Zuschauer – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Zuschauer – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/ http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/#respond Tue, 31 Jul 2018 07:00:15 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4530 Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die…

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Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die Modewelt, wobei man über beiderlei Hintergründe ähnlich wenig erfährt: Das ist Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft. Während die Kindheit und Jugend der größten Modeschöpferin des 20. Jahrhunderts in einem Dunkeln liegen, dass Coco selbst nicht aufhellen wollte, ist vieles über ihre ersten Karriere-Schritte in Paris bekannt. Da kommt es nur auf den Fokus an.

Die fabelfreie Welt der Rebellin

Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.

Audrey Tautou als Coco Chanel | Bild: Warner Bros. France

Totale: Coco im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.

Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:

Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)

Persönlicher Kontext

Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.

Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.

Fokus: Coco im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.

Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.

Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.

Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.

Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.

So läuft’s eben nicht

Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:

Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. |  Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)

Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.

Der Trailer zum Film

Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.

Dunkle Seiten

Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)

Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:

Fazit zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft

Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.


Weitere Filmkritiken:

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GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/ http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/#respond Fri, 27 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4397 Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman…

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Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman Show (1998) schrieb und an einen Produzenten verkaufte. Der junge Mann bekam »extra money« dafür, dass er von seinem Wunsch, auch die Regie zu führen, zurücktrat und einen erfahreneren Regisseur walten ließ. Niccol stimmte zu, zog sich zurück und schrieb das Drehbuch zu Gattaca. Dieses Mal ließ er sich die Regie nicht nehmen und setzt sein Skript selbst um. Schließlich kam Gattaca sogar noch ein Jahr vor Die Truman Show in die amerikanischen Kinos.

Mutter Natur und ihre Beta-Babys

Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.

In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.

Die Schauspieler Uma Thurman und Ethan Hawke in dem Film Gattaca

Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.

Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert.  Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.

Totale: Gattaca im Zusammenhang

Historischer Kontext

Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.

Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.

Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«

Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.

Persönlicher Kontext

Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?

Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.

Close-up: Gattaca im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13

Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center

Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.

Die Essenz unserer Gene

Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.

Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:

Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.

Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.

Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):

Zur Position des Films

In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.

[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70

Fazit zu Gattaca

Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.


Weitere Filmkritiken:

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Land’s End, Porthcurno Beach und The Minack in Cornwall | Reise, Travel http://www.blogvombleiben.de/lands-end-porthcurno-beach-the-minack/ http://www.blogvombleiben.de/lands-end-porthcurno-beach-the-minack/#respond Mon, 23 Jul 2018 07:00:53 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4273 Wer nach Cornwall reist, wird auch Land’s End erleben wollen. Cornwall (eingedeutscht: Kornwall) ist diejenige Grafschaft,…

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Wer nach Cornwall reist, wird auch Land’s End erleben wollen. Cornwall (eingedeutscht: Kornwall) ist diejenige Grafschaft, die als südwestlichster Landteil von England den Zipfel der South West Peninsula umfasst. Zwischen dem Bristol- und dem Ärmelkanal. In der Nähe der darin gelegenen Stadt Penzance ragt eine Landzunge ins Meer, deren Spitze der westlichste Punkt der Hauptinsel Großbritanniens ist: Land’s End. Auch uns hat es auf unserer Cornwall-Reise dorthin verschlagen – der schönste Ausflug des gesamten Trips. Kleiner Reisebericht.

Zwischen Meerblickbrot und Freilichtbühne

Ausgangspunkt unseres Tagesausflugs am Montag, 16. Juli 2018 war die Hafenstadt Padstow im Norden Cornwalls. Dort durften wir ein kleines Apartment mitten im Städtchen für eine Woche unser Zuhause nennen. Von Padstow nach Penzance sind es mit dem Auto (wenn man langsam fährt, weil man nicht auf das Linksfahren und die Steigungen klarkommt) etwa anderthalb Stunden. Eine schöne Strecke, gesäumt von grünen Panoramen und hin und wieder einem Blick aufs Meer. Nahe Penzance ist das Land’s End dann schon überdeutlich ausgeschildert, so dass man sich getrost vom Navi lösen und den Schildern (oder in unserem Fall: einem Reisebus) folgen kann.

Bloggerin Sonia Lensing steht an der Küste von Land's End in Cornwall, Südengland

Erster Stop: Land’s End

Natürlich ist Land’s End touristisch erschlossen. Wo man an der Südwestspitze Portugals – Cabo de São Vicente – einen Leuchtturm besichtigen und »die letzte Bratwurst vor Amerika« futtern kann, erwartet die Reiselustigen im britischen Land’s End fast ein kleiner Freizeitpark. Schon die Durchfahrt zwischen zwei Mauern, vor denen »LAND’S« und »END« in großen, steinernen Buchstaben rechts und links der Straße stehen, erinnerte mich ein wenig an Jurassic Park. Gleich dahinter knüpfte uns ein überfreundlicher Brite 6 Pfund fürs Parken haben (»you can stay as long as you want«, na dann). Parkplätze sind reichlich vorhanden. Wir trafen in der Mittagszeit bei bestem Sonnenschein ein und hatten kein Problem, unseren VW Polo »paid and displayed« irgendwo abzustellen.

Hier geht’s zur offiziellen Website von Land’s End, samt Übernachtungs- und Erlebnismöglichkeiten für Gäste, die länger bleiben möchte – und für solche, die noch länger bleiben möchten: Jobangebote!

Dinos und domestizierte Kamele

In besagtem, einem Freizeitpark gleichendem Gebäudekomplex, gab es neben anderen Attraktionen für Familien mit Kindern tatsächlich ein 4D-Kino-Erlebnis zu dem aktuellen Dino-Sequel Jurassic World: Das gefallene Königreich. Sehr verlockend, und doch hielten wir uns in diesem (etwas überbevölkerten) Gebäudekomplex nur für unseren rituellen Mittagskaffee auf.

Den Lunch wollten wir hingegen direkt an den Kliffen genießen. Auf dem Fußweg dorthin kommt man an der Greeb Farm vorbei. Dabei handelt es sich um eine der Reklame nach 200 Jahre alte, kornische (also typisch-cornwallige) Farm, wie sie einst wohl oft an der dortigen Küste zu finden war. Ob solche Farmen schon damals neben Schafen auch Alpakas hielten, das weiß ich nicht. Jedenfalls begegneten uns dort, im Vorbeigehen, zwei dieser domestizierten Kamele aus (eigentlich) Übersee.

Butterbrot mit Blick aufs Meer

Hinter der Farm gelangt man schließlich an die Küste. Eine Absperrung zu den Klippen gibt es nicht wirklich. Insofern ist Vorsicht geboten: Da geht’s ziemlich tief hinab. »Dangerous Cliffs« liest man in roten Lettern auf einigen Steinen am Wegesrand.

Ein bemalter Stein warnt vor Dangerous Cliffs am Land's End

Bloggerin Sonia Lensing betrachtet die Klippen am Land's End

Die Aussicht auf das offene Meer war fantastisch. Beeindruckende Felsformationen ziehen sich entlang beider Richtungen, die man zu Fuß weiter erschließen kann. Dort haben wir uns einen abgelegenen Platz gesucht und unser Butterbrot gegessen. Die Möwen an der Küste sind längst nicht so frech, wie im Hafen von Padstow, wo mir eine dieser weißen Luft-Piratinnen mein Eis abgeknüpft hat, direkt aus der Hand (und genau da hört der Spaß nämlich auf!).

Vielmehr segelten die Möwen an Land End’s geradezu majestätisch neben den Felswänden her, wie sie es schon seit Jahrtausenden tun. Ich muss bei dem Anblick solch großer Vögel an der See immer an Flugsaurier denken (ja, Jurassic Park nimmt in meinem Kopf sehr viel Raum ein).

Eine Möwe fliegt entlang der Klippen

Nächster Stop: Porthcurno Beach

Am Nachmittag sind wir schließlich weiter zur Küstensiedlung Porthcurno gefahren – nur 10 Autominuten vom Land’s End entfernt. Schon tags zuvor hatten wir übers Internet Tickets für das Minack Theatre (oder einfach: The Minack) bestellt, die 20-Uhr-Vorstellung des Stücks Candide. Dazu waren wir satte vier Stunden zu früh vor Ort, aber in Porthcurno kriegt man diese Zeit bei gutem Wetter wunderbar um. (Bei schlechtem Wetter übrigens auch, etwa mit einem Besuch im unterirdischen Porthcurno Telegraph Museum – vorausgesetzt, man interessiert sich für Telegrafie und so ’n Zeugs.)

Bei unserer Ankunft in Porthcurno schien die Sonne, keine Wolke am Himmel, und schon am Parkplatz kamen uns Menschen in Badekluft entgegen. Yeah! Wo kamen diese Beachboys and -girls bloß her!?

Kleiner Exkurs zum Parken in Porthcurno: Man wird, wenn man in den Mini-Ort fährt, wie automatisch auf einen größeren Parkplatz gelotst. Von dem aus sind Strand, Museum und Beach Café fußläufig erreichbar. (Ebenso, etwas bergauf, das Minack Theatre. Das hat aber nochmal einen eigenen, großen, kostenlosen Parkplatz, wie wir etwas zu spät gelernt haben.) Die Kosten fürs Parken belaufen sich von 2 Pfund (für 2 Stunden) bis maximal rund 6 Pfund (für den ganzen Tag). Hier geht’s zum Euro-Pfund-Umrechner.

Sprung ins Blaue

Von einem Strand in Porthcurno hatten wir zuvor gar nichts gehört, gelesen, gesehen, somit auch keine Badesachen mitgebracht. Zu dumm, dachten wir, als wir über bewaldete Wege in die Bucht von Porthcurno schlenderten und diesen großartigen Strand vor uns sahen. Heller, feiner Stand, strahlend blaues Wasser, ein bisschen Wellengang und nur wenige Menschen. Das alles vor traumhafter Kulisse, eingerahmt in grün umsäumte Klippen, dazwischen wie gemalt der Horizont: Wow!

Panorama-Bild vom Porthcurno Beach

Und mal ehrlich, wer braucht schon Badesachen? Wir haben uns kurzerhand in Unterwäsche ins Wasser gestürzt und das kalte Nass genossen. (Mit rund 16 Grad nicht sooo kalt wie erwartet. Überhaupt haben wir an diesem sonnigen Juli-Tag am Strand kaum glauben können, in Groß-Britannien zu sein. Erinnerte zuweilen eher ans Mittelmeer.)

Am Ende des Tages sind wir, getrocknet (sowie etwas verbrannt) von der Sonne und mit Meersalz in den Haaren hoch zum Minack gelatscht. Oben haben wir am Holzhäuschen unsere hinterlegten Tickets abgeholt. Nach wie vor zu früh, konnten wir auch dort einmal mehr die Klippen erkunden und tolle Aussichten genießen – plus leckeres Essen! Denn anders als andere, geregeltere Theaterbesucher*innen hatten wir kein Picknick mitgebracht. (Es gibt neben dem Parkplatz einen Garten mit Holztischen und -bänken. Auf denen kann man sich auch prima mit eigenem Proviant ausbreiten.) Unser Abendessen haben wir an dem Stand von Katie’s Cornish Hot Pots geholt: ne ordentliche Portion veganer Kichererbsen-Eintopf mit Reis und Tortilla-Brot im Takeaway-Pappkarton, perfekt!

100 Jahre Bernstein

Zum krönenden Abschluss dann die Aufführung im Freilichttheater. Das Stück unserer Wahl: Candide oder der Optimismus, von (ursprünglich) dem großen Philosophen Voltaire. Der Komponist Leonard Bernstein hat’s in den 50er und nochmal in den 70er Jahren zu einem Musical adaptiert. Und weil dieser gute Mann diesen Sommer 100 Jahre alt geworden wäre, wurde ihm zu Ehren eben dieses Bühnenstück zum Besten gegeben.

David und Sonia Lensing im Minack Theatre, Cornwall

Bühne des Minack Theatre, Cornwall

Naturgewaltige Kulisse

Das Minack Theatre befindet sich an einem Felshang. Aufgebaut und über Jahrzehnte gepflegt wurde es von der Britin Rowena Cade. Das ist die Schwester der visionären, feministischen Schriftstellerin Katharine Burdekin (Nacht der braunen Schatten). Die Tribünen dieses Ausnahme-Theaters sind in die Klippen eingearbeitet und der Blick der Zuschauer*innen geht, über die Bühne hinaus, aufs freie Meer. Samt der Wolkenformationen, die darüber von Wind und Wetter in Szene gesetzt werden. Eine krasse Kulisse, vor der man tatsächlich vermutlich jedes noch so miese Musical irgendwie dramatisch finden muss. Stattdessen aber erweckten das Ensemble, begleitet von einem Live-Orchester, die Geschichte um den optimistischen Herrn Candide und seiner nicht ganz optimalen Reise um die Welt auf beeindruckende Art und Weise zum Leben. Doch davon ein andermal mehr.

