Welt – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Welt – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 KLEINER DRECKSPATZ AURELIA über Hygiene | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/#respond Sun, 26 Aug 2018 07:00:11 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5150 Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und…

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Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und Grundschullehrerin von mir stand einmal vor dieser heiklen Aufgabe… Hier sind Fingerspitzengefühl, aber auch Deutlichkeit gefragt. Wie der Zufall es wollte, bin ich einen Tag später auf das Kinderbuch Kleiner Dreckspatz Aurelia gestoßen. Ein Buch, das ich Dreckspatz-Hütern wärmstens empfehlen kann.

Kinderbuch-Bloggerin Sonia Lensing mit dem Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia

Lieber Schlamm als Schwamm

Zum Inhalt: Die kleine Aurelia findet Baden und Duschen doof. Viel lieber spielt sie draußen im Schlamm und Dreck, so wie das Abenteurer machen. Doch bei so viel Schmutz am Leib muss sich selbst Aurelias Papa die Nase zu halten. Seine Kleine muss sich mal waschen. Denn sogar Dreckspatzen machen sich sauber. Was erzählt Papa da? Aurelia wird neugierig. Wie wäscht sich denn ein Spatz, eine Katze, ein Bär oder ein Eichelhäher? Ihr Papa kennt sie alle, die speziellen Putzrituale der Tiere. Das muss sie dringend alles selbst ausprobieren… allerdings, bei all der Putzwut im Dreck flüchtet selbst Aurelia zu einem besonderen Ort.

Dorothea Flechsig – Kinderbuchautorin, Geschichtenschreiberin für KiKAninchen und Prinzessin Lillifee und auch noch Verlegerin des Glückschuh Verlags (ich bin beeindruckt!) – gelingt mit Kleiner Dreckspatz Aurelia ein rund um kindgerechtes Lesevergnügen. Das liegt zum einen sicher am Alltagsthema. Mit dem Schwerpunkt Hygiene nähert sich die Autorin der Lebenswelt der Kleinen und der Erziehungsberechtigten an.

Zur Wirkung des Buchs

Vor allem bei den Jüngsten löst das regelmäßige Putzen eher wenig Euphorie aus. Umso höher ist das Identifikationspotenzial für die kleinen Leser mit der quirligen Hauptfigur Aurelia. Denn dass sich das Mädchen viel lieber in der Natur suhlt, als mit dem Schwamm geschrubbt zu werden, können kleine Dreckspatzen gut nachvollziehen. Diese Vertrautheit zum Geschehen und zur Kinderfigur ist für die jungen Leser von besonderer Bedeutung. Zumal Kinder bis zum 7. Lebensjahr noch nicht in der Lage sind, andere Perspektiven einzunehmen und hier dementsprechend Unterstützung brauchen (sagt Piaget). Diese Unterstützung liefert Dorothea Flechsig, indem sie die Kleinen in Kleiner Dreckspatz Aurelia mit nur reduziertem Text konfrontiert und kindgemäße Bilder von Suse Bauer einsetzt, die für sich alleine stehen und auch leseschwache Kinder abholen.

Ein weiterer Kniff von Dorothea Flechsig für ein kindgemäßes Storytelling ist das Wieder-Aufgreifen von Elementen, wie der Tierreihenfolge. So tauchen die Tiere, von denen Aurelias Papa in Kleiner Dreckspatz Aurelia erzählt, in der gleichen Reihenfolge bei Aurelias animalischer Waschaktion auf. Der rote Faden hilft den Kindern, das Mini-Universum von Aurelia abzustecken und zu einem harmonischen Abschluss zu kommen.

Zur Visualität des Buchs

Huch, das Buch ist ja dreckig! So mein erster Gedanke, als ich das Hardcover zu Kleiner Dreckspatz Aurelia in den Händen halte. Dann ein näherer Blick. Ah! Wenn der Titel mit dem Coverbild inhaltlich verschmilzt, hat die Illustratorin etwas richtig gemacht. Ich bin jedenfalls auf die Schmutzflecken reingefallen. Und das obwohl Suse Bauer in diesem Werk eher minimalistisch als realistisch zeichnet.

Dieser grobe Zeichenstil entspricht dem empfohlenen Lesealter von 3 Jahren. So besinnen sich die Bilder im Grundschulstil auf das Wesentliche. Ohne mit zu vielen Details zu überfordern, sondern mit einigen zu überraschen, bleibt somit genug Raum für die eigene Fantasie. Welche putzeifrigen Tiere könnte Aurelia noch nachmachen? Hier lädt die Geschichte zur Anschlusskommunikation mit Eltern und Kindern ein.

Buchtipp: Wer auf den groben Zeichenstil steht, dem kann ich das Bilderbuch Überraschung (2014) von Mies van Hot empfehlen.

Fazit zu Kleiner Dreckspatz Aurelia

Das Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia eignet sich hervorragend, um Kindern auf spielerische und deutliche Weise die Wichtigkeit von Hygiene zu vermitteln. Durch die ideale Kombination aus klarem Storytelling und kindlichen Illustrationen bietet das Werk Anlass, gemeinsam mit Kindern Aurelias Welt zu erkunden und sich eigene Gedanken über das Putzverhalten zu machen. Ein unterhaltsames Lesevergnügen, das ohne den pädagogischen Zeigefinger auskommt. Ich vergebe 9 Sterne.

Eckdaten im Überblick

TitelKleiner Dreckspatz Aurelia – Wasch dich doch mal
Erscheinungsjahr2017
Autor/IllustratorDorothea Flechsig (Autorin) Suse Bauer, (Illustratorin)
VerlagGlückschuh Verlag
Seiten38 Seiten
AltersempfehlungAb 3 Jahren
ThemaKörper, Tiere

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GOOD NIGHT STORIES FOR REBEL GIRLS | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-good-night-stories-for-rebel-girls-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-good-night-stories-for-rebel-girls-2017/#respond Wed, 08 Aug 2018 06:00:57 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4548 Weibliche Errungenschaften scheinen in der Menschheitsgeschichte eher rar. Haben denn nur Männer die Welt verändert? Das…

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Weibliche Errungenschaften scheinen in der Menschheitsgeschichte eher rar. Haben denn nur Männer die Welt verändert? Das Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls von Elena Favilli und Francesca Cavallo räumt mit dem antiquierten Geschlechter-Verständnis auf. Es zeigt großen und kleinen Leser*innen, dass Heldentaten und Vision von Persönlichkeiten und nicht von Geschlechtern realisiert werden.

Prinzessin? Mach die Augen auf!

Blicke ich auf meine Kindheit zurück, muss ich zugeben: meine Emanzipation ging recht schleppend vonstatten. Neben Einflussfaktoren wie familiäres und soziales Umfeld lag das am Einfluss und der Rezeption von Kindermedien. Allen voran meiner geliebte Walt Disney Classic Collection. Die dort dargestellten Geschlechterrollen prägten mich maßgeblich mit. Dornröschen als in Not geratene Schönheit, Schneewittchen als gutgläubige, in Not geratene Schönheit oder Belle als in Gefangenschaft genommene Schönheit.

Dieses Jungfrau in Nöten-Bild zieht sich durch die so oft zugrunde liegenden Grimmschen Märchen. So dass Mädchen vor dem Zubettgehen eingetrichtert wurde, das weibliche Geschlecht sei zwar schön, aber nun mal schwach. Und deshalb angewiesen auf den starken Prinzen. Doch um Disney gegenüber fair zu bleiben: Mit den späteren Frauenfiguren Mulan, Pocahontas und (meiner Favoritin) Meg in Hercules flimmerten auch Persönlichkeiten auf dem Bildschirm, die durchsetzungsstärker waren. Oder eben: rebellisch! (Ach, und wer Rotkäppchen als Aktivistin erleben will, kann sich die Rotkäppchen-Version der Bocholter Märchenoma Ursula Enders anschauen.)

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Es waren einmal… 100 starke Frauen

Zum Inhalt: In 100 Kurzgeschichten und künstlerischen Illustrationen präsentieren Elena Favilli und Francesca Cavallo 100 Mädchen und Frauen, die unsere Gesellschaft zu Höherem verholfen haben. Ob Rennfahrerin Lella Lombardi, Modeschöpferin Coco Chanel (hier geht’s zur Filmkritik über das Biopic zu Coco) oder Aktivistin Malala Youzafzai. Die Protagonistinnen in diesem Buch sind Vorbilder. Nicht nur für Mädchen, sondern natürlich auch für Jungen. Schließlich geht es um Geschichten, die Geschichte geschrieben haben. Um starke Menschen, die mutig waren, zu scheitern, aufzustehen und weiter nach ihren Zielen zu greifen.

Ein Crowdfunding-Projekt gegen Geschlechter-Klischees

Das geplante Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls der beiden italienischen Autorinnen Elena Favilli, Journalistin, und Theaterregisseurin und Schriftstellerin Francesca Cavallo traf einen internationalen Nerv. Als Reaktion auf das Video If you have a daughter, you need to see this (siehe unten) beteiligten sich Menschen aus über 70 Ländern mit mehr als 1 Million Euro bei der Crowdfunding-Kampagne. Sie halfen dabei, dass die Geschichten von 100 beeindruckenden Frauen in die Buchläden, die Kinderzimmer und in die Köpfe der Menschen einziehen konnten. Dank ihres Erfolgs gilt Good Night Stories for Rebel Girls als erfolgreichstes Kinderbuch im Bereich Crowdfunding.

Auch die Pressestimmen unterstreichen die Relevanz und den Erfolg dieses feministischen Kinderbuchs. Hier eine Auswahl:

Entgegen dem Titel sind die pointierten, auf je eine Doppelseite verdichteten Kurzporträts zu jeder Tageszeit ein Genuss. So viel geballte Girlpower ist eine Ermunterung und Bestätigung für jede Heranwachsende, große Träume und hohe Ziele zu haben. 

Verena Hoenig (Neue Zürcher Zeitung), 11.12.17

Bei Good Night Stories for Rebel Girls ließe sich die Botschaft so zusammenfassen: Wie ein Leben sich gestaltet, kann man nicht wissen; aber wer für seine Träume und Ideen einsteht, integer lebt und aufbegehrt, der trägt zu seinem eigenen Glück und meistens auch zum Wohlergehen anderer bei.

Yalda Franzen (SPIEGEL Online), 29.10.17

Elena Favilli und Francesca Cavallo liefern mit heroischen, die Selbstermächtigung in sämtlichen Spielarten feiernden Kurzbiografien ein Prägungsmodell für Heldinnen der Zukunft.

Jamal Tuschick (Der Freitag)

Frage: Gibt es das schwache Geschlecht? Einer Antwort darauf sind wir in diesem Blogbeitrag auf den Grund gegangen: Bio mit Beauvoir.

Zur Wirkung des Buchs

Mit ihrem feministischen Kinderbuch haben die Autorinnen einen wertvollen Sammelband diverser Frauen- und Mädchengeschichten aus dem echten Leben kreiert. Das gehört in jedes Kinderzimmer. In knappen Texten, die fast alle klassisch mit »Es war einmal…« eröffnen, werden statt Klischee-Märchen Lebensgeschichten erzählt. Diese dürften sowohl Kindern auch als Erwachsenen Inspiration und Mut einflößen. Hierzu gehören besagte Coco Chanel, Schriftstellerin Astrid Lindgren, Michelle Obama und 97 mehr. Jede*s der Mädchen und Frauen wird sowohl textlich als auch künstlerisch porträtiert und so zu einer Gute-Nacht-Heldin. So facettenreich die Protagonistinnen selbst erscheinen, so imponieren auch die mitwirkenden 60 Künstlerinnen aus aller Welt mit ihrem eigenem Stil.

Ein schöner Bonus: Das Kinderbuch wurde 2018 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Wien als Sieger in der Kategorie Junior-Wissensbücher ausgezeichnet.

Einen Einblick ins Kinderbuch gibt’s hier:

Blick ins Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Fazit zu Good Night Stories for Rebel Girls

Ein Hoch auf die mutigen und unerschrockenen Frauen und Mädchen in diesem Kinderbuch (und in der Welt)! Und ein Hoch auf die beiden Autorinnen und die 60 Künstlerinnen. Mit den wahren Geschichten motivieren sie Mädchen, aktiv zu werden und für ihre Werte einzustehen. Dieses Verständnis muss gefördert werden. Denn immer noch herrscht ein veraltetes Rollenbild, das Medien wie Menschen reproduzieren und an den Nachwuchs weitertragen. Die immense Teilnahme an diesem Crowdfunding-Projekt macht deutlich, wie relevant und dringend das Thema Geschlechter-Verständnis ist. Mit ihren echten Märchen vermittelt das Kinderbuch Good Night Stories For Rebel Girls auf kindgemäße Weise ein differenzierteres Bild vom weiblichen Geschlecht. Ich vergebe 10 Sterne.

