Der Beitrag PHOTOKINA 2018 mit Laura Zalenga, Shawn Bu & Co. erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Ein paar Eindrücke wohlgemerkt, die ich aus der Not heraus mit dem Smartphone festgehalten habe… apropos:
Eine andere Revolution war es rückblickend, gegen den jener Komet im Jahr 2008 wie ein Hagelkorn wirkt. Pünktlich zur Jahrtausendwende kam das erste Handy mit integrierter Kamera auf den Markt. Diese Innovation entfaltet ihre volle Wucht erst seit einigen Jahren – nicht nur unter Menschen mit Film und Fotografie als Hobby, sondern sämtliche Smartphone-Nutzer*innen betreffend (= ziemlich viele). Das hat einen massiven Rückgang im Verkauf digitaler Kameras zur Folge und sorgt für Druck auf die Herstellerfirmen. Sie müssen abliefern, beeindrucken, Aufmerksamkeit heischen. 2018 soll vorerst das letzte Mal gewesen sein, in dem die photokina im 2-Jahres-Turnus die Fachwelt auf einem Fleck versammelt. Denn schon 2019 findet sie wieder statt – und fortan jährlich, so der Plan.
In der Anfangszeit wurde die photokina noch unregelmäßig abgehalten – zum ersten Mal im Jahr 1950. Ursprünglich initiiert von Bruno Uhl, dem Präsidenten des Fotoverbandes, im Rahmen der »Bilderschauen«. So der Titel einer Foto-Ausstellung, die der Sammler und Publizist Leo Fritz Gruber viele Jahre lang kuratierte.
Neben den technischen Innovationen der Photoindustrie wurden in den Bilderschauen die kulturellen und gesellschaftlichen Leistungen des Bildmediums herausgestellt.
Deutsche Gesellschaft für Photographie e.V., in: Photokina – The Early Years 1950-1956
Diese Bilderschau erreichte zwischenzeitlich Rekordgröße, oder vielmehr: Rekordlänge. Vom Messegelände aus erstreckte sich die Bilderschau im Jahr 1988 über 1.300 Meter bis hin zum Museum Ludwig in Köln. Das reichte fürs Guinness-Buch der Rekorde. Um die Kölner Bevölkerung dann 20 Jahre später fotografisch verstärkt zu mobilisieren, ließ sich die Stadt Köln einiges einfallen.
Im September 2008 waren alle Besucher der Stadt eingeladen, sich mit dem Thema Bild zu beschäftigen oder selbst fotografisch aktiv zu werden. Der Erfolg gab den Veranstaltern recht: Nahezu alle in Kooperation mit Kölner Unternehmen und Institutionen durchgeführten Workshops, Foto-Shootings, Foto-Stadtführungen waren ausgebucht, die vielen Fotoausstellungen sehr gut besucht.
Photoindustrie-Verband, via Prophoto: 175 Jahre Fotografie – Geschichte der photokina
Hinweis: Eine ausführliche Chronik zur photokina in Köln findet sich auf der Website der Prophoto GmbH.
2008 war zufällig auch das Jahr, seit dem ich erstmals zur Kölner Bevölkerung zählte. In den ersten Monaten meines Köln-Kapitels schrieb ich eine Kolumne für die Tageszeitung meiner Heimatstadt, nach dem Motto »Landei trifft Großstadt«. Im Rahmen dieser Kolumne besuchte ich 2008 zum ersten Mal die photokina.
Zu der Zeit war ich schon angefixt in Sachen Filmemachen und besonders beeindruckt von den fetten DV-Camcordern, die Canon und Co vorstellten. High Definition Video war da gerade im Kommen, 4K noch ganz fern (möchte sagen: unscharf) am Horizont. Von besagter Revolution, der ersten video-fähigen DSLR-Kamera Nikon D90, bekam ich leider nix mit. Stattdessen knipste ich noch fröhlich mit meiner Nikon D50 herum und probierte erstmals eine Hasselblad aus dem H-System aus.
Impression von der photokina 2008:
Nach einem morgendlichen Filmemacher-Plausch im Kaffeesapiens marschierte ich am Freitag also bis Oberkante Unterlippe voll mit Koffein vom Charles-de-Gaulle-Platz rüber zum Haupteingang des Kölner Messegeländes. Lange nicht mehr dort gewesen, war mein erster Eindruck: Köln, ey, geht’s noch? Von dem gigantischen Bauprojekt MesseCity hatte ich bis dato nichts mitgekriegt. Soll mal richtig schön werden. Irgendwann. Gegenwärtig schlängelt man sich an einem Bauzaun entlang aufs Messegelände.
Auf Einladung von Canon überhaupt zur photokina 2018 gekommen, steuerte ich erst einmal pflichtbewusst deren Stand an – und landete mitten im Vortrag von Nicolai Brix, der seinen Weg von der Fotografie zur Filmerei schilderte. Damit sprach der Kameramann quasi zur direkten Zielgruppe, die Canon für sein neues spiegelloses Vollformat-System begeistern möchte, Canon EOS R. Auf der photokina konnte man die neue Kamera erstmals unter die Lupe nehmen. Doch in mir pumpt zu wenig Early-Adopter-Blut, als dass ich da hinterher war. Interessanter schien mir die Ausstellung zur abgerockten Canon-Ausrüstung gestandener Fotograf*innen in verschiedensten Gefilden. Von Vogelfotografie in der tiefsten Wildnis bis zur Sportfotografie am Spielfeldrand.
Einziger fester »Termin« der photokina 2018 war für mich der Vortrag von Shawn Bu auf der Motion Stage. Den wollte ich gezielt sehen. Gerichtet an »die nächste Generation von Filmemachern«, tatsächlich aber vor einem erstaunlich grauhaarigen Publikum. (Und ja, ich hab selbst erste graue Härchen, aber ich zählte trotzdem zu den Jüngeren dort.) Shawn gab Einblicke in den Produktionsprozess einiger Projekte, die er in vergangenen Jahren mit verschiedenen Teams so umgesetzt hat. Am bekanntesten ist davon wohl Darth Maul: Apprentice (2016), mit inzwischen über 17,5 Millionen Views auf YouTube.
Während ich immer gerne predige, man solle sich Grenzen abstecken und innerhalb dieser (finanziellen oder sonstigen) Grenzen die eigene Kreativität austoben, war Shawns erste Ansage:
Massiv inspiriert vom George-Lucas-Universum hat der 32-jährige Filmemacher den eigentlichen Reiz am Medium voll verinnerlicht: Man kann eben alles möglich machen. Mit mehr oder weniger Aufwand. Genau wie die kreativen Köpfe hinter der Webserie Wishlist (2016-2018) ist Shawn durch die »Autodidakten-Schule« gegangen und hat das DVD-Bonusmaterial unzähliger Filme studiert.
Wichtigste Lektion an sein Publikum auf der photokina 2018: Vorbereitung ist alles. Er zeigte Moodboards und Planskizzen aus verschiedenen Vorproduktions-Stufen seiner Projekte und pochte auf reaktionsfreudige Gemüter. »Filmemachen besteht zu 90 Prozent aus dem Lösen von Problemen«, so Shawn. Sympathisch. Hier geht’s zur Website seiner neuen Produktionsfirma RAW MIND Pictures.
Aus Rückfragen aus dem Publikum, wie er sein Team und die Drehgenehmigungen bei vergleichsweise kleinem Budget zusammenbekomme, war die Antwort bestechend simpel: Einfach fragen, schlimmstenfalls ein »Nein« kassieren und woanders nochmals fragen. Es helfe ungemein, schon Visuelles zum Projekt vorzeigen zu können – und seien es nur erste Skizzen. Shawn nutzte dazu Kontakte zu künstlerisch begabten Kommilitoninnen aus seinem Kommunikationsdesign-Studium an der FH Aachen.
Überraschendes Highlight war für mich ein Vortrag des eingangs erwähnten Philip Bloom, dem Digital-Video-Trainer, den wohl jede*r Vimeo-User*in mit ein wenig filmischen Ambitionen kennen dürfte – von den Philip Bloom Reviews & Tutorials. Gerade noch hatte ich auf dem Messestand der Fotografin Laura Zalenga bei der Arbeit zugesehen (hier geht’s zu ihrem beeindruckenden Portfolio), dann wurde der Filmemacher Philip Bloom plötzlich angekündigt.
Die Umbaupause zu seinem Vortrag überbrückte eine Schwertkampf-Choreographie mit dem Samurai-Künstler Tetsuro Shimaguchi (bekannt als »Miki« aus Quentin Tarantinos Kill Bill: Volume 1). Philip Bloom ließ schließlich die digitale Revolution in Sachen Video-DSLR seit 2008 Revue passieren und schilderte seine Arbeitsweise, stets mit konkretem Equipment-Bezug. So dankbar ich Canon für den kostenlosen Eintritt zur photokina 2018 bin – am Ende hat mich der Messestand von Sony doch am meisten beeindruckt. Seit 5 Jahren bin ich zufrieden mit meinen Canon-Kameras unterwegs, überwiegend im Filmbereich. Nach diesem Messebesuch allerdings möchte ich jedoch gerne mal ein wenig Erfahrung mit Sonys Alpha-Reihe sammeln.
Aber was soll der Nerdkram hier? Technik ist schließlich nur das Mittel zum Zweck. Was vor der Linse steht, das zählt. Zwischen den Messehallen landete ich in einer Ausstellung zu dem Projekt Atlas of Humanity – eine Reihe von Porträts aus aller Welt, die mich ziemlich gefesselt haben. Wie wundersam Gesichter doch sind, dachte ich mal wieder, und wie sehr so ein fremdes Augenpaar einen in seinen Bann ziehen kann.
Am Abend und zum Ausklang meines Besuchs der photokina 2018 wohnte ich noch der Preisverleihung des Deutschen Jugendfotopreis bei – veranstaltet vom Deutsches Kinder- und Jugendfilmzentrum, als Pendant zum Deutschen Jugendfilmpreis, der dieses Jahr in Hildesheim verliehen wurde. Hier geht’s zu den Preisträger*innen des Jugendfotopreises samt ihrer Arbeiten, die auf der photokina ausgezeichnet wurden. Vorweg betonte die Staatssekretärin Juliane Seifert in ihrer Ansprache die Begabung, die darin liege, besondere Blickwinkel einzunehmen oder Momente einzufangen. Ein schönes Schlusswort, eigentlich, für diese bildgewaltige Messe.
Auf der photokina verschmelzen Mensch und Technik miteinander. Es ist faszinierend, wie urtümlichste Gesichter dieselben staunenden Blicke auf sich ziehen, wie der modernste Kamerakram. Natur und Kultur in perfekter Symbiose. Wie schade wäre es um all die Schönheit, ließe sie sich nicht festhalten, wie schauerhaft der Schrecken, wenn er völlig im Dunkeln läge? Bilder sind wichtig. Die photokina 2018 hat einmal mehr neue Möglichkeiten aufgezeigt, solche Bilder aufzuzeichnen – von kleinsten Action-Cams bis hin zu wuchtigen Kinokameras.
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]]>Der Beitrag VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Zum Inhalt: Im Jahr 1991 lebt die 15-jährige Verónica mit ihrer Mutter und drei kleinen Geschwistern zusammen in einem Apartment in Valleca, einem Stadtteil der Arbeiterklasse im Süden Madrids. Der Vater ist vor kurzem gestorben. Die Mutter schiebt Überstunden, um die Familie zu ernähren. Verónica trägt die Verantwortung für ihre Zwillingsschwestern sowie ihren kleinen Bruder Antoñito. Die Haupthandlung beginnt am Tag der Sonnenfinsternis. Während alle Schüler*innen mit den Lehrenden auf dem Schuldach zur Sonne starren – durch (zuweilen provisorische) Schutzbrillen – schleichen sich Verónica und zwei Freundinnen in den Keller, um mit einem Hexenbrett (Ouija) die Geister der Verstorbenen zu beschwören… mit dramatischen Folgen.
Ja, so eine Art von Film ist das: Gläserrücken und Dämonen aus dem Jenseits, Schatten und Geräusche und durchdrehende Leute – diese ganz bestimmte, überquellende Horrorfilm-Schublade, in der das Diesseits vom Jenseits terrorisiert wird. Was Verónica aus der Masse ein wenig hervorstechen lässt: Der Film »basiert auf wahren Begebenheiten«, wobei das auch jeder dritte Vertreter dieses Genres von sich behauptet. Was ist da Wahres dran?
Hinweis: Im Absatz »Historischer Kontext« werden die wahren Begebenheiten besprochen – mit Spoilern! Bis dahin, entspanntes Lesen!