Steine bilden das Wort END an Land's End in Cornwall, England

Weitere Reiseberichte:

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ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich http://www.blogvombleiben.de/filme-romeo-und-julia-1968-1996-2013/ http://www.blogvombleiben.de/filme-romeo-und-julia-1968-1996-2013/#respond Wed, 04 Jul 2018 07:00:50 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4118 Ist das Drehbuch nur gut genug, dann kann der Film nicht so schlecht werden. Das hat…

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Ist das Drehbuch nur gut genug, dann kann der Film nicht so schlecht werden. Das hat schon Alfred Hitchcock gepredigt: Drehbuch, Drehbuch, Drehbuch, die drei wichtigsten Dinge für einen Kracher-Film! Nehmen wir mal Romeo und Julia, ein Bühnenstück, das William Shakespeare vor über 400 Jahren ja schon beinahe in Drehbuch-Form niedergeschrieben hat. Im Folgenden geht’s um drei Filmadaptionen, die den Zeilen des Originals mehr oder weniger treu geblieben sind. Trotzdem wurden sie völlig unterschiedlich aufgenommen – von großer Bewunderung bis zum ultimativen Zerriss.

Was hätte Shakespeare getan?

Normalerweise schreibe ich zunächst eine kleine Inhaltsangabe zu der Geschichte, um die es geht, und/oder einen Hinweis, ob im nachfolgenden Text Spoiler enthalten sind. Das kann man sich bei Romeo und Julia getrost schenken, da der große Meister einem beides abnimmt: Im Prolog (der in jeder hier aufgeführten Filmadaptionen mehr oder weniger getreu zitiert wird) fasst William Shakespeare sein Stück zusammen und haut dabei selbst die dicksten Spoiler raus! Die Zeichnerin Mya L. Gosling (von Good Tickle Brain) hat diesem fragwürdigen Auftakt mal einem Comic gewidmet:

Der Prolog zu Romeo und Julia als Comic von Mya L. Gosling (Good Tickle Brain)

In diesem Sinne werde ich im Folgenden nicht en detail auf die Story eingehen. Die könnte ohnehin nicht besser zusammengefasst werden, als in dem Video Romeo und Julia to go (Shakespeare in 11,5 Minuten) von Michael Sommer.

Totale: Romeo und Julia im Zusammenhang

Historischer Kontext

William Shakespeare schrieb Romeo und Julia Ende des 16. Jahrhunderts, unter anderem unmittelbar inspiriert und beeinflusst von Arthurs Brookes Epos The Tragical History of Romeus and Juliet (1562). Ein fiktives Liebespaar mit diesen Namen geisterte längst durch die Werke europäischer Literaten – und das Motiv zweier tragisch Verliebter an sich ist natürlich noch viel, viel älter. Schon Hero und Leander, zwei Gestalten der griechischen Mythologie, mussten ihre glühende Liebe mit dem Leben bezahlen… kurzum: Bereits Shakespeare erfand das Rad nicht neu. Doch er schrieb eine sehr runde Version von Romeo und Julia, vom Arrangement der Szenen bis zur Sprache der Protagonisten, dazu starke Dialoge und nicht wenig Humor – ein Meisterwerk war geboren!

So wilde Freude nimmt ein wildes Ende,
Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu’r und Pulver
Im Kusse sich verzehrt. Die Süßigkeit
Des Honigs widert durch ihr Übermaß… | Lorenzo in Romeo und Julia (hier online zu lesen)

3 von über 30 Filmen

Apropos Übermaß: Kaum wurde rund 300 Jahre nach Shakespeares Tragödie das Kino erfunden, gaben sich Romeo und Julia als Filmpaar die Ehre. Von einem Kurzfilm im Jahr 1908 (der heute als verschollen gilt) bis in die Gegenwart zählt die Liste von Filmen basierend auf Romeo und Julia weit über 30 Werke. Hier wollen wir uns nur drei der populärsten oder jüngsten Verfilmungen annehmen:

  • Romeo und Julia (1968) mit Leonard Whiting und Olivia Hussey
  • William Shakespeares Romeo + Julia (1997) mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes
  • Romeo und Julia (2013) mit Douglas Booth und Hailee Steinfeld

Persönlicher Kontext

In der Schule habe ich das Stück tatsächlich nicht gelesen. Stattdessen sah ich vor kurzem erst aus einer Laune heraus bei Netflix die Adaption von Baz Luhrmann und dachte, huch, so ein flippiges Spektakel im MTV-Look, DAS ist also Romeo und Julia, diese uralte Romanze, um die ich mich bis dato herumgedrückt habe? Mein Weltbild stand Kopf. Also las ich dann doch mal die Tragödie und sah mir zwei weitere Filme an, um wieder auf mein Leben klarzukommen. Nun haben wir schon Sommer 2018 und ich kann endlich mitreden, wenn es um das große Schmachten am Balkon geht. Jetzt, da die wohl wichtigste Verfilmung des Stoffs genau 50 Jahre her ist.

Olivia Hussey, Harold Perrineau, Jr. und Douglas Booth, je Schauspieler in Adaptionen von Romeo und Julia | Bild: Twenieth Century Fox
Die Schauspielerin Olivia Hussey und ihre Kollegen Harold Perrineau, Jr. und Douglas Booth. | Bild: Twenieth Century Fox

Close-up: Romeo und Julia im Fokus

Nackte Brüste und brüske Kritiker

1968 wurde Romeo und Julia erstmals mit jugendlichen Schauspielern in den Hauptrollen umgesetzt. In Shakespeares Stück sind die beiden Verliebten zwischen 13 und 14 Jahren alt. Arg jung aus heutiger Sicht, wenn man an die Leben-und-Tod-Duelle und das Hals-über-Kopf-Heiraten denkt. Als der Regisseur Franco Zeffirelli im Rahmen einer weltweiten Suche nach unbekannten Jungdarsteller*innen fündig wurde, waren Leonard Whiting 17 und Olivia Hussey 15 Jahre alt. Trotz Husseys Minderjährigkeit enthält der Film eine Szene, in der das Paar nackt im Bett liegt (nicht: rummacht, wohlgemerkt!) und für einen Moment Julias Brüste zu sehen sind. »Soft Porn«, pönte darüber ein Pastor der amerikanischen Grace Christian Fellowship und forderte eine Kürzung des Films, der im Englischunterricht seiner Gemeinde behandelt wurde. Zeffirellis Reaktion darauf:

Wenn er in ein Museum kommt, dreht sich dieser Mann auch von Aktgemälden weg? […] Ich weiß nicht, wie jemand Anstoß an dieser Szene nehmen könnte! | Franco Zefferelli, in: Pitch Weekly (März 1999)

Die Kirche störte sich wohlgemerkt offenbar mehr an der Nacktheit an sich, als am Alter der Jugendlichen. Apropos: Hier ein Filmtipp zu Spotlight (2015) über den Missbrauchs-Skandal in der römisch-katholischen Kirche in Boston.

Romeo und Julia im Interview

Aufgrund der amerikanischen Gesetzeslage war es Olivia Hussey wegen der Nacktszene nicht erlaubt, ihren Film in amerikanischen Kinos zu sehen. Der Jugendschutz hat sie vor dem Anblick ihrer eigenen Brüste bewahrt, well done, Amerika. Auf diesen absurden Umstand wurde die (dann 16-jährige) Hussey bei einem Interview im Veröffentlichungsjahr des Films – 1968 – angesprochen. Hier der entsprechende Ausschnitt aus dem Interview, während dem sie ganz entspannt ihre Zigarette raucht. Hach ja, andere Zeiten…

Knarren, Karren, Karneval – Shakespeare, bunt und queer

1997 nahm sich Baz Luhrmann des Stoffes an und inszenierte ihn in einer Art und Weise, die für ihn bald zum Markenzeichen werden sollte: bunt und schrill, Theater für die Leinwand. Sein Romeo + Julia gilt inzwischen als zweiter Teil seiner Roter-Vorhang-Trilogy / Red-Curtain-Trilogy, zusammen mit Strictly Ballroom (1992) und Moulin Rouge (2001).

Luhrmann behält die Sprache Shakespeare bei, verpackt dessen Stück jedoch in neuem Gewand, mit Knarren statt Schwertern in einer Mafia-Stadt der Gegenwart. Kluger Schachzug – verbietet sich damit doch jeder Vergleich mit der meisterlichen Adaption von 1968.

Was ich mit Romeo + Julia machen wollte, war einen Blick darauf zu werfen, auf welche Weise Shakespeare selbst einen Film aus einem seiner Stücke gemacht hätte, wenn er Regisseur gewesen wäre. Wie hätte er es angestellt? […] Wir wissen vom elisabethanischen Theater und dass er für 3.000 betrunkenen Zuschauer*innen gespielt hat, vom Straßenkehrer bis zur Königin von England – und seine Konkurrenz waren Bärenjagd und Prostitution. […] Er war also ein unermüdlicher Entertainer und Anwender unglaublicher Techniken und theatralischer Tricks. […] | Baz Luhrmann im Interview (19. Dezember 1996)

Der wohl interessanteste Charakter in Baz Luhrmanns Adaption ist aber weder Romeo (gespielt von Leonardo DiCaprio) noch Julia (Claire Danes), sondern Romeos Freund Mercutio (Harold Perrineau, Jr.). Der Wissenschaftler Anthony Johae schreibt:

Das Gegenteil von Liebe

Mercutio, die Drag-Queen, wird [während des Karnevals] »gekrönt« mit einer Frauenperücke und in ein weißes Kleid gehüllt. Außerhalb [des Karnevals] in der wirklichen Welt bacchalanischer Exzesse, da ist er ein schwarzer Mann, der weder zum hispanischen Haus der Capulets noch zum kaukasischen Haus der Montagues passt. Er wäre ein Außenseiter, wenn er nicht (platonisch oder anders) mit Romeo befreundet wäre.

Ist diese Freundschaft homoerotischer Natur? Einen Hinweis darauf bespricht Blogger*in lilymargaretjones in einem Beitrag über Mercutios Darstellung als queer in Luhrmanns Adaption. Es geht um die Szene, in der Tybalt gegenüber Romeo und Mercutio eine sexuelle Beziehung zwischen eben diesen beiden andeutet und Mercutio daraufhin erbost sein »Schwert« zieht. (Eigentlich eine Schusswaffe, doch die phallische Wortwahl bleibt bestehen).

Da das Gegenteil von Liebe nicht Hass sondern Gleichgültigkeit ist, könnte Mercutio’s empfindliche und defensive Reaktion auf den Vorwurf der Homosexualität andeuten, dass er selbst schwul ist.

Abgesehen davon: Interessant ist nicht nur Mercutios Freundschaft mit Romeo, der unberührt bleibt von Mercutios offener Darstellung von Weiblichkeit, sondern auch Mercutios Verhältnis zu Benvolio und den anderen Montague-Jungs. Niemand zeigt sich homophobisch gegenüber Mercutio. Das zeigt, dass Mercutio entweder gar nicht (in welcher Art auch immer) queer ist, oder dass es in Luhrmanns Verona-Beach-Universum schlicht »okay« ist, queer zu sein – oder beides.

Apropos queer und das Spiel mit Geschlechtsidentitäten, hier gibt’s einen Filmtipp zu Female Trouble (1974) sowie weiterführende Literatur zum Gender-Thema: Eine Einführung in Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (1990).

Alles glänzt… so schön neu

2013 dann das: Eine Neuverfilmung der Tragödie wieder im historischen Gewand, so wie der Klassiker von 1968 nur unendlich prunkvoller. Co-Produziert wurde Romeo und Julia (2013) von Swarovski – dem Kristallglas-Hersteller.

Von zahlreichen Kritiker*innen wurde diese Adaption regelrecht zerrissen. Zum Einen werde Shakespeares Sprache nicht angemessen vorgetragen (dazu kann ich mangels Fachkenntnis nix sagen). Zum Anderen, weil das Original-Stück in großem Maße umgeschrieben worden sei. Tatsächlich fließen in Shakespeare Tragödie plötzlich Floskeln ein, wie »mit guten Vorsätzen ist die Hölle gepflastert«. Witzig, dass nun dieser Film selbst als so ein Pflasterstein gesehen werden kann, der die Hölle dekoriert. Denn die Geschäftsfrau Nadja Swarovski meinte es nur gut:

R+J für Generation Z

Wir dachten, es sei sehr wichtig, Romeo und Julia auch der jüngeren Generation auf eine sehr angenehme Weise zu übermitteln.

Der Film sieht grandios aus in Sachen Kulissen, Kostümen, Lichtsetzung – und fährt prominente Schauspieler*innen auf. Etwa Natascha McElhone, Paul Giamatti oder Ed Westwick, der Zielgruppe dieses Films sicher bekannt aus der Jugendserie Gossip Girl. Nun, wenn der Film jugendlichen Zuschauer*innen gefällt und (auf neumodische Weise) an Shakespeare heranführt, dann kann’s doch herzlich egal sein, was ach so gestandene Filmkritiker*innen von der Umsetzung halten. Sie sind einfach nicht gemeint.