TitelGood Night Stories for Rebel Girls 
Erscheinungsjahr2017
Autor*in, Illustrator*inElena Favilli (Autorin) 
Francesca Cavallo (Autorin)
VerlagHanser Verlag
Umfang224 Seiten
Altersempfehlungab 12 Jahren
ThemaMut, Gender, Frauenbild

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THEOGONIE von Hesiod, Musenfreund & Frauenfeind | Griechische Mythologie http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/ http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/#respond Sat, 04 Aug 2018 07:00:12 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4626 Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen?…

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Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen? Wenn Hesiod von der Entstehung der Welt erzählt – lange bevor die Bibel geschrieben wurde – dann geht’s zur Sache. Die Theogonie wimmelt vor Göttern, die einander lieben, betrügen, bekriegen, und wilden Fabelwesen, die wie aus einem tierischen Baukasten zusammengesteckt daherfliegen. Manches wirkt geradezu abstrus, anderes kommt uns doch allzu bekannt vor. Ein Blick auf eines der ersten Werke dessen, was wir »Weltliteratur« nennen.

Bericht des Bauern-Dichters

Ein Ausschnitt des Gemäldes The Birth of Venus, dazu ein Buchcover und der Text: Die Theogonie von Hesiod
The Birth of Venus (ca. 1879) von William-Adolphe Bouguereau (hier im Ausschnitt zu sehen) zeigt eine Szene aus der Theogonie von Hesiod. Venus, die Göttin der Liebe, heißt in Griechenland Aphrodite.

Totale: Theogonie im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am Anfang der Weltliteratur stehen – von einem europäischen Standpunkt aus gesehen – zwei Namen, die schon zu Platons Zeiten berühmt waren. Die Rede ist von Hesiod und Homer, zwei Dichter, die vor ungefähr 2700 Jahren lebten. Sie waren diejenigen, die den Griech*innen die Herkunft der zahlreichen Götter lehrten, diesen Namen gaben und ihre Funktionen und Erscheinungen beschrieben. So fasste die Errungenschaft der beiden Dichter bereits Herodot (2, 53) zusammen, Urvater aller Geschichtsschreiber*innen, im 5. Jahrhundert vor Christus (dem Sohn des einzigen Gottes, an den gemäß der heute am weitesten verbreiteten Religion noch zu glauben ist). Ein paar Jahrzehnte nach dem Historiker Herodot urteilte der Heerführer und spätere Herrscher Alexander der Große: Homer sei ein Dichter für Könige gewesen, Hesiod hingegen einer für Bauern. Dinge wie Ehre, Eleganz und Schönheit haben bei Letzterem nicht allzu hohen Stellenwert.

Persönlicher Kontext

Als Sohn eines Bäckers fühle ich mich da eher zu dem Bauern-Dichter hingezogen. Dessen bekannteste Schriften – die Theogonie und Werke und Tage – sind auch viel kürzer, als Homers wuchtige Epen, die Ilias und die Odyssee. Hesiods Schöpfungsgeschichte und sein Lehrgedicht lassen sich in ein paar Mußestunden lesen. Aus diesem schändlich pragmatischen Grund habe ich mich an Hesiod herangetraut. Als Student*in der Geschichte und Philosophie kommt man an diesem frühesten aller Dichter sowieso nicht wirklich vorbei.

Und als römisch-katholisch erzogener Mensch ist es auch mal erfrischend, eine andere Schöpfungsgeschichte als die Genesis der Bibel zu lesen. In Hesiods Version der Weltentstehung, so viel sei versprochen, da gibt’s mehr Action und die krasseren Held*innen. Die Theogonie ist wie ein antikes Avengers-Prequel. Aber: Die Frauenfeindlichkeit, die das Christentum später über Jahrhunderte tradiert hat, die findet sich ebenso bei Hesiod.

Hinweis: Die Theogonie in deutscher Übersetzung und voller Länge findet sich online unter anderem unter www.gottwein.de 

Close-up: Theogonie im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Werkes

Es war einmal, am grünen Hang eines Berges in Griechenland, da lag ein junger Mann im Gras. Um ihn herum weideten die Schafe, die er zu hüten hatte. Das Gebirge hieß und heißt noch heute Helikon. Dort begegneten dem dösenden Hirten die Töchter des Zeus, dem obersten der olympischen Götter und Göttinnen. Diese Töchter waren empört über die Faulheit des Mannes, der da zwischen seinen Schafen lag:

[26] Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche, vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden. 1

Im Auftrag der Musen

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

[53] Diese gebar in Pierien, dem Kronossohn [das ist Zeus] und Vater der Musen in Liebe vereint, Mnemosyne [die Göttin des Gedächtnisses], die an den Hängen des Eleuther waltet; sie schenken Vergessen der Übel und Trost in Sorgen. Neun Nächte nämlich einte sich ihr der Rater Zeus und bestieg fern von den Göttern ihr heiliges Lager; als aber die Zeit kam […], gebar sie neun Mädchen von gleicher Art, deren Herz in der Brust am Gesang hängt und deren Sinn frei von Kummer ist […] 2 

9 Nächte miteinander verbracht, 9 Mädchen gezeugt. Diese bestechende Logik ist laut dem Altphilologen Otto Schönberger in Mythen nicht unüblich: Die Zahl der Kinder entspricht häufig der Zahl der miteinander verbrachten Nächte. Mir persönlich gefällt die Idee, dass die Göttin des Gedächtnisses die Musen hervorbringt, die Schutzgöttinnen der Künste. Denn was will Kunst schon groß anderes, als im Gedächtnis zu bleiben?

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werkes

Doch es ist nicht die Dichtkunst, die mir im Gedächtnis bleibt. Mag daran liegen, dass ich (der ich damals im Griechisch-Unterricht eine Graupe war) Hesiod nicht im Original gelesen habe, Götter bewahret! Erst recht nicht im Gedächtnis bleibt mir, wer wen zeugte. Obwohl die Schöpfungsgeschichte der Theogonie da um einiges spannender ausfällt als in der Bibel – Hesiod unterschlägt auch nicht, dass am Zeugungsakt meist zwei beteiligt sind. Vergleich:

BIBEL, Matthäus 1,2: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte […] 

HESIOD, Theogonie 295: Noch ein unbezwingliches Scheusal gebar Keto, das weder sterblichen Menschen noch ewigen Göttern gleicht, in gewölbter Höhle, die wundersame, mutige Echidna, halb Mädchen mit lebhaften Augen und schönen Wangen, halb Untier, greuliche, riesige Schlange, schillernd und gierig nach Blut im Schoß der heiligen Erde. […] Mit Echidna, heißt es, vereinte sich liebend Typhaon, der furchtbare, ruchlose Frevler, mit dem lebhaft blickenden Mädchen, das von ihm empfing und mutige Kinder gebar. Zuerst gebar sie den Hund Orthos für Geryoneus […]

Na, welche Schöpfungsgeschichte geht mehr ab? Welche würde man eher im Kino sehen wollen? Die Antwort ist ganz klar: NEIN. Einfach nein. Denn Achtung!

Richtigstellung | Ein aufmerksamer Leser hat mich für diesen Vergleich von Schöpfungsgeschichten ob ihrer Coolness gescholten. Zu recht, muss ich kleinlaut beipflichten. Ich wurde der groben Vereinfachung überführt. Ein tückisches Mittel, um unkundige Leser*innen mit plakativen Pseudo-Beispielen ins eigene Lager zu ziehen. Dabei liegt hier wohlgemerkt keine Tücke im heimtückischen Sinne zugrunde: Ich bin schlicht selbst zu unkundig, als dass ich meine (allenfalls geahnte…) Vereinfachung in ihrem ganz Ausmaß bemerkt hätte.

Fakt ist, dass es nicht die eine biblische Schöpfungsgeschichte gibt. Ein kurzer Blick ins Stichwort-Verzeichnis von Bibelwissenschaft.de genügt, um sich der Breite des Schöpfungsthemas bewusst zu werden. Ein längerer Blick in den Artikel Schöpfung AT (von Annette Schellenberg) lässt staunen, wie sich das Thema hinsichtlich Terminologie, Auslegung und kulturellem Standpunkt in all seiner Vielschichtigkeit auffächert – was man bei der jahrhundertlangen Entstehungsgeschichte erwarten sollte. Jener aufmerksame Leser schrieb mir folgende Denkanstöße:

Das Judentum wurde sowohl von den Griechen als auch von den Römern als »Volk von Philosophen« bezeichnet, weil die – nennen wir es – »Volksbildung« recht hoch war. Fachsimpeln war scheinbar Bestandteil der Religionsausübung. Die Geschlechter-Listen (Abraham zeugte Isaak etc.) sind eigentlich gar nicht Teil der Schöpfung. Sie sind Resultat einer Redaktion (siehe Priesterschrift) in der verschiedene mündlich tradierte Erzählkreise in ein Gesamtwerk verpackt werden sollen. Diese langweiligen Verwandtschaftslisten sind also ein »Kit«, um verschiedene viel ältere Geschichten in eine Chronologie zu bringen.

Das Geile ist ja jetzt, dass dem alttestamentarischen Juden diese mesopotamischen, ägyptischen und später hellenistischen Theogonien bekannt waren. Sie waren Teil seines kulturellen Umfeldes. Die wirklich vielfältigen Schöpfungsvorstellungen in der Bibel gewinnen mit der Kenntnis anderer Mythen noch viel mehr an Aussagekraft. Es steckt viel mehr heroic epicness mit Monstern und Helden zwischen den Zeilen, als man heute auf den ersten Blick vermuten mag

Florian Sauret, Nachtwächter der Stadt Bocholt

In diesem Sinne, vielen Dank für das wertvolle Feedback und die vertiefenden Einblicke in ein doch sehr komplexes Thema! Und um auch die Komplexität der Griechischen Mythologe nochmal so übersichtlich und unterhaltsam wie möglich zu vermitteln, gibt’s hier ein wirklich großartig gemachtes Video von Maurus Amstutz, der die Theogonie als Animationsfilm adaptiert hat:

Weil der Mann das Feuer bändigte

Nun denn, wie gesagt, die ungeheuerliche Titanen-Parade aus der Theogonie von Hesiod ist es nicht, die mir in Erinnerung bleibt. Stattdessen prägt sich ins Gedächtnis, wie der antike Dichter schon inbrünstig gegen die Frau wettert. Sie kommt als Strafe des Zeus auf die Erde, dafür, dass der Mensch sich des Feuer bemächtigt hat:

[570] Sogleich schuf er den Menschen für das Feuer ein Unheil. Aus Erde nämlich formte der ruhmreiche Hinkfuß Hephaistos nach dem Plan des Kronossohnes das Bild einer züchtigen Jungfrau. […] Staunen hielt unsterbliche Götter und sterbliche Menschen gebannt, als sie die jähe List erblickten, unwiderstehlich für Menschen. Stammt doch von ihr das Geschlecht der Frauen und Weiber. 3

The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten
The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten

Die Frau als Strafe

Diese unwiderstehliche Jungfrau, die Zeus den Menschen zur Strafe schickte, war Pandora. Jene Pandora, von der sich auch die heute noch sprichwörtliche »Büchse der Pandora« ableitet. Allein, dass die »Büchse« einem Übersetzungsfehler oder Kunstgriff aus der Renaissance zurückgeht. Bei Hesiod schickte Zeus seine tückische Kreation noch mit einem Faß los, zu den Menschen.

[591] Von ihr kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluß. […] Gerade so schuf der hochdonnernde Zeus zum Übel der sterblichen Männer die Frauen, die einig sind im Stiften von Schaden. Auch sandte er ein weiteres Übel zum Ausgleich des Vorteils: Wer die Ehe und schlimmes Schalten der Weiber flieht und nicht freien will, der kommt in ein mißliches Alter, weil es dem Greis an Pflege fehlt. 4

Hesiods Vorbilder

Soll heißen: Man könne weder mit noch ohne die Frauen gut leben. Denn obwohl sie ein beschwerliches Laster seien, bräuchte man sie doch zur Zeugung einer Nachkommenschaft, die den Vater im hohen Alter pflegen kann. Schönberger kommentiert es so: »Die Frau ist die Strafe. Hesiod war (aus Erfahrung?) ein Frauenfeind und will die schlimme, ja vernichtende Rolle der Frau im Leben der Menschen darstellen.«

Es spielt keine Rolle, welche Erfahrungen Hesiod mit einzelnen Frauen gemacht haben mag. Den allgemeinen Frauenhass jedenfalls, den hat der Dichter nicht erfunden. Ebenso wenig wie die meisten der Götter und Göttinnen und einige ihrer Abenteuer, die in der Theogonie geschildert werden. Auch wenn Hesiods Werk eines der ältesten ist, die uns erhalten geblieben sind, hat sich der Dichter im 8. Jahrhundert v. Chr. bereits von einem ganzen Kosmos an Ideen und Geschichten inspirieren lassen können. »Viele Vorbilder«, so bringt Otto Schönberger es auf den Punkt, »dürften uns unbekannt sein.«

Von der Dichtung zur Philosophie

Die Strahlkraft von Hesiods Werk lässt sich schon besser nachweisen. So schreibt man ihm einen Einfluss auf die vorsokratischen Philosophen zu. Indem Hesiod den mythischen Wesen seiner Erzählung die Bezeichnung oder Eigenschaften von Gegebenheiten der Wirklichkeit gab – so verkörpert die Göttin Gaia etwa die Erde – vollzieht Hesiod »einen Schritt von der epischen Dichtung zur Philosophie«, schreibt Schönberger und nennt Hesiod einen »Vorbote[n] spekulativen Denkens« in den »Schranken überlieferter Vorstellungen«.