Verónica beginnt mit einem Notruf. Noch vor dem ersten Bild hören wir aus dem Off die Stimmen. Tipp, um den Effekt eines Horrorfilms zu verstärken: Originalsprache mit Untertitel schauen. Erst recht bei Filmen, die auf ihre »wahren Begebenheiten« pochen, bleibt damit mehr von der Authentizität bestehen.
– Hier spricht die Polizei.
– Hilfe! Bitte helfen Sie!
Mit diesen Worten beginnt der Film. Das erste Bild: zwei Streifenwagen, die mit Blaulicht, durch Gewitter, Regen, Nebel rasen. In der Bildecke tauchen die Eckdaten auf: Madrid, 15. Juni 1991, 01:35 Uhr nachts. Bis auf die Minute genau datiert, diese herannahenden Streifenwagen. Schwarzblende.
– Bitte beruhigen Sie sich. Was ist passiert?
– Bitte, Sie müssen kommen! Er ist drinnen!
Die Anruferin klingt nach einer Teenagerin, die panisch ins Telefon schreit. Im Hintergrund wimmert ein Kind. Es folgen Detailaufnahmen von den Einsatzwagen. Schwarzblende. Wieder die Stimme der Polizistin am Hörer:
– Bitte beruhigen Sie sich. Sagen Sie mir, was Sie sehen. Ist jemand in Ihrem Haus? Hallo?
Ein Schrei, ein Knacken in der Leitung. Schnitt auf einen Kommissar, der seine Zigarette weg schnippt und aus dem Auto steigt. Im strömenden Regen geht er um den Wagen rum. Im Hintergrund ist – von den Blitzen effektvoll beleuchtet – das Wohnhaus zu sehen, aus dem der Notruf kam.
Es erinnert an jenes hohe Apartmenthaus aus REC, in dem sich 2007 ein klaustrophobischer Alptraum bis ins oberste Stockwerk abgespielt hat. Doch REC war ein handfester Zombiefilm. Verónica behauptet, wahr zu sein. Wir erfahren die genaue Adresse, den genauen Namen des Kommissars. Wir begleiten ihn in eine verwüstete Wohnung. Im Chaos liegt ein Jesuskreuz, das von einem Polizisten aufgehoben wird. Blutspuren führen vom Bad in ein verschlossenes Zimmer… was die Einsatzkräfte darin erwartet, schreibt ihnen den blanken Schrecken ins Gesicht. Ein grauenhafter Schrei von irgendetwas, das nicht gezeigt wird, geht über…
…in die Großaufnahme eines Mädchens mit Zahnspange, das mit weit aufgerissenem Mund ganz genüsslich gähnt. Das Mädchen liegt im Bett, die Sonne scheint ins Zimmer. Rückblende, »Drei Tage zuvor«. Ab jetzt wird erzählt, wie es zu der Schreckensnacht kam, die der Prolog anteaserte. Jene Sonnenfinsternis im Jahr 1991, die in Wirklichkeit am 11. Juli stattfand, wurde für den Film also – ob schlecht recherchiert oder dramaturgisch bedingt – in den Juni vorgezogen.
Am frühen Morgen des 15. Juni 1991 erhielt die Polizeiwache 02-12 in Madrid einen Notruf. Diese Geschichte basiert auf dem Polizeibericht, den der für den Fall verantwortliche Polizist einreichte.
Texttafel aus dem Prolog von Verónica
Es gibt tatsächlich einen Polizeibericht. Kopien davon finden sich – in spanischer Sprache – online und sind insbesondere zum 20. Jubiläum des Falls vielfach diskutiert worden, von spanischen Websites, die sich um Paranormalität drehen. In diesen Kreisen ist der »Valleca Fall« sehr bekannt. Der Name leitet sich von jenem Stadtteil Madrids ab, in dem eine 18-jährige Frau namens Estefania Gutiérrez Lázaro (im Film: Verónica, 15 Jahre alt) eine Séance (also eine spiritistische Sitzung, oder: Gläserrücken) in ihrer Schule durchführte. Eine Nonne zerbrach schließlich ihr Hexenbrett und beendete damit die Sitzung (im Film zerbricht es wie von Geisterhand). Während Verónica im Film während dieser Séance ihren toten Vater zu beschwören versucht, waren Estefanias Eltern beide noch wohlauf – soweit die ersten Unterschiede zwischen Fakten und Fiktion.
In der Folgezeit erlitt Estefania Gutiérrez Lázaro mehrere Krampfanfälle und hatte Halluzinationen von Schatten und Wesenheiten, die sie umgeben. Später ist sie – wie die Verónica im Film – in ihrem jungen Alter gestorben.
Allerdings nicht wirklich »wie im Film«. Während Verónica in einem spektakulären Finale daheim gegen einen Dämon kämpft, von diesem malträtiert wird und auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt, war Estefania zum Zeitpunkt des Todes längst im Krankenhaus. Die Umstände ihres Todes vor rund 30 Jahren sind nicht geklärt. Wenn aber eine 18-Jährige an Krampfanfällen und Halluzinationen leidet, gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, die den tragischen Tod eines so jungen Menschen verursachen können. Ohne dämonischen Einfluss.
In dem Polizeibericht, auf dem dieser Film angeblich basiert, geht es nicht wirklich um Estefania Gutiérrez Lázaro . Deren Familie hat die Polizei nach dem Tod ihrer Tochter erstmal gar nicht kontaktiert. Erst ein Jahr später waren Polizist*innen bei Estefanias Eltern daheim. In ihrem Bericht ist von Geräuschen auf einer Veranda die Rede, und der geschlossenen Tür eines Kleiderschranks, die plötzlich und in unnatürlicher Weise aufging. Außerdem fiel eine Jesus-Figur von ihrem Kreuz und ein brauner Fleck breitete sich aus.
Das ist alles. Drei durchaus ungewöhnliche Beobachtungen, die man als »paranormal« bezeichnen kann. Sie wurden auf jeden Fall als paranormal interpretiert – und die Tatsache, dass diese Beobachtungen in einem offiziellen Polizeibericht festgehalten sind, das macht den »Valleca Fall« so berühmt. Zumindest bei Menschen, die an Paranormales (im »Geister aus dem Jenseits«-Sinne) glauben.
Ich persönlich glaube nicht an Paranormalität, wie sie mir in unzähligen Filmen nun schon auf verschiedenste Herangehensweisen näher gebracht wurde. Und selbst, wenn in einem Polizeibericht von paranormalen Beobachtungen die Rede ist, ist mein erster Reflex die Annahme, dass eventuell die zuständigen Polizist*innen ihrerseits an Paranormales glaubten (man »sieht, was man sehen will«). Oder, dass es doch eher natürliche Erklärungen für vermeintlich unnatürliche Beobachtungen wie eine sich öffnende Schranktür, einen vom Kreuz fallenden Jesus und einen brauen Fleck gibt.
Das »sehen, was man sehen will«, gilt selbstverständlich auch für mich. Ich mag rationale Erklärungen – und das Verhalten von Dämonen oder anderen Jenseits-Wesenheiten in Filmen erscheint mir maximal irrational. Liegt vermutlich daran, dass sie »nicht von dieser Welt« sind und ich damit ungültige Ansprüche stelle. Aber dann erstaunt mich doch die innere Logik, mit der all die irrationalen Aktionen von Dämonen ganz gezielt – wie Arsch auf Eimer – zu unseren Ängsten passen. Auf rationale »Horrorfilm bedient Furchtvorstellungen« Art und Weise.
Was die Unterschiede zwischen »Fakten und Fiktion« angeht, so berufe ich mich mit der Erläuterung der »wirklichen Begebenheiten« wohlgemerkt auch nur auf Internetseiten, keine amtlichen Dokumente. Newsweek hat die Geschichte über Estefania Gutiérrez Lázaro in Gegendarstellung zu dem Film in Form gebracht, die seriöseste Aufarbeitung, die ich auf Englisch finden konnte (wobei manche Links von diesem Artikel auf wiederum gar nicht seriöse Seiten verlinkt sind). Es ist anzunehmen, dass man im spanisch-sprachigen Internet bessere, detailliertere, fundierte Auseinandersetzungen mit dem Fall finden würde.
Andererseits: Vielleicht auch nicht. Vor rund 30 Jahren ist in einem Krankenhaus eine junge Frau gestorben – und alles, was heute noch in ihrem Namen passiert, ist Kunst, Kult und Kommerz, angereichert mit all den urban legends, die in der jahrzehntelangen Rezeption des Falls hinzugedichtet wurden. Ich verstehe, dass Dämonen-Horrorfilme besser »funktionieren«, wenn man dem (wohlwollenden) Publikum glauben machen kann, die Handlung basiere auf wahren Begebenheiten. Das ist eben viel gruseliger – und der Regisseur Paco Plaza macht keine halben Sachen: Er stellt seinen Film inklusive Abspann-Fotos vom »Tatort« als geradezu dokumentarisch dar (die Fotografie mit dem ausgebrannten Gesicht Estefanias hat es beispielsweise tatsächlich gegeben). Beim Toronto International Film Festival sagte Plaza zum Wahrheitsgehalt seines Films:
Ich denke, wenn wir etwas erzählen, dann wird daraus eine Story, selbst wenn es Nachrichten sind. Man muss nur verschiedene Zeitungen lesen, um zu wissen, wie unterschiedlich die Realität sein kann, je nach dem, wer sie erzählt. Ich wusste, dass wir die realen Begebenheiten verfälschen würden. Ich wollte es bloß zu einer in sich geschlossenen Vision machen […] Also die ganze Geschichte von Veronica und ihren Schwestern und Antoñito, diesem kleinen Marlon Brando mit Brille, das ist alles eine Vision.
Paco Plaza, Regisseur von Verónica
Kurzum: Mit dezenter Anlehnung an den gefallenen Jesus aus dem Polizeibericht, hat man einen mit christlicher Symbolik und dämonischem Schauer aufgeladenen Plot gebastelt, der nicht auf diesem Bericht »basiert«, sondern von ihm inspiriert ist – das wäre die ehrlichere Wortwahl gewesen. Mal wieder. Wie immer.
Ein Teil in mir findet es immer etwas respektlos, wenn sich Horrorfilme nur um des Grusel-Effekts willen auf echte Menschen (mit echten Familien und Angehörigen) beziehen. Aber was weiß ich, wie die Betroffenen dazu stehen? Einen Kommentar etwaiger Familienmitglieder zu dem Film Verónica konnte ich nicht finden.
In dem Q&A auf besagtem Festival beantwortet Paco Plaza übrigens auch eine Frage dazu, wie man die Kinder am Set betreut hat – angesichts doch recht krasser Szenen, in denen sie von einer gruseligen Gestalt bedroht werden oder Fleisch aus dem Körper ihrer Schwester beißen. Plaza beantwortet diese Frage ab Minute 00:50 (auf Englisch):
Ich stolperte über diesen Film, als ich zu Pascal Laugiers Ghostland (2018) recherchierte, einem anderen aktuellen Horrorfilm, der zuweilen mit Verónica verglichen wurde (obwohl die Filme unterschiedlicher kaum sein könnten). Über Verónica – der am 26. Februar 2018 erstmal bei Netflix veröffentlicht wurde – las ich dann immer häufiger die Phrase »scariest movie ever«, was mich leicht zum ködernden Filmfisch gemacht hat. Zack, Netflix aufgemacht, her mit dem Bissen!
Also, ist Verónica »der gruseligste Film aller Zeiten«? Also aus inzwischen über 120-jähriger Filmgeschichte, die Werke wie William Friedkins Der Exorzist (1973) und Werner Herzogs Nosferatu (1979) hervorgebracht hat? (Um nur zwei von unzähligen Klassikern zu nennen.) Natürlich absolut nicht. Verónica ist nicht einmal der gruseligste Film von Paco Plaza (wie gesagt: REC!).
Heißt, ich bin wiedermal auf etwas reingefallen, was entweder eine gelungene PR-Kampagne oder ein glücklicher Selbstläufer war: Ein paar Internet-User, die ihr Grauen über Verónica bei Twitter dokumentiert haben. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich, der ich so gerne Bill Maher zitiere, aus: New Rule: That’s Not News. In diesem YouTube-Video beschreibt der amerikanische Late-Night-Moderator zur Bauchbinde »charlatan’s web« das Phänomen, das Medienportale irgendwelche Stimmen aus dem Internet aufgreifen und ihnen Relevanz andichten, selbst wenn sie es mit gegebener Vorsicht tun. Beispiel:
Das Netz streitet über Verónica – laut Netflix „der gruseligste Horrorfilm aller Zeiten“, den angeblich kaum ein Zuschauer bis zum Ende durchhält.