Kritiker wie Ty Burr (The Boston Globe) zum Beispiel, der doch ernsthaft ins Felde führt, der Film verstoße gegen die Kardinal-Regel von Romeo-und-Julia-Verfilmungen, dass der Romeo (gespielt von Douglas Booth) »niemals hübscher sein dürfe als die Julia« (Hailee Steinfeld). Das meint auch Justin Chang (Variety). Shame on you, guys. Mit solch oberflächlichen, irrelevanten Bemerkungen wollt ihr eure tiefgründige Kritik untermauern, die neumodische Verfilmung aus 2013 werde dem großen Shakespeare nicht gerecht? Pah. Über solchen Sexismus hätte Shakespeare seine verkokste Nase gerümpft.

Fazit zu Romeo und Julia

Nun, welcher der drei Filme ist denn nun der Beste?

Wie gesagt, Baz Luhrmanns Romeo + Julia (1996) läuft außer Konkurrenz. Das Ding funktioniert als eigenwilliges Kind seiner Zeit, den videoästhetisch trashigen 90er Jahren. Romeo und Julia aus dem Jahr 2013 ist bei aller Kritik ein Augenschmaus, ein wirklich schöner Film, dessen Soundtrack mir persönlich sehr gefällt (Filmkritikerin Susan Wloszczyna hingegen gar nicht, »Fahrstuhl-Musik«). Was ich an der Tonspur auszusetzen hätte: dass Romeo in der deutschen Synchronisation wie Bart Simpson klingt. Macht das Reinfühlen in die Romanze ein kleines bisschen unmöglich. Dann doch lieber auf Englisch schauen, nix verstehen und einfach die schönen Bilder genießen.

Absoluter Favorit in Sachen großartiger Adaption ist und bleibt Romeo und Julia (1968). Der Film ist grandios gespielt von allen Beteiligten, mit jeder Menge Temperament und Humor. Das gegenseitige Anhimmeln der jungen Liebenden ist so übertrieben wie glaubwürdig. Wenn Romeo (Leonard Whiting) den Baum zu Julias Balkon hochklettert oder im nebligen Morgengrauen freudig springend durch Wald und Wiese rennt, dann strahlt die Figur ein jugendliches Verliebtsein aus, an dass Leonardo DiCaprio und Douglas Booth nicht herankommen. Auch Olivia Hussey spielt die Rolle der Julia so vielseitig, dass sie weit mehr ist, als ein begehrenswertes love interest. Hussey schmachtet und schwärmt und scherzt und schimpft und schluchzt und reißt die Zuschauer*innen in jeder ihrer Emotionen mit. Chapeau!

Sterben im Staub · Liebe statt Krieg

Besonders stark ist auch die Schwertkampf-Szene rund um Mercutio, Tybalt und Romeo auf den leergefegten, glühenden Plätzen Veronas. Voller Spannung und Witz inszeniert, wandelt sich ein anfangs harmloses Duell zu einem packenden Kampf um Leben und Tod. Mit wilden Schlägen und Wälzen im Staub, unschön, aber umso echter. Dagegen können DiCaprios tränenreicher Schuss und das bisschen Schwert-Kling-Kling der 2013er-Verfilmung einpacken. Als Erzähler in der italienischen Fassung ist übrigens Vittorio Gassman zu hören, bekannt aus: Il sorpasso / Verliebt in scharfe Kurven.

Romeo und Julia als junge Verliebte, die sich trotz ihrer verfeindeten Familien in die Arme fallen – das kann man übrigens auch in der Adaption von 1968 als Kinder ihrer Zeit beschreiben. Sie funktionierten prima als Identifikationsfiguren für die 68er-Generation, die nichts mit den Kriegen ihrer Eltern am Hut haben wollte. Make love, not war.


Weitere Filme über Liebe (und andere Katastrophen):

Der Beitrag ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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THE TALL MAN mit Jessica Biel | Film 2012 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-the-tall-man-2012/ http://www.blogvombleiben.de/film-the-tall-man-2012/#respond Tue, 03 Jul 2018 07:00:01 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4305 The Tall Man ist der dritte Streich von Regisseur Pascal Laugier, der zuletzt mit einem Budget…

Der Beitrag THE TALL MAN mit Jessica Biel | Film 2012 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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The Tall Man ist der dritte Streich von Regisseur Pascal Laugier, der zuletzt mit einem Budget von mutmaßlich 6,5 Millionen US-Dollar den Film Martyrs (2008) umgesetzt hat. Ein Schocker, der sich zum größten Teil in einem einzigen Haus abspielt und dermaßen aufs Maul ist, dass die Erwartungen an den Nachfolger unter Genre-Freund*innen hoch waren. Was haut uns dieser Typ wohl um die Ohren, wenn er sich mit dem knapp dreifachen Budget austoben darf?

Auf Schocker folgt Twister

Diese Budget-Spritze (mutmaßlich, mal wieder, solche Zahlen lassen sich schwerlich verifizieren: 18 Millionen US-Dollar) verdankt Pascal Laugier der Schauspielerin Jessica Biel (Eine himmlische Familie, Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre). Durch ihre Begeisterung für Martyrs und Zusage, in Laugiers neuem Projekt die Hauptrolle zu übernehmen, bekam er den finanziellen Support, den es brauchte. Für spektakuläre Drehorte, Kamera-Tricks und -Flüge und Auto-Stunts und Steven McHattie und, und, und…

Ich liebte Martyrs. Es war hart und brutal, ihn zu sehen, aber er war elegant – macht das Sinn? Ich war so beeindruckt von Pascals Schaffen, dass ich einfach mit ihm zusammenarbeiten musste. | Jessical Biel im Interview mit Ryan Turek (comingsoon.net)

Das Drehbuch hat Laugier, wie in seinem Erstlingswerk Haus der Stimmen (2004) und Martyrs wieder selbst verfasst. Also, worum geht’s in The Tall Man?

Zum Inhalt: In einer kanadischen Kleinstadt gehen Armut und Schrecken um. Nicht nur, dass nach Schließung der Bergbauminen die Männer ihre Arbeit verlieren – jetzt werden auch noch Kinder entführt! Eine ganze Reihe hat es schon erwischt. Angeblich wurden sie verschleppt von einer Gestalt, den man im Ort nur den »großen Mann« nennt…

Hinweis: Ab dem Abschnitt »Bleibender Eindruck« wird fleißig gespoilert, bis dahin, entspanntes Lesen! Aktuelle Streamingangebote gibt’s bei JustWatch.

Schauspielerin Jessica Biel rennt bei Nacht eine Straße entlang, Standbild aus dem Film The Tall Man

Totale: The Tall Man im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Ich wollte etwas völlig anderes machen, als in Martyrs. Das habe ich von Ruggero Deodate gelernt. […] Er hat mich eingeladen, in Rom, hat mir Pasta gemacht und sagte: »Pascal, du hast dasselbe Problem, das ich mit Cannibal Holocaust hatte. Dein Film ist so schockierend, dass die Leute noch in 20 Jahren nur über Martyrs reden werden. Mir ging es genauso, ich war halb glücklich, halb traurig darüber. Ich hab nach Cannibal Holocaust immerhin 15 andere Filme gemacht!« Mir war also die Falle, in die ich als Regisseur tappen konnte, sehr bewusst. | Filmemacher Pascal Laugier beim Film4 FrightFest-All Nighter in London, 27. Oktober 2012

Persönlicher Kontext

Ich kenne Cannibal Holocaust (1980, hierzulande auch bekannt als: Nackt und zerfleischt). Danach hatte ich erstmal nicht das Bedürfnis, noch weitere Filme von Ruggero Deodate zu sehen. Insofern weiß ich nicht, was dieser Regisseur nach seiner kontroversen Kannibalen-Pseudo-Doku noch so gemacht hat… ist er damals in eine Falle getappt, indem er versucht hat, sich selbst im selben Genre zu übertreffen? Und worin genau – Brutalität? Blutzoll? Oder hat er damals schon, wie Laugier jetzt, erstmal etwas völlig anderes gemacht? Und entgeht man damit der Falle? Oder kann man trotzdem eine große Enttäuschung abliefern?

[Enttäuschung in einem weniger persönlichen Sinne. Schon Martyrs hat mir zu wenig gefallen, als dass ich meine Erwartungshaltung an The Tall Man mit »Vorfreude« beschreiben würde. Stattdessen also bitte in einem filmkritisch-sachlichen Sinne verstehen, diese ENTTÄUSCHUNG!]

Close-up: The Tall Man im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Los geht’s mit einer Texttafel: »In den USA werden jedes Jahr 800.000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten werden nach ein paar Tagen gefunden. 1000 Kinder verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.« Als Zuschauer*in rechne ich natürlich (nach Martyrs) mit einem derben Horrorfilm, keiner Doku. Auf mich persönlich wirkt es angesichts besagter Erwartungshaltung arg pietätlos, eine solche Statistik einzublenden. Hinter blanken Zahlen stehen schließlich echte Schicksale, aber naja… warum guck ich denn nicht gefälligst ne Doku, anstatt mich hier mit Horrorkino einzulullen?

Es beginnt als Thriller

Ein Kommissar kommt aus einer Höhle. Umgeben von Polizisten, die alles absperren sollen. Schnitt zu Detailaufnahmen vom Gesicht einer weinenden, zitternden Frau. Mit einer Pinzette werden ihr Scherben aus der blutenden Stirn entfernt. Der Kommissar kommt rein, schaut grimmig, sagt, man habe ihn nicht gefunden, die anderen Kinder auch nicht. Die Frau wirkt benommen… Schnitt zu einer Luftaufnahme über kanadische Wälder und die Kleinstadt Cold Rock, in der sich abspielen soll, was wie ein Thriller beginnt. Zu Stimmungsbildern aus der verwahrlosten Kleinstadt spricht ein Mädchen aus dem Off:

Unsere Stadt ist seit 6 Jahren tot. Zunächst dachten wir, die Schließung der Mine sei daran schuld. Am Verlust der Arbeitsplätze, an dem Fehlen von Geld, dem Fehlen von allem. Doch dann mussten wir etwas viel Schlimmerem die Schuld geben, denn es war etwas nach Cold Rock gekommen, etwas Böses, das unsere Stadt von innen heraus auffrass…

Sehgewohnheiten gefoltert

Knapp 10 Minuten von The Tall Man sind um, als der Vorspann eingeschoben wird. Einmal mehr: Kameraflüge über die Stadt und die Einblendung der Namen aller Beteiligten… An dieser Stelle hat mich dieser Film leider verloren. Die visuelle Art und Weise, wie die Vorspann-Schrift in die Filmaufnahmen eingebracht ist, bricht mit der bis dahin aufgebauten ernsten, düsteren Stimmung. Überhaupt bricht sie mit meinen Sehgewohnheiten, weil ich für gewöhnlich nicht gern Trash schaue – und der Vorspann schreit vom Look her so sehr nach TRASH!, dass man statt der Namen auch einer »Trash, Trash, Trash« hätte einblenden können.

Echt ey, als hätte da jemand gerade coole Tools bei After Effects entdeckt, die auf Teufel komm raus in den nächsten Film rein müssen… Gewiss, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber ich spreche ja auch nur von meinem Sinn für Ästhetik, der von diesem Vorspann gefoltert wurde.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Sprechen wir also, statt über Ästhetik (über die ich noch viel zu meckern hätte, Stichwort: alberne Schnitte, schlechte CGI), einfach über den Inhalt von The Tall Man. Manche User des Internets empören sich unter Negativkritiken zu dem Film, dass man diesen intelligenten Thriller doch nicht einfach mit Martyrs vergleichen dürfe, und überhaupt-

Stop! Was das »Intelligente« des Films angeht, möchte ich ihn dessen gerne berauben. Weil sich das »Intelligente« in meinem Schädel regelrecht beleidigt fühlte von dem, was es da zu verarbeiten bekam. (Und dazu brauche ich keinen Vergleich zu Martyrs!) Als »intelligent« wird noch am ehesten die Komposition der Story bezeichnet, mit ihren Twists and Turns, den 180-Grad-Wendungen, die bei den Zuschauer*innen für Verwirrung sorgen. Angenehme Verwirrung. Mindfuck-Filme halt, wie The Game (1997). Doch aufgepasst! Manche vermeintliche Mindfuck-Filme entlarven sich als »Fuck the mind!«-Mumpitz. Da wird die Logik der Story schon im Produktionsprozess so wenig hinterfragt, dass sich Zuschauer*innen fragen müssen: Bin ich der/die Erste, dem/der das dumm vorkommt?

Um die Leser*innen in die Diskussion miteinzubeziehen, hier mal die Story des Films The Tall Man in chronologischer Reihenfolge, ohne inszenatorische oder dramaturgische Tricks:

Die Story ohne die Twists

The Tall Man handelt von einem Ehepaar – er Arzt, sie Krankenschwester – das viel von der Welt gesehen hat. Afrika, arme Kinder. Das Paar entscheidet sich, etwas gegen die Kinderarmut zu tun. Aber nicht in Afrika, sondern in Kanada, da gibt’s ja auch arme Kinder. Etwas weniger arm, etwas besser behütet, aber sei’s drum. Das Paar will auf jeden Fall diesen Kindern helfen. Und zwar, indem sie die Kinder aus armen Familien klauen und an reiche Familien übergeben. Kid-Robbin‘ Hood.