Hesiod in diesem Vorboten-Sein eine besondere Leistung zuzuschreiben wäre indes, als würde man einen Frosch dafür loben, dass er als Wassertier schon Beine hat. Der Gedankengang von mythischen Wesen über Metaphysik und Erkenntnistheorie hin zur hochtechnologisierten, naturwissenschaftlichen Forschung vollzieht sich in ähnlich evolutionären, ihrem Gewicht unbewussten Einzelschritten, wie der Werdegang vom Meeresbewohner zum Menschenaffen.

Fazit zur Theogonie

Eine kurzweilige Lektüre von hohem, historischem Stellenwert, die gleichermaßen beeindruckend und beschämend ist. Darin steckt viel Wahres darüber, wie sich der Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten die Welt erklärt – zuweilen eben sehr erfindungsreich. Schon Platon kritisiert vieles von Hesiods Dichtung als »unwahre Erzählungen« (Politeia, Abschnitt 40a über Musische Bildung), die den jungen Leuten nicht unbedacht überliefert werden, »sondern am liebsten verschwiegen bleiben« sollten. Das geringschätzige Frauenbild hingegen, das Hesiod vermittelt, hatte Platon ebenso verinnerlicht, wie all die Generationen nach im, zum Teil bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

Apropos Platon: Hier geht’s zu Blogbeiträgen über Platons Ideenlehre und Platons Höhlengleichnis.

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COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/ http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/#respond Tue, 31 Jul 2018 07:00:15 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4530 Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die…

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Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die Modewelt, wobei man über beiderlei Hintergründe ähnlich wenig erfährt: Das ist Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft. Während die Kindheit und Jugend der größten Modeschöpferin des 20. Jahrhunderts in einem Dunkeln liegen, dass Coco selbst nicht aufhellen wollte, ist vieles über ihre ersten Karriere-Schritte in Paris bekannt. Da kommt es nur auf den Fokus an.

Die fabelfreie Welt der Rebellin

Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.

Audrey Tautou als Coco Chanel | Bild: Warner Bros. France

Totale: Coco im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.

Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:

Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)

Persönlicher Kontext

Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.

Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.

Fokus: Coco im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.

Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.

Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.

Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.

Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.

So läuft’s eben nicht

Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:

Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. |  Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)

Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.

Der Trailer zum Film

Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.

Dunkle Seiten

Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)

Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:

Fazit zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft

Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.


Weitere Filmkritiken:

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Freie Trauung oder kirchliche Trauung? | Entscheidung, Planung, Zeremonie http://www.blogvombleiben.de/freie-trauung-kirchliche-trauung/ http://www.blogvombleiben.de/freie-trauung-kirchliche-trauung/#respond Sat, 28 Jul 2018 07:00:17 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4421 Als Kinder aus römisch-katholisch geprägten Familien lernten wir die Ehe als »die normale Verbindung zwischen Frau…

Der Beitrag Freie Trauung oder kirchliche Trauung? | Entscheidung, Planung, Zeremonie erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Als Kinder aus römisch-katholisch geprägten Familien lernten wir die Ehe als »die normale Verbindung zwischen Frau und Mann« kennen. Das, was man ab einem gewissen Alter so macht: Beruf suchen, Heiraten, Kinder kriegen (bestenfalls in dieser Reihenfolge). Als Heranwachsende war uns die »Kein Sex vor der Ehe«-Floskel bekannt, aber da hing nicht die Familienehre dran. Man ahnte als Teenager*in bereits, dass es dabei weniger um Gottes Zorn als einen weltlichen Grund ging. Vermutlich derselbe, aus dem man im Bio-Unterricht Gummi über Bananen zog (obwohl die Kirche was gegen die Gummidinger hat – nicht der einzige Widerspruch zwischen Glaubens- und Lebenswelt junger Menschen im Deutschland um die Jahrtausendwende). Als Erwachsene, die sich schließlich dafür entschieden hatten, Ehepartner zu werden, fragten wir uns schließlich: Kirchliche Trauung oder freie Trauung?

Gemeinsam einen Weg finden

Sonia: In Polen geboren und in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen, habe ich die Etappen Taufe, Kommunion und Firmung zeremoniell und traditionell durchlaufen. Zum Stolz meiner Verwandten. Doch je älter ich wurde und je seltener wir in die Kirche gingen, in der ich Kirchenfenster wie Schäfchen zählte, desto mehr befasste ich mich mit anderen Welt- und Glaubensanschauungen: Reinkarnation, Engel und Lichtwesen. Menschen, die als Medien zwischen den Welten vermitteln. Nahtoderfahrungen verschiedenster Art.

Was am Ende blieb, war der Gedanke, dass wir unter diesem Himmel alle gleichen Ursprungs sind und mit unseren Gedanken, Worten und Taten unser Leben und das unseres Planeten gestalten. Und dass wir nicht unbedingt eine institutionalisierte Religion brauchen, um zu glauben und gut zu sein. Und geht es nicht letztendlich darum, gut zu sein, um am Ende seiner Tage zufrieden zurück und nach vorne zu blicken?

Braut und Bräutigam im Wald, reden über das Thema Freie Trauung

Eine gute Idee, wo auch immer sie steht

David: Was ist denn »gut«? Als im Familiengottesdienst damals vom »guten Gott« erzählt wurde, der das Meer hinter Moses schloss, damit all die bösen Ägypter im Wasser umkamen, da flüsterte mein Paps mir zu, dass er sich da auch nicht ganz sicher sei, ob das »gut« ist. Ich habe auch früh gelernt, nicht unbedingt jedes Wort des Papstes »gut« zu heißen – und das sowas wie das Zölibat nicht »gut«, sondern Tradition war. »Man kann ja nicht alles ändern.« Zumal gewisse Werte der römisch-katholischen Kirche sich ja nicht überholen oder so wichtig und sinnvoll sind, wie eh und je: Nächstenliebe, um das prominenteste Beispiel zu nennen. Immer eine gute Idee.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Das Zitat kommt aus dem Evangelium nach Markus, Neues Testament. Und es kommt aus der Tora, der hebräischen Bibel. Diese hat das Christentum auch für sich übernommen, als Altes Testament, in etwas anderer Anordnung.

Im Islam nennt man die gelebte, soziale Wohltätigkeit Zakat und im Buddhismus hat Karuna als Mitgefühl und Erbarmen eine ähnlich hohen Stellenwert, ist da jedoch nicht an eine Gottesvorstellung geknüpft. Die Verhaltensbiologie beobachtet Moral-ähnliches Verhalten im Übrigen zwar auch bei Tieren, doch in der neuzeitlichen Philosophie appelliert Immanuel Kant explizit an den menschlichen Verstand:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Das finde ich »gut« – ein Maßstab, der in meinem Kopf geschlossen Sinn ergibt. Mit mir selbst als Verantwortung tragende Instanz, ohne Berufung auf ein Höheres Wesen oder etwaigem Aberglauben.

Im Glauben wankelmütig

Sonia: Zugegeben, ich habe einen Hang zum Aberglauben. Auf Holz klopfen, das Brautkleid vor dem Bräutigam verstecken, oder den Rosenkranz meiner Oma bei Prüfungen in der Tasche verstauen. Mach. Ich. Alles. Doch ich mogele, wenn’s mir nicht passt, was ein wenig an meiner Seriosität kratzt. Wenn mein Glaube ein Tier wäre, dann wohl ein Vogel.

Zwei Tauben fliegen gen Himmel

Etwas flatterhaft, aber himmelsnah. In einer Sache aber bin ich umso geerdeter: Dem Universum oder dem Höheren ist es, denke ich, ganz gleich, ob wir am Strand, in der Kirche oder sonst wo und wie heiraten. Solange man seine Liebe so bekennt und besiegelt, wie man es auch meint.

Was ist eine freie Trauung?

So zu heiraten, wie man es meint, das war mir wichtig. Was ist nun, wenn die eigenen Wurzeln nicht mehr ganz zu den Flügeln passen? Um unsere traditionellen Hintergründe und meine spirituellen Einflüsse mit den jeweils individuellen Überzeugungen zu verbinden, entschieden wir uns für die freie Trauung. Was ist das eigentlich?

…aber vorweg: Kleiner Exkurs

David: Wann immer wir in binären Gegensätzen denken, also solchen mit zwei klaren Positionen, da sollten wir hellhörig werden. Wir Menschen. Die Studien des Völker-Forschers Claude Lévi-Strauss haben das menschliche Denken schon vor Jahrzehnten als universell und uniform entlarvt. Überall auf der Welt, egal ob in New York City oder dem Amazonasgebiet, denken die Menschen in Gegensatzpaaren. Sowas wie »heiß – kalt«, »oben – unten«, »hell – dunkel«, soweit, so gut. Weiter: »Natur – Kultur«, »wild – zivilisiert«, »Frau – Mann«, und vielleicht am gewichtigsten: »schlecht – gut«. Denn beim Denken in Gegensatzpaaren geht eine Gewichtung dieser Paare in »gut« oder »schlecht« oft automatisch mit einher, bewusst oder unterbewusst.

Das Eine oder das Andere?

So haben sich Denkweisen, die »Kultur über Natur« oder »Mann über Frau« erhoben, über Jahrhunderte fortgesetzt. Wie auch immer du zur Kirche oder freien Trauung stehst: Wenn du dir das Gegensatzpaar »Kirche – freie Trauung« denkst, findest du vermutlich eines besser, eines schlechter. Ich persönlich assoziere »Kirche« etwa mit einer nicht mehr zeitgemäßen Institution mit arg verbrecherischer Historie (die nicht abgeschlossen ist). Andere assoziieren mit »freie Trauung« ein beliebiges Wunschkonzert, das sich an den schönsten Ritualen der kirchlichen Liturgie bedient und daraus ihr eigenes Ding dreht. Mal abgesehen davon, dass viele Religionen ihre Rituale auch nicht originär selbst erdacht und patentiert haben, liegt ein weiteres Problem mit dem Denken in Gegensatzpaaren darin, dass damit suggeriert wird, es gäbe nur zwei Kategorien.

Oder die Vielfalt?

Gibt es nur »männlich – weiblich« als mögliche Geschlechtsidentitäten? Nein. Es sind nur die einzigen beiden Möglichkeiten, auf die uns unser Hirn und unsere Sprache festlegt, wenn wir nicht daran rütteln. Und ebenso sollte man freie Trauung nicht als das einzig mögliche Gegenstück zur kirchlichen Trauung verstehen. Das Adjektiv »frei« macht es unserem Denken hier immerhin leichter, die eigentliche Vielfalt zu sehen: Eine freie Trauung kann alles sein, was ihr euch wünscht. Auch in Verbundenheit zu einem Gottesbild, wie es in der Bibel beschrieben wird.

Träume wahr werden lassen

Sonia: Eine freie Trauung kann frei nach den Vorstellungen des Brautpaares gestaltet werden. Dabei sind der Zeremonie keine Grenzen gesetzt (außer natürlich denen des Rechtsstaates). Die gute Nachricht an alle Pinterest-Suchtis: Ablauf und Ort der Trauung könnt ihr euch selbst überlegen – mithilfe von tausenden Inspirationen da draußen. Hier eine kleine Pinnwand zur Gestaltung unserer Hochzeit.

Blumen als Hochzeitsdekoration

Dank der freien Trauung konnten wir die standesamtliche (bürokratisch gehaltene) Eheschließung um eine Komponente ergänzen, die weit aus romantischer und feierlicher war. In der Zeremonie bekannten wir im Kreise unserer Lieben und Verwandten unsere Werte, unsere Liebe und Entscheidung füreinander, nach unseren Vorstellungen. Sogar nach meinen Mädchentraum, einmal wie Forrest und Jenny unter freiem Himmel zu heiraten, in der Geborgenheit der Bäume, wurde wahr.

Was kostet eine freie Trauung?

Der Vorteil einer kirchlichen Trauung – rein pragmatisch betrachtet – ist die per se feierliche Kulisse, der romantische Orgelmusikeinsatz, die geringeren Kosten. Für Paare, die sich jedoch weniger mit der Kirche und/oder dem Glauben identifizieren, bedeutet dies eine Trauung unter dem Mantel der Kirche und deren Vorstellungen der Ehe, Familienplanung, Kindererziehung. Hier gibt es deutliche Unterschiede in der katholischen und evangelischen Zeremonie, wobei Letzteres mehr Gestaltungsraum für das Brautpaar bietet.