Britta Bauchmüller (Kölnische Rundschau), 19.03.18
»Das Netz« = ein paar Twitter-User
»laut Netflix« = PR-Texter*in
»kaum ein Zuschauer« = noch ein paar Twitter-User
Unterm Strich beruft sich dieser Satz auf vielleicht 2 Dutzend Tweets von Netflix-Usern (stellvertretend für »das Netz«) und eine Person, die dafür bezahlt wird, Netflix-Filme ins Gespräch zu bringen. Das Ganze verpackt unter der Schlagzeile »Verónica und Co. Diese Horrorfilme auf Netflix hält kaum jemand bis zum Ende aus«. Werbung vom Feinsten. Läuft bei Netflix.
Wer auf Dämonen-Filme steht, wird an Verónica seine Freude haben. Der Film ist handwerklich gut gemacht, wenn auch (von ein paar visuellen Ideen mal abgesehen) sehr konventionell. Er fügt dem Genre nichts Neues hinzu, bedient sich an dessen Zutaten aber sehr geschickt – und Sandra Escacena trägt die Zuschauer*innen als Heldin, der man nichts Böses wünscht, gut durch die Handlung. Grusel-Atmosphäre kommt auf, selbst wenn man Gläserrücken und Dämonen für Hokus Pokus hält, deshalb: ja, okay, guter Film…
Der Beitrag VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE von Krzysztof Kieślowski | Film 1987 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Mit Der Zufall möglicherweise hat Krzysztof Kieślowski nicht nur möglicherweise, sondern ganz gewiss einige spätere Filme inspiriert. Bekanntestes Beispiel dürfte für das deutsche Publikum Lola rennt (1998) sein. Mit der Kamerafahrt in den Mund, zu Beginn von Lola rennt, spielt der Regisseur Tom Tykwer – der mit Heaven (2002) inzwischen ein Kieślowski-Drehbuch verfilmt hat – inszenatorisch elegant auf das Vorbild an. Ebenso mit dem Anrempeln einer prompt pöbelnden Passantin durch die rennende Lola (Franka Potente). Nehmen wir im Folgenden das Original unter die Lupe – Witek statt Lola.
Info: Zu der Zeit, da ich diesen Film suchte [Juli 2018], war Der Zufall möglicherweise (Original: Przypadek, Englisch: Blind Chance) im polnischen Original mit englischen Untertiteln in der Mediathek von Eastern European Movies verfügbar – eine empfehlenswerte Website für alle, die Interesse am osteuropäischen Kino haben. Allerdings wurde Der Zufall möglicherweise im Jahr 2017 vom Studio Filmowe TOR auch auf YouTube hochgeladen und ist dort in voller Länge zu sehen. (siehe unten)
Was den Film für ein internationales Publikum schwer zugänglich macht, ist seine Verankerung in der polnischen Geschichte vom Ende des 2. Weltkriegs bis Anfang der 80er Jahre. Der Zufall möglicherweise spielt vor dem Hintergrund des kommunistischen Polens, das scheinbar in zwei Lager zerfallen ist: Man ist entweder für oder gegen die Partei. Der Werdegang des fiktiven Studenten Witek Długosz dient als Beispiel, an dem gezeigt wird, wie ein Leben in diesem Polen laufen kann. Mal ist er als kommunistischer Funktionär in die Geschichte gestrickt, mal als Oppositioneller – und mal versucht er sich ganz aus dem Politischen rauszuhalten.
Obwohl der Film bereits 1981 gedreht wurde, lief er auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und in den polnischen Kinos erst 1987. Anfang der 80er Jahre war Der Zufall möglicherweise – in einer Zeit, da in Polen aufgrund der Solidarność-Unruhen Kriegszustand herrschte – von der Zensur zunächst verboten worden. Zu unbequem war dem Regime der Inhalt dieses Films.
Möglicherweise war’s der Zufall, der dafür sorgte, dass ich durchaus filmbegeisterter Mensch bis vor kurzem den Namen Krzysztof Kieślowski nicht kannte. Möglicherweise war’s aber auch blöde Ignoranz, weil mein Hirn den Namen nichtmal in Gedanken auszusprechen wusste. Inzwischen lerne ich – durch Zufall, möglicherweise – seit ein paar Jahren polnisch und möchte die Annäherung all denjenigen erleichtern: Man spricht ihn Kschischtof Kschlowski aus (hier sagt’s ein Muttersprachler: ).
Ein stimmungsvoller, wenn auch nur visueller Teaser zum Lebenswerk dieses großen Filmemachers vermittelt ein Bilderreigen, den das Museum of the Moving Image im Jahr 2016 veröffentlicht hat:
Wer Lola rennt kennt und mag, möchte vielleicht sehen, welchem Film Tom Tykwer die Kernidee entnommen hat. Mir jedenfalls ging es so.
»This is the 1981 version of the film, with censored fragments restored.«
Mit dieser Texttafel begann die Version, die ich gesehen habe. Dabei stimmt der Hinweis nicht ganz. Es gab noch immer eine Stelle im Film, in der das Bild schwarz wurde und nur die Tonspur weiterlief. In dieser zensierten Szene ging es um Polizeigewalt. Fast entschuldigend wies hier eine erneute Texteinblendung darauf hin, dass dieses Fragment das einzige gewesen sei, dass sich nicht habe restaurieren lassen.
Der Film beginnt mit einer Großaufnahme des Helden, Witek Długosz, der nervös dasitzt, den Mund aufreißt und »Nieee!« ruft. Die Kamera ist zu nah dran, als dass wir zuordnen könnten, wo er da sitzt. Und sie fährt noch näher heran, diese Kamera, fährt in den aufgerissenen Mund, ins Schwarz. In gelben Großbuchstaben erscheint der Name des Hauptdarstellers, der diesen Film über seine gesamte Laufzeit trägt: Bogusław Linda.
Nach den Vorspanntiteln folgt eine Kollage an Bildern, deren Sinn sich auf die Schnelle nicht erschließt: Ein blutiges Bein in einem Korridor, durch den eine Leiche geschleift wird. Ein dumm dreinschauendes Kind, das sich erst im Spiegel betrachtet, dann den Blick zu den Mathe-Hausaufgaben senkt. Neben dem Jungen sitzt der Vater, sieht ihm in die Augen?. Schnitt. Ein grüner Hang, auf dem ein Auto steht. Ein anderer Junge, der sich verabschiedet. Schnitt. Der voyeuristische Blick ins Lehrerzimmer, durchs Fenster. All diese Ausschnitte aus Kindheitstagen sind aus der Subjektiven gefilmt, Point of View ist jenes Kind, das sich im Spiegel betrachtet hat.
Aus der Kindheit geht’s in die späte Jugend oder das frühe Erwachsenenalter, auf jeden Fall raus aus der Subjektiven: Witek turtelt mit einer kurzhaarigen Frau an einem Gleis. Ein paar Typen rufen Obszönes, Witek rennt ihnen nach. Schnitt zu einem nackten, grauen Leichnam, der aufgeschnitten wird. Von der gelben Fettschicht schwenkt die Kamera hoch zu den herabschauenden Medizinstudent*innen. Eine von ihnen sticht hervor, durch ihren angewiderten Blick. Witek erzählt sie, die Tote sei ihre Lehrerin gewesen. Es folgt ein Schnitt zum gealterten Vater, der Witek erzählt, wie froh er war, als der Junge damals seinen Lehrer geschlagen habe. Denn Streber möge er nicht.
So geht es eine Weile. Kurze Szenen, chronologisch zwar und auf einen Helden fokussiert, doch durch die unüberschaubar großen Zeitsprünge unterbrochen. In diesem Prolog geht es Kieślowski nur um eine Art Quintessenz dessen, was aus dem Vorleben Witek erinnert werden soll. Bis zur schicksalhaften Szene am Bahnhof. Diese sehen wir zum ersten Mal nach 7 Minuten. So gerade eben erwischt Witek den Zug und der Film beginnt, endlich in gemäßigtem Tempo, mit verfolgbarer Handlung.
Wir werden zu jenem Bahnhof zurückkehren, ähnlich wie Mr. Nobody (2009) des Regisseurs Jaco van Dormael immer wieder zum Bahnhof zurückkehrt. Der Ort, an dem die Zeitstränge wie sich trennende Waggons auf unterschiedlichen Gleisen weiterfahren… Auf die Frage, ob er Der Zufall möglicherweise von Kieślowski gesehen habe, antwortet Jaco van Dormael in einem polnischen Interview:
Selbstverständlich. Unsere Filme entstanden zur selben Zeit [hier bezieht sich van Dormael auf seinen Kurzfilm È pericoloso sporgersi (1984), der wie ein früher Rohentwurf zu Mr. Nobody wirkt]. Offenbar waren wir von denselben Dilemmata beunruhigt. Und die Vorstellung verleiht mir heute noch eine gewisse Unruhe: Wir sitzen hier zusammen und reden, doch wie wenig muss man nur tun, damit Ihr oder mein Leben in völlig neuen, anderen Bahnen verläuft. Jede unserer Entscheidungen determiniert die nächste […]
Jaco van Dormael im Gespräch mit Barbara Hollender (aus dem Polnischen)
Bei Jaco van Dormael artet diese Idee wohlgemerkt in ein fantastisches Multiversum aus. Bei ihm eröffnet jede kleine Geste einen völlig neuen Zeitstrang. Bei Kieślowski ist der deterministische Gedanke von einer unausweichlichen Vorbestimmung hingegen wesentlich präsenter – und der Weg zum vorgezeichneten Schicksal bleibt in jedem Fall realistischer und näher an der Lebenswelt seines Protagonisten und der politischen Situation seiner Zeit.
Eine gewisse Faszination für die Zeit und den rätselhaft verstrickten Gang der Dinge ist wichtig. Zumindest, um als deutsche*r Zuschauer*in unter (grob über den Daumen gepeilt) 50 Jahren einen Zugang zu dem Film zu finden. Der Zufall möglicherweise bedient nicht unsere mit aufpolierten Bildern konditionierten Sehgewohnheiten. Er nimmt uns im Storytelling nicht bei der Hand (wie wir es vom Hollwood-Mainstream-Kino kennen, damit auch ja jede*r alles versteht) und setzt historisches Wissen voraus, das man ohne Bezug zu Polen kaum mitbringen wird.
Ich persönlich habe beschämend wenig Ahnung von der polnischen Geschichte. Dafür ist meine Faszination für die Zeit-Thematik im Film umso größer. Unabhängig von beidem ist das Schauspiel des Ensembles in Der Zufall möglicherweise wirklich stark. Und das Drehbuch ist so gut, dass es einen Sog entwickelt. Auch wenn man nicht alles verstehen mag, was in diesem Film vor sich geht, erlaubt er bestimmte Einblicke doch sehr klar und deutlich: Einblicke in die Zerrissenheit des Helden im Strudel des Zeitgeschehens. Egal, für welches politische Lager oder um welche Liebe Witek kämpft, man fiebert mit, wenn Witek rennt.
Hier gibt es den Film Der Zufall möglicherweise in voller Länge zu sehen (im polnischen Original mit englischen Untertiteln):
Übrigens: Der Zufall möglicherweise ist Teil der Criterion Collection. Hier gibt es weitere Informationen.
Der Beitrag DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE von Krzysztof Kieślowski | Film 1987 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.
In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.
Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.
Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.
Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.
Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.
Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«
Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.
Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?
Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.
Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13
Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center
Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.
Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.
Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:
Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)
Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.
Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.
Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):
In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.
[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70
Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.
Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.
Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert?
Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?
Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.
»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.
Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.
Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.
Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)
Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.
Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace
Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.
Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.
Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.
Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.
Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.
Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:
Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.
Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace
Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:
Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.
Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:
Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.
Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.
[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.
Be at my best,
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.
Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.
[Refrain]
Here, at my best, it’s all at rest,
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.
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]]>Der Beitrag GHOSTLAND, Horror von Pascal Laugier, Set-Unfall | Film 2018 | Kritik, Spoiler erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Deadline Hollywood spricht von der Ironie, dass das Kinoplakat zum Film Ghostland das Gesicht einer jungen Frau wie von Scherben zerschmettert zeigt. Die Anklageschrift spricht von mangelnden Industriestandards und wirft der Produktionsfirma vor, die Schauspielerin Taylor Hickson in eine absehbar gefährliche Situation gebracht hat. Regisseur Pascal Laugier wird indes in dieser Anklageschrift nicht erwähnt, obwohl er bei dem Unfall eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint. Mehr dazu im Absatz »Set-Unfall mit Taylor Hickson«.
Zum Inhalt: Eine Mutter und ihre zwei Töchter beziehen das Haus einer verstorbenen Verwandten. Doch schon in der ersten Nacht werden sie in dem düsteren Anwesen von üblen Gewaltverbrechern attackiert, die das Leben der Frauen grundlegend verändern.