Das ist die Prämisse des Films: Ein Paar will Kindern helfen, indem es sie auf eigene Faust aus armen Familie entfernt und in reiche Familie gibt. Das ist intelligent? Mir fallen spontan ein paar andere Ideen ein, wie ein Arzt und eine Krankenschwester armen Kindern helfen könnten. Diese spezielle Idee würde ich dabei, auf einer Intelligenzskala, eher unter »extrem dumm« einordnen, direkt unter: Arme Kinder mit Drogen versorgen, damit sie sich damit einen Kundenstamm aufbauen und finanzielle Unabhängigkeit erlangen können. Ach, lächerlicher Vorschlag?

Wie hättest du es getan?

Kommen wir zur Umsetzung der Prämisse: Um den Plan zu verwirklichen, bezieht das Ehepaar ein Haus über einem Minenstollen. In einem Städtchen, in dem augenscheinlich jede*r jede*n kennt. Dann fängt das Paar an, Kinder zu kidnappen. In dieser kleinen Stadt, in der sie wohnen, Kinder von Familien, die sie kennen. Alle paar Wochen entführen sie ein armes Kind und halten es in ihrem Haus (unter für das Kind angenehmsten Umständen) gefangen, bis sie es durch das Tunnelsystem aus der Stadt schleusen und an reiche Menschen verschenken.

Denn Geld wollen der Arzt und die Krankenschwester damit nicht verdienen. Ihr Motiv ist schlicht, das sie gute Menschen sind (und dass die Frau keine Kinder kriegen kann, das wird nebenbei auch erwähnt). Der Mann hält sich während dieses ganzen Treibens übrigens versteckt und gilt als verstorben, damit die Frau als Witwe ihr Dasein fristen kann, was irgendwie von Vorteil zu sein scheint, für ihre Strategie…

Eltern reich, alles gut

Am Ende zeigt sich, dass sie nicht nur alle Kinder aus ein- und demselben Städtchen entführen, sondern zuweilen auch in dieselbe Stadt vermitteln. So dass sich die Kinder dort begegnen. Kinder, die übrigens durchaus schon so alt sind, dass man von einem Erinnerungsvermögen sprechen kann. WTF!? Wie kann dieses Ehepaar nicht längst aufgeflogen sein?

Zu aller aller Letzt wird dann noch – mit einem dramatischen Bruch durch die vierte Wand – die moralische Frage aufgeworfen, ob die Kinder in ihren neuen, reichen Familien denn wirklich glücklicher sind? Oder nicht? Oder doch?

Um Hitchcocks Willen!

Was soll man denn als Wahrscheinlichkeitskrämer zu so einer Geschichte sagen? Ja, gut, danke, kauf ich dir ab!? Wie schon bei Martyrs lässt sich natürlich jede noch so dumme Aktion in einem Film entschuldigen, indem man die Protagonisten als irre abtut. Das Paar handelt zwar irgendwie rational und einigermaßen organisiert. Aber wenn schon die Prämisse derart idiotisch und deren Umsetzung so kompliziert wie möglich daher kommt, dann doch wohl, weil die Story im Dienste eines Filmes steht, der unbedingt Haken schlagen möchte.

Mein liebster Aufreger in The Tall Man ist übrigens die Szene, in der sich die Frau – als Kidnapperin entlarvt – mit einem entführten Kind in ihr Haus begibt. Ein großes Haus mit großes Fenstern und so. Ihr folgt ein Mob, der sich quasi aus der halben Stadt zusammensetzt. Sehr wütende Menschen, wütend darüber, dass die Kinder aus ihren Familien entführt wurden, Schicksal ungewiss. Leben sie noch? Oder nicht? Doch diese wütenden Menschen bilden den wohl harmlosesten Mob der Filmgeschichte. Stundenlang hält er sich vor dem Haus auf und brüllt rum. Ohne die Tür aufzubrechen oder wenigstens ein Fenster einzuschmeißen – obwohl ein Kind aus ihrer Gemeinschaft in dem Haus gefangen halten wird!

Der zahmste Mob aller Zeiten

Wir sehen den Mob nicht, stattdessen vollzieht der Herr Regisseur in dieser Szene einen schönen kleinen Trick, in dem die Kamera einmal von der Protagonistin, die auf dem Bett sitzt, einmal langsam durch den Raum schenkt, während die Zeit vergeht und Tag zu Nacht wird. Aber der wilde, wütende, tobende Mob, der ist immer noch da. Das sehen wir, als die Frau bei Tageslicht abgeführt wird und sich im Polizeiauto sogar ducken muss, weil die Scheiben des Polizei-Autos SOFORT eingeworfen werden.

Es wäre vermutlich unfreiwillig komisch gewesen, den tobenden Mob in den nächtlichen Stunden vor dem Haus zu zeigen. Ein Haufen richtig wütender Menschen, die einfach nur ihre Fäuste recken und Flüche rufen! Dass sie nicht ins Haus eindringen dürfen, um das Kind vielleicht noch zu retten, das steht halt so im Drehbuch. Und ans Drehbuch hält man sich, ob es Unsinn ist, oder nicht…

Mein zweitliebster Aufreger ist der Zirkelschluss, den der Film vollzieht. Wie oben zitiert, begründet die Off-Stimme die Verzweiflung in Cold Rock nicht nur mit der Schließung der Mine. Sondern damit, dass etwas Böses gekommen sei, um die Kinder zu klauen. Aber »das Böse« (das kid-robbin‘ hoodsche Ehepaar) ist ja gekommen, um die Kinder aus ihrer verzweifelten Lage zu holen. Die Lage aber ist ja verzweifelt, weil die Kinderräuber gekommen sind… also… mir wird schwindelig – und ich drohe, mich viel zu lange mit einem Film aufzuhalten, der mich schon jetzt zu viel Lebenszeit gekostet hat.

Fazit zu The Tall Man

Ja, hat mich wohl nicht so gerockt.


Bessere Filme:
  • Good Will Hunting (1997) über einen Professor, der einem armen jungen Mann in ein besseres Umfeld helfen möchte, indem er mit ihm Mathe paukt
  • Captain Fantastic (2016) über einen Papa, der seine Kinder vor der geistigen Armut da draußen retten möchte, indem er sie im Wald großzieht
  • Cargo (2018) über einen Mann, der zwei Kinder vor Zombies retten will, während er sich selbst in einen Zombie verwandelt, was aber okay ist, weil er sie ja huckepack nehmen kann und… ach nee, der war ja genauso bescheuert wie The Tall Man

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Kreative Kinder an der Kamera | Sonias Rückblick zum Bundes.Festival.Film. http://www.blogvombleiben.de/kreative-kinder-an-der-kamera/ http://www.blogvombleiben.de/kreative-kinder-an-der-kamera/#respond Mon, 02 Jul 2018 06:35:58 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4155 Das 31. Bundes.Film.Festival ist vorbei. Doch nicht traurig sein, das nächste kommt bestimmt! Hier gibt’s einen…

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Das 31. Bundes.Film.Festival ist vorbei. Doch nicht traurig sein, das nächste kommt bestimmt! Hier gibt’s einen kleinen Rückblick zu den Highlights der kleinen Stars auf großer Leinwand und hinter den Kameras: Was haben uns kreative Kinder für besondere Filme beschert?

Vorweg: Hier ein Gesamt-Rückblick zu Tag 1 und Tag 2 des diesjährigen Bundes.Festival.Film. in Hildesheim.

Festivalperlen aus Kinderhand

Oma und Hund (gebastelt aus Knete) laufen die Straße entlang, dazu der Text: Kreative Kinder an der Kamera | Bildrechte: Ferdinand und Fanny Maurer

Geschwisterliebe bis zum Mond

Ein Attribut, das man Kindern gerne zuschreibt, ist die unerschrockene Direktheit, mit der sie Dinge beim Namen nennen. Oder andersrum: wortwörtlich verstehen. Mit diesem Spirit ist auch der 8-jährige Gaetano Romagnoli (Sohn des Kölner Filmemachers Marco Romagnoli) an seinen bereits zweiten Film herangegangen. In seinem Film, der in dokumentarischer Weise seine beiden Geschwister begleitet, geht es um des Bruders Versuch, seine Schwester auf den Mond zu schießen.

Doch wie kann das am besten gelingen? Aus dem Off kommentiert Gaetano die Ideen seines jüngeren Bruders. Und dieser lässt sich so einiges einfallen, um seine Schwester loszuwerden. Denn beim Essen genervt zu werden, das mag er nicht. So verfolgt die Kamera, welche in der Hand von Gaetona sicher liegt, wie sein Bruder aus einem Gugelhupf-Pappeimer einen Astronautenhelm mit zwei Gucklöchern bastelt. Der passt zwar seiner kleinen Schwester, aber bringt sie noch nicht zum Mond. Doch sein Bruder bleibt hartnäckig. Im Kaufhaus ergibt sich die nächste Gelegenheit. So steigen die beiden Kinder in den Aufzug. Ob der wohl zum Mond fährt?

Hier gibt’s weitere Infos zum Projekt sowie einen Filmausschnitt.

Obwohl die Story visuell und kameratechnisch aus der Perspektive von Regisseur und Kameramann Geatano erzählt wird, versetzt dieser sich in seinen Bruder und schlüpft im Off in seine Haut. Dies ist bemerkenswert, da Kinder mit 8 Jahren kognitiv erst am Anfang stehen, andere Perspektiven einzunehmen. Womöglich dürfte die Einbindung seiner Schwester den Zugang zu der Gedankenwelt seines Bruders erleichtert haben. Ab zum Mond ist ein Kinderfilm, der sowohl kameratechnisch als auch storymäßig die Perspektive eines jungen Bruders einnimmt und die Beziehung zwischen Geschwistern authentisch und spielerisch einfängt. An dieser Stelle: Herzlichen Glückwunsch, Gaetano zum Hauptpreis in der Altersgruppe A (bis 10 Jahre) und den tollen Film!

Pizza gut, Advent gut

Ein Weihnachtsmann rattert mit einem Schlitten den Asphalt entlang. Seine Mission: Den Schulkindern eine Advents-Überraschung in den Schulranzen zu legen. Doch plötzlich wird er selbst Opfer einer Überraschung. Jemand hat doch tatsächlich seine Geschenke gestohlen. Zack wird die Polizei und auch fündig. Nach so viel Advents-Überraschung muss eine Versöhnungspizza her.

Der Kurzfilm Advent-Überraschung ist das Werk der 7- 8-jährigen Eric Hendrich, Anton Kleinhanß und Julius Kleinhanß. Die zackigen Dialoge zwischen Weihnachtsmann, Polizist und Schurke, die Animationen des flotten Schlittens und die klassische Story eines Raubüberfalls mit Pizza-End sind für die Jury des Bundes.Film.Festival Grund genug, den Film in der Altersgruppe A (bis 10 Jahre) auszuzeichnen. Ich kann dem nur beipflichten, zumal die Nägel-mit-Köpfen-Mentalität der Protagonisten und die schlichte Auflösung des Konflikts die Wahrnehmung von Kindern authentisch widerspiegelt und die Regie in Kinderhand behalten wurde.

Für weitere Infos zum Projekt und einen Filmausschnitt einfach hier entlang.

Bemerkenswert war auch der Auftritt der jungen Filmemacher auf dem Bundes.Festival.Film., bei dem nach jeder Filmvorführungen die Kreativen hinter den Projekten zum Gespräch auf die Bühne treten. Dort standen die Jungs nicht nur gekonnt Rede und Antwort, sie drehten den Spieß sogar um und richteten Fragen ans Publikum: »Was glaubt ihr wohl, aus wie vielen Einzelbildern dieser Stop-Motion-Film entstanden ist?« Etwas waren über 1.300!

Welche Story wird erzählt?

Etwas düsterer geht es in dem Kurzfilm Hypothetic Crimestory von Rasmus Dankert und Simon Kleefuss (15 Jahre) zu (weniger kreative Kinder als bereits gestandene Jungfilmemacher!). Die Zuschauer*innen befindet sich an einem Tatort. Zwei Jungen gehen diesem auf den Grund. Und das Opfer schreibt darüber.

Die Filmemacher liefern in knapp 9 Minuten eine spannende und angespannte Story, ganz im Stile des Krimigenres. Getunkt in bläulicher Farbgebung und mit geschmeidigen Kameraschwenks wird die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeitsträngen erzählt. Oder doch nur aus einer? Das Gedankenspiel ist den Filmemachern visuell und dramaturgisch so gut gelungen, dass sie sich eine Auszeichnung in der Altersgruppe B (11-15 Jahre) verdient haben. Weiter so!

Hier gibt’s weitere Infos zum Projekt sowie einen Filmauschnitt.

