Der Beitrag FINDET NEMO, FINDET DORIE, findet den Fehler | Filme 2003, 2016 erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Vorweg: Hier werden die Filme Findet Nemo und Findet Dori als Animationsfilme aus der Erwachsenen-Perspektive besprochen. In ihrem Dasein als Kinderfilme wird Sonia die beiden Pixar-Abenteuer in Zukunft nochmal näher unter die Lupe nehmen.
Inhalt: Im ersten Film geht es darum, wie ein Familienvater erst zum Witwer wird und dann seinen Sohn verliert. Das Kind wird von einem unbekannten Mann gekidnappt und verschleppt, während sich der Vater auf der Suche nach ihm mit einer vergesslichen Freundin verirrt und in allerlei Gefahren begibt. Im zweiten Film erinnert sich diese vergessliche Freundin daran, dass sie ja auch eine Familie hat, von der sie als Kind getrennt wurde. Später findet sie heraus, dass ihre Eltern seither gefangen gehalten und zur Schau gestellt werden. Klingt gar nicht nach Kinderfilmen? ABER ES SIND DOCH NUR FISCHE! Na schau, dann ist alles nur noch halb so grausam…
Hinweis: Dieser Text enthält keine Spoiler. Bei JustWatch finden sich aktuelle Streaming-Möglichkeiten zu Findet Nemo und Findet Dorie.
Es war nach Der Herr der Ringe III – Die Rückkehr des Königs der erfolgreichste Film des Jahres 2003. Und obwohl Pixar bereits eigene und sehr gute Erfahrungen mit Sequels hatte (Toy Story 2 wurde 1999 trotz turbulenter Produktionsphase von Publikum und Kritik gefeiert), dauerte es satte 13 Jahre (!) ehe Findet Nemo mit Findet Dorie eine Fortsetzung bekam. Regisseur Andrew Stanton gestand seine große Nervosität vor einem solchen Sequel mit all den Erwartungen, die Fans des Originals daran hätten – doch er und sein Team taten, was Dorie tun würde: Sich optimistisch ins Risiko stürzen! Und vergessen, dass es sich um ein Sequel handelt.
Um eine Chance zu haben, eine anständige Fortsetzung zu drehen, muss man vergessen, dass es eine Fortsetzung ist – und versuchen, den Film so eigenständig wie möglich zu machen. Als hätte es keinen Film davor gegeben.
Andrew Stanton
Als Findet Nemo ins Kino kam, war ich 14 Jahre alt – und ich habe diesen Film vielleicht etwas öfter gesehen, als es für 14-Jährige cool ist. Ich hatte sogar eine Findet-Nemo-DVD mit virtuellem Aquarium im Bonusmaterial. Und das hab ich benutzt. Stundenlang blubberten die animierten Fische über meinen alten Computer-Monitor, der auch die Ausmaße eines Aquariums hatte – die Illusion war perfekt (man muss dazu sagen, das ich ein Fisch-Nerd war, mit über einem Dutzend echter Aquarien in der Garage).
Als Findet Dorie dann ins Kino kam, da war ich natürlich schon viel zu alt für solche Filme. Also nahm ich die einmalige Chance wahr, 4 Kinder von befreundeten Familie sozusagen als »erwachsene Begleitung« mit ins Kino zu nehmen (wie gesagt: einmal, alle 4 Kids auf einmal – ich war nicht 4 Mal im Kino… das wäre ja total verrückt…) | Kurz die eigene statistische Erhebung: Die LKW-Szene in Findet Dorie kam bei den Kindern, gemessen an der Lach-Lautstärke, definitiv am besten an.
Zu der Zeit hatte ich die Aquaristik als Hobby längst aufgegeben und der Fisch-Nerd war dem Film-Nerd gewichen. Aber so ein Herz für diese schuppigen, flossigen, quirligen Tiere, das hört wohl nie wirklich auf zu schlagen.
Vögel sind im Übrigen auch echt in Ordnung. An dem Pixar-Kurzfilm Piper (2016), der als Vorfilm zu Findet Dorie im Kino gezeigt wurde, hatte ich jedenfalls meine Freude. Hier ein kleiner Einblick in dieser beeindruckend detailliert animierte Werk:
Findet Nemo beginnt mit einem Prolog, der die »Nachbarschaft« und Lage des neuen Zuhauses am äußeren Rand des Korallenriffs behandelt. Die anfängliche Harmonie wird, ziemlich abrupt, von einem Barracuda unterbrochen. Dieser Zwischenfall hat zur Folge, dass der kleine Clownfisch Nemo ohne Mutter und 399 Geschwister aufwächst. Dafür mit einem umso besorgteren Vater namens Marlin.