Hinweis: Dieser Text enthält Spoiler zu allen Filmen von Pascal Laugier, aber nur im Absatz »Misogynistischer Folter-Porno?«, bis dahin, schönes Lesen! Eine weitere Rezension zu Ghostland, mehr auf den Inhalt als auf den Kontext bezogen, habe ich für kinofilmwelt.de geschrieben.
Pascal Laugiers erster Film (Haus der Stimmen) handelte von einer jungen Frau, die sich in ein spukendes Waisenhaus zurückzieht, um in aller Heimlichkeit ihr Kind auf die Welt zu bringen. Laugiers zweiter Film (Martyrs) erzählte die Geschichte von zwei jungen Frauen, die im Rahmen eines Racheakts eine ganze Familie hinrichten, ehe sie selbst bluten müssen. Sein dritter Film (The Tall Man) handelte von einer jungen Frau in einer Stadt, in der Kinder von einem »großen Mann« entführt werden – ein sehr (eher: zu) wendungsreicher Wannabe-Polit-Thriller mit Horrorelementen.
Im vierten Film sind nun zwei Frauen (mal als Jugendliche, mal als Erwachsene, also vier Schauspielerinnen) der rohen Brutalität zweier Gewaltverbrecher ausgesetzt. Es verwundert nicht, dass Filmkritikerin Antje Wessels den Regisseur bei einem Interview im April 2018 also auf seine Wahl immerzu weiblicher Hauptfiguren angesprochen hat. Und er so:
Für mich sind Mädchen »das große Andere«. Sie sind alles, was ich niemals sein werde. Und ein paar Wochen auf einem Set zu verbringen und Schönheiten, ich meine, Gesichter zu filmen, die mich faszinieren – auch das ist für mich ein Grund, Filme zu machen. Vielleicht war ich in der Schule einer der von den Mädchen zurückgewiesenen Jungs – und ich mache Filme, um geübt darin zu werden, ihnen zu gefallen. Um ihnen zu zeigen, dass ich selbst ein liebenswerter Typ bin.
Pascal Laugier im YouTube-Interview mit Filmkritikerin Antje Wessels
Ich persönlich finde, der heute 46-jährige Pascal Laugier hat sich nicht das beste Genre ausgesucht, um den »girls« zu gefallen. Aber hey, wo die Liebe hinfällt… und dass seine Liebe dem Horror-Genre gilt, das hat der Mann ja nun auf vierfache, sehr unterschiedliche Weise in Spielfilmlänge unter Beweis gestellt. Dabei ist sein Œuvre von solch wechselhafter Qualität, dass ich dem Herrn Laugier aktuell keine Träne nachweinen täte, wenn er sich vom Regiestuhl wieder aufs heimische Sofa begäbe.
In einem Abgesang über den »Retro-Wahn des Gegenwartskinos« schreibt Georg Sesslen (DIE ZEIT, N° 31, 26. Juli 2018) anlässlich des Remake von Papillon über ein »System der Selbstreferenz«.
Die Filme beziehen sich nicht mehr auf eine Art von äußerer Wirklichkeit, sondern auf andere Filme und andere Ereignisse innerhalb der Popkultur. Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht auf das Leben ihrer Konsumenten beziehen würden, dann das besteht ja in der Regel zur Hälfte aus Popkultur-Konsum.
Dabei habe ich (nach kurzer Empörung: Wie herablassend schreibt dieser Typ bitte über mein Leben!?) an Ghostland denken müssen. Wie viele Zeilen, Szenen, Kulissen, Ideen, ja ganze Versatzstücke dieses Films sind (bewusst oder unbewusst) nicht Referenzen an etwaige namhafte Vertreter*innen der Horror-Genres? Tobe Hooper und Rob Zombie als nur prominenteste Beispiele.
Noch vor dem ersten Bild serviert Ghostland bereits die erste Referenz in aller Deutlichkeit, eine, die sich durch den gesamten Film zieht. Der Streifen fängt mit einem Zitat an.
Zu Beginn des Films Ghostland sehen wir einen Schwarzweiß-Porträt des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft (1890-1937). Darunter – in Schreibmaschinen-Lettern getippt, erscheint die Zeile:
Freakin‘ awesome horror writer. The best. By far. | Elizabeth Keller
Wie aus der Zeit gefallen: Ein schwarz gekleideter Junge mit einem Hut rennt über einen Acker. Hin zu einer Straße, auf der gerade ein Wagen vorbeifährt. Mitten auf der Straße bleibt der Junge stehen und schaut dem Wagen nach. Aus dem Wagen, von der Rückbank aus, begegnet ein Mädchen (Taylor Hickson) seinem Blick. Ihre Schwester (Emilia Jones), auf dem Beifahrersitz, liest derweil eine selbst geschriebene Grusel-Geschichte vor. Anschließend wird sie von ihrer Mutter, am Steuer, für die Geschichte gefeiert und von ihrer Schwester beleidigt. Typisches Familiengezanke also, bis sich ein wild hupender Candy Truck von hinten nähert und den Wagen überholt.
Im Truck sieht man nur zwei dunkle Silhouetten, die den irritierten Frauen zuwinken. Spooky shit. Dann zieht der Wagen vorbei und der Titel erscheint: Incident in a Ghostland (der etwas längere, alternative Titel des Films)
An einer Tanke kauft die schriftstellerisch ambitionierte Tochter etwas zu knabbern. Draußen fährt jener Candy Truck vorbei, gruselig langsam, das Licht in der Tanke flackert, als hätte der Sicherungskasten Angst bekommen. Besagte Tochter wirft einen Blick auf die Titelseite einer Zeitung, die da rumliegt: »Familien-Killer schlagen zum fünften Mal zu!« (wenn man später erlebt, wie auffällig und unvorsichtig diese Killer unterwegs sind… dann muss man sich schon sehr wundern: Wie genau hat die Polizei denn bisher versucht, sie aufzuhalten?)
All die üblen Vorzeichen führen rascher als gedacht zur Konfrontation zwischen den Familien-Killern und der Familie. Dabei geht es brutal zur Sache. Die Gewalt-Eskalation zum Auftakt des Films ist derartig heftig in Szene gesetzt, dass sich schon hier die Spreu vom Weizen trennen wird: die Zuschauer*innen, die solche Filme lieber meiden, und diejenigen, die bleiben. Letztere bekommen einen Film zu sehen, der handwerklich sehr gut gemacht ist. Vieles, was an Pascal Laugiers vorausgegangenem Werk The Tall Man mies war (die Computer-Effekte, die unglaubwürdigen Twists, die politische Message) fallen weg. Stattdessen: Absolut solides Genre-Kino, dass zur Entspannung zwischen den Gewalt-Exzessen gekonnt Zeit- und Wirklichkeits-Ebenen wechselt. Samt Cameo-Auftritt von H. P. Lovecraft.
Die Kritik zum Film fällt sehr gemischt aus (siehe: englischer Wikipedia-Beitrag). Manch Filmrezensent*innen schlagen mit ihrem Lob ein bisschen über die Stränge. So schreibt Simon Abrams (The Village Voice):
[Ghostland] ist eine verstörende, effektvolle Kritik an misogynistischen Folter-Pornos. […] Der Film mag zuweilen daherkommen wir ein blutrünstiger Slasher-Klon, aber Laugiers gefolterte Mädchen erweisen sich immer wieder stärker als ihre brutal entstellten Körper.
In Haus der Stimmen stirbt die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen im Arm. Im Laufe von Martyrs schlitzt sich die eine Hauptfigur selbst auf, die andere wird gehäutet – und stirbt elendig. Am Ende von The Tall Man wird die weibliche Hauptfigur auf Lebenszeit weggesperrt, nachdem man ihr die Scherben aus dem Gesicht gepickt hat. In Ghostland, das stimmt, da überleben die beiden Mädchen die schier endlosen Gewalt-Attacken in den vorausgegangenen anderthalb Stunden.
Man kann nicht behaupten, ein Film sei nicht misogynistisch oder gar feministisch, nur weil die weiblichen Protagonistinnen am Ende irgendwie mit dem Leben davon kommen. Ghostland ist ein Folter-Porno, der Misogynisten gefallen wird. Ebenso, wie Der Soldat James Ryan kein Antikriegsfilm, sondern ein Kriegsfilm ist, der all denen gefällt, die Lust auf Kriegs-Action haben.
[Die Gewalt] dient als Mittel zum Zweck, um Zuschauer*innen daran zu erinnern, dass Traumata die menschliche Psyche schädigen können. Doch darüber hinaus scheint Ghostland nichts zu sagen zu haben. Der Mittel zum Zweck führt zu keinem tieferen Sinn oder einer größeren Idee, so dass die Unmenschlichkeit sich wirklich lohnt. Die Story ist zu hauchdünn, um zu rechtfertigen, was ihre Charaktere durchleben müssen. Dadurch wirkt die Gewalt als Ziel gesetzt und misogynistisch.
Day Ebaben (BloodyDisgusting), aus dem Englischen übersetzt
Pascal Laugier wurde am 16. Oktober 1971 geboren. Er begann seine Karriere als Assistent des Regisseurs und Filmproduzenten Christophe Gans (Silent Hill, Die Schöne und das Biest). So drehte Laugier zu dessen Pakt der Wölfe (2001) mit Vincent Cassel eine Making-of-Dokumentation (und er trat selbst in dem Film auf).
Später schrieb und inszenierte Pascal Laugier nach seinem Debüt Haus der Stimmen (2004) den Horror-Schocker Martyrs (2008), seit dem er dem New French Extremism zugeordnet wird. Das Gewalt-Spektakel brachte dem Regisseur einige Kontakte in Hollywood ein, wo er nach eigenen Aussagen, »drei oder vier verschiedene Projekte« unterzeichnete. Eines davon war ein Remake zu dem Horror-Klassiker Hellraiser (1987), von dem er jedoch wieder zurücktrat (oder zurückgetreten wurde). Hier ist Laugiers Sicht der Dinge:
Ich hatte das Gefühl, dass die Produzenten hinter dem neuen Hellraiser keinen wirklich seriösen Film machen wollten. Nun, für mich wäre ein neuer Hellraiser vor allem ein Film über die SadoMaso-Schwulen-Kultur, weil es von einem homosexuellen Begehren herrührt – und Hellraiser handelt von solchen Dingen. Ich wollte nicht die ursprüngliche Version von Clive Barker [Hellraiser-Schöpfer] betrügen.
Pascal Laugier im Interview mit Ambush Bug (AICN)
Die Produzenten hingegen seien eher an einem kommerziell erfolgreichen Remake für Teenager*innen als Zielgruppe interessiert gewesen. Statt eines Hellraiser-Remakes drehte Laugier stattdessen den Mystery-Thriller The Tall Man (2012). Im Jahr 2015 inszenierte außerdem er das Musikvideo zu City Of Love über gefallene (gruselig ausschauende) Engel und die Faszination für den menschlichen Körper. Die französische Popsängerin und Schauspielerin Mylène Farmer, die City Of Love sang, übernahm 6 Jahre nach Pascal Laugiers letztem Spielfilm die Rolle der Mutter in Ghostland. (Die lange Dauer zwischen seinen Projekten schreibt er Finanzierungsschwierigkeiten zu.)
Nun ist für einen Star für Mylène Farmer dieser Film nur eines von vielen Werken in einer langen Karriere. Für die meisten Cast- und Crew-Mitglieder*innen und Zuschauer*innen wird Ghostlandnur ein weiterer Horror-Film sein. Einer, der manchen mehr, manchen weniger gefällt, aber kaum das Zeug hat, lange von sich reden zu machen.
Allein für Schauspielerin Taylor Hickson stellt dieser Film eine Zäsur dar. Ein Schnitt, der ihr Leben in ein »Davor« und »Danach« unterteilt. Grund ist eine Szene, in der Hickson gegen eine Glastür hämmern sollte, härter, wie es der Regisseur Pascal Laugier wollte, so hart, bis das Glas brach und die junge Frau hindurch fiel. Dabei schlitzte eine Scherbe ihr Gesicht so sehr auf, dass Taylor Hickson mit 70 Stichen genäht werden musste. Die Narbe wird die Schauspielerin für den Rest ihres Lebens im Gesicht tragen. Zitat des Regisseurs:
Manchmal war ich der Bösewicht am Set. Die Crew verhielt sich sehr beschützend gegenüber den Schauspielerinnen und ich musste sie davon abhalten. Ich wollte, dass sich die Schauspielerinnen einsam und sozusagen miserabel fühlen – damit sie fähig waren, das darzustellen, was das Skript abverlangte. Also, yeah, hin und wieder fühlte ich mich wie der Bösewicht, aber die einzige Sache, woran ich dabei dachte, war der finale Film.