Meerjungfrau frisch vom Baum

Mit so einem Titel kriegt man mich. Hauptsache verrückt, Nonsense, Hauptsache irgendwie unlogisch. Das sind die Vorzüge meines Kopfes, weshalb Mathe mich mal plusweise kann. Der Kurzfilm der Feriengruppe Kind & Werk e.V.  mit Sonja Wessel von der Medienwerkstatt sprudelt nur so von kindlichem Spieltrieb und Fantasie. Im zauberhaften Scherenschnitt-Stil, inspiriert von Silhouetten-Animationsfilmerin Lotte Reiniger (1899-1981), kreierten kreative Kinder im Alter zwischen 8 und 13 Jahren einen visuell wie erzähltechnisch wunderlichen Film.

Einige Hintergrundinfos samt Filmausschnitt gibt es auf der Website des Deutschen Jugendfilmpreises.

Das Besondere: Vom Papier, das geschöpft, die Figuren, die gemalt und ausgeschnitten, die Bewegtbilder, die in über 1.500 Einzelbildern festgehalten, eigenständig animiert, mit Kinderstimmen eingesprochen wurden  bis hin zur Geschichte, die sie zu einem bunten Kosmos verschmolzen haben, schafften die Kinder alles gemeinsam. Mit leichter Unterstützung von Sonia Wessel. Das verdient den Team-Award. Für mich der Film, der beim Bundes.Film.Festival. am stärksten die Fantasie anregte. Danke für diese Reise und die vielen Lacher. Ich bin schon sehr gespannt auf weitere Werke und grüße den Krakensprecher.

Der Törtchendieb: Kreative Kinder mit Knete!

Was haben wir gelacht, als die Knetoma mit ihrem Hund einen Berg Törtchen verschlingt, sich neue besorgt und kurzerhand um eben diese beraubt wird. So geht es in der Stop-Motion-Animation chaotisch zu: Raub im Törtchenladen, witzige Knetfiguren in einer Pappstadtkulisse und eine hysterische Verfolgungsjagd. Damit treffen Ferdinand (14) und seine Schwester Fanny (13) – zwei ganz besonders kreative Kinder! – beim kindlichen und dem Jury-Humor voll ins Schwarze. Und am Ende haben die beiden Filmemacher für Groß und Klein eine süße Überraschung. Bitte mehr davon! Der Film wurde sogar in zwei Kategorien ausgezeichnet und gewann in seiner Altersklasse den Hauptpreis, herzlichen Glückwunsch!

Hier gibt’s auch zu diesem wunderbaren Film weitere Infos und einen Filmausschnitt.


Mehr zum Thema:

Der Beitrag Kreative Kinder an der Kamera | Sonias Rückblick zum Bundes.Festival.Film. erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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STRICTLY BALLROOM mit Tara Morice | Film 1992 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-strictly-ballroom-1992/ http://www.blogvombleiben.de/film-strictly-ballroom-1992/#respond Fri, 29 Jun 2018 07:00:58 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3837 Culture-Clash und Tanzschul-Trash, großes Theater und knallbunte Kleider, dazu zwei bezaubernde Hauptdarsteller: das ist Strictly Ballroom.…

Der Beitrag STRICTLY BALLROOM mit Tara Morice | Film 1992 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Culture-Clash und Tanzschul-Trash, großes Theater und knallbunte Kleider, dazu zwei bezaubernde Hauptdarsteller: das ist Strictly Ballroom. Ein Film, dem es tatsächlich gelingt, so etwas vermeintlich Lahmes wie Gesellschaftstanz ziemlich cool in Szene zu setzen.

Wenn Entlein das Tanzbein schwingt

Inhalt: Strictly Ballroom erzählt die Geschichte von Scott Hastings (Paul Mercurio), einem australischen Turniertänzer auf Erfolgskurs. Als er eines Tages seine eigenen Schritte aufs Parkett bringen will, läuft ihm die Partnerin davon. Die Führungsriege der Tanzvereinigung und seine eigene, ehrgeizige Mutter sind empört. Während Letztere händeringend nach einer neuen Partnerin für ihren Sohn sucht, bändelt dieser mit einer jungen Frau namens Fran (Tara Morice) an, dem anfangs unauffälligen Mauerblümchen…

Hinweis: Liebe Leser*innen, liest man Filmkritiken zu Strictly Ballroom, muss man sich doch wundern. Immer wieder wird betont, wie konventionell und vorhersehbar der Plot des Films sei. Und im gleichen Atemzug wird er gefeiert, nicht zuletzt eben dafür. In der Überhöhung von Klischees und dem Charme der Umsetzung liegt die besondere Güte von Strictly Ballroom, insofern enthält der folgende Text keine Spoiler. Da gibt’s nichts zu verraten, was die Zuschauer*innen nicht ohnehin erahnen würden.

Der Film ist in voller Länge online verfügbar, siehe unten.

Paul Mercurio und Tara Morice als Tanzpaar in dem Film Strictly Ballroom

Totale: Strictly Ballroom im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

1984 pitchte die Drehbuchautorin Eleanor Bergstein einem Filmstudio erstmals die Idee, aus der später Dirty Dancing hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Amerika, der zum internationalen Hit avancieren würde. Im selben Jahr, 1984, präsentierten Studenten des National Institute of Dramatic Art in Sydney ein Bühnenstück über die Welt des Ballroom Dancing, aus dem später der Film Strictly Ballroom hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Australien, der zum internationalen Hit avancieren würde. Allerdings erst 5 Jahre nach Dirty Dancing, dem Überraschungserfolg von 1987.

Strictly Ballroom vs. Dirty Dancing

Der Gedanke, Strictly Ballroom reite auf der Erfolgswelle von Dirty Dancing oder sei gar ein Abklatsch dessen, ist also daneben. Baz Luhrmann, der schon damals in das Studenten-Stück involviert war und später die Regie für die Verfilmung von Strictly Ballroom übernahm, ging es darum, dem Skript den Naturalismus auszutreiben. Die Produzenten wollten, dass der damals erst 28-jährige Schauspielstudent mit einem professionellen Drehbuchautor zusammenarbeitete. Luhrmann aber setzte sich letztlich durch, einen theatralischen Ton beizubehalten und die ganze Turniertanz-Welt bewusst zu überzeichnen.

Vergleiche zu Dirty Dancing begrüße ich nicht. Unser Film ist eine Allegorie, eine Art Fantasie, Dirty Dancing ist es nicht. | Baz Luhrmann im Hollywood Reporter, 14.10.1992

…verglichen werden die Filme natürlich trotzdem. Dabei hat es Andrew Price (Commentarama) wohl am besten zusammengefasst, auch wenn sein Diss gegen Dirty Dancing etwas hart ausfällt:

Während Dirty Dancing durchweg ernst ist, ist Strictly Ballroom sehr augenzwinkernd. Auch die Choreographien sind überlegen. Dirty Dancing ist da typisch Hollywood. Der Film zielt darauf ab, flashy zu sein – und wenn er stellenweise auf sexy macht, ist es offensichtlich und überzogen. Das Tanzen in Strictly Ballroom hingegen zeugt von enormen technischen Skills. Es fühlt sich an, als lünkere man in die Übungsstunden echter Tänzer*innen, die im Privaten ihre Limits testen wollen. Dirty Dancing wirkt dagegen gestellt. | Hier geht es zur ausführlichen Filmkritik (auf Englisch)

Tatsächlich handelt es sich bei Hauptdarsteller Paul Mercurio nicht um einen Schauspieler, sondern einen professionellen Tänzer, der in Strictly Ballroom zum ersten Mal für einen Film vor der Kamera stand.

Persönlicher Kontext

In der 9. Klasse damals, ich muss etwa 13 Jahre alt gewesen sein, da wurden wir Schüler*innen liebevoll dazu gedrängt, die Freitagnachmittage doch mal in der Tanzschule zu verbringen. Klassischer Paartanz, Standard und Latein, erst für Anfänger, dann Kurs Nummer 2… 3 Jahre blieb ich dabei. Ein paar Turniertänze, ein paar Dramen hinter den Kulissen, ohne Bühne großes Theater, typisches Tanzschul-Gezeter. Zwischen Abendtrainings und Abschlussbällen hab ich meine Pubertät ausgelebt, mit peinlichen Spitzen.

Dirty Dancing 2 und Darf ich bitten? (beide 2004) haben wir damals mit versammelter Tanztruppe im Kino gesehen. Dirty Dancing, das Original, das stand als bester Tanzfilm aller Zeiten quasi nicht zur Diskussion. Zu der Zeit entdeckte ich auch Moulin Rouge (2001), nahm ihn begeistert in meine junge DVD-Sammlung auf und hielt mich für einen großen Filmkenner. Ach, wie klein doch diese Bubble war, in der ich damals vor mich hin blubberte. Nicht einmal das Spielfilm-Debüt des Moulin-Rouge-Regisseurs nahm ich zur Kenntnis. Obwohl es doch ein Tanzfilm über eben die Tänze war, die wir Woche um Woche lernten, Walzer, Cha Cha, Paso Doble…

Umfangreiche PDF-Broschüre zu Strictly Ballroom vom Film Institute of Ireland.

Close-up: Strictly Ballroom im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Strictly Ballroom beginnt mit einem roten Vorhang. Diese Einstellung mag Namensgeber für die spätere Vermarktung dieses Films als Teil der Roter-Vorhang-Trilogie (Red Curtain Trilogy) sein, zusammen mit Baz Luhrmanns Romeo + Juliet (1996) und besagtem Moulin Rouge (2001). Als erster und am geringsten budgetierter Film dieser thematisch und stilistisch verbundenen Reihe kommt Strictly Ballroom insgesamt jedoch deutlich weniger pompös daher. Die erste Szene zeigt die Silhouetten von Tänzern im Gegenlicht, Bewegungen in Zeitlupe zum Donauwalzer von Johann Strauss.

Der Walzer geht weiter, während wir den Silhouetten aufs Parkett folgen. Als völlig überkandidelt gestylte und gekleidete Tanzpaare paradieren sie vor Jury und Publikum und tanzen los, angefeuert von begeisterten Fans – und aufgedrehten Müttern. Das Bild gefriert auf einer Einstellung eines der Tänzer. Texteinblendung: Scott Hastings, Ballroom Champion. Aus dem Off kommt seine Mutter (Pat Thomson) zu Wort. Sie reflektiert die Erfolgsgeschichte ihres Sohnes, wird prompt eingeblendet. Als nicht minder aufgetakelte Frau sitzt sie neben ihrem selig grinsenden Ehemann auf einem rosa Sofa und spricht in die Kamera. Texteinblendung: Doug and Shirley Hastings, Scott’s Eltern.

Ja, der Tanzfilm Strictly Ballroom beginnt als Mockumentary! Und der Übergang von diesem Genre in das des klassischen Tanzfilms mit konventionellem Handlungsbogen gelingt so galant, wie Scott von seinen einstudierten Schritten in frei improvisierte übergeht.

Bisschen Hintergrundwissen zum Angeben, gefällig? Hier geht’s zu 20 Dingen, die du nicht über Strictly Ballroom wusstest | von der Herald Sun (auf Englisch)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Baz Luhrmann, der keinen naturalistisch anmutenden Film à la Dirty Dancing machen wollte, etabliert in Strictly Ballroom einen Inszenierungsstil, der »too much« als genau richtige Dosis ans Publikum bringt. Ein Konzept, dass Luhrmann bis The Great Gatsby immer exzessiver verwirklicht hat. Seit dem ersten Film arbeitet Lurhmann eng mit seiner Ehefrau, der Szenen- und Kostümbildnerin Catherine Martin, zusammen. Die wilden Kameraflüge und opulenten Kulissen, die wir von den beiden Filmschaffenden gewohnt sind, fallen in Strictly Ballroom ob des geringen Budgets weg. Die finale Szene wurde gar während eines echten Tanzturniers gedreht, vor echten Zuschauer*innen, die in der Pause kurzerhand zum Mitmachen gegeben wurden.

Wir konnten nur zwei Takes drehen, wegen dem kleinen Zeitfenster. In einem der Takes stürzte einer der Tänzer, weshalb wir nur ein Take verwenden konnten. | John O’Connell, Choreograph von Strictly Ballroom

Barry Fife in Zeiten des Pöbelclowns

Strictly Ballroom ist insofern übrigens ziemlich up to date, als der Antagonist des Films, der konservative, schmierige Chef der Tanzvereinigung namens Barry Fife (Bill Hunter), eine geradezu erschreckende Ähnlichkeit zu Donald Trump hat. Dem pöbelnden Clown, der aktuell das Weiße Haus okkupiert.

Oh, und apropos Trump: Um spanisch sprechende Immigranten geht es auch in Strictly Ballroom. Und zwar stammt die weibliche Hauptfigur Fran (mitreißend gespielt von Tara Morice) von spanischen Einwanderern ab. Dieser familiäre Background führt den Film zu seinen vielleicht schönen Szenen, die sich nicht im Rampenlicht, sondern im Hinterhof abspielen. Dort, wo sich Generationen und Kulturen begegnen – und Paso Doble tanzen.