Ein Wort zu Hochzeitsredner*innen

Die Kosten einer freien Trauung hängen natürlich ganz von der Trauung selbst ab. Dafür müsst ihr euch überlegen, wen und was ihr gerne integrieren möchtet. Der erste Kostenfaktor, der den Kern jeder freien Trauung darstellt, ist der oder die Zeremonienmeister*in respektive freie*r Hochzeitsredner*in. Natürlich gibt es auch die Option, freie Theolog*innen anzufragen, die unabhängig von der Kirche arbeiten und ebenfalls ein Honorar erhalten (hier eine Übersicht freier Theolog*innen).

Wie hoch die Honorare sind, hängt stark von den Redner*innen ab. Diese bieten in der Regel Vorab-Gespräche mit dem Brautpaar an, wo die persönliche Geschichte und die eigenen Vorstellungen kommuniziert werden. Mit Kosten ab 500 Euro sollte man für professionelle Hochzeitsredner*innen wohl rechnen.

Alternativ bietet sich auch die Friends-Variante an: Gibt es einen Menschen, der euch gut kennt und gerne und gut vor Publikum spricht (muss nicht in Soldatenuniform sein)? Dann ab dafür!

Wir hatten das Glück, den Theater- und Film-Schauspieler Jesse Albert in unserem Bekanntenkreis zu haben, der sich gerne bereit erklärte, uns durch die Trauung zu führen. Die Herausforderung bei semiprofessionellen Hochzeitsredner*innen: Den Text zur freien Trauung muss das Brautpaar selbst austüfteln. Wer selten schreibt und textet, kann hier ebenfalls im Bekannten- und Freundeskreis fragen, ob es helfende Hobbyschreiber*innen-Hände gibt? Denn wie gesagt, fragen schadet nicht. Und dann ladet eure Schreiberling-Freund*innen zu einem Essen ein und lasst euer Herz sprechen.

Ort und Austattung

Ein weiterer Kostenfaktor ist die Ausstattung. Je nachdem wie ihr euch trauen lasst und in welcher Location ihr dies vollzieht, könnt ihr auf Stühle, Bänke, Heuballen und vieles mehr zurückgreifen. Unsere Location (die Gaststätte Wintergarten in Bocholt) hatte zum Glück alles parat und übernahm die Aufstellung der Stuhlreihen. Für das Rednerpult stellten wir ein eigenes auf, samt selbst gehäkelter Gardine meiner Großmutter. Als kleinen Hingucker stellte uns die Blumenbinderei Flores für den Flur ein paar schöne Blumentöpfchen auf. Hier liegt es wieder ganz an euch, was ihr euch wünscht.

Freie Trauung im Garten unter freiem Himmel, mit Blumen dekoriert

Freie Trauung mit Gitarrenspiel und Blumendeko

Der musische Rahmen kann auch all denen Tränen in die Augen treiben, die sonst eher keine Miene verziehen. Nicht, dass bei einer Hochzeit geweint werden muss (muss es nicht 😊). Manche Brautpaare lassen sich professionelle Musiker*innen einfliegen, andere über die Anlage ihre Lieblingssongs abspielen, nur Sänger*innen singen oder befreundete Musiker*innen spielen. Hier müsst ihr entsprechend Angebote einholen. Da wir es irgendwie mit Friends haben, freuten wir uns riesig, dass Davids Schwester und ihre Freunde mit Engelstrompeten, Gitarre, Keyboard und Sheeran-Gesangsstimme sowohl den Einzug als auch die Zeremonie in rührende Atmosphäre tauchten.

Wie organsiert man eine freie Trauung?

Nehmt ihr Profis für die freie Trauung in Anspruch (freie Theolog*innen, Hochzeitsredner*innen), müsst ihr nichts weiter tun, als euch ein- bis zweimal mit dieser Person zu treffen und dort alles Wichtige zu besprechen (etwa Symbole, die ihr einsetzen möchtet, eure persönliche Geschichte oder Musikwünsche). Falls ihr euch zutraut, die Zeremonie aus eigener Feder zu verfassen, dann ist es hilfreich, sich zunächst eine kleine »Dramaturgie« zu überlegen. Diese könnte für eine freie Trauung so aussehen:

  • Begrüßung
  • Liebesgeschichte
  • Fürbitten/Wünsche
  • Eheversprechen
  • Ringtausch
  • Abschluss/Glückwünsche

Dann könnt ihr ein paar Kerndaten sammeln, die euch wichtig erscheinen. Bei uns waren es das erste Kennenlernen und die Meilen- und Stolpersteine unserer Freundschaft, aus der im verflixten siebten Jahr mehr wurde. Inhaltlich habt ihr also viel Spielraum, was vielleicht die Krux ist. Um es nicht steif ablesen zu lassen, ist es hilfreich, dem oder der Hochzeitsredner*in nicht Wort für Wort in den Mund zu legen und ihm oder ihr durchaus auch eigene Ideen oder Formulierungen zuzutrauen.

Zittern und Zaubern: Das Eheversprechen

Etwas, das für uns das Highlight war, und weshalb wir so derart nervös waren: unsere beiden Eheversprechen. (Wieder so ein Brauch aus Friends – ja, vielleicht sind wir dieser Sitcom ein bisschen zu sehr erlegen.) Die persönlichen Worte, aneinander gerichtet, vor den Augen und Ohren unserer Liebsten und Nächsten, waren das Herzstück unserer Trauung. Sicherlich nicht jedes Brautpaars Sache. Aber für mich war es der schönste Moment, meine Liebe so offen preiszugeben und zu bekennen.

Ihr allein entscheidet, was ihr euch sagen und versprechen wollt, so dass es auch da kein Richtig oder Falsch gibt. Um keine Peinlichkeiten entstehen zu lassen, haben wir uns abgesprochen, wie lang unsere Versprechen werden sollen. Bei Paaren mit sehr unterschiedlichem Redebedarf eine sinnvolle Angelegenheit. Mein Tipp: Setzt euch hin und schreibt einfach eine Minute darauf los, ohne eine Pause zu machen. Einfach herunterschreiben, welche Gedanken euch gerade durch den Kopf schießen, wenn ihr an euren Partner denkt.

David: Mein Tipp: Das Eheversprechen auf einem Spickzettel in der Trauung bei sich tragen. Mal drauf lünkern heißt ja nicht, dass man vergessen hat, warum man mit dieser Person da gegenüber sein Leben verbringen möchte. Nur, dass einen das Publikum arg nervös macht und die wenigsten Menschen viel Übung darin haben, ein Eheversprechen vorzutragen.

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Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/ http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/#respond Wed, 25 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4288 Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia…

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Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia schaut ein Handyvideo. Sie sitzt auf dem Sofa. Draußen brütet die Hafenstadt Padstow unter der Sonne. Das Sprachwirrwarr der Tourist*innen und das Geschrei der Möwen dringen durchs offene Fenster herein, mit den Sonnenstrahlen. Ich setze mich zu Sonia, in den Schatten der Gardine. Das Video hat eine Freundin bei Facebook geteilt. Fünf Minuten, fast vorbei, Sonia scrollt nochmal auf Anfang. So derart im alltäglichen Zwischendurch begriffen, aus irgendwelchen Gedanken gerissen, entdecken wir das Musikvideo zu Birthplace von Novo Amor. Wie eine Flaschenpost im Meer der Massenmedien. Mit wichtiger Botschaft und doch hoffnungslos verloren im ganzen Müll, der das Netz anfüllt.

Im Rachen des Todes

»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.

Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert? 

Free Diver Michael Board und ein Manta Rochen im Meer, Standbild aus dem Musikvideo Birthplace von Novo Amor

Was kann Kunst schon ausrichten?

Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?

Novo Amor und die Natürlichkeit

Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.

»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.

Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.

Die Nähe zum Visuellen

Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.

Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)

Mehr Plastik als Fische

Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.

Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace

Unsere selbstgemachte Nemesis

Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.

Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.

Die Geburt des Wals

Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.

Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.

Bali: Müll auch zu Lande

Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.

Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:

In aller Ruhe atemlos: Michael Board

Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.

Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace

Blind im Angesicht des Wals

Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:

Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.

Die Lyrics zu Birthplace + deutsche Übersetzung

Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:

Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.

Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.

[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.

Vom Menschen in Bestform

Be at my best, 
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.

Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.

[Refrain]

Here, at my best, it’s all at rest, 
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.


Weitere Links:

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GHOSTLAND, Horror von Pascal Laugier, Set-Unfall | Film 2018 | Kritik, Spoiler http://www.blogvombleiben.de/film-ghostland-2018/ http://www.blogvombleiben.de/film-ghostland-2018/#respond Mon, 09 Jul 2018 07:00:21 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4241 Er hat es wieder getan. Der Franzose Pascal Laugier lebt seit nunmehr 15 Jahren sein Faible…

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Er hat es wieder getan. Der Franzose Pascal Laugier lebt seit nunmehr 15 Jahren sein Faible für Horrorfilme in schöpferischer Funktion aus – als Drehbuchautor und Regisseur. Mit Ghostland findet er beinahe zu der Härte zurück, die ihn mit Martyrs (2008) bekannt gemacht hat. Überschattet wird Laugiers neuer Film allerdings von einem Unfall, der sich beim Dreh ereignete und Schauspielerin Taylor Hickson mit einer Narbe im Gesicht zurücklässt.

Vorfall im Geisterland

Deadline Hollywood spricht von der Ironie, dass das Kinoplakat zum Film Ghostland das Gesicht einer jungen Frau wie von Scherben zerschmettert zeigt. Die Anklageschrift spricht von mangelnden Industriestandards und wirft der Produktionsfirma vor, die Schauspielerin Taylor Hickson in eine absehbar gefährliche Situation gebracht hat. Regisseur Pascal Laugier wird indes in dieser Anklageschrift nicht erwähnt, obwohl er bei dem Unfall eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint. Mehr dazu im Absatz »Set-Unfall mit Taylor Hickson«.

Zum Inhalt: Eine Mutter und ihre zwei Töchter beziehen das Haus einer verstorbenen Verwandten. Doch schon in der ersten Nacht werden sie in dem düsteren Anwesen von üblen Gewaltverbrechern attackiert, die das Leben der Frauen grundlegend verändern.

Hinweis: Dieser Text enthält Spoiler zu allen Filmen von Pascal Laugier, aber nur im Absatz »Misogynistischer Folter-Porno?«, bis dahin, schönes Lesen! Eine weitere Rezension zu Ghostland, mehr auf den Inhalt als auf den Kontext bezogen, habe ich für kinofilmwelt.de geschrieben.

Zwei Mädchen flüchten Hand in Hand in einen Wald, Standbild aus dem Film Ghostland | Bild: Mars Films

Totale: Ghostland im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Pascal Laugiers erster Film (Haus der Stimmen) handelte von einer jungen Frau, die sich in ein spukendes Waisenhaus zurückzieht, um in aller Heimlichkeit ihr Kind auf die Welt zu bringen. Laugiers zweiter Film (Martyrs) erzählte die Geschichte von zwei jungen Frauen, die im Rahmen eines Racheakts eine ganze Familie hinrichten, ehe sie selbst bluten müssen. Sein dritter Film (The Tall Man) handelte von einer jungen Frau in einer Stadt, in der Kinder von einem »großen Mann« entführt werden – ein sehr (eher: zu) wendungsreicher Wannabe-Polit-Thriller mit Horrorelementen.

Im vierten Film sind nun zwei Frauen (mal als Jugendliche, mal als Erwachsene, also vier Schauspielerinnen) der rohen Brutalität zweier Gewaltverbrecher ausgesetzt. Es verwundert nicht, dass Filmkritikerin Antje Wessels den Regisseur bei einem Interview im April 2018 also auf seine Wahl immerzu weiblicher Hauptfiguren angesprochen hat. Und er so:

Für mich sind Mädchen »das große Andere«. Sie sind alles, was ich niemals sein werde. Und ein paar Wochen auf einem Set zu verbringen und Schönheiten, ich meine, Gesichter zu filmen, die mich faszinieren – auch das ist für mich ein Grund, Filme zu machen. Vielleicht war ich in der Schule einer der von den Mädchen zurückgewiesenen Jungs – und ich mache Filme, um geübt darin zu werden, ihnen zu gefallen. Um ihnen zu zeigen, dass ich selbst ein liebenswerter Typ bin.

Pascal Laugier im YouTube-Interview mit Filmkritikerin Antje Wessels

Ich persönlich finde, der heute 46-jährige Pascal Laugier hat sich nicht das beste Genre ausgesucht, um den »girls« zu gefallen. Aber hey, wo die Liebe hinfällt… und dass seine Liebe dem Horror-Genre gilt, das hat der Mann ja nun auf vierfache, sehr unterschiedliche Weise in Spielfilmlänge unter Beweis gestellt. Dabei ist sein Œu­v­re von solch wechselhafter Qualität, dass ich dem Herrn Laugier aktuell keine Träne nachweinen täte, wenn er sich vom Regiestuhl wieder aufs heimische Sofa begäbe.

In einem Abgesang über den »Retro-Wahn des Gegenwartskinos« schreibt Georg Sesslen (DIE ZEIT, N° 31, 26. Juli 2018) anlässlich des Remake von Papillon über ein »System der Selbstreferenz«.