Pascal Laugier im Interview mit Darren Rae (Review Graveyard), 17. März 2009
Dieses Zitat bezieht sich gar nicht auf Ghostland. Sondern auf Martyrs, dem anderen Gewalt-Schocker, den Laugier 10 Jahre zuvor gedreht hat. Als die Schauspielerinnen aus dem Film damals, Morjana Alaoui und Mylène Jampanoï, ein Interview gaben, kam dieser Gesprächsfetzen zustande (aus dem Englischen übersetzt):
Rob Carnevale (Indie London): Pascal scheint ein wirklicher netter, sanfter Typ zu sein… wie war er als Regisseur? MJ: Das ist nicht wahr… MA: Er hat eine sehr sanfte Seite und eine sehr gewaltsame Seite. Er hätte diesen Film nicht gemacht, wenn es diese gewaltsame Seite nicht gäbe. Und ich denke, dass er eine sehr gewaltsame Haltung gegenüber der Welt hat. RC: Würdet ihr wieder mit ihm arbeiten? MJ: Niemals! [Lacht.] MA: Ich ebenfalls nicht. MJ: Kann ich noch sagen, dass wir uns zwar darüber beschwert haben, aber das wir trotzdem eine exzellente Zeit dort hatten? Und auf professioneller Ebene, als Schauspielerinnen, haben wir viel über uns gelernt.
Horrorfilme sind heute, was öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter waren: Ein Spektakel für Menschen, die von Gewalt fasziniert sieht (mich eingeschlossen). Und so wie Henker*innen damals sicher eine »gewaltsame Seite« hatten, haben sie heute Filmemacher*innen. Indem sie ihre Gewaltfantasien inszenieren und damit die Gewaltfantasien etlicher Anderer bedienen, schaffen sie ein Ventil für sadistischen Voyeurismus. Oder sie fördern ihn damit nur, so kann man es auch sehen. Ich persönliche gehöre eher der ersteren Meinung an. Doch mir graut es bei einem Regisseur, der sein filmisches Ergebnis höher wertet, als das Wohlbefinden aller Beteiligten.
Erst recht, wenn die Story derart dünn ist. Auch die Charaktere des Films bleiben substanzlos. Bloße Täter-/Opfer-Schablonen, wie man sie aus x-beliebigen Horrorfilmen kennt, die man sieht und wieder vergisst. Da warte ich doch lieber auf das nächste Werk des Meisters popkultureller Referenzen, zuweilen gar mit Wirklichkeitsbezug: Quentin Tarantino. Dessen nächster Streich soll vom mörderischen Treiben der Manson-Familie handeln.
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Ging schonmal gut los: Heute Morgen habe ich verschlafen. Als ich schließlich aufwachte, baumelte mein Arm taub wie ein Fremdkörper an meiner Schulter. Hatte wohl drauf gelegen, schäbiges Gefühl, aber na ja, das vergeht. Kaum glaubte ich, wieder Herr über den Arm zu sein, klatschte ich damit Sonias Kaffeetasse vom Tisch. Braune Brühe über Jeans und Couch und Teppich, Volltreffer. Mangels Küchentüchern tupften wir die Flecken mit Taschentüchern aus den Fasern. Natürlich von beiden Seiten des Teppichs, den die Suppe sickert ja direkt durch zum Zimmerboden. Jetzt hängt der Teppich falsch herum über der Couch, sieht aus wie ein schlecht verhülltes Museumsstück. Daneben steht der Couchtisch quer im Raum und ringsum zerstreut liegen braune Knäuel dampfender Taschentücher, als hätte hier jemand ne mega ekelhafte Erkältung. Montagmorgen, du machst deinem bescheidenen Ruf mal wieder alle Ehre.
Soviel vom Start in den Tag, der den Start in die Sommerpause markiert. Eigentlich wollte ich heute noch über den Tanzfilm Strictly Ballroom (1992) von Baz Luhrmann schreiben, den ich gestern zum ersten Mal und mit Begeisterung gesehen habe. Und warum dann nicht gleich auch über Baz Luhrmanns Romeo + Julia (1997) und Moulin Rouge (2001), die mit dem Erstgenannten zusammen die »Roter-Vorhang-Trilogie« bilden. Das habe ich gestern im Zug der Recherchen noch gelernt, ehe der Alltag mich ausbremste. Und der Alltag ist es jetzt auch, der mich daran hindert, über all diese schönen Filme und weitere zu schreiben, zumindest für eine Weile.
Erst nächste Woche gibt es wieder Filmfutter auf dem Blog vom Bleiben. Dann mit einem Fokus auf Kurzfilme, denn: Das Bundes.Festival.Film. 2018 startet bald in Hildesheim! Und da simma dabei! Dutzende Kinder- und Jugendfilme, die ich in der Jurysitzung im März bereits sehen durfte und damit verraten kann – es wird kunterbunt, fantastisch, abgedreht, wunderschön! Bin sehr gespannt, wie Kindermedien-Crack Sonia die Beiträge finden wird. Wir werden vom Programm berichten! Ganz im Sinne unserer Agenda für den Spätsommer und was da komme.
So langsam zeichnet sich am Horizont ein Schwerpunkt ab, auf den wir dieses Blogprojekt nach der Sommerpause weiter ausrichten möchten. Kurz und knackig formuliert: Kindermedien und Kinomomente. Also Kulturgut für groß und klein, von Bilderbüchern bis hin zu Blockbustern, aber eben auch lesens- und sehenswerten Perlen zwischen diesen kulturellen Eckpfeilern. Jeden Tag lernen wir aktuell dazu, was »Bloggen mit System« angeht, und wollen dem Schwerpunkt auf Dauer mehr Profil verleihen.
In diesem Sinne sagen wir schonmal vielen, vielen Dank für das bisherigen Feedback zu dem Content, den wir in den vergangenen Wochen und Monaten über den Blog vom Bleiben ins Internet hinausgepustet haben. Wenn auch du, liebe*r Leser*in, uns mitteilen möchtest, was du bis dato gelungen und besonders, was du noch verbesserungsbedürftig findest – sowie natürlich auch, was dich als mögliche Blogbeitrag-Themen mal interessieren würde – nur her mit deiner Meinung! Wir lechzen danach und lernen daraus. Unser Ziel ist es, zu bemerkenswerten Büchern (wie Ritter und Drachen), Filmen (wie Whale Rider) und Internetfunden (wie AMA oder This Is America) solche Beiträge zu schreiben, die zu neuen Gedanken anregen und im Gedächtnis bleiben. Euer Feedback zu unserer Umsetzung dieses Ziels, immer gern via Kontaktformular über die sozialen Kanälen!
Vielen Dank für den Support und bis bald!
Apropos Zukunft und Sommerpause: Dass wir in den kommenden Tagen nicht die Zeit zum Schreiben finden, liegt nicht an äußeren Zwängen, sondern daran, dass wir im Zuge einer qualifiziert freiheitlichen Entscheidung andere Prioritäten setzen müssen. Denn ein Tag hat ja nur 24 Stunden und selbst wenn man die Freiheit hat, alles zu tun, hat man noch lange nicht die Zeit, wirklich ALLES zu tun. Darüber quatsche ich ausführlicher in einem YouTube-Video über äußere und innere Freiheit. Unter diesem Video hat ein Zuschauer zum Stichwort Handlungs- und Willensfreiheit eine kleine Diskussion dazu angestoßen, ob nicht alles vorbestimmt sein könnte. Vorausgesetzt, alles sei durch physikalische Gegebenheiten zu erklären, dann müsse doch auch alles auf physikalischer Ebene berechenbar sein.
Das Paradoxon, das besagter Zuschauer in eben diesem Gedankengang mit auf den Weg gab, war der Einfluss des Menschen, der seine Zukunft berechnet, dadurch kennt, dadurch beeinflusst und damit die eigene Rechnung rückwirkend zerlegt. Ein Szenario, das wir aus etlichen Science-Fiction-Filmen zum Thema »Zeitreise« kennen.
Die Theorie, das alles im Leben vorbestimmt bzw. festgelegt sei, ordnet man dem Determinismus zu (vom Lateinischen determinare – festlegen). Für mein Empfinden klingt Vorbestimmung zu bedeutungsschwanger, nach einer Art Planwirtschaft für das gesamte Sein auf Erden. So als hätte irgendein Höheres Wesen eine Art von Ziel, auf das diese Vorbestimmung hinausläuft. Im Gegensatz dazu gefällt mir die Vorstellung vom Dataismus. Diese Theorie besagt, wenn ich sie richtig verstanden habe, dass sich letztendlich jeder Organismus (sagen wir: eine Blume) in Nullen und Einsen darstellen ließe. So wie das digitale Bild von einer Blume als Datei nur aus Nullen und Einsen besteht.
Die Zahlenfolge zur »binären Beschreibungen« der echten Blume wäre weeesentlich länger, als die zur Beschreibung des digitalen Abbilds. Das Gleiche würde demnach auch für Menschen gelten – und das Leben wäre dieser Theorie nach ein ewiger Datenverarbeitungsprozess. Ein Algorithmus, der im Vergleich zu den Algorithmen, die wir so gerade noch überblicken können, viel zu komplex für unsere von animalischen Trieben und menschlichen Marotten okkupierten Gehirnchen. Den Dataismus habe ich über Yuval Noah Hararis Buch Homo Deus (2015) kennengelernt. Harari selbst sagt, dass diese Idee totaler Mumpitz sein könnte. Aber es gibt sie eben, in der Vorstellungswelt der Menschen, ähnlich wie den Determinismus. Harari schreibt:
Sobald Big Data Systeme mich besser kennen, als ich selbst mich kenne, dann wird die Autorität von Menschen zu Algorithmen wechseln.
Seine logische Schlussfolgerung daraus ist, dass dieser Prozess daraus hinausläuft, dass Menschen den Algorithmen ihre wichtigsten Entscheidungen überlassen werden. Nicht etwa nur im potentiell lebensbedrohlichen Straßenverkehr (wie es durch Assistenzsysteme heute schon möglich ist), sondern auch hinsichtlich der Wahl der besten Vertreter für bestimmte Ämter (um in Zukunft vielleicht einen Präsidenten wie Donald Trump zu verhindern – was auch immer diesen Clown ins Weiße Haus gebracht hat, menschliche Schwarmintelligenz möchte ich es nicht nennen). Das ginge sogar soweit, dass uns Algorithmen sagen würden, wen wir heiraten sollten (Tinder ist nur ein kleiner Wisch für dich, aber ein großer für die Robo-Kuppler der Zukunft).
Tatsächlich schwingt im Dataismus ja ein gewisser Determinismus mit. Wenn das Leben ein Algorithmus ist, dann ließe es sich berechnen und damit vorausrechnen und damit in die Zukunft sehen. Was ist dann mit dem Paradoxon, dass im oben erwähnten YouTube-Kommentar zur Sprache gebracht wurde? Konkret heißt es darin: Wenn jemand mithilfe einer Maschine (also künstlicher Intelligenz) errechnen könnte, dass er oder sie morgen bei einem Flugzeugabsturz stirbt, dann würde diese Person doch eher nicht ins Flugzeug steigen und damit wissentlich in den Algorithmus eingreifen. So, wie die visionäre (und doch herrlich bescheuerte) Horrorfilmreihe Final Destination es uns eindrucksvoll zeigte.
Dieser Gedanke geht mir einen Schritt zu weit. Ich kann mir vorstellen, dass alle Organismen sich in Zahlenfolgen darstellen ließen. Nur theoretisch, natürlich, denn praktisch nimmt das Leben als Prozess ja ständigen Einfluss auf die Zahlenfolgen. Nur weil ein Organismus stirbt, ist er damit nicht »fertig« beschrieben und man könnte eine gewaltige Zahl hochhalten: DAS ist dieser Organismus. Stattdessen zersetzt sich der Organismus ja über den Tod hinaus und seine Überbleibsel setzt das Leben neu zusammen, der Algorithmus läuft ständig weiter. Ich könnte mir so gerade noch vorstellen, dass es eines fernen Tages Rechenmaschinen gibt, die solche sich ständig in Hochgeschwindigkeit hinfort schreibenden, multiplen Zahlenkolonnen in Echtzeit darstellen könnten. Doch das hieße noch lange nicht, in die Zukunft rechnen zu können. Das ist schlichtweg ein ganz anderes Thema.
Der Dataismus entzaubert für mich nicht das »Wunder Leben«, nur weil man es halt in Zahlen darstellen könnte. Was die vielen, interagierenden, sich neu aufzweigenden Datenströme ausgelöst hat und wo sie hingehen, das bleibt dabei ein Rätsel. Nur weil eine Instanz künstlicher Intelligenz aufgrund seiner Big-Data-Kenntnis mir sagen würde: Hey, du und Sonia, ihr passt perfekt zueinander, ihr Zwei solltet heiraten, nur deshalb weiß diese Künstliche Intelligenz noch lange nicht, dass dies so geschieht. Es heißt einfach nur: Im Hier und Jetzt, auf Basis der vorliegenden Daten, seid ihr wie füreinander geschaffen.