Fazit zu Strictly Ballroom

Witzige Sache zu Strictly Ballroom: Man sieht jede Wendung kommen und muss doch lachen. | Peter Travers für Rolling Stone, 12.02.1993

Es hätte eine weitere, abgelutschte 08/15-Neuauflage vom hässlichen Entlein werden können. Doch mit starken Dialogen, charmanten Schauspieler*innen und einer ordentlichen Portion Humor, gut über den Film verteilt, gelingt Strictly Ballroom ein bemerkenswerter Film nach bekanntem Muster. Wer Dirty Dancing liebt, wird Strictly Ballroom mindestens sehr mögen – und vielleicht ernsthafte Schwierigkeiten im Ranking der persönlichen Lieblingsfilme kriegen. Für mich schubst Strictly Ballroom den Kultfilm mit Jennifer Grey tatsächlich vom Thron. Da kann Baby noch so viele Melonen heranschleppen…

Hier nun Strictly Ballroom (im englischen Original), viel Vergnügen!

Weitere Filmkritiken:

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THE LOBSTER mit Rachel Weisz | Film 2015 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-the-lobster-2015/ http://www.blogvombleiben.de/film-the-lobster-2015/#respond Thu, 21 Jun 2018 06:00:10 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3900 Die Krux des Lebens ist bekanntlich, dass man immer will, was man nicht haben kann. Auf…

Der Beitrag THE LOBSTER mit Rachel Weisz | Film 2015 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Die Krux des Lebens ist bekanntlich, dass man immer will, was man nicht haben kann. Auf Partnerschaften übertragen: Singles wollen Bindung, Gebundene ihre Freiheit zurück, Befreite wieder Bindung und so weiter, Tinder-Trennungs-Mania. Aber worin liegt nun die wahre Erfüllung – in der Freiheit der Einzelgänger*innen oder der Geborgenheit einer Partnerschaft? Anderes Thema: Welches Tier wärst du gern? Lauter existenzielle Fragen sind das, um die sich der Film The Lobster (zu Deutsch: der Hummer) dreht.

Zusammen ist man weniger ein Schwein

Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text enthält Spoiler hinsichtlich der Besprechung einzelner Szenen. Obwohl weder Ende noch wichtige Wendungen verraten werden: Es lohnt sich, diesen Film mit möglichst wenig Vorwissen zu sehen! Aktuelle legale Streamingangebote von The Lobster gibt’s bei JustWatch.

Hummer sind bemerkenswerte Wesen. Sie werden über 100 Jahre alt (wenn wir sie nicht bei lebendigem Leibe im Kochtopf zerbrühen) und sie haben blaues Blut (und zwar wirklich, nicht nur so dahergesagt, wie unsere ach so adligen Aristokraten). Außerdem sind Hummer ein Leben lang fruchtbar. Diese 3 Eigenschaften fallen dem Protagonisten David (gespielt von Colin Farrell) ein, als er im Hotel gefragt wird, in welches Tier er sich verwandeln lassen wolle. Denn das ist die Prämisse zu The Lobster: Singles werden in ein Hotel eingewiesen, in dem sie eine bestimmte Zahl an Tagen Zeit haben, eine*n Partner*in zu finden. Wenn dies nicht gelingt, werden die einsamen Seelen in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. Was auch sonst?

Die Reaktion der Hotelmanagerin auf Davids Antwort lautet: Der Hummer sei eine exzellente Wahl! Ja, und The Lobster ist eine exzellente Wahl für einen ausgefallenen Liebesfilm mit Colin Farrell und Rachel Weisz als Paar, das sich nicht haben darf.

Schauspielerin Rachel Weisz im Film The Lobster

Totale: The Lobster im Zusammenhang

Thematischer Kontext

Der kanadische Psychologe Jordan Peterson hat im Januar ein Selbsthilfe-Buch veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe erscheint im Oktober unter dem Titel: 12 Rules For Life: Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt. Im ersten Kapitel davon zieht Jordan Peterson ausgerechnet den Hummer heran, um zu demonstrieren, wie wir die fundamentalen Prinzipien der Natur ausnutzen können, um im Leben erfolgreich zu sein.

Lass dich vom siegreichen Hummer inspirieren, mit seinen 350 Millionen Jahren von angewandter Weisheit. Stehe aufrecht, nimm die Schulter zurück. | Jordan Peterson

Die Dominanz des Hummers

Das ist der Hummer in Angriffshaltung: Bei Kämpfen plustert er sich auf, um seine Gegner zu beeindrucken. Peterson zielt auf den Dominanz-Trieb von Hummern ab, von dem sich Menschen etwas abschauen sollten, um im Leben zu bestehen. Das kann man auch jetzt schon in einem deutschsprachigen Blogartikel über Petersons berüchtigstes Hummer-Faible nachlesen (siehe: 112-Peterson: Der Hummer in dir).

Es scheint, dass seine Diskussion von Hummern mehr über seine eigene Weltsicht aussagt, als über menschliches Verhalten. Aber er ist der Psychologe, nicht ich.

Die bizarre Vielfalt des Lebens

Das schrieb Anfang dieses Monats, am 4. Juni 2018, die Marine-Forscherin Bailey Steinworth in der Washington Post. Peterson erzähle seinen Leser*innen, sie sollten sich von einem Tier inspirieren lassen, das nicht fähig ist, mit seinen eigenen Artgenoss*innen zu interagieren – außer beim Sex.

Ich sage, das Leben ist so bizarr und wundervoll, dass man Inspiration überall finden kann.

Tatsächlich geht Steinworth dann auch auf eine Reihe von Meeresbewohner*innen ein, die gleichermaßen als Vorbild für uns Menschen dienen können. Wer weiß, wenn der fiktive David diesen Artikel gelesen hätte, vielleicht hätte er sich nicht mehr in einen Hummer verwandeln lassen wollen, sondern eine Seeschnecke oder Seegurke oder Qualle? Hätte der Film The Lobster dann The Jellyfish geheißen?

Warum der Hummer?

Wohl kaum. Denn bei all den tiefenpsychologischen Mutmaßungen, die man über den Protagonisten David und seine Wahl für den Hummer anstellen mag, ist die Erklärung – warum ausgerechnet ein Hummer!? – sehr einfach:

Es begann mit einer Story, die wir als ursprüngliches Treatment geschrieben hatten. Darin wird der Hauptcharakter in einen Hummer verwandelt und dann sieht man seine Ex-Frau mit ihrem neuen Lover eben einen Hummer essen. Also, darin liegt die eigentliche Bedeutung des Hummers, noch bevor wir das richtige Drehbuch schrieben. | Regisseur Yorgos Lanthimos im Gespräch mit Emma Myers (Brooklyn)

Kurzum: The Lobster heißt The Lobster, weil Hummer lecker sind. Und das, obwohl diese Wendung letztlich gar nicht mehr Teil des fertigen Films ist. Der Titel ist ein Relikt des kreativen Schaffensprozesses, so einfach. Da geht es nicht doppelbödig über Dominanz-Trieb und soziale Hierarchie. Die Dinge sind manchmal, wie sie sind, aus den dämlichsten Gründen. Das lohnt sich, bei dem Film The Lobster im Hinterkopf zu behalten, bevor man jede Geste und Regung, jeden Schnitt und Schabernack in dieser kunstvoll erzählten Geschichte mit Bedeutung aufladen möchte.

Persönlicher Kontext

Schon 2015 hat mir ein Kumpel den Film The Lobster ans Herz gelegt. Nun hat ein anderer Kumpel die DVD bei einem Filmabend aus dem Hut gezaubert. Beide kannten wir weder den Film noch den Regisseur, hatten nichts über The Lobster je gehört, außer eben, dass er »ziemlich außergewöhnlich sei«. Na denn, nichts wie rein mit der Scheibe!

Close-up: The Lobster im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Zu Beginn sehen wir eine Frau mit ihrem Auto durch den Regen fahren, auf einer Landstraße. Der Prolog zu The Lobster – vor dem eigentlichen Titel – ist ein One-Take, ein etwa 80-sekündige Szene ohne Schnitt, ohne Musik, ohne Worte. Was darin passiert und wie es zu deuten ist, das wird im Internet fröhlich diskutiert. Manche sehen in dem rätselhaften Prolog »the whole movie in a nutshell«. Yorgos Lanthimos selbst sagt, er mag es, einen Film so zu starten:

Du gibst den Ton an, ohne eine Erklärung zu liefern oder den Einstieg noch einmal aufzugreifen. Wenn der Film zu Ende ist, können die Zuschauer*innen selbst zum Anfang zurückkehren und ihn auf ihre Weise interpretieren.

Nach Einblendung des Titels folgt eine Over-Shoulder-Einstellung eines Mannes (Colin Farrell), auf der Couch sitzend. Zu seinen Füßen ein Hund. Der Mann spricht mit seiner Frau, die wir nicht zu sehen bekommen. Offenbar geht es um einen Anderen, den die Frau kennengelernt hat. Deshalb muss der Mann gehen. Er wird eskortiert, zu einem Wagen, dann deportiert, zu dem Hotel.

Homo oder hetero?

An der Rezeption wird der Mann gefragt, ob er homo- oder heterosexuell sei. Bisexualität gibt es in dieser Zukunftsvision ebenso wenig, wie halbe Schuhgrößen. Der Mann überlegt ein wenig hin und her, sein Blick schweift zur Seite, wir sehen nicht, wohin, hören von dort her nur Absatzschuhe über einen harten Boden stöckeln. Er müsse wohl »hetero« angeben, sagt der Mann, dessen letzter Blick laut Audiospur einer Frau galt. Dieses subtile, inszenatorische Detail ist besagtem Kumpel aufgefallen, mit dem ich den Film sah. An mir allein wäre es, fürchte ich, unbemerkt vorbeigegangen.

Schon ab der ersten Szene kommentiert eine Erzählerin aus dem Off gelegentlich das Geschehen. Ihre Stimme soll später ein Gesicht bekommen: das von Schauspielerin Rachel Weisz. Die Erzählerin, die zu handlungstreibenden Figur wird – dieser Kniff kam uns beim Filmabend so ungewöhnlich vor, dass wir eine Literaturverfilmung vermuteten. Es gibt ja Romanvorlagen, deren Umsetzung ein paar besondere Kniffe abverlangt. Doch so sehr sich The Lobster zuweilen so anfühlt – der Film ist keine Literaturverfilmung, sondern basiert auf einem Original-Drehbuch.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Neben Rachel Weisz enthält der Film zahlreiche weitere bemerkenswerte Frauenrollen. Allen voran Léa Seydoux als Anführerin der Einzelgänger*innen in den Wäldern. Sie hält sich einen »Partner« bloß zur Tarnung in der Stadt, in der Menschen nur als Paare auftreten dürfen. Das führt dazu, dass selbst die herzlosesten Zeitgenoss*innen sich verkuppeln lassen, etwa Angeliki Papoulia als (wir lernen sie tatsächlich nur unter diesem Namen kennen) »herzlose Frau«.

Was The Lobster im Vergleich zu anderen, von Männern angetriebenen Film gelingt, ist die Kreation eines Raumes für Frauen. Im Verlauf dieses Films gibt es etliche Szenen, Momente und Konversationen, die weibliche Stärke, Stabilität und Logik unterstreichen. […] In anderen Filmen nehmen Männer diesen Raum mit ihren eifrigen, enthusiastischen und sexuell aufgeladenen Persönlichkeiten ein. Doch The Lobster beschränkt die Männlichkeit und erlaubt Frauen, wütend, traurig, aggressiv, laut, forsch, sexuell, wild und generell »unfeminin« zu sein. | Samantha Ladwig (BUST) über den Film The Lobster (übersetzt aus dem Englischen)

Fun Fact zum Abschluss: Die französische Schauspielerin Ariane Labed, die als »Zimmermädchen« in einer ganzen Reihe starker Szenen von The Lobster auftritt, ist mit dem Regisseur des Films, Yorgos Lanthimos, verheiratet.

Fazit zu The Lobster

Gespickt mit absurd-komischen, tragischen und schockierenden Ideen und Szenen, weiß The Lobster über seine rund 2 Stunden Laufzeit sehr gut zu unterhalten, wenn man bereit ist, sich auf eine ungewöhnliche Welt einzulassen. Und egal ob Single oder in Partnerschaft, dieser Film stimmt nachdenklich über die sozialen Gefüge, in die wir uns wer weiß wie freiwillig oder forciert so begeben. Sehenswert, erlebenswert!


Weitere Filmkritiken:

Der Beitrag THE LOBSTER mit Rachel Weisz | Film 2015 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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SOMMERPAUSE und Blick in die Zukunft: Wo geht die Reise hin? http://www.blogvombleiben.de/sommerpause-und-blick-in-die-zukunft/ http://www.blogvombleiben.de/sommerpause-und-blick-in-die-zukunft/#respond Mon, 11 Jun 2018 09:45:04 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3851 Nicht nur der SpokenWordClub verabschiedet sich in die Sommerpause, auch auf dem Blog vom Bleiben wird’s…

Der Beitrag SOMMERPAUSE und Blick in die Zukunft: Wo geht die Reise hin? erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Nicht nur der SpokenWordClub verabschiedet sich in die Sommerpause, auch auf dem Blog vom Bleiben wird’s was ruhiger, in dieser Woche. Da kann die Sonne noch so lässig am Himmel chillen, der Juni ist ein ereignisreicher Monat. Er reißt aus der Routine und lässt keine Zeit zum Schreiben über die schönen Dinge des Lebens. Warum und wieso und wann es womit weitergeht, dazu alles Weitere in diesem Sommerpausen-Abschieds-Beitrag mit Blick in die Zukunft!