Die Filme beziehen sich nicht mehr auf eine Art von äußerer Wirklichkeit, sondern auf andere Filme und andere Ereignisse innerhalb der Popkultur. Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht auf das Leben ihrer Konsumenten beziehen würden, dann das besteht ja in der Regel zur Hälfte aus Popkultur-Konsum.

Dabei habe ich (nach kurzer Empörung: Wie herablassend schreibt dieser Typ bitte über mein Leben!?) an Ghostland denken müssen. Wie viele Zeilen, Szenen, Kulissen, Ideen, ja ganze Versatzstücke dieses Films sind (bewusst oder unbewusst) nicht Referenzen an etwaige namhafte Vertreter*innen der Horror-Genres? Tobe Hooper und Rob Zombie als nur prominenteste Beispiele.

Noch vor dem ersten Bild serviert Ghostland bereits die erste Referenz in aller Deutlichkeit, eine, die sich durch den gesamten Film zieht. Der Streifen fängt mit einem Zitat an.

Close-up: Ghostland im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Zu Beginn des Films Ghostland sehen wir einen Schwarzweiß-Porträt des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft (1890-1937). Darunter – in Schreibmaschinen-Lettern getippt, erscheint die Zeile:

Freakin‘ awesome horror writer. The best. By far. | Elizabeth Keller

Wie aus der Zeit gefallen: Ein schwarz gekleideter Junge mit einem Hut rennt über einen Acker. Hin zu einer Straße, auf der gerade ein Wagen vorbeifährt. Mitten auf der Straße bleibt der Junge stehen und schaut dem Wagen nach. Aus dem Wagen, von der Rückbank aus, begegnet ein Mädchen (Taylor Hickson) seinem Blick. Ihre Schwester (Emilia Jones), auf dem Beifahrersitz, liest derweil eine selbst geschriebene Grusel-Geschichte vor. Anschließend wird sie von ihrer Mutter, am Steuer, für die Geschichte gefeiert und von ihrer Schwester beleidigt. Typisches Familiengezanke also, bis sich ein wild hupender Candy Truck von hinten nähert und den Wagen überholt.

Im Truck sieht man nur zwei dunkle Silhouetten, die den irritierten Frauen zuwinken. Spooky shit. Dann zieht der Wagen vorbei und der Titel erscheint: Incident in a Ghostland (der etwas längere, alternative Titel des Films)

An einer Tanke kauft die schriftstellerisch ambitionierte Tochter etwas zu knabbern. Draußen fährt jener Candy Truck vorbei, gruselig langsam, das Licht in der Tanke flackert, als hätte der Sicherungskasten Angst bekommen. Besagte Tochter wirft einen Blick auf die Titelseite einer Zeitung, die da rumliegt: »Familien-Killer schlagen zum fünften Mal zu!« (wenn man später erlebt, wie auffällig und unvorsichtig diese Killer unterwegs sind… dann muss man sich schon sehr wundern: Wie genau hat die Polizei denn bisher versucht, sie aufzuhalten?)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

All die üblen Vorzeichen führen rascher als gedacht zur Konfrontation zwischen den Familien-Killern und der Familie. Dabei geht es brutal zur Sache. Die Gewalt-Eskalation zum Auftakt des Films ist derartig heftig in Szene gesetzt, dass sich schon hier die Spreu vom Weizen trennen wird: die Zuschauer*innen, die solche Filme lieber meiden, und diejenigen, die bleiben. Letztere bekommen einen Film zu sehen, der handwerklich sehr gut gemacht ist. Vieles, was an Pascal Laugiers vorausgegangenem Werk The Tall Man mies war (die Computer-Effekte, die unglaubwürdigen Twists, die politische Message) fallen weg. Stattdessen: Absolut solides Genre-Kino, dass zur Entspannung zwischen den Gewalt-Exzessen gekonnt Zeit- und Wirklichkeits-Ebenen wechselt. Samt Cameo-Auftritt von H. P. Lovecraft.

Die Kritik zum Film fällt sehr gemischt aus (siehe: englischer Wikipedia-Beitrag). Manch Filmrezensent*innen schlagen mit ihrem Lob ein bisschen über die Stränge. So schreibt Simon Abrams (The Village Voice):

[Ghostland] ist eine verstörende, effektvolle Kritik an misogynistischen Folter-Pornos. […] Der Film mag zuweilen daherkommen wir ein blutrünstiger Slasher-Klon, aber Laugiers gefolterte Mädchen erweisen sich immer wieder stärker als ihre brutal entstellten Körper.

Misogynistischer Folter-Porno? (Achtung, Spoiler!)

In Haus der Stimmen stirbt die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen im Arm. Im Laufe von Martyrs schlitzt sich die eine Hauptfigur selbst auf, die andere wird gehäutet – und stirbt elendig. Am Ende von The Tall Man wird die weibliche Hauptfigur auf Lebenszeit weggesperrt, nachdem man ihr die Scherben aus dem Gesicht gepickt hat. In Ghostland, das stimmt, da überleben die beiden Mädchen die schier endlosen Gewalt-Attacken in den vorausgegangenen anderthalb Stunden.

Man kann nicht behaupten, ein Film sei nicht misogynistisch oder gar feministisch, nur weil die weiblichen Protagonistinnen am Ende irgendwie mit dem Leben davon kommen. Ghostland ist ein Folter-Porno, der Misogynisten gefallen wird. Ebenso, wie Der Soldat James Ryan kein Antikriegsfilm, sondern ein Kriegsfilm ist, der all denen gefällt, die Lust auf Kriegs-Action haben.

[Die Gewalt] dient als Mittel zum Zweck, um Zuschauer*innen daran zu erinnern, dass Traumata die menschliche Psyche schädigen können. Doch darüber hinaus scheint Ghostland nichts zu sagen zu haben. Der Mittel zum Zweck führt zu keinem tieferen Sinn oder einer größeren Idee, so dass die Unmenschlichkeit sich wirklich lohnt. Die Story ist zu hauchdünn, um zu rechtfertigen, was ihre Charaktere durchleben müssen. Dadurch wirkt die Gewalt als Ziel gesetzt und misogynistisch.

Day Ebaben (BloodyDisgusting), aus dem Englischen übersetzt

Das Kunstschaffen von Pascal Laugier

Pascal Laugier wurde am 16. Oktober 1971 geboren. Er begann seine Karriere als Assistent des Regisseurs und Filmproduzenten Christophe Gans (Silent Hill, Die Schöne und das Biest). So drehte Laugier zu dessen Pakt der Wölfe (2001) mit Vincent Cassel eine Making-of-Dokumentation (und er trat selbst in dem Film auf).

Später schrieb und inszenierte Pascal Laugier nach seinem Debüt Haus der Stimmen (2004) den Horror-Schocker Martyrs (2008), seit dem er dem New French Extremism zugeordnet wird. Das Gewalt-Spektakel brachte dem Regisseur einige Kontakte in Hollywood ein, wo er nach eigenen Aussagen, »drei oder vier verschiedene Projekte« unterzeichnete. Eines davon war ein Remake zu dem Horror-Klassiker Hellraiser (1987), von dem er jedoch wieder zurücktrat (oder zurückgetreten wurde). Hier ist Laugiers Sicht der Dinge:

Ich hatte das Gefühl, dass die Produzenten hinter dem neuen Hellraiser keinen wirklich seriösen Film machen wollten. Nun, für mich wäre ein neuer Hellraiser vor allem ein Film über die SadoMaso-Schwulen-Kultur, weil es von einem homosexuellen Begehren herrührt – und Hellraiser handelt von solchen Dingen. Ich wollte nicht die ursprüngliche Version von Clive Barker [Hellraiser-Schöpfer] betrügen.

Pascal Laugier im Interview mit Ambush Bug (AICN)

Die Produzenten hingegen seien eher an einem kommerziell erfolgreichen Remake für Teenager*innen als Zielgruppe interessiert gewesen. Statt eines Hellraiser-Remakes drehte Laugier stattdessen den Mystery-Thriller The Tall Man (2012). Im Jahr 2015 inszenierte außerdem er das Musikvideo zu City Of Love über gefallene (gruselig ausschauende) Engel und die Faszination für den menschlichen Körper. Die französische Popsängerin und Schauspielerin Mylène Farmer, die City Of Love sang, übernahm 6 Jahre nach Pascal Laugiers letztem Spielfilm die Rolle der Mutter in Ghostland. (Die lange Dauer zwischen seinen Projekten schreibt er Finanzierungsschwierigkeiten zu.)

Set-Unfall mit Taylor Hickson

Nun ist für einen Star für Mylène Farmer dieser Film nur eines von vielen Werken in einer langen Karriere. Für die meisten Cast- und Crew-Mitglieder*innen und Zuschauer*innen wird Ghostlandnur ein weiterer Horror-Film sein. Einer, der manchen mehr, manchen weniger gefällt, aber kaum das Zeug hat, lange von sich reden zu machen.

Allein für Schauspielerin Taylor Hickson stellt dieser Film eine Zäsur dar. Ein Schnitt, der ihr Leben in ein »Davor« und »Danach« unterteilt. Grund ist eine Szene, in der Hickson gegen eine Glastür hämmern sollte, härter, wie es der Regisseur Pascal Laugier wollte, so hart, bis das Glas brach und die junge Frau hindurch fiel. Dabei schlitzte eine Scherbe ihr Gesicht so sehr auf, dass Taylor Hickson mit 70 Stichen genäht werden musste. Die Narbe wird die Schauspielerin für den Rest ihres Lebens im Gesicht tragen. Zitat des Regisseurs:

Manchmal war ich der Bösewicht am Set. Die Crew verhielt sich sehr beschützend gegenüber den Schauspielerinnen und ich musste sie davon abhalten. Ich wollte, dass sich die Schauspielerinnen einsam und sozusagen miserabel fühlen – damit sie fähig waren, das darzustellen, was das Skript abverlangte. Also, yeah, hin und wieder fühlte ich mich wie der Bösewicht, aber die einzige Sache, woran ich dabei dachte, war der finale Film.

Pascal Laugier im Interview mit Darren Rae (Review Graveyard), 17. März 2009

Nie wieder mit Laugier

Dieses Zitat bezieht sich gar nicht auf Ghostland. Sondern auf Martyrs, dem anderen Gewalt-Schocker, den Laugier 10 Jahre zuvor gedreht hat. Als die Schauspielerinnen aus dem Film damals, Morjana Alaoui und Mylène Jampanoï, ein Interview gaben, kam dieser Gesprächsfetzen zustande (aus dem Englischen übersetzt):

Rob Carnevale (Indie London): Pascal scheint ein wirklicher netter, sanfter Typ zu sein… wie war er als Regisseur? MJ: Das ist nicht wahr… MA: Er hat eine sehr sanfte Seite und eine sehr gewaltsame Seite. Er hätte diesen Film nicht gemacht, wenn es diese gewaltsame Seite nicht gäbe. Und ich denke, dass er eine sehr gewaltsame Haltung gegenüber der Welt hat. RC: Würdet ihr wieder mit ihm arbeiten? MJ: Niemals! [Lacht.] MA: Ich ebenfalls nicht. MJ: Kann ich noch sagen, dass wir uns zwar darüber beschwert haben, aber das wir trotzdem eine exzellente Zeit dort hatten? Und auf professioneller Ebene, als Schauspielerinnen, haben wir viel über uns gelernt.

Fazit zu Ghostland

Horrorfilme sind heute, was öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter waren: Ein Spektakel für Menschen, die von Gewalt fasziniert sieht (mich eingeschlossen). Und so wie Henker*innen damals sicher eine »gewaltsame Seite« hatten, haben sie heute Filmemacher*innen. Indem sie ihre Gewaltfantasien inszenieren und damit die Gewaltfantasien etlicher Anderer bedienen, schaffen sie ein Ventil für sadistischen Voyeurismus. Oder sie fördern ihn damit nur, so kann man es auch sehen. Ich persönliche gehöre eher der ersteren Meinung an. Doch mir graut es bei einem Regisseur, der sein filmisches Ergebnis höher wertet, als das Wohlbefinden aller Beteiligten.

Erst recht, wenn die Story derart dünn ist. Auch die Charaktere des Films bleiben substanzlos. Bloße Täter-/Opfer-Schablonen, wie man sie aus x-beliebigen Horrorfilmen kennt, die man sieht und wieder vergisst. Da warte ich doch lieber auf das nächste Werk des Meisters popkultureller Referenzen, zuweilen gar mit Wirklichkeitsbezug: Quentin Tarantino. Dessen nächster Streich soll vom mörderischen Treiben der Manson-Familie handeln.

Weitere Filmtipps:

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HERR ANDERS von Eva Schatz, Stefanie Reich | Kinderbuch 2011 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-herr-anders-2011/ http://www.blogvombleiben.de/buch-herr-anders-2011/#respond Sun, 08 Jul 2018 07:00:48 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4209 Ein Kinderbuch über die Schwierigkeiten bei der Partnersuche. Ist das überhaupt kindgemäß? Was sich zunächst befremdlich…

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Ein Kinderbuch über die Schwierigkeiten bei der Partnersuche. Ist das überhaupt kindgemäß? Was sich zunächst befremdlich anhört, meistern Eva Schatz und Stefanie Reich. In ihrem Bilderbuch Herr Anders geht es vor allem ums Anderssein. 