Selbst die einfachste »Zukunftangelegenheit« – zum Beispiel: Ich möchte heute Mittag eine Tiefkühlpizza essen – steht in Wirklichkeit im Zusammenspiel mit Milliarden von anderen Abläufen, von denen ich gerade nur eine Handvoll zum Besten geben könnte: Die Frostertür klemmt mal wieder und ich komm nicht an die scheiß Pizza ran, ich stolpere auf dem Weg in die Küche, muss ins Krankenhaus, ein Freund ruft an, lädt zum Essen ein, blah, blah, blah, und in Wahrheit eben Milliarden Blahs mehr.
In die ferne Zukunft gedacht wirkt die Vorstellung, dass sich tatsächlich SÄMTLICHE Abläufe in einer Sache mit berücksichtigen lassen und somit die Zukunft berechenbar ist, vielleicht möglich. Aber das ist eine ferne Zukunft, in der homo sapiens mit seinem jetzigen Geistes-Apparat keine Rolle mehr spielt, ja, vielleicht gar nicht mehr existiert. Wir sind zu dumm dafür. Solche Szenarien in ihrer Konkretion zu überdenken und besprechen, das liegt wortwörtlich außerhalb unserer Vorstellungskraft. Ich kann damit gut leben, ich komm schon auf Dreisatz nicht immer klar. Aber solch genialen Köpfe wie Stephen Hawking einer war, da könnte es durchaus sein, dass die Grenze der menschlichen Vorstellungskraft ein unerträglich kleines Gefängnis ist.
Also dann, nächste Woche melde ich mich mit neuen Blogupdates zurück! Behaupte ich jetzt mal. Ganz wagemutig.
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Um mein Missfallen über Cargo in geeignete und nachvollziehbare Bahnen zu lenken, wähle ich die Form des rekonstruierten Gedankenprotokolls unter Ergänzung und Richtigstellung später recherchierter Details. Das wird dem Film gerechter als nötig, aber es soll ja ein anständiger Zerriss werden. Unter Wahrung der Fairness.
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text wird ein Spoiler-Feuerwerk! Ich meine es dabei nur gut mich euch. Cargo sind 100 Netflix-Minuten, die ihr euch schenken könnt. Nach den folgenden rund 10 fluffigen Leseminuten (länger soll dieser Disstrack nicht dauern) gibt’s zur Belohnung einen kleinen Lifehack. Denn das zweifelhafte Sehvergnügen des Films Cargo lässt sich auch in einem Bruchteil der Spielfilmdauer genießen.
Ausgangssituation. Ich auf Netflix, sehe: Oh, kürzlich hinzufügt! Ein Film mit Martin Freeman! Mr. Bilbo »Hobbit« Beutlin, Dr. Watson, der Pechvogel aus Fargo, der Porno-Typ aus Tatsächlich… Liebe, Mann, ich mag dich! Nix über den Film gelesen, keinen Trailer gesehen, einfach mal auf »Play« gedrückt. Wird schon gut sein, wenn der Martin da mitmacht, ja ja. Das Thumbnail zeigte Martin Freeman mit einem dunkelhäutigen Kind (jedenfalls dunkelhäutiger als Martin, diese britische Kalkleiste). Zu zweit unterwegs in irgendeiner Art von Pampa, irgendwie dachte ich: Vielleicht so ein Grenzgänger-Film wie Babel, hatte noch das Bild von der armen Frau darin im Kopf, die mit den Kindern durch die Wüste zwischen Mexiko und den USA stolpert… ja, das könnte doch sein. Das würde gut zu Martin passen.
Minute 1. Cargo beginnt mit der Luftaufnahme von einer Steppe, in der ein paar Feuer brennen. Wie schon bei Captain Fantastic frage ich mich – immer noch geprägt von der Jurysitzung zum Deutschen Jugendfilmpreis – ist dieser Drohnen-Shot gerechtfertigt, oder reiner Show-Off, reine Angeberei? Bei Captain Fantastic dachte ich noch: Na ja, fette Hollywood-Produktion mit Viggo »Aragorn« Mortensen, die haben Angeben mit Kameratechnik nun wirklich nicht nötig. Aber bei diesem Netflix-Film mit Martin »Bilbo« Freeman bin ich mir nicht mehr so sicher… die Qualmsäulen der Steppenfeuer sehen verdächtig nach billigem CGI aus. | Der Eindruck wird sich später bestätigen. Es gibt auch eine völlig unnötige super-miese CGI-Brücke. Und auch abgesehen von den Computer-Effekten übersteigt der Produktionsaufwand nicht RTL-2-Trash-TV-Produktion. Ein »Netflix Original« ist definitiv kein Gütesiegel.
Minute 3. Martin Freeman schippert mit Frau (Susie Porter) und Baby (extrem süß) in einem Hausboot über einen Fluss. Durch die bisherigen Naturbilder nehme ich Australien als Handlungsort an, war wohl nix mit Grenze zu Mexiko. Aber als Martin eine andere Familie am Flussufer Geburtstag feiern sieht, zeigt ihm der Vater dieser Familie wie zur Abschreckung die Knarre in seinem Gürtel. Na, wenigstens ein bisschen amerikanischer Flair da draußen. Warum denn so feindlich gestimmt?, frage ich mich. Erste Vermutungen, dass in der Gegend irgendwas nicht stimmt.
Minute 4. Vermutung bestätigt sich. Martin und Susie reden abends am Tisch über ihre Vorräte. Martin nimmt dabei sowas wie ein Erste-Hilfe-Set auseinander, dass er aus dem Wasser gefischt hat. Susie macht sich Sorgen, das Baby könnte verhungern. Ich sehe das ganze im englischen Original und höre (shame on me) nicht so gaaanz aufmerksam zu. Eigentlich total anmaßend gegenüber den Filmemachern und ein Ausschlusskriterium für jede*n, die oder der meint, sich nach halbaufmerksamer Sichtung das Maul über einen Film zerreißen zu dürfen. Aber keine Bange, Cargo wurde so schnell so schlecht, dass er meine voll fokussierte Skepsis auf sich gezogen hat.
Minute 8. Martin ist gerade, während Susie schlief, vom Hausboot rüber zu einem Segelboot-Wrack gerudert und hat es geplündert. Die Tür zur finsteren Kajüte unter Deck stand einen Spalt auf, dahinter gruselige Geräusche… Martin ist ohne Nachzuschauen wieder abgehauen. Kluger Mann, wäre ja auch mega dämlich und ein Horrorfilm-Klischee, da jetzt reinzulünkern. Wer weiß, was da lauert. Allein im normalen Reallife-Australien gibt’s doch ungefähr zweitausend Wassertierarten, die schon mit ihren Blicken töten können. Aber mir dämmert aufgrund der Atmosphäre, dass ich es mit einem (nicht unbedingt Reallife-)Horrorfilm zu tun haben könnte. Cool. Im parallelen Handlungsstrang verfolgt die Kamera ein Aborigines-Kind, 11-jähriger Junge, schätze ich.
Bei meiner nachträglichen Szenenanalyse wird mir klar, dass bis zu diesem Zeitpunkt schon ein Endzeit-Szenario etabliert ist. Huch, wie konnte ich das nicht merken? Martin und Susie haben sich nicht einfach in der Pampa verirrt (wie ich dachte), sondern sind auf dem Hausboot sicher vor dem, was »seit Wochen da draußen abgeht«. Ich habe offenbar beschämend wenig von dem englischen Dialog ordentlich verstanden, wird mir klar. Reue und Unbehagen, aber na ja.
Minute 12. Jetzt schläft Martin, nachdem er Susie die geplünderten Vorräte zeigt. Das rettet sie über die nächste paar Monate, juchee! Aber Susie, anstatt happy damit, rudert heimlich nochmal rüber zu dem Grusel-Wrack. Möge das mega dämliche Horrorfilm-Klischee-Verhalten beginnen… auch sie bemerkt die spooky Kajütentür. Auch sie will umdrehen und abhauen – doch Susie wird von irgendwas gewaltsam zurückgezogen, unter Deck.
Schnitt zu Martin, der aufwacht und merkt, dass Susie weg ist. Mit dem Baby schlurft er durchs Hausboot und bemerkt Blutspuren auf dem Boden. Super Setup denke ich: Was auch immer Susie auf dem Wrack attackiert hat, ist jetzt auf dem Hausboot! Wie spannend! Aber Martin öffnet die Badezimmertür und da sitzt Susie mit blutigem Bein. Okay, Spannung erstmal vorbei. Was ist denn passiert? Sie verarzten ihre Wunde und Susie schnallt sich erstmals ein strahlend weißes Armband ums Handgelenk, schaltet einen Countdown ein: 48 Stunden.
Das Armband strahlt so weiß, dass es mich ablenkt und denken lässt: ist doch bestimmt Product Placement, war da ein Hinweis, am Filmanfang? Von wegen: »Diese Sendung enthält Produktplatzierungen«, wie bei Kodachrome? Mh… was für Produkte waren nochmal in Kodachrome? Na ja, außer Kodachrome halt, die Fotofilmrollen vom Hersteller Kodak, ja, stimmt, ziemlich offensichtlich eigentlich…
Das Armband erscheint mir wie ein futuristisches biometric device, ein Lifestyle-Gimmick mit sexy Design, vielleicht der neuste Shit von Apple? Ich fange an, darauf zu achten, und bemerke, dass dieses Armband rund alle 10 Minuten prominent im Bild ist, benutzt wird, später Besitzer wechselt, bis sogar das Baby damit rumspielt (und meine Aufmerksamkeit – inzwischen hat sie der Film, herzlichen Glückwunsch – auf einen fetten Schnittfehler in der Baby-spielt-mit-Armband-Szene hinweist, Filmminute 79, aber das hat wohl eher das Baby als die Continuity verkackt… Babys halt, diese unprofessionellen Schauspiel-Graupen.)
Nachträglich erst vergewissere ich mich und siehe da: Diese Sendung enthält keine Produktplatzierungen. Ich hatte mich schon gewundert: Was für ein deplatziertes Marketing ist das denn, wo ich auf Teufel komm raus nicht erkennen kann, was für ne Marke diese Uhr da tragen soll? Stattdessen soll dieses Ding nur die eine Funktion haben: Countdown herunterzählen, 48 Stunden. Dass es so häufig im Bild ist, muss daran liegen, dass da jemand mächtig stolz auf seine oder ihre Idee war…
Bei dem Armband handelt es sich um eine postapokalyptische Innovation. Es wurde für die Menschen entwickelt, die sich mit dem gefährlichen Virus infiziert haben, wegen dem in Cargo alle Figuren so schlechte Laune schieben. Die Welt ist Schauplatz einer gewaltigen Epidemie, von der man im australischen Outback einfach sehr wenig sieht. Für ein niedriges Budget nicht zufällig praktisch. Um die »Endzeit« zu etablieren, zeigen wir ein paar Steppenfeuer im Auftakt und lassen die Leute dann über ihre miese Lage reden.
Ich komm derweil noch nicht auf die Vorstellung klar, dass ein Virus die Weltbewohner vor sich hertreibt, aber irgendwer die Zeit und Muße findet, hochwertige Erste-Hilfe-Kits herzustellen und bis ins australische Outback über den Globus zu streuen. Inklusive dem Armband mit dieser einen Funktion (die auch jedes Handy hat und jede*r selbst auf die Kette kriegt, der oder die kurz checkt, wo die Sonne steht und bis Zwei zählen kann, ZWEI TAGE eben.)
Was passiert denn überhaupt nach 48 Stunden? Die Infizierten werden – was auch sonst? – zu Zombies. Nach rund 20 Filmminuten, als Martin (schlecht drauf) und Susie (infiziert), das Boot verlassen haben und im Outback rumlungern, taucht der erste Zombie auf. Oha, denke ich! Hat mich kalt erwischt, diese Genre-Offenbarung. Das war dann auch die letzte Überraschung in Cargo. Oh, abgesehen davon, dass der Aborigines-Junge ein Mädchen ist!