Stellungnahme eines Gehirnchens

Ging schonmal gut los: Heute Morgen habe ich verschlafen. Als ich schließlich aufwachte, baumelte mein Arm taub wie ein Fremdkörper an meiner Schulter. Hatte wohl drauf gelegen, schäbiges Gefühl, aber na ja, das vergeht. Kaum glaubte ich, wieder Herr über den Arm zu sein, klatschte ich damit Sonias Kaffeetasse vom Tisch. Braune Brühe über Jeans und Couch und Teppich, Volltreffer. Mangels Küchentüchern tupften wir die Flecken mit Taschentüchern aus den Fasern. Natürlich von beiden Seiten des Teppichs, den die Suppe sickert ja direkt durch zum Zimmerboden. Jetzt hängt der Teppich falsch herum über der Couch, sieht aus wie ein schlecht verhülltes Museumsstück. Daneben steht der Couchtisch quer im Raum und ringsum zerstreut liegen braune Knäuel dampfender Taschentücher, als hätte hier jemand ne mega ekelhafte Erkältung. Montagmorgen, du machst deinem bescheidenen Ruf mal wieder alle Ehre.

Eine blonde Frau, deren Haare ihr Gesicht verdecken. Dazu der Text: Sommerpause und Blick in die Zukunft

 

Viele Filme, wenig Zeit

Soviel vom Start in den Tag, der den Start in die Sommerpause markiert. Eigentlich wollte ich heute noch über den Tanzfilm Strictly Ballroom (1992) von Baz Luhrmann schreiben, den ich gestern zum ersten Mal und mit Begeisterung gesehen habe. Und warum dann nicht gleich auch über Baz Luhrmanns Romeo + Julia (1997) und Moulin Rouge (2001), die mit dem Erstgenannten zusammen die »Roter-Vorhang-Trilogie« bilden. Das habe ich gestern im Zug der Recherchen noch gelernt, ehe der Alltag mich ausbremste. Und der Alltag ist es jetzt auch, der mich daran hindert, über all diese schönen Filme und weitere zu schreiben, zumindest für eine Weile.

Erst nächste Woche gibt es wieder Filmfutter auf dem Blog vom Bleiben. Dann mit einem Fokus auf Kurzfilme, denn: Das Bundes.Festival.Film. 2018 startet bald in Hildesheim! Und da simma dabei! Dutzende Kinder- und Jugendfilme, die ich in der Jurysitzung im März bereits sehen durfte und damit verraten kann – es wird kunterbunt, fantastisch, abgedreht, wunderschön! Bin sehr gespannt, wie Kindermedien-Crack Sonia die Beiträge finden wird. Wir werden vom Programm berichten! Ganz im Sinne unserer Agenda für den Spätsommer und was da komme.

Die Zukunft des Blog vom Bleiben

So langsam zeichnet sich am Horizont ein Schwerpunkt ab, auf den wir dieses Blogprojekt nach der Sommerpause weiter ausrichten möchten. Kurz und knackig formuliert: Kindermedien und Kinomomente. Also Kulturgut für groß und klein, von Bilderbüchern bis hin zu Blockbustern, aber eben auch lesens- und sehenswerten Perlen zwischen diesen kulturellen Eckpfeilern. Jeden Tag lernen wir aktuell dazu, was »Bloggen mit System« angeht, und wollen dem Schwerpunkt auf Dauer mehr Profil verleihen.

In diesem Sinne sagen wir schonmal vielen, vielen Dank für das bisherigen Feedback zu dem Content, den wir in den vergangenen Wochen und Monaten über den Blog vom Bleiben ins Internet hinausgepustet haben. Wenn auch du, liebe*r Leser*in, uns mitteilen möchtest, was du bis dato gelungen und besonders, was du noch verbesserungsbedürftig findest – sowie natürlich auch, was dich als mögliche Blogbeitrag-Themen mal interessieren würde – nur her mit deiner Meinung! Wir lechzen danach und lernen daraus. Unser Ziel ist es, zu bemerkenswerten Büchern (wie Ritter und Drachen), Filmen (wie Whale Rider) und Internetfunden (wie AMA oder This Is America) solche Beiträge zu schreiben, die zu neuen Gedanken anregen und im Gedächtnis bleiben. Euer Feedback zu unserer Umsetzung dieses Ziels, immer gern via Kontaktformular über die sozialen Kanälen!

Vielen Dank für den Support und bis bald!

2018, komm her Du geiles Stück! #vorgluehen

Ein Beitrag geteilt von David Johann Lensing (@blogvombleiben) am

Die Zukunft und ihre Berechenbarkeit

Apropos Zukunft und Sommerpause: Dass wir in den kommenden Tagen nicht die Zeit zum Schreiben finden, liegt nicht an äußeren Zwängen, sondern daran, dass wir im Zuge einer qualifiziert freiheitlichen Entscheidung andere Prioritäten setzen müssen. Denn ein Tag hat ja nur 24 Stunden und selbst wenn man die Freiheit hat, alles zu tun, hat man noch lange nicht die Zeit, wirklich ALLES zu tun. Darüber quatsche ich ausführlicher in einem YouTube-Video über äußere und innere Freiheit. Unter diesem Video hat ein Zuschauer zum Stichwort Handlungs- und Willensfreiheit eine kleine Diskussion dazu angestoßen, ob nicht alles vorbestimmt sein könnte. Vorausgesetzt, alles sei durch physikalische Gegebenheiten zu erklären, dann müsse doch auch alles auf physikalischer Ebene berechenbar sein.

Das Paradoxon, das besagter Zuschauer in eben diesem Gedankengang mit auf den Weg gab, war der Einfluss des Menschen, der seine Zukunft berechnet, dadurch kennt, dadurch beeinflusst und damit die eigene Rechnung rückwirkend zerlegt. Ein Szenario, das wir aus etlichen Science-Fiction-Filmen zum Thema »Zeitreise« kennen.

Blumen in Nullen und Einsen

Die Theorie, das alles im Leben vorbestimmt bzw. festgelegt sei, ordnet man dem Determinismus zu (vom Lateinischen determinare – festlegen). Für mein Empfinden klingt Vorbestimmung zu bedeutungsschwanger, nach einer Art Planwirtschaft für das gesamte Sein auf Erden. So als hätte irgendein Höheres Wesen eine Art von Ziel, auf das diese Vorbestimmung hinausläuft. Im Gegensatz dazu gefällt mir die Vorstellung vom Dataismus. Diese Theorie besagt, wenn ich sie richtig verstanden habe, dass sich letztendlich jeder Organismus (sagen wir: eine Blume) in Nullen und Einsen darstellen ließe. So wie das digitale Bild von einer Blume als Datei nur aus Nullen und Einsen besteht.

Das Leben als Algorithmus

Die Zahlenfolge zur »binären Beschreibungen« der echten Blume wäre weeesentlich länger, als die zur Beschreibung des digitalen Abbilds. Das Gleiche würde demnach auch für Menschen gelten – und das Leben wäre dieser Theorie nach ein ewiger Datenverarbeitungsprozess. Ein Algorithmus, der im Vergleich zu den Algorithmen, die wir so gerade noch überblicken können, viel zu komplex für unsere von animalischen Trieben und menschlichen Marotten okkupierten Gehirnchen. Den Dataismus habe ich über Yuval Noah Hararis Buch Homo Deus (2015) kennengelernt. Harari selbst sagt, dass diese Idee totaler Mumpitz sein könnte. Aber es gibt sie eben, in der Vorstellungswelt der Menschen, ähnlich wie den Determinismus. Harari schreibt:

Sobald Big Data Systeme mich besser kennen, als ich selbst mich kenne, dann wird die Autorität von Menschen zu Algorithmen wechseln.

Von Fahrassistenten zu Partnervermittlern

Seine logische Schlussfolgerung daraus ist, dass dieser Prozess daraus hinausläuft, dass Menschen den Algorithmen ihre wichtigsten Entscheidungen überlassen werden. Nicht etwa nur im potentiell lebensbedrohlichen Straßenverkehr (wie es durch Assistenzsysteme heute schon möglich ist), sondern auch hinsichtlich der Wahl der besten Vertreter für bestimmte Ämter (um in Zukunft vielleicht einen Präsidenten wie Donald Trump zu verhindern – was auch immer diesen Clown ins Weiße Haus gebracht hat, menschliche Schwarmintelligenz möchte ich es nicht nennen). Das ginge sogar soweit, dass uns Algorithmen sagen würden, wen wir heiraten sollten (Tinder ist nur ein kleiner Wisch für dich, aber ein großer für die Robo-Kuppler der Zukunft).

Tatsächlich schwingt im Dataismus ja ein gewisser Determinismus mit. Wenn das Leben ein Algorithmus ist, dann ließe es sich berechnen und damit vorausrechnen und damit in die Zukunft sehen. Was ist dann mit dem Paradoxon, dass im oben erwähnten YouTube-Kommentar zur Sprache gebracht wurde? Konkret heißt es darin: Wenn jemand mithilfe einer Maschine (also künstlicher Intelligenz) errechnen könnte, dass er oder sie morgen bei einem Flugzeugabsturz stirbt, dann würde diese Person doch eher nicht ins Flugzeug steigen und damit wissentlich in den Algorithmus eingreifen. So, wie die visionäre (und doch herrlich bescheuerte) Horrorfilmreihe Final Destination es uns eindrucksvoll zeigte.

Blonde Frau, deren Haare ihr Gesicht verdecken.
Freie Sicht nach vorn – oder den Überblick verloren? Welches hübsche Gesicht sich hinter dem Haarschopf verbirgt, gibt’s hier zu sehen.

Die rasenden Zahlenkolonnen

Dieser Gedanke geht mir einen Schritt zu weit. Ich kann mir vorstellen, dass alle Organismen sich in Zahlenfolgen darstellen ließen. Nur theoretisch, natürlich, denn praktisch nimmt das Leben als Prozess ja ständigen Einfluss auf die Zahlenfolgen. Nur weil ein Organismus stirbt, ist er damit nicht »fertig« beschrieben und man könnte eine gewaltige Zahl hochhalten: DAS ist dieser Organismus. Stattdessen zersetzt sich der Organismus ja über den Tod hinaus und seine Überbleibsel setzt das Leben neu zusammen, der Algorithmus läuft ständig weiter. Ich könnte mir so gerade noch vorstellen, dass es eines fernen Tages Rechenmaschinen gibt, die solche sich ständig in Hochgeschwindigkeit hinfort schreibenden, multiplen Zahlenkolonnen in Echtzeit darstellen könnten. Doch das hieße noch lange nicht, in die Zukunft rechnen zu können. Das ist schlichtweg ein ganz anderes Thema.

Der Dataismus entzaubert für mich nicht das »Wunder Leben«, nur weil man es halt in Zahlen darstellen könnte. Was die vielen, interagierenden, sich neu aufzweigenden Datenströme ausgelöst hat und wo sie hingehen, das bleibt dabei ein Rätsel. Nur weil eine Instanz künstlicher Intelligenz aufgrund seiner Big-Data-Kenntnis mir sagen würde: Hey, du und Sonia, ihr passt perfekt zueinander, ihr Zwei solltet heiraten, nur deshalb weiß diese Künstliche Intelligenz noch lange nicht, dass dies so geschieht. Es heißt einfach nur: Im Hier und Jetzt, auf Basis der vorliegenden Daten, seid ihr wie füreinander geschaffen.

Unsere unerträglichen kleinen Gefängnisse

Selbst die einfachste »Zukunftangelegenheit« – zum Beispiel: Ich möchte heute Mittag eine Tiefkühlpizza essen – steht in Wirklichkeit im Zusammenspiel mit Milliarden von anderen Abläufen, von denen ich gerade nur eine Handvoll zum Besten geben könnte: Die Frostertür klemmt mal wieder und  ich komm nicht an die scheiß Pizza ran, ich stolpere auf dem Weg in die Küche, muss ins Krankenhaus, ein Freund ruft an, lädt zum Essen ein, blah, blah, blah, und in Wahrheit eben Milliarden Blahs mehr.

In die ferne Zukunft gedacht wirkt die Vorstellung, dass sich tatsächlich SÄMTLICHE Abläufe in einer Sache mit berücksichtigen lassen und somit die Zukunft berechenbar ist, vielleicht möglich. Aber das ist eine ferne Zukunft, in der homo sapiens mit seinem jetzigen Geistes-Apparat keine Rolle mehr spielt, ja, vielleicht gar nicht mehr existiert. Wir sind zu dumm dafür. Solche Szenarien in ihrer Konkretion zu überdenken und besprechen, das liegt wortwörtlich außerhalb unserer Vorstellungskraft. Ich kann damit gut leben, ich komm schon auf Dreisatz nicht immer klar. Aber solch genialen Köpfe wie Stephen Hawking einer war, da könnte es durchaus sein, dass die Grenze der menschlichen Vorstellungskraft ein unerträglich kleines Gefängnis ist.