Herr Anders sucht eine Freundin 

Bloggerin Sonia Lensing hält das Kinderbuch hoch: Herr Anders von Eva Schatz und Stefanie Reich

Wenn man sein Frühstücksbrot am liebsten mit Erdnussbutter, Marmelade, Käse und Pizzatomaten isst, dann isst man anders als das gemeine Volk. Was sich David genüsslich auf der Zunge zergehen lässt, erfreut nicht immer meine Geschmacksknospen. Allerdings bin ich mit meiner euphorischen Liebe für Bäume und meinem Hang zum Babyhumor (wo ist das Vöglein?) auch etwas eigen. Das Bilderbuch Herr Anders zeigt Klein und Groß, worauf es ankommt: Solange man gemeinsam im gleichen Schritt aus der Reihe tanzt, spielt das Anderssein keine Rolle.

Zum Inhalt: Der Protagonist der Autorin Eva Schatz, gezeichnet von Illustratorin Stefanie Reich, ist ein seltsamer Kerl. Dass er wie Spongebob mit einer Schnecke zusammenlebt, erscheint noch als normalstes. Tatsächlich erinnern mich rückblickend einige Eigenarten von Herrn Anders an den berühmten Gegenteiltag aus der Serie Spongebob Schwammkopf. So schwimmt die Hauptfigur des Bilderbuchs stets gegen den Strom, wenn sie beispielsweise bei eingetretener Müdigkeit aus dem Bett springt oder sich seine Hose über den Kopf zieht.  

Er steigt in seinen Pullover, die Hose kommt über den Kopf. Nach einer heißen Himbeersirupdusche kann der Tag beginnen!

Diese alberne, unlogische Art von Witz ist der Stoff, der mein inneres Kind erheitert. Doch auch, wenn das Buch visuell wie inhaltlich humoristisch aufgezogen ist, geht es nicht immer lustig zu. Obwohl Herr Anderes ein grundsätzlich zufriedener Mensch ist, der es sich in seinem Leben schön macht, ist sein Herz ein wenig bedrückt. Was Herrn Anders fehlt, ist eine Partnerin, eine Gleichgesinnte, mit der er sein verrücktes Glück teilen und somit vergrößern möchte. Doch alle Damen, die Herr Anders kennenlernt, verstehen ihn nicht. Zum Glück stolpert er eines Tages über Frau Anders.   

Zur Wirkung des Buches

Das Bilderbuch von Eva Schatz erschien 2011 im Tulipan Verlag, der damit wirbt, besondere Kinderbücher zu verlegen. Mit Herr Anders bestätigt sich dieser Anspruch jedenfalls. Durch seine Originalität in der Figurencharakteristik und Visualität ist das Werk schon jetzt eines meiner diesjährigen Lieblingsbücher, die ich per Zufall in der Stadtbibliothek gefunden habe.  

Ein etwas anderes Motiv in der Kinderliteratur  

Obwohl es sich um ein Kinderbuch ab 4 Jahren handelt, adressiert die Geschichte mit seinem Motiv der Partnersuche auch die Erwachsenenwelt. Das entlockt den Vorleser*innen das eine oder andere Schmunzeln. Mit seinen unglücklichen Verabredungen, der aufkeimenden Hoffnung und niederschmetternden Ablehnung, die Herrn Anders abermals widerfährt, greift die Autorin ein universelles Thema auf, das sich gegenwärtig immer mehr in der virtuellen Welt abspielt. Wieso das Sujet, einen Freund fürs Leben zu finden, also nicht auch kindgerecht aufarbeiten? Dieses Vorhaben gelingt Eva Schatz mit der Leipziger Illustratorin Stefanie Reich, die für etliche Verlage tätig ist, mit Bravour.  

Man selbst bleiben

Die fehlende Wellenlänge zu den potentiellen Herzdamen und die achterbahnmäßigen Gefühle von Herrn Anders werden kindgemäß und mit ausdrucksstarker Mimik dargestellt. Auch, wenn sich Herr Anders besonders viel Mühe für die Damen gibt, bleibt sich die Figur in ihrem Wesen treu. Ein Vorbild für die kleinen und großen Leser*innen. Die Botschaft, immer man selbst zu sein, wird den Kindern und Erwachsenen in der Person von Herrn Anders liebevoll nahegelegt. Denn dass wir uns zeitweise sogar verbiegen, nur damit wir nicht alleine sind, ist kein seltenes Phänomen unserer Gesellschaft. Umso wichtiger, dass die Kernbotschaft des Bilderbuchs so weise und spielerisch für die Kinderperspektive vermittelt wird. 

Randnotiz: Hier geht’s zur Rezension von der Buchhexe zu Herr Anders.

Mit dem dritten und zuletzt veröffentlichten Kinderbuch der Autorin Eva Schatz ist ein Werk entstanden, das sich trotz kinderlebensferner Thematik als kindgemäße Story eignet. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Skurrilität der Geschichte die Fantasie der Kinder anregt und die vielen, verspielten und witzigen Illustrationen von Stefanie Reich im Comic-Stil den Text ideal ergänzen. Die Figuren sind so liebevoll und ausdrucksstark gezeichnet, dass sie bereits auf deren markanten Charakter deuten. Durch einfache Formen und farbenfrohe Panoramabilder und ganzseitige Bilder bleibt viel zu entdecken, ohne das Kind zu überfordern.   

Dies gilt auch für den Textanteil in dem Buch, der reduziert und verständlich gehalten ist und ab und an mit Neuwortschöpfungen amüsiert. Vom Textumfang und Stil ist das Buch deshalb auch ideal für Leseanfänger. Zudem gelingt es der Autorin, trotz untypischem Thema, eine liebenswürdige und spannende Figur zu kreieren, die selbst noch so viel Kindliches in sich trägt, dass man Herrn Anders auf seiner Suche begleiten möchte und ihm die richtige, verrückte Partnerin wünscht, die ihn so liebt und annimmt wie er ist.  

Fazit zum Bilderbuch Herr Anders

Das Bilderbuch Herr Anders von Eva Schatz und Stefanie Reich ist ein unterhaltsames, etwas durchgeknalltes, fantasievolles und weises Buch. Es macht sowohl Kindern als auch Erwachsenen Spaß. Ein Wohlfühlbuch, das Mut macht, zu sich zu stehen und auch mal rigoros anders zu sein. Dafür gibt es 9 Sterne.


Weitere Kinderbuch-Kritiken:

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ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich http://www.blogvombleiben.de/filme-romeo-und-julia-1968-1996-2013/ http://www.blogvombleiben.de/filme-romeo-und-julia-1968-1996-2013/#respond Wed, 04 Jul 2018 07:00:50 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4118 Ist das Drehbuch nur gut genug, dann kann der Film nicht so schlecht werden. Das hat…

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Ist das Drehbuch nur gut genug, dann kann der Film nicht so schlecht werden. Das hat schon Alfred Hitchcock gepredigt: Drehbuch, Drehbuch, Drehbuch, die drei wichtigsten Dinge für einen Kracher-Film! Nehmen wir mal Romeo und Julia, ein Bühnenstück, das William Shakespeare vor über 400 Jahren ja schon beinahe in Drehbuch-Form niedergeschrieben hat. Im Folgenden geht’s um drei Filmadaptionen, die den Zeilen des Originals mehr oder weniger treu geblieben sind. Trotzdem wurden sie völlig unterschiedlich aufgenommen – von großer Bewunderung bis zum ultimativen Zerriss.

Was hätte Shakespeare getan?

Normalerweise schreibe ich zunächst eine kleine Inhaltsangabe zu der Geschichte, um die es geht, und/oder einen Hinweis, ob im nachfolgenden Text Spoiler enthalten sind. Das kann man sich bei Romeo und Julia getrost schenken, da der große Meister einem beides abnimmt: Im Prolog (der in jeder hier aufgeführten Filmadaptionen mehr oder weniger getreu zitiert wird) fasst William Shakespeare sein Stück zusammen und haut dabei selbst die dicksten Spoiler raus! Die Zeichnerin Mya L. Gosling (von Good Tickle Brain) hat diesem fragwürdigen Auftakt mal einem Comic gewidmet:

Der Prolog zu Romeo und Julia als Comic von Mya L. Gosling (Good Tickle Brain)

In diesem Sinne werde ich im Folgenden nicht en detail auf die Story eingehen. Die könnte ohnehin nicht besser zusammengefasst werden, als in dem Video Romeo und Julia to go (Shakespeare in 11,5 Minuten) von Michael Sommer.

Totale: Romeo und Julia im Zusammenhang

Historischer Kontext

William Shakespeare schrieb Romeo und Julia Ende des 16. Jahrhunderts, unter anderem unmittelbar inspiriert und beeinflusst von Arthurs Brookes Epos The Tragical History of Romeus and Juliet (1562). Ein fiktives Liebespaar mit diesen Namen geisterte längst durch die Werke europäischer Literaten – und das Motiv zweier tragisch Verliebter an sich ist natürlich noch viel, viel älter. Schon Hero und Leander, zwei Gestalten der griechischen Mythologie, mussten ihre glühende Liebe mit dem Leben bezahlen… kurzum: Bereits Shakespeare erfand das Rad nicht neu. Doch er schrieb eine sehr runde Version von Romeo und Julia, vom Arrangement der Szenen bis zur Sprache der Protagonisten, dazu starke Dialoge und nicht wenig Humor – ein Meisterwerk war geboren!

So wilde Freude nimmt ein wildes Ende,
Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu’r und Pulver
Im Kusse sich verzehrt. Die Süßigkeit
Des Honigs widert durch ihr Übermaß… | Lorenzo in Romeo und Julia (hier online zu lesen)

3 von über 30 Filmen

Apropos Übermaß: Kaum wurde rund 300 Jahre nach Shakespeares Tragödie das Kino erfunden, gaben sich Romeo und Julia als Filmpaar die Ehre. Von einem Kurzfilm im Jahr 1908 (der heute als verschollen gilt) bis in die Gegenwart zählt die Liste von Filmen basierend auf Romeo und Julia weit über 30 Werke. Hier wollen wir uns nur drei der populärsten oder jüngsten Verfilmungen annehmen:

  • Romeo und Julia (1968) mit Leonard Whiting und Olivia Hussey
  • William Shakespeares Romeo + Julia (1997) mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes
  • Romeo und Julia (2013) mit Douglas Booth und Hailee Steinfeld

Persönlicher Kontext

In der Schule habe ich das Stück tatsächlich nicht gelesen. Stattdessen sah ich vor kurzem erst aus einer Laune heraus bei Netflix die Adaption von Baz Luhrmann und dachte, huch, so ein flippiges Spektakel im MTV-Look, DAS ist also Romeo und Julia, diese uralte Romanze, um die ich mich bis dato herumgedrückt habe? Mein Weltbild stand Kopf. Also las ich dann doch mal die Tragödie und sah mir zwei weitere Filme an, um wieder auf mein Leben klarzukommen. Nun haben wir schon Sommer 2018 und ich kann endlich mitreden, wenn es um das große Schmachten am Balkon geht. Jetzt, da die wohl wichtigste Verfilmung des Stoffs genau 50 Jahre her ist.

Olivia Hussey, Harold Perrineau, Jr. und Douglas Booth, je Schauspieler in Adaptionen von Romeo und Julia | Bild: Twenieth Century Fox
Die Schauspielerin Olivia Hussey und ihre Kollegen Harold Perrineau, Jr. und Douglas Booth. | Bild: Twenieth Century Fox

Close-up: Romeo und Julia im Fokus

Nackte Brüste und brüske Kritiker

1968 wurde Romeo und Julia erstmals mit jugendlichen Schauspielern in den Hauptrollen umgesetzt. In Shakespeares Stück sind die beiden Verliebten zwischen 13 und 14 Jahren alt. Arg jung aus heutiger Sicht, wenn man an die Leben-und-Tod-Duelle und das Hals-über-Kopf-Heiraten denkt. Als der Regisseur Franco Zeffirelli im Rahmen einer weltweiten Suche nach unbekannten Jungdarsteller*innen fündig wurde, waren Leonard Whiting 17 und Olivia Hussey 15 Jahre alt. Trotz Husseys Minderjährigkeit enthält der Film eine Szene, in der das Paar nackt im Bett liegt (nicht: rummacht, wohlgemerkt!) und für einen Moment Julias Brüste zu sehen sind. »Soft Porn«, pönte darüber ein Pastor der amerikanischen Grace Christian Fellowship und forderte eine Kürzung des Films, der im Englischunterricht seiner Gemeinde behandelt wurde. Zeffirellis Reaktion darauf:

Wenn er in ein Museum kommt, dreht sich dieser Mann auch von Aktgemälden weg? […] Ich weiß nicht, wie jemand Anstoß an dieser Szene nehmen könnte! | Franco Zefferelli, in: Pitch Weekly (März 1999)

Die Kirche störte sich wohlgemerkt offenbar mehr an der Nacktheit an sich, als am Alter der Jugendlichen. Apropos: Hier ein Filmtipp zu Spotlight (2015) über den Missbrauchs-Skandal in der römisch-katholischen Kirche in Boston.