Der Film feiert jedes Klischee ab, das Zombie-Filme so populär gemacht hat. Das Besondere: Es werden keine Zombie-Massen oder Kämpfe gezeigt, der Fokus liegt eher auf dem, was zwischen den Konfrontationen Zombies/Menschen so passiert. Ein bisschen wie Richard Linklaters It’s Impossible To Learn To Plow By Reading Books also, ein Film, in dem nichts passiert, weil alle Szenen zwischen den bemerkenswerten Ereignissen des alltäglichen Lebens liegen. Der Protagonist wartet, hängt rum, ist unterwegs, wartet wieder… So ähnlich fühlt sich auch Cargo an. Nur mit Zombies. Aber ja nicht zu viele Zombies, weil Outback und wenig Budget und ach…
Natürlich passiert da schon was. Hin und wieder kommt Spannung auf, die in Rekordzeit aufgelöst wird. Ernsthaft: Einmal wacht Martin (Susie inzwischen tot) in der Steppe auf und das Baby ist weg. Oh shit! Er guckt nach links. Ach nee, da sitzt es. MANN! MACHT ES DOCH WENIGSTENS MAL FÜR 30 SEKUNDEN SPANNEND! Später gibt es sowas wie einen »spannenden Stand-Off«, der so bescheuert zustande kommt, dass ich nicht Mitfiebern konnte. Die Leute, die sich am helllichten Tag für den dunklen Tunnel als beste Route durch Zombieland entscheiden, die haben’s nicht anders verdient. Sorry, Martin und Baby.
Der Titel Cargo bezieht sich übrigens, fürchte ich, auf dieses Baby. Das ist quasi das Frachtgut (aus dem Englischen/Spanischen: cargo – Schiffsladung), das in Sicherheit gebracht werden muss. Dass durch diesen Titel ein kleiner Mensch objektifiziert wird, hätte ich woanders vielleicht kritisiert. Hier macht’s eh keinen Sinn mehr.
Am Ende von Cargo wird Martin Freeman in Sachen Babyrettung kreativ – als menschlicher Packesel, der so sehr an Swiss Army Man erinnert, dass es einfach nur urkomisch ist. Leider bloß nicht so gemeint. Stattdessen strotzt das Ende vor Pathos, ist bierernst, schiebt noch ne politische, gesellschaftskritische und ökologische und haste nicht gesehen Message mit…
Dass Martin Freeman überhaupt mitgemacht hat, lag bestimmt auch an dem Titel Cargo. Das fand der Schauspieler mit dem britischen Humor nach seinem Auftritt in Fargo einfach mal witzig, für die Filmografie. Demnächst spielt er noch in Margo, Bargo oder Targo mit und wir haben alles was zu schmunzeln.
Wie versprochen: Wer Cargo in einem Bruchteil der Spielfilmdauer sehen möchte, kann sich einfach den Kurzfilm geben, auf dem der neue Langfilm basiert. Dieser gleichnamige Kurzfilm ist schon 2013 von denselben Machern entstanden – Yolanda Ramke und Ben Howling – und hat bei YouTube sagenhaft 14 Millionen Views gesammelt. Grund genug für Netflix, einen billigen Spielfilm nachzuschieben. Viele potentielle Interessent*innen. Dabei ist vieles von dem, was ich dämlich fand (samt dem unfreiwillig komischen Ende) schon im Original drin. Immerhin: Es dauert nur 7 Minuten. Also bitte schön, stellt euch einfach vor, der Typ sei Martin Freeman:
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Vor dem Schnittbericht erst noch einmal aus dem Drehbericht vom 9. Mai kurz zusammengefasst. Also: Umgesetzt haben wir unseren Kurzfilm AMUREUS KISS in einem frisch bezogenen Aachener Apartment. In dem sollte noch ne Wand schwarz gestrichen werden. Das bauten wir kurzerhand in die Filmhandlung ein. Damit übernahm der Cast das Streichen (obwohl nach Drehschluss noch ein klitzekleines bisschen nachgestrichen werden musste, wie der fertige Kurzfilm erahnen lässt). Vor der Kamera standen neben Jesse Albert (als Alex) und Stephanie Jost (als Zoey) die Kölner Schauspieler Florian Gierlichs (Noah), Swantje Riechers (Fiona) und Juliana Wagner (Mia). Idee war, das junge, Frust schiebende Ehepaar Alex und Zoey mit ein paar Freunden zu konfrontieren. Diese fegen wie ein Wirbelsturm um sie herum und bringen neuen Schwung in festgefahrene Fronten!
Noah (Florian Gierlichs) ist dabei mehr als nur ein alter Kumpel von Alex. Der hat sich ja schon im Kurzfilm TCHINA WURM (2015) als »schwul oder bi – auf jeden Fall verwirrt« geoutet. Tatsächlich kommt es aber nicht nur zwischen den beiden Jungs im Laufe des Abends (an dem mehr getrunken als gestrichen wird) zu amourösen Annäherungen. Sondern irgendwie zwischen allen. So ein bisschen.
Gedreht haben wir den lieben langen Tag, von morgens 9 Uhr bis spätabends. Mit anschließender Drehschluss-Party, bei der die halb vollendete Wand fertig gestrichen und alle Flaschen leer gemacht wurden. Man soll einen Drehort ja ordentlich verlassen…
Das erklärte Ziel lautete, an einem Tag einen Kurzfilm zu drehen. Bloß, dass ursprünglich ein Film von 9 Minuten Spieldauer geplant war. Weil die ersten beiden Teile dieser Quasi-Kurzfilm-Trilogie (Teil 1: TCHINA WURM, Teil 2 JAW CHILLI) eben je 9 Minuten dauerten und man ja noch seine Neurosen haben dürfen wird. Na, wie dem auch sei, Pustekuchen! Das Konzept »Improvisation« hat etwaige Planungen gesprengt und aus 9 Minuten wurden rund 20 Minuten, die aus diesen 24 Stunden inklusive Aftermath, Pennen und Aufräumen hervorgehen. Wobei nur zwei Bilder im Film – gegen Ende – erst am nächsten Morgen entstanden sind: Die durchs Fenster blinzelnde Sonne und die fertig gestrichene Wand…
Kaum daheim am Schnittplatz, wollte ich mich direkt ans Sichten des Materials machen. Das gestaltete sich aufgrund der Menge an Material als knifflig. Nicht nur, dass wir am Drehtag wirklich fleißig waren und etliches Improzeugs ausprobiert haben. Gedreht wurde außerdem in 4K, einer sehr hohen Bildauflösung. Einfach nur, weil die Kamera es kann. Dabei entstehen immense Datenmengen (allein für AMUREUS KISS kam über 1 Terabyte an Rohmaterial zusammen). Dafür hat man hochwertigeres Footage, aus dem in der Nachbearbeitung mehr herauszuholen ist. Und seien es nur schöne Standbilder wie diese hier:
Weitere Standbilder in Original-Auflösung gibt es hier zu sehen.
Sind das nicht ein paar wunderhübsche Menschen, die wir da vor der Kamera versammelt haben? Und charismatisch und witzig und hach, ein Haufen zum Verlieben. JEDENFALLS: 4K heißt vier Mal so groß wie HD heißt jede Menge Gigabyte heißt Speicherplatznot. Ich möchte in diesem Schnittbericht nicht zu sehr auf langweilige technische Details eingehen. Verkürzt gesagt dauerte es nach Drehschluss noch eine Woche, ehe ich meinen heimischen Arbeitsplatz soweit aufgerüstet hatte, dass ich das Material doppelt sichern und endlich sichten konnte. Ach, darum hätte man sich ja auch vor dem Dreh mal kümmern können, meinst du!?
Kommen wir zum eigentlichen Schnittbericht… nach dem technisch kniffligen Part kam die künstlerische Herausforderung: Wie schneidet man einen Improfilm? Zunächst ist es ja kein reiner Improvisationsfilm wie der Mumblecore-Klassiker Hannah Takes the Stairs mit Greta Gerwig (2007). Einige Szenen und Übergänge basierten auf einem geskripteten Dialog, der zumindest als dramaturgische Richtschnur dienen sollte. Wie sehr sich daran gehalten wurde, mag bei Interesse jede*r für sich selbst nachlesen, hier gibt’s das Drehbuch zu AMUREUS KISS als PDF. Nun glichen unsere Dreharbeiten auch nicht denen des deutschen Mumblecore-Films Papa Gold von Tom Lass (2011), bei dem angeblich kein Take wiederholt wurde. Bei der Vorstellung schaudert’s mir regelrecht. Ich gehöre zu den Filmemachern, die lieber ein paar Takes zu viel von einer Szene machen. Man mag argumentieren, damit verbraucht sich die Frische des Spiels oder Authentizität oder sonstwas. Spätestens am Schnittplatz bin ich froh, ein wenig Auswahl zu haben.
Kurzum: Ich hatte eine Handvoll Szenen vor mir, die wir allesamt mehrmals aus verschiedenen Einstellungen gedreht haben, zum Teil lose auf einem Drehbuch basierend, zum größeren Teil frei improvisiert, zuweilen von Take zu Take unterschiedlich. Mir persönlich hat diese variationsreiche und freie Arbeitsweise sehr gefallen. Die Szenen sind in sich weniger rund, da ihre Anfänge und Enden weniger streng durchkomponiert sind. Stattdessen fühlen sie sich alltäglicher und damit echter an. Alltäglich heißt jedoch auch banal, daher kam es am Ende auf Auswahl und Blickwinkel an.
Wie soll von diesem Abend unter Freunden erzählt werden, damit sich daraus eine Geschichte ergibt, die trotz offener Szenen eine runde Sache ist?
Denn »rund« ist wichtig, denke ich. Diesen Anspruch stelle ich an einen Storyteller, dem ich meine Aufmerksamkeit schenke. Nach der Geschichte soll sich das Gefühl einstellen, ein dramaturgisch durchdachtes Werk oder (in Serien gedacht) Kapitel gesehen zu haben. Das hat nichts damit zu tun, ob der Ausgang eines Handlungsstrangs offen bleibt oder alle Fragen beantwortet werden. Letztlich ist keine Geschichte jemals zu Ende erzählt. Aber eben deshalb könnte ich eben so gut einfach aus dem Fenster sehen, das Leben betrachten, den zig Geschichten um mich herum folgen, die sich ständig und gleichzeitig abspielen, daran die schönen Momente entdecken.
Warum einen Film sehen? Weil ein Film, sofern gelungen, eben »rund« ist. Heißt: das Leben und seine Geschichtenvielfalt verdichtet und einen Fokus gelegt auf die schönen oder bemerkenswerten Momente. Na, man kann viel darüber reden und hat am Ende doch nichts gesagt. Die lieben Leser*innen mögen selbst entscheiden, ob es im Fall von AMUREUS KISS geklappt hat, diesem eigenen Anspruch gerecht zu werden.
Der fertige Film ist nun auf YouTube zu sehen. Wenn er gefällt, würdest du mir einen großen Gefallen damit tun, meinen YouTube-Kanal weiterzuempfehlen und bestenfalls selbst zu abonnieren (ein kleiner Klick für dich, ein großer Schritt auf meinem Weg in den »Selbständig von Webcontent leben können«-Modus – und ein fettes DANKE vorweg!). Hier ist er, unser Kurzfilm AMUREUS KISS:
Kein Schnittbericht ohne ein Wort zur Audiospur! Als Fan der isländischen Band Sigur Rós bin ich vor rund 10 Jahren auf ein inoffizielles Musikvideo zu dem Song Inní mér syngur vitleysingur aufmerksam geworden. Es zeigt einfach nur zwei Frauen und einen Mann im Auto, wie sie auf das Lied abgehen. Sehr sympathisch, macht gute Laune. Es hat mich auf weitere Videos des Mannes aufmerksam gemacht, der darin die Kamera »führte« (wenn man das bei dem spontanen Beifahrer-Dreh so sagen kann). Sein Name ist Pavel Ruminov, ein russischer Regisseur, der neben solch rauen Musikvideos in Homevideo-Ästhetik auch wundervolle, preisgekrönte Spielfilme dreht.
Außerdem ist der Tausendsassa als Musikproduzent unterwegs. Er arbeitet unter anderem mit der russischen Band Sherlock Blonde zusammen. Deren großartig stimmungsvoller Sound floss bereits in die Kurzfilme TCHINA WURM und JAW CHILLI mit ein. Für AMUREUS KISS habe ich nun einmal mehr auf das kongeniale Duo Pavel Ruminov und Natalya Anisimova (die Frontsängerin von Sherlock Blonde und Schauspielerin in Pavel Ruminovs Filmen) zurückgegriffen und drei Songs verwendet, die sie unter dem Bandnamen To Live And Die In Moscow herausgebracht haben. Seit fünf Jahren stehe ich mit Pavel im Mailkontakt, bin begeistert von seinem Antrieb und Schaffen und sage DANKE!, dass wir diese tolle Musik verwenden dürfen.