Also dann, nächste Woche melde ich mich mit neuen Blogupdates zurück! Behaupte ich jetzt mal. Ganz wagemutig.

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SpokenWordClub mit Micha-El Goehre, Lena Liebkind & Co. http://www.blogvombleiben.de/spokenwordclub-mit-micha-el-goehre/ http://www.blogvombleiben.de/spokenwordclub-mit-micha-el-goehre/#comments Sat, 09 Jun 2018 07:10:11 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3807 Am gestrigen Freitag, 8. Juni, lud der SpokenWordClub in Köln zur letzten Sause vor der großen…

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Am gestrigen Freitag, 8. Juni, lud der SpokenWordClub in Köln zur letzten Sause vor der großen Sommerpause. Drum bekam die Show das Thema »Abschied« verpasst und wurde tränenreich. Doch abgesehen von einem wirklichen Abschied gestern Abend, der traurig war und eine Lücke hinterlassen wird, abgesehen davon gab’s überwiegend Lachtränen. Neben Comedy außerdem im Programm: Live-Musik, Talk und Rap und eine Lesung mit Ekel-Faktor von Micha-El Goehre.

Performance-Potpourri zum Abschied

Apropos Ekel-Faktor: Im Backstage-Bereich des Club Bahnhof Ehrenfeld hätte man mit einem Duschabwischer den Schweiß eimerweise von den Wänden wischen können, so kuschlig-muffig war’s dank der hohen Außentemperaturen im Kabuff unter der Bahnhofsbrücke. Dagegen ist ein Affenkäfig ein Luftkurort. Zum Glück verfügt der Club Bahnhof Ehrenfeld in Köln über eine doch ziemlich fette Klimaanlage, so dass wenigstens das Publikum auf Wohlfühlklima gehalten wurde. Lag vielleicht auch daran, dass (eben wegen des grandiosen Wetters) die Show dieses Mal nicht ausverkauft war.

Lena Liebkind, Micha-El Goehre und ein am Boden zerstörter Norman Sosa beim SpokenWordClub.
Lena Liebkind, Micha-El Goehre und ein am Boden zerstörter Norman Sosa – nur ein kleiner Teil des Line-ups vom letzten SpokenWordClub vor der Sommerpause.

Hier geht es zu weiteren Fotos vom SpokenWordClub am Freitag, 8. Juni 2018.

Mehr Luft zum Atmen für die Anwesenden, mit denen Singer/Songwriter Dan O’Clock in geradezu familiärer Atmosphäre ein kleines Warm-up veranstaltete. Als wenn zum Warm-werden gestern irgendwer ne Anleitung brauchte… Aber es hat ja schon Tradition, dass Dan O’Clock erst ein paar Songs und Spökes abrockt, ehe er mit der Showband das Intro auf die Bühne legt und die Moderatoren aus ihrem Kabuff hervorruft (dieses Mal ein besonders spannender Moment: Liegen die beiden Moderatoren backstage überhitzt in der Ecke und brauchen erstmal Eiswürfel, oder können sie noch selbständig gehen? Siehe da: Letzteres!)

1 Jesse, 1 Norman, 0 Muffins

Der Schauspieler Jesse Albert und der Stand-Up-Comedian Norman Sosa haben sich erneut die Ehre gegeben, den SpokenWordClub als Moderatoren-Duo zu begleiten. Zur letzten Show vor der Sommerpause tauchte Norman sogar pünktlich auf! Locker ne Dreiviertelstunde vor Showbeginn stand er im Backstage-Bereich. Mein Tipp: Er hat darauf gehofft, irgendjemand habe zur Abschieds-Show Muffins gebacken. Oh, welch Enttäuschung müssen die Babytomaten und Haribo-Tüten gewesen sein. Ich glücklicher Mann habe aus der Catering-Ecke noch ne Mini-Pizza ergattern können (zumindest hoffe ich, dass sie zu unserem Catering gehörte – lag etwas abseits und schmeckte etwas ledrig, aber na ja, Pizza ist Pizza ist immer geil). Hab noch zwei Hände voll Weingummis hinterher geschüttet und das während der Show schön bereut, als ich hinter meiner Kamera spürte, wie sich im Magen ein Klumpatsch Gelatine um den Pizza-Happen legte. Klingt ekelhaft? Warte ab, bis ich zum Programmpunkt Lesung von Micha-El Goehre komme…

Comedian Jamie Wierzbicki beim SpokenWordClub im CBE Köln.
Comedian Jamie Wierzbicki beim SpokenWordClub im CBE Köln.

Den Auftakt machte der Comedian Jamie Wierzbicki, seinerseits schonmal zu Gast beim SpokenWordClub. Und ach, wenn ich mich so an seine Anekdoten erinnere, ging’s mit diesem ersten Akt schon gut los in Sachen Ekel-Faktor. Wobei Stuhlgang ja noch ganz menschlich und alltäglich ist. Jamie Wierzbicki berichtete von Kloerlebnissen mit Bewegungsmelder-Beleuchtung. Kennt man ja: Sitzte mal drei Minuten in Ruhe auf’m Pott, schwups, stockfinster in der Kabine. Wie man ein solches Problemchen löst, unter anderem darum ging’s bei Jamie Wierzbicki.

Nach Köln gekommen, um zu bleiben: Lena Liebkind

Ein solider Start in den Abend, dicht gefolgt von Lena Liebkind, die prompt ihre Vorfreude kundtat: In Kürze zieht es die Comedienne dauerhaft nach Köln! Dort hat sie schon am Freitagmittag vor der Show ganz entspannt die Sonne im Park genossen und »die Asozialen« beim Abhängen beobachtet, »oder wie nennt ihr sie hier? Studenten, genau.« Um gescheiterte Kuppelversuche und peinliche Marotten ging’s beim Auftritt von Lena Liebkind, die als Vollzeit-Komikerin gerade neue Stoffe erarbeitet. Ich habe sie mit der gestrigen Performance gerade erst kennengelernt und bin gespannt, mehr von ihr zu hören.

Hier geht’s zu Erlebnisberichten der zurückliegenden SpokenWordClub-Saison, jeweils mit Video vom Abend:

Video zum SpokenWordClub im Juni 2018:

Amin Afify mit der Showband

Nach Lena Liebkind gab es Musik von Amin Afify, bekannt aus The Voice of Germany, wenn man The Voice of Germany kennt. Ich glaube, das läuft im Fernsehen, diesem altmodischen Phänomen eines linearen Programms, für das sich die Zuschauer*innen festen Sendezeiten unterordnen müssen. Mit Werbeblocks, die man nicht skippen kann, was ja okay ist, weil sich die Endgeräte eh nicht gut mit auf Klo nehmen lassen. Also einfach Werbung und Pinkeln synchronisieren und schwups, Fernsehen macht Spaß? Nee, keine Ahnung, mir bleibt es ein Rätsel, wie Fernsehen sich immer noch behaupten kann, in Zeiten des Internets. Zum Glück ist Amin Afify auch im World Wide Web unterwegs. Sein Album Treehouse (2017) gibt’s zum Beispiel bei Spotify. Reinhören? Klar doch:

Auf dem Album singt er mal Deutsch, mal Englisch – und eben so gab er beim SpokenWordClub zwei Songs in den zwei Sprachen zum Besten, mit seiner wirklich bemerkenswerten Stimme und unterstützt von der fantastischen SpokenWordClub-Showband.

Def Benski im Talk und Musikvideo

Als Talkgast war in dieser Ausgabe der stimmgewaltige Porzer Jung am Start: Def Benski! Schön mit Norman Sosa über alte Zeiten, Die Firma und das Musikerleben geschnackt, noch ’n kleinen Rap abgeliefert und am Rande sein neues Musikvideo erwähnt, das »gerade erst online gegangen ist.« Hat mich doch neugierig gemacht. Und siehe da: Geiles Teil geworden!

Im letzten Akt gab’s dann noch mal Comedy vom Feinsten mit Sertaç Mutlu, der – nicht weniger stimmgewaltig als Def Benski – in diverse Rollen schlüpfte, um das Publikum mit lachverkrampften Bauchmuskeln in die laue Juni-Nacht zu entlassen. Damit geht eine SpokenWordClub-Saison zu Ende, die ich von hinter der Kamera mitverfolgen und ihre goldigsten Momente zusammenschneiden durfte. Lauter schöne Erlebnisse für Aug und Ohr waren das!

Der SpokenWordClub kommt wieder

Weiter geht’s erst im September, mit einem Spätsommer-Special im Odonien. Dann mit minimal anderer Besetzung hinter der Bühne, weil in dieser »Abschied«-Ausgabe vom SpokenWordClub tatsächlich Abschied genommen werden musste – von Aufnahmeleiterin und »Stage-Mutti« Ramona Schipler, die zum letzten Mal hinter den Kulissen für Recht und Ordnung sorgte. Mit Blumen und Sektchen wurde sie zwischen den Sketchen und Acts noch einmal von allen geherzt. Dieses Mal vor den Kulissen, mitten auf der Bühne, samt tosendem Applaus des gestern Abend großartig gestimmten Publikums.

Micha-El Goehre und das Problem mit dem Ohr

Oh, ich hab die Ekel-Lesung vergessen! Aber nicht doch: Den Autor, Blogger und Poetry-Slammer Micha-El Goehre muss man sich für das Schlusswort aufheben. Gestern »begeisterte« er beim SpokenWordClub noch mit einem Text über eine heiße Nacht, die am nächsten Morgen darin aufging, dass er seinem Date in Ohr gesabbert hat. Frage an die Leserschaft: Wie bekommt man einen Speichelteich unbemerkt aus dem Ohr eines schlafenden Menschen, mit dem man danach noch die Option auf romantische Liebe haben möchte? So viel sei verraten: Die Handlungsmöglichkeiten sind allesamt mehr oder minder ekelhaft – und es war ein herrlicher Spaß, die Zuschauer*innen im Publikum sich kräuseln zu sehen vor Ekeln und Lachen im Wechselspiel. Richtig toller Auftritt von Micha-El Goehre!

Micha-El Goehre beim SpokenWordClub im CBE Köln.
Micha-El Goehre beim SpokenWordClub im CBE Köln.

Aber ein gutes Schlusswort ist diese Ohr-Speichel-Anekdote eigentlich nicht. Schnurzpiep, denn Micha-El Goehre hat noch so viel mehr auf Lager. Moderator Jesse Albert wies im Interview mit dem Poetry-Slammer zu recht auf einen Text hin, der durchs Internet schwirrt und jedes offene Ohr wert ist: Völkerball (Ein Text für Europa). Dieser Text von Micha-El Goehre ist wichtig, denn wir leben (wie es vermutlich jede Generation jemals gesagt hat) in wirren, irren, bescheuerten Zeiten.

Was sollen die Aliens denken?

Heute morgen las ich noch DIE ZEIT und mir sträubten sich schon wieder die Nackenhaare, als in einem Artikel Donald Trump zitiert wurde. Tatsächlich mal zwei, drei völlig normale, zusammenhängende Sätze zum Thema Nordkorea, ein »Kommentar des US-Präsidenten«. Als handele es sich bei Donald Trump um einen Politiker, der eine kompetente Aussage zu Nordkorea (oder sonstwas) treffen könnte. Ich vermisse bei sowas den Kontext, dass es sich ja immer noch um einen verlogenen Clown handelt, der sexistisch redet und rassistisch handelt, wahlweise andersherum, und – ach! – mit dem stolzen Allgemeinwissen eines 5-Jährigen auftrumpft.

Wenn wir diesen Kontext nicht beharrlich mitliefern und solche Clowns wie ernst zu nehmende Politiker zitieren – was sollen denn dann unsere späten, späten Nachkommen oder etwaige Aliens irgendwann mal denken, wenn sie solche Zeitungsartikel ausgraben? Dass wir in dem Kommentar dieses Clowns, der zwischen unzähligen geistigen Totalausfällen zufällig auch mal was Zitierfähiges schwafelt, eine relevante Aussage sehen!?

emotional vs. sachlich

Ich weiß, in meiner blanken, einseitigen Antihaltung gegen einen gewählten Amtsträger wie der Donald komme ich nicht sehr sachlich daher. Aber scheiß auf sachlich. Sachlich können wir Menschen nicht. Menschen sind EMOTIONAL! Das ist ja das Problem und andererseits auch irgendwie schön. Emotionen machen uns aus, weit mehr als ein Gespür für Gerechtigkeit und Gemeinschaft. Und das ist schon wieder nicht schön. Ach, Menschen, hin-und-her-gerissene, irrationale, sich-selbst-überschätzende Wesen, die mit ihren Makeln und Trieben auf der Stelle treten… wie ich uns hassliebe.

Zum Schluss ne Runde Völkerball, von Micha-El Goehre:

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