Romeo und Julia im Interview

Aufgrund der amerikanischen Gesetzeslage war es Olivia Hussey wegen der Nacktszene nicht erlaubt, ihren Film in amerikanischen Kinos zu sehen. Der Jugendschutz hat sie vor dem Anblick ihrer eigenen Brüste bewahrt, well done, Amerika. Auf diesen absurden Umstand wurde die (dann 16-jährige) Hussey bei einem Interview im Veröffentlichungsjahr des Films – 1968 – angesprochen. Hier der entsprechende Ausschnitt aus dem Interview, während dem sie ganz entspannt ihre Zigarette raucht. Hach ja, andere Zeiten…

Knarren, Karren, Karneval – Shakespeare, bunt und queer

1997 nahm sich Baz Luhrmann des Stoffes an und inszenierte ihn in einer Art und Weise, die für ihn bald zum Markenzeichen werden sollte: bunt und schrill, Theater für die Leinwand. Sein Romeo + Julia gilt inzwischen als zweiter Teil seiner Roter-Vorhang-Trilogy / Red-Curtain-Trilogy, zusammen mit Strictly Ballroom (1992) und Moulin Rouge (2001).

Luhrmann behält die Sprache Shakespeare bei, verpackt dessen Stück jedoch in neuem Gewand, mit Knarren statt Schwertern in einer Mafia-Stadt der Gegenwart. Kluger Schachzug – verbietet sich damit doch jeder Vergleich mit der meisterlichen Adaption von 1968.

Was ich mit Romeo + Julia machen wollte, war einen Blick darauf zu werfen, auf welche Weise Shakespeare selbst einen Film aus einem seiner Stücke gemacht hätte, wenn er Regisseur gewesen wäre. Wie hätte er es angestellt? […] Wir wissen vom elisabethanischen Theater und dass er für 3.000 betrunkenen Zuschauer*innen gespielt hat, vom Straßenkehrer bis zur Königin von England – und seine Konkurrenz waren Bärenjagd und Prostitution. […] Er war also ein unermüdlicher Entertainer und Anwender unglaublicher Techniken und theatralischer Tricks. […] | Baz Luhrmann im Interview (19. Dezember 1996)

Der wohl interessanteste Charakter in Baz Luhrmanns Adaption ist aber weder Romeo (gespielt von Leonardo DiCaprio) noch Julia (Claire Danes), sondern Romeos Freund Mercutio (Harold Perrineau, Jr.). Der Wissenschaftler Anthony Johae schreibt:

Das Gegenteil von Liebe

Mercutio, die Drag-Queen, wird [während des Karnevals] »gekrönt« mit einer Frauenperücke und in ein weißes Kleid gehüllt. Außerhalb [des Karnevals] in der wirklichen Welt bacchalanischer Exzesse, da ist er ein schwarzer Mann, der weder zum hispanischen Haus der Capulets noch zum kaukasischen Haus der Montagues passt. Er wäre ein Außenseiter, wenn er nicht (platonisch oder anders) mit Romeo befreundet wäre.

Ist diese Freundschaft homoerotischer Natur? Einen Hinweis darauf bespricht Blogger*in lilymargaretjones in einem Beitrag über Mercutios Darstellung als queer in Luhrmanns Adaption. Es geht um die Szene, in der Tybalt gegenüber Romeo und Mercutio eine sexuelle Beziehung zwischen eben diesen beiden andeutet und Mercutio daraufhin erbost sein »Schwert« zieht. (Eigentlich eine Schusswaffe, doch die phallische Wortwahl bleibt bestehen).

Da das Gegenteil von Liebe nicht Hass sondern Gleichgültigkeit ist, könnte Mercutio’s empfindliche und defensive Reaktion auf den Vorwurf der Homosexualität andeuten, dass er selbst schwul ist.

Abgesehen davon: Interessant ist nicht nur Mercutios Freundschaft mit Romeo, der unberührt bleibt von Mercutios offener Darstellung von Weiblichkeit, sondern auch Mercutios Verhältnis zu Benvolio und den anderen Montague-Jungs. Niemand zeigt sich homophobisch gegenüber Mercutio. Das zeigt, dass Mercutio entweder gar nicht (in welcher Art auch immer) queer ist, oder dass es in Luhrmanns Verona-Beach-Universum schlicht »okay« ist, queer zu sein – oder beides.

Apropos queer und das Spiel mit Geschlechtsidentitäten, hier gibt’s einen Filmtipp zu Female Trouble (1974) sowie weiterführende Literatur zum Gender-Thema: Eine Einführung in Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (1990).

Alles glänzt… so schön neu

2013 dann das: Eine Neuverfilmung der Tragödie wieder im historischen Gewand, so wie der Klassiker von 1968 nur unendlich prunkvoller. Co-Produziert wurde Romeo und Julia (2013) von Swarovski – dem Kristallglas-Hersteller.

Von zahlreichen Kritiker*innen wurde diese Adaption regelrecht zerrissen. Zum Einen werde Shakespeares Sprache nicht angemessen vorgetragen (dazu kann ich mangels Fachkenntnis nix sagen). Zum Anderen, weil das Original-Stück in großem Maße umgeschrieben worden sei. Tatsächlich fließen in Shakespeare Tragödie plötzlich Floskeln ein, wie »mit guten Vorsätzen ist die Hölle gepflastert«. Witzig, dass nun dieser Film selbst als so ein Pflasterstein gesehen werden kann, der die Hölle dekoriert. Denn die Geschäftsfrau Nadja Swarovski meinte es nur gut:

R+J für Generation Z

Wir dachten, es sei sehr wichtig, Romeo und Julia auch der jüngeren Generation auf eine sehr angenehme Weise zu übermitteln.

Der Film sieht grandios aus in Sachen Kulissen, Kostümen, Lichtsetzung – und fährt prominente Schauspieler*innen auf. Etwa Natascha McElhone, Paul Giamatti oder Ed Westwick, der Zielgruppe dieses Films sicher bekannt aus der Jugendserie Gossip Girl. Nun, wenn der Film jugendlichen Zuschauer*innen gefällt und (auf neumodische Weise) an Shakespeare heranführt, dann kann’s doch herzlich egal sein, was ach so gestandene Filmkritiker*innen von der Umsetzung halten. Sie sind einfach nicht gemeint.

Kritiker wie Ty Burr (The Boston Globe) zum Beispiel, der doch ernsthaft ins Felde führt, der Film verstoße gegen die Kardinal-Regel von Romeo-und-Julia-Verfilmungen, dass der Romeo (gespielt von Douglas Booth) »niemals hübscher sein dürfe als die Julia« (Hailee Steinfeld). Das meint auch Justin Chang (Variety). Shame on you, guys. Mit solch oberflächlichen, irrelevanten Bemerkungen wollt ihr eure tiefgründige Kritik untermauern, die neumodische Verfilmung aus 2013 werde dem großen Shakespeare nicht gerecht? Pah. Über solchen Sexismus hätte Shakespeare seine verkokste Nase gerümpft.

Fazit zu Romeo und Julia

Nun, welcher der drei Filme ist denn nun der Beste?

Wie gesagt, Baz Luhrmanns Romeo + Julia (1996) läuft außer Konkurrenz. Das Ding funktioniert als eigenwilliges Kind seiner Zeit, den videoästhetisch trashigen 90er Jahren. Romeo und Julia aus dem Jahr 2013 ist bei aller Kritik ein Augenschmaus, ein wirklich schöner Film, dessen Soundtrack mir persönlich sehr gefällt (Filmkritikerin Susan Wloszczyna hingegen gar nicht, »Fahrstuhl-Musik«). Was ich an der Tonspur auszusetzen hätte: dass Romeo in der deutschen Synchronisation wie Bart Simpson klingt. Macht das Reinfühlen in die Romanze ein kleines bisschen unmöglich. Dann doch lieber auf Englisch schauen, nix verstehen und einfach die schönen Bilder genießen.

Absoluter Favorit in Sachen großartiger Adaption ist und bleibt Romeo und Julia (1968). Der Film ist grandios gespielt von allen Beteiligten, mit jeder Menge Temperament und Humor. Das gegenseitige Anhimmeln der jungen Liebenden ist so übertrieben wie glaubwürdig. Wenn Romeo (Leonard Whiting) den Baum zu Julias Balkon hochklettert oder im nebligen Morgengrauen freudig springend durch Wald und Wiese rennt, dann strahlt die Figur ein jugendliches Verliebtsein aus, an dass Leonardo DiCaprio und Douglas Booth nicht herankommen. Auch Olivia Hussey spielt die Rolle der Julia so vielseitig, dass sie weit mehr ist, als ein begehrenswertes love interest. Hussey schmachtet und schwärmt und scherzt und schimpft und schluchzt und reißt die Zuschauer*innen in jeder ihrer Emotionen mit. Chapeau!

Sterben im Staub · Liebe statt Krieg

Besonders stark ist auch die Schwertkampf-Szene rund um Mercutio, Tybalt und Romeo auf den leergefegten, glühenden Plätzen Veronas. Voller Spannung und Witz inszeniert, wandelt sich ein anfangs harmloses Duell zu einem packenden Kampf um Leben und Tod. Mit wilden Schlägen und Wälzen im Staub, unschön, aber umso echter. Dagegen können DiCaprios tränenreicher Schuss und das bisschen Schwert-Kling-Kling der 2013er-Verfilmung einpacken. Als Erzähler in der italienischen Fassung ist übrigens Vittorio Gassman zu hören, bekannt aus: Il sorpasso / Verliebt in scharfe Kurven.

Romeo und Julia als junge Verliebte, die sich trotz ihrer verfeindeten Familien in die Arme fallen – das kann man übrigens auch in der Adaption von 1968 als Kinder ihrer Zeit beschreiben. Sie funktionierten prima als Identifikationsfiguren für die 68er-Generation, die nichts mit den Kriegen ihrer Eltern am Hut haben wollte. Make love, not war.


Weitere Filme über Liebe (und andere Katastrophen):

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THE TALL MAN mit Jessica Biel | Film 2012 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-the-tall-man-2012/ http://www.blogvombleiben.de/film-the-tall-man-2012/#respond Tue, 03 Jul 2018 07:00:01 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4305 The Tall Man ist der dritte Streich von Regisseur Pascal Laugier, der zuletzt mit einem Budget…

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The Tall Man ist der dritte Streich von Regisseur Pascal Laugier, der zuletzt mit einem Budget von mutmaßlich 6,5 Millionen US-Dollar den Film Martyrs (2008) umgesetzt hat. Ein Schocker, der sich zum größten Teil in einem einzigen Haus abspielt und dermaßen aufs Maul ist, dass die Erwartungen an den Nachfolger unter Genre-Freund*innen hoch waren. Was haut uns dieser Typ wohl um die Ohren, wenn er sich mit dem knapp dreifachen Budget austoben darf?

Auf Schocker folgt Twister

Diese Budget-Spritze (mutmaßlich, mal wieder, solche Zahlen lassen sich schwerlich verifizieren: 18 Millionen US-Dollar) verdankt Pascal Laugier der Schauspielerin Jessica Biel (Eine himmlische Familie, Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre). Durch ihre Begeisterung für Martyrs und Zusage, in Laugiers neuem Projekt die Hauptrolle zu übernehmen, bekam er den finanziellen Support, den es brauchte. Für spektakuläre Drehorte, Kamera-Tricks und -Flüge und Auto-Stunts und Steven McHattie und, und, und…

Ich liebte Martyrs. Es war hart und brutal, ihn zu sehen, aber er war elegant – macht das Sinn? Ich war so beeindruckt von Pascals Schaffen, dass ich einfach mit ihm zusammenarbeiten musste. | Jessical Biel im Interview mit Ryan Turek (comingsoon.net)

Das Drehbuch hat Laugier, wie in seinem Erstlingswerk Haus der Stimmen (2004) und Martyrs wieder selbst verfasst. Also, worum geht’s in The Tall Man?

Zum Inhalt: In einer kanadischen Kleinstadt gehen Armut und Schrecken um. Nicht nur, dass nach Schließung der Bergbauminen die Männer ihre Arbeit verlieren – jetzt werden auch noch Kinder entführt! Eine ganze Reihe hat es schon erwischt. Angeblich wurden sie verschleppt von einer Gestalt, den man im Ort nur den »großen Mann« nennt…

Hinweis: Ab dem Abschnitt »Bleibender Eindruck« wird fleißig gespoilert, bis dahin, entspanntes Lesen! Aktuelle Streamingangebote gibt’s bei JustWatch.

