb, als er Geschichten wie „1984“ schrieb, die noch heute in den Schulen dafür sensibilisieren, wie übel ein Überwachungsstaat ist (während jeder der Schüler ein Gerät in der Tasche mit sich führt, das all seine Daten und Gewohnheiten zu sammeln, lesen, nutzen lernt). „Kein Buch ist frei von politischer Ausrichtung“, so Orwell. Selbst die Meinung, Kunst solle mit Politik nichts zu tun haben, sei in sich schon eine politische Haltung.
…und warum schreibe ich?
Diese verschiedenen Impulse, schreibt Orwell, „bekriegen einander“ und seien immerzu unterschiedlich gewichtet, von Zeit zu Zeit, von Person zu Person. Drum horche, wenn du schreibst, in dich selbst hinein: Was treibt dich an? Kannst du dich in den Gründen Orwells wiederfinden, oder würdest du sie gänzlich anders beantworten, die Frage: Warum schreibe ich?
Ich persönlich muss zugeben, dass ich mich von Orwell geradezu ertappt fühle. Er gibt bestechend genau wieder, was ich selbst nicht hätte in Worte fassen können, aber zutiefst empfinde. Da ich nun in Friedenszeiten lebe (im Vergleich zu seiner Lebenszeit allemal, trotz zahllosen Gefechten, die noch immer ausgetragen werden), ist der vierte Grund – der politische Zweck – am wenigsten bei mir ausgeprägt. Ich möchte behaupten, Hauptantrieb sei bei mir der zweite Grunde… und hoffe, ehrlich mit mir zu sein, was den ersten Grund anbelangt.