Doch AMUREUS KISS lebt nicht nur von den drei russischen Songs, sondern auch einem besonderen Score. Die instrumentale Untermalung diverser Szenen stammt von dem Musiker Konstantin Reinfeld. Diesen lernte Hauptdarsteller und Moderator Jesse Albert beim SpokenWordClub in Köln kennen und brachte seine Musik ins Gespräch. Als Mundharmonikaspieler und Komponist hat Konstantin Reinfeld 2015 das Album Algiedi herausgebracht, aus dem ich schließlich eine herrlich abwechslungsreiche Auswahl an Songs für AMUREUS KISS verwenden durfte. Auch dafür vielen Dank! Hier geht es zur offiziellen Website von Konstantin Reinfeld.
Ist AMUREUS KISS nun ein Mumblecore-Film geworden, wie ursprünglich geplant? Ehrlich gesagt, fürchte ich, nicht ganz. Dafür tragen Inszenierung, Tempo und Musikeinsatz zu sehr die aufdringliche Handschrift, die sich schon in TCHINA WURM und JAW CHILLI abgezeichnet hat. Der Kurzfilm erfüllt einige Mumblecore-Elemente, ist jedoch nicht rein genug, um als echter Mumblecore zu gelten. Dazu hätte es mehr Mut bedurft, das Tempo weiter herausnehmen und die Zügel in Sachen Dramaturgie noch mehr aus der Hand zu geben. Schnittbericht Ende.
In jedem Fall aber war es ein spannendes Projekt! Danke an alle Beteiligten, es war mir eine Freude und Ehre, mit euch zusammenzuarbeiten! Oder mit den Worten Sherlocks:
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Unlängst haben wir die Sitcom Friends unter die Lupe genommen. Dabei schnitt das Format der 90er und frühen 2000er als nicht mehr ganz zeitgemäß ab. Das ist, 14 Jahre nach dem Serienfinale, vielleicht auch ein arg hoher Anspruch an Situation Comedy. Heute wird es (von erwachsenen und empathischen Menschen, nicht unbedingt der wahlberechtigten Mehrheit) als politisch unkorrekt empfunden, homophobes Verhalten zu normalisieren. Damals, so darf man befürchten, war derartiges Verhalten noch eine gesellschaftstaugliche Norm, womit die Vorwürfe gegen Friends zum Teil nicht ganz fair sind. Die Serienfigur Ross Geller jedenfalls, schneidet am schlechtesten ab, wenn man die Sitcom durch die Brille der salonfähigen Umgangsformen im 21. Jahrhundert betrachtet.
Ross ist der männliche Part der berüchtigten On-Off-Liebesbeziehung, die Friends maßgeblich geprägt hat. Da er in der ersten Episode noch vor Rachel (dem weiblichen Part dieser Beziehung) auftritt und viel länger dem sozialen Gefüge angehört, dass die Friends bilden, kann man (Doktor!) Ross Geller als die Hauptfigur der Serie bezeichnen. Ross ist auch – um die Hauptfigur-These mal final zu festigen – der Charakter mit den meisten Spitznamen. So. Damit sollten alle Zweifel beseitigt sein. Der Ross-a-tron hat gesprochen!
Weitere Spitznamen (im englischen Original): Rossie, Ross – The Divorce Force, The Divorce-o (von Phoebe), Ross the Divorcer, Red Ross, Wet Head, Mental Geller, Wet Pants Geller (in der High School), Mr. Big Shot, Dino-Guy (im Spin-Off Joey), Bea, The Dinosaur Guy (von Chloe), Cookie Duuude (von NYU-Studenten), Gel Boy (von Rachel), Bo Bo the Sperm Guy (von Susan), Dr. Monkey, Ron (von Mr. Zelner) und natürlich Dr. Geller (an dieser Stelle empfehle ich die Facebook-Gruppe Friends DIE HARDS für solches und ähnliches Friends-Fachwissen)
Im Mai 2018 schwappte nun eine Fantheorie durchs Web, die sich diesen »Serienhelden« Ross Geller vorknüpft. Zur verlinkten Quelle eine kurze Relativierung. Die Artikelüberschrift – This Friends Theory About Ross & Monica Is Breaking The Internet (Diese Friends Theorie über Ross & Monica zerbricht das Internet) – ist natürlich eine maßlose Übertreibung in Clickbait-Manier. Wie Bill Maher es prägnant zusammenfasste: Wenn es in Online-News heißt, »das Internet«, »Twitter« oder »Die Leute« (»people«) seien empört oder sonstwas, dann ist es in Wahrheit NIEMAND. Außer den paar Losern, die sowas wie Fantheorien diskutieren, als hätten sie auch nur einen Hauch Relevanz.
Und damit zurück zur Friends-Fantheorie. Auslöser war ein Tweet von Emily Heller, Comedian. Heller schrieb über Ross, der ja bekanntlich ein paar Scheidungen durchgemacht hat, angefangen mit Carol in der ersten Folge der Sitcom:
Just realized they HAD to make Monica & Ross brother and sister otherwise all the F•R•I•E•N•D•S would have stuck with Carol in the divorce
— Emily Heller (@MrEmilyHeller) 12. Mai 2018
Zu Deutsch: »Ich habe gerade realisiert, dass sie [die Serienmacher; Anmerk. d. Bloggers] Monica und Ross zu Bruder und Schwester machen MUSSTEN, andernfalls hätten in der Scheidung alle F•R•I•E•N•D•S zu Carol gehalten.« Während Emily Heller das eher als Kompliment an Carol verstanden wissen wollte, ging »das Internet« (zur Erinnerung: die paar Loser) seinen eigenen Weg. Denn »das Internet« denkt nicht in Komplimenten. »Das Internet« shitposted YouTube-Kommentar-Spalten voll, nachdem es die Videos gehatewatched hat. »Das Internet« masturbiert zu Memes, streut Emoticons wie Konfetti und schreibt Amazon-Rezensionen zu Produkten, deren Verwendungszweck »das Internet« offensichtlich nicht verstanden hat… ich drifte ab.
»Das Internet« jedenfalls legt Hellers Satz so aus: Wären Monica und Ross Geller keine Geschwister, hätten sich die Friends nach der Trennung zwischen Carol und Ross von dem weinerlichen, verunsicherten Paläontologen distanziert (wie man so eine Trennung gerne mal nutzt, um den Freundeskreis auszumisten… uff, das klingt böse). Ohne Monica wäre Ross nie ein Freund von Monicas Mitbewohnerin Phoebe geworden. Ohne einen alten Schulkumpel Chandler hätte Ross nie dessen Mitbewohner Joey kennengelernt. Mit Phoebe und Joey hat Ross ohnehin so dermaßen wenig gemeinsam, dass sie weniger richtige Friends sind, als zufällig im selben Freundeskreis gelandet. Dass Ross, wenn er nicht mit diesen »Freunden« abhängen würde, auch Rachel nie getroffen hätte, ist selbstredend.
Und diesen Freunden könnte man es nicht übel nehmen, wollten sie mit Ross nichts zu tun haben. Twitter-Vogel Jamie Sykes erklärte es so:
Ross is an emotionally abusive, self obsessed, classist, intellectually superior PoS. Worst character by far (I guess unless he’s supposed to be a satirical take on that type of man).
– James Sykes (@gotdeuces), 14. Mai 2018 (inzwischen offline)
Zu Deutsch: »Ross ist ein emotional missbräuchliches, ich-besessenes, klassistisches, intellektuell überlegendes StüSchei. Bei weitem der schlimmste Charakter [der Serie] (es sei denn, nehme ich an, wenn er als satirische Darstellung dieses Typ Mannes gemeint ist).« Tatsächlich, wenn man Friends mit dieser Prämisse im Hinterkopf nochmal schaut, ist Ross ein schwer erträgliches Individuum. Ein Kauz, ein Psycho, ein gar nicht netter Typ. Und so nimmt das Ross-Bashing im Internet seinen Lauf. Denn »das Internet« schert sich nicht um die Ursachen eine gestörten Persönlichkeit. Es hasst oder feiert lieber die kranke Persönlichkeit, die ihr selbst ja nicht unähnlich ist.
Doch was ist die Ursache dafür, dass Ross als solch schwieriger Fall sein Dasein fristet? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, müssen wir das Licht auf die andere Seite »des Internets« richten. Dorthin, wo der Tiefsinn über Tweetlänge hinausgeht. Der Schriftsteller David Hopkins (aktuell mit der zweiten Überarbeitung seines ersten Romans beschäftigt) hat die Sitcom Friends im Jahr 2016 gemeinsam mit seiner Frau auf Netflix gebinged. Dieses »Erlebnis« hat ihn zu einem wirklich fantastischen Artikel für Medium motiviert, mit dem hochtrabenden Titel (übersetzt aus dem Englischen):
Wie eine TV-Sitcom den Niedergang der westlichen Zivilisation einleitete
Und damit auch kein Zweifel besteht, um welche Show es geht, lautet der Untertitel: »the one where we retain our sanity in a stupid world«. Zu Deutsch: »Die Folge, in der wir unseren Verstand in einer dummen Welt bewahren«. Mit »The One…« beginnt im englischen Original jeder Episodentitel von Friends. Hopkins fasst die Serie so zusammen:
Die Geschichte eines Familienmenschen, eines Mannes der Wissenschaft, eines Genies, das mit den falschen Leuten zusammengeriet. Langsam versinkt er in Wahnsinn und Verzweiflung, angetrieben von seinem eigenen Geltungsbedürfnis. Mit einem Missgeschick nach dem anderen wird er zum Monster. | David Hopkins
Es geht natürlich um Ross Geller, den tragischen Helden. Für David Hopkins zeigt die Sitcom Friends – über die er nicht lachen kann! – eine rigorose Umarmung des Anti-Intellektualismus in einem Amerika an, in dem ein begabter und intelligenter Mann von seinen idiotischen Landsleuten verfolgt wird. Hopkins beschreibt den Cast von Friends als wohl »liebenswertestes Ensemble, das jemals von Casting-Agenten zusammengestellt wurde«:
Alle jung, alle Mittelklasse, alle weiß, alle hetero, alle attraktiv (aber erreichbar), alle moralisch und politisch nichtssagend und alle ausgestattet mit leicht bekömmlichen Personas: Joey ist der Doofkopp. Chandler ist der Sarkastische. Monica ist die obsessiv Zwanghafte. Phoebe ist der Hippie. Rachel, ach, keine Ahnung, Rachel shoppt gerne. Und dann ist da Ross. Ross war der Intellektuelle und Romantische.
Wann immer Ross etwas erzählte – über seine Interessen, seine Studien, seine Idee – wurde er mitten im Satz von seinen stöhnenden »Freunden« unterbrochen, weil er so laaangweilig sei. Sie machten immerzu klar, dass es dumm sei, schlau zu sein, und es eh Niemanden interessiere. Der Lacher war jedenfalls beim Publikum – und das hielt sich so, als Running Gag, schlappe zehn Staffeln lang. Kann man es Ross wirklich übel nehmen, fragt Hopkins, dass er verrückt wird?
Und wie in einer griechischen Tragödie ist unser Held in einer Prophezeiung gefangen, aus der es kein Entrinnen gibt. Die Produzenten der Show – stellvertretend für die allmächtigen Götter – entschieden, dass Ross mit Rachel zusammenkommen solle. Der, die gerne shoppt. | David Hopkins
Die Sitcom Friends wurde bis 2004 produziert. Das Jahr, in dem Facebook an den Start ging und der Kriegsverbrecher George W. Bush wiedergewählt wurde. Hopkins weiter:
Das Jahr, in dem Reality-TV eine dominante Kraft in der Popkultur wurde, und American Idol seine achtjährige Herrschaft des Terrors als Nr.-1-Show der US begann. Das Jahr, in dem Paris Hilton ihre eigene Lifestyle-Marke etablierte und ihre Autobiographie herausbrachte und Joey Tribbiani ein TV-Spin-Off bekam.
2004 war das Jahr, in dem wir komplett aufgaben und Dummheit als einen Wert anerkannten. Fragt Green Day: Die brachten 2004 ihr Album American Idiot heraus und gewannen damit den Emmy für Bestes Rock Album. Das Timing könnte nicht perfekter sein. | David Hopkins
In der Ablehnung von Ross Geller durch seine ihn unterbrechenden Freunde sieht David Hopkins ein Vorzeichen zum Amerika der Gegenwart, das immerzu aufstöhnt und dazwischenquatscht, wenn die Stimme der Vernunft etwas sagen will. Hopkins‘ meisterhafter Beitrag ist im März 2016 veröffentlicht worden. Rund acht Monate später wurde Reality-TV-Star Donald Trump ins höchste Amt der lautesten Nation dieses Planeten gewählt.
Ach, säß dort doch nur Ross Geller.
Der Beitrag ROSS GELLER, Genie oder Wahnsinniger? | Fantheorie zu FRIENDS erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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