Schauspielerin Jessica Biel rennt bei Nacht eine Straße entlang, Standbild aus dem Film The Tall Man

Totale: The Tall Man im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Ich wollte etwas völlig anderes machen, als in Martyrs. Das habe ich von Ruggero Deodate gelernt. […] Er hat mich eingeladen, in Rom, hat mir Pasta gemacht und sagte: »Pascal, du hast dasselbe Problem, das ich mit Cannibal Holocaust hatte. Dein Film ist so schockierend, dass die Leute noch in 20 Jahren nur über Martyrs reden werden. Mir ging es genauso, ich war halb glücklich, halb traurig darüber. Ich hab nach Cannibal Holocaust immerhin 15 andere Filme gemacht!« Mir war also die Falle, in die ich als Regisseur tappen konnte, sehr bewusst. | Filmemacher Pascal Laugier beim Film4 FrightFest-All Nighter in London, 27. Oktober 2012

Persönlicher Kontext

Ich kenne Cannibal Holocaust (1980, hierzulande auch bekannt als: Nackt und zerfleischt). Danach hatte ich erstmal nicht das Bedürfnis, noch weitere Filme von Ruggero Deodate zu sehen. Insofern weiß ich nicht, was dieser Regisseur nach seiner kontroversen Kannibalen-Pseudo-Doku noch so gemacht hat… ist er damals in eine Falle getappt, indem er versucht hat, sich selbst im selben Genre zu übertreffen? Und worin genau – Brutalität? Blutzoll? Oder hat er damals schon, wie Laugier jetzt, erstmal etwas völlig anderes gemacht? Und entgeht man damit der Falle? Oder kann man trotzdem eine große Enttäuschung abliefern?

[Enttäuschung in einem weniger persönlichen Sinne. Schon Martyrs hat mir zu wenig gefallen, als dass ich meine Erwartungshaltung an The Tall Man mit »Vorfreude« beschreiben würde. Stattdessen also bitte in einem filmkritisch-sachlichen Sinne verstehen, diese ENTTÄUSCHUNG!]

Close-up: The Tall Man im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Los geht’s mit einer Texttafel: »In den USA werden jedes Jahr 800.000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten werden nach ein paar Tagen gefunden. 1000 Kinder verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.« Als Zuschauer*in rechne ich natürlich (nach Martyrs) mit einem derben Horrorfilm, keiner Doku. Auf mich persönlich wirkt es angesichts besagter Erwartungshaltung arg pietätlos, eine solche Statistik einzublenden. Hinter blanken Zahlen stehen schließlich echte Schicksale, aber naja… warum guck ich denn nicht gefälligst ne Doku, anstatt mich hier mit Horrorkino einzulullen?

Es beginnt als Thriller

Ein Kommissar kommt aus einer Höhle. Umgeben von Polizisten, die alles absperren sollen. Schnitt zu Detailaufnahmen vom Gesicht einer weinenden, zitternden Frau. Mit einer Pinzette werden ihr Scherben aus der blutenden Stirn entfernt. Der Kommissar kommt rein, schaut grimmig, sagt, man habe ihn nicht gefunden, die anderen Kinder auch nicht. Die Frau wirkt benommen… Schnitt zu einer Luftaufnahme über kanadische Wälder und die Kleinstadt Cold Rock, in der sich abspielen soll, was wie ein Thriller beginnt. Zu Stimmungsbildern aus der verwahrlosten Kleinstadt spricht ein Mädchen aus dem Off:

Unsere Stadt ist seit 6 Jahren tot. Zunächst dachten wir, die Schließung der Mine sei daran schuld. Am Verlust der Arbeitsplätze, an dem Fehlen von Geld, dem Fehlen von allem. Doch dann mussten wir etwas viel Schlimmerem die Schuld geben, denn es war etwas nach Cold Rock gekommen, etwas Böses, das unsere Stadt von innen heraus auffrass…

Sehgewohnheiten gefoltert

Knapp 10 Minuten von The Tall Man sind um, als der Vorspann eingeschoben wird. Einmal mehr: Kameraflüge über die Stadt und die Einblendung der Namen aller Beteiligten… An dieser Stelle hat mich dieser Film leider verloren. Die visuelle Art und Weise, wie die Vorspann-Schrift in die Filmaufnahmen eingebracht ist, bricht mit der bis dahin aufgebauten ernsten, düsteren Stimmung. Überhaupt bricht sie mit meinen Sehgewohnheiten, weil ich für gewöhnlich nicht gern Trash schaue – und der Vorspann schreit vom Look her so sehr nach TRASH!, dass man statt der Namen auch einer »Trash, Trash, Trash« hätte einblenden können.

Echt ey, als hätte da jemand gerade coole Tools bei After Effects entdeckt, die auf Teufel komm raus in den nächsten Film rein müssen… Gewiss, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber ich spreche ja auch nur von meinem Sinn für Ästhetik, der von diesem Vorspann gefoltert wurde.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Sprechen wir also, statt über Ästhetik (über die ich noch viel zu meckern hätte, Stichwort: alberne Schnitte, schlechte CGI), einfach über den Inhalt von The Tall Man. Manche User des Internets empören sich unter Negativkritiken zu dem Film, dass man diesen intelligenten Thriller doch nicht einfach mit Martyrs vergleichen dürfe, und überhaupt-

Stop! Was das »Intelligente« des Films angeht, möchte ich ihn dessen gerne berauben. Weil sich das »Intelligente« in meinem Schädel regelrecht beleidigt fühlte von dem, was es da zu verarbeiten bekam. (Und dazu brauche ich keinen Vergleich zu Martyrs!) Als »intelligent« wird noch am ehesten die Komposition der Story bezeichnet, mit ihren Twists and Turns, den 180-Grad-Wendungen, die bei den Zuschauer*innen für Verwirrung sorgen. Angenehme Verwirrung. Mindfuck-Filme halt, wie The Game (1997). Doch aufgepasst! Manche vermeintliche Mindfuck-Filme entlarven sich als »Fuck the mind!«-Mumpitz. Da wird die Logik der Story schon im Produktionsprozess so wenig hinterfragt, dass sich Zuschauer*innen fragen müssen: Bin ich der/die Erste, dem/der das dumm vorkommt?

Um die Leser*innen in die Diskussion miteinzubeziehen, hier mal die Story des Films The Tall Man in chronologischer Reihenfolge, ohne inszenatorische oder dramaturgische Tricks:

Die Story ohne die Twists

The Tall Man handelt von einem Ehepaar – er Arzt, sie Krankenschwester – das viel von der Welt gesehen hat. Afrika, arme Kinder. Das Paar entscheidet sich, etwas gegen die Kinderarmut zu tun. Aber nicht in Afrika, sondern in Kanada, da gibt’s ja auch arme Kinder. Etwas weniger arm, etwas besser behütet, aber sei’s drum. Das Paar will auf jeden Fall diesen Kindern helfen. Und zwar, indem sie die Kinder aus armen Familien klauen und an reiche Familien übergeben. Kid-Robbin‘ Hood.

Das ist die Prämisse des Films: Ein Paar will Kindern helfen, indem es sie auf eigene Faust aus armen Familie entfernt und in reiche Familie gibt. Das ist intelligent? Mir fallen spontan ein paar andere Ideen ein, wie ein Arzt und eine Krankenschwester armen Kindern helfen könnten. Diese spezielle Idee würde ich dabei, auf einer Intelligenzskala, eher unter »extrem dumm« einordnen, direkt unter: Arme Kinder mit Drogen versorgen, damit sie sich damit einen Kundenstamm aufbauen und finanzielle Unabhängigkeit erlangen können. Ach, lächerlicher Vorschlag?

Wie hättest du es getan?

Kommen wir zur Umsetzung der Prämisse: Um den Plan zu verwirklichen, bezieht das Ehepaar ein Haus über einem Minenstollen. In einem Städtchen, in dem augenscheinlich jede*r jede*n kennt. Dann fängt das Paar an, Kinder zu kidnappen. In dieser kleinen Stadt, in der sie wohnen, Kinder von Familien, die sie kennen. Alle paar Wochen entführen sie ein armes Kind und halten es in ihrem Haus (unter für das Kind angenehmsten Umständen) gefangen, bis sie es durch das Tunnelsystem aus der Stadt schleusen und an reiche Menschen verschenken.

Denn Geld wollen der Arzt und die Krankenschwester damit nicht verdienen. Ihr Motiv ist schlicht, das sie gute Menschen sind (und dass die Frau keine Kinder kriegen kann, das wird nebenbei auch erwähnt). Der Mann hält sich während dieses ganzen Treibens übrigens versteckt und gilt als verstorben, damit die Frau als Witwe ihr Dasein fristen kann, was irgendwie von Vorteil zu sein scheint, für ihre Strategie…

Eltern reich, alles gut

Am Ende zeigt sich, dass sie nicht nur alle Kinder aus ein- und demselben Städtchen entführen, sondern zuweilen auch in dieselbe Stadt vermitteln. So dass sich die Kinder dort begegnen. Kinder, die übrigens durchaus schon so alt sind, dass man von einem Erinnerungsvermögen sprechen kann. WTF!? Wie kann dieses Ehepaar nicht längst aufgeflogen sein?

Zu aller aller Letzt wird dann noch – mit einem dramatischen Bruch durch die vierte Wand – die moralische Frage aufgeworfen, ob die Kinder in ihren neuen, reichen Familien denn wirklich glücklicher sind? Oder nicht? Oder doch?

Um Hitchcocks Willen!

Was soll man denn als Wahrscheinlichkeitskrämer zu so einer Geschichte sagen? Ja, gut, danke, kauf ich dir ab!? Wie schon bei Martyrs lässt sich natürlich jede noch so dumme Aktion in einem Film entschuldigen, indem man die Protagonisten als irre abtut. Das Paar handelt zwar irgendwie rational und einigermaßen organisiert. Aber wenn schon die Prämisse derart idiotisch und deren Umsetzung so kompliziert wie möglich daher kommt, dann doch wohl, weil die Story im Dienste eines Filmes steht, der unbedingt Haken schlagen möchte.

Mein liebster Aufreger in The Tall Man ist übrigens die Szene, in der sich die Frau – als Kidnapperin entlarvt – mit einem entführten Kind in ihr Haus begibt. Ein großes Haus mit großes Fenstern und so. Ihr folgt ein Mob, der sich quasi aus der halben Stadt zusammensetzt. Sehr wütende Menschen, wütend darüber, dass die Kinder aus ihren Familien entführt wurden, Schicksal ungewiss. Leben sie noch? Oder nicht? Doch diese wütenden Menschen bilden den wohl harmlosesten Mob der Filmgeschichte. Stundenlang hält er sich vor dem Haus auf und brüllt rum. Ohne die Tür aufzubrechen oder wenigstens ein Fenster einzuschmeißen – obwohl ein Kind aus ihrer Gemeinschaft in dem Haus gefangen halten wird!

Der zahmste Mob aller Zeiten

Wir sehen den Mob nicht, stattdessen vollzieht der Herr Regisseur in dieser Szene einen schönen kleinen Trick, in dem die Kamera einmal von der Protagonistin, die auf dem Bett sitzt, einmal langsam durch den Raum schenkt, während die Zeit vergeht und Tag zu Nacht wird. Aber der wilde, wütende, tobende Mob, der ist immer noch da. Das sehen wir, als die Frau bei Tageslicht abgeführt wird und sich im Polizeiauto sogar ducken muss, weil die Scheiben des Polizei-Autos SOFORT eingeworfen werden.

Es wäre vermutlich unfreiwillig komisch gewesen, den tobenden Mob in den nächtlichen Stunden vor dem Haus zu zeigen. Ein Haufen richtig wütender Menschen, die einfach nur ihre Fäuste recken und Flüche rufen! Dass sie nicht ins Haus eindringen dürfen, um das Kind vielleicht noch zu retten, das steht halt so im Drehbuch. Und ans Drehbuch hält man sich, ob es Unsinn ist, oder nicht…

Mein zweitliebster Aufreger ist der Zirkelschluss, den der Film vollzieht. Wie oben zitiert, begründet die Off-Stimme die Verzweiflung in Cold Rock nicht nur mit der Schließung der Mine. Sondern damit, dass etwas Böses gekommen sei, um die Kinder zu klauen. Aber »das Böse« (das kid-robbin‘ hoodsche Ehepaar) ist ja gekommen, um die Kinder aus ihrer verzweifelten Lage zu holen. Die Lage aber ist ja verzweifelt, weil die Kinderräuber gekommen sind… also… mir wird schwindelig – und ich drohe, mich viel zu lange mit einem Film aufzuhalten, der mich schon jetzt zu viel Lebenszeit gekostet hat.

Fazit zu The Tall Man

Ja, hat mich wohl nicht so gerockt.


Bessere Filme:
  • Good Will Hunting (1997) über einen Professor, der einem armen jungen Mann in ein besseres Umfeld helfen möchte, indem er mit ihm Mathe paukt
  • Captain Fantastic (2016) über einen Papa, der seine Kinder vor der geistigen Armut da draußen retten möchte, indem er sie im Wald großzieht
  • Cargo (2018) über einen Mann, der zwei Kinder vor Zombies retten will, während er sich selbst in einen Zombie verwandelt, was aber okay ist, weil er sie ja huckepack nehmen kann und… ach nee, der war ja genauso bescheuert wie The Tall Man

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