Die Auftaktszene nach dem Prolog zeigt die beiden an Nemos erstem Schultag. Der kleine Fisch hat, vermutlich aufgrund der Barracuda-Attacke von damals, eine unterentwickelte Brustflosse – seine »Glücksflosse«, wie Vater Marlin sie nennt. Nemo schwirrt so aufgedreht umher, als würde er durch Kaffee statt Salzwasser schwimmen – und sein Vater ist sehr bedrückt darüber, sein einziges Kind gehen lassen zu müssen. Nemo könne mit dem Schuleinsteig doch noch warten, meint Marlin, »so 5 bis 6 Jahre…«
Findet Dorie hat eine ähnliche Ausgangssituation: Ohne düsteren Prolog geht’s direkt zur kleinen Dorie. Ein Palettendoktorfischchen, das quasi nur aus Augen besteht. Riesigen, putzigen Kulleraugen. Dahinter ist nicht mehr viel Platz für ein vollausgereiftes Gedächtnis, so scheint es. Denn Dorie leidet, zur großen Sorge ihrer Eltern, an Amnesie. Sie vergisst sehr vieles sehr schnell. Und so wie Nemo im ersten Film seinem Vater entrissen wird, kommt Dorie ihren Eltern abhanden. Die Fischkinder müssen, mit Glücksflosse und Siebgedächtnis, ohne ihre Familien klarkommen.
Filmfehler gefunden? Wäre Findet Nemo wissenschaftlich korrekt, hätte es ein ziemlich kurzer Film werden können. Erstmal leben Clownfische nicht in monogamen Beziehungen, wie sie im Film zwischen Marlin und Coral (Nemos Mutter) gezeigt wird, sondern in Polyandrie: ein Weibchen, mehrere Männchen. Wenn das Weibchen stirbt (weil es zum Beispiel von einem Barracuda gefressen wird), verwandelt sich das stärkste Männchen – innerhalb von einer Woche! – in ein Weibchen. Denn Clownfische sind Hermaphroditen (siehe Blogbeitrag: Bio mit Beauvoir). Marlin hätte sich also, noch bevor Nemo aus dem Ei schlüpft, in ein Weibchen verwandeln und eine Bande verantwortungsvoller Männchen um sich versammeln können. Bei so viel Obacht wäre Nemo bestimmt nicht verloren gegangen. Und der Film hätte geheißen: Nemo – ein Leben ohne Abenteuer.
Hier noch weitere Filmfehler oder Logiklücken in Findet Nemo, informativ zusammengefasst von CinemaSins (auf Englisch):
Findet Nemo ist ein Film, der überfürsorglichen Eltern einen Spiegel vor die Nase hält und Kinder dazu ermutigt, ihren Weg zu gehen. Vor allem aber führt der Film vor Augen, dass Behinderungen nicht gleich Einschränkungen sind.
Findet Dorie führt diese Idee noch einen Schritt weiter, mit einer ganzen Geschichte rund um das Meistern einer Benachteiligung.
Die Hauptfigur in Findet Nemo hat eine zu kleine Flosse und kann damit nicht so gut schwimmen. Doch in der Not und mit ähnlich ungleich-flossigen Vorbildern [der Halfterfisch namens Khan] findet Nemo zu Selbstbewusstsein. Findet Dorie hat eine Hauptfigur mit einem hemmenden Handicap (das schwache Gedächtnis), für das sie bestimmte Mechanismen entwickelt, die ihr in der Not helfen.
Tasha Robinson (The Verge)
Dorie kämpft sich voran, wenn keine Hilfe in Sicht ist, und hat auf ihre eigene Weise Erfolg. (…) Die meisten Zuschauer*innen werden diese besondere Message des Films nicht bemerken – wohl aber diejenigen, die sie am ehesten brauchen, und die sich am meisten mit den Charakteren identifizieren werden können.
Hier je eine kleine Vorschau zu den Filmen, via YouTube:
Den Bechdel-Test hat Findet Dorie übrigens in allen 3 Kategorien bestanden: Kommt mehr als eine Frau (hier: Charaktere mit weiblicher Geschlechterrolle) vor? Check. Haben sie Namen? Check. Sprechen die Frauen miteinander über etwas anderes als Männer? Check.
Neben Dorie kommen etwa deren Freundin Destiny oder ihre Mutter Jenny vor – und sie quatschen über Themen wie Freundschaft und Familie. Doch selbst in einem so klaren Fall lädt das Gender-Thema immer gern zu einer Diskussion ein. Hier eine kleine Perle aus der Kommentarspalte zum Bechdel-Test:
Steve: Dori ist ein Fisch, keine Frau. Ein Fisch.
Arc: Es geht um Kontext. »Frau« meint hier nicht »Frauen«, sondern schlicht weiblich. Wenn man diesen Kontext nicht berücksichtigt, würden sich die meisten Animationsfilme und die Filme, in denen Kinder die Hauptrollen spielen, nicht für diesen Test qualifizieren. […]
Jake: Es sind wortwörtlich verdammte Fische in einem verdammten Kinderfilm! Wie um alles in der Welt kann irgendwer denken, dass deren Geschlecht irgendeine Tragweite für den Film haben sollte? Man könnte sämtliche Geschlechterrollen aus diesen Charakteren streichen und es würde keinen Unterschied für die Handlung machen!
Powers: Ja, Jake, das könnte man – das ist der ganze Sinn dieser Website. Der Punkt ist, dass die Filmemacher*innen diese Rollen weiblich gemacht haben, obwohl sie hätten männlich sein können. Und damit haben sie qualitativ wertvolle, weibliche, interagierende Figuren in einen Mainstream-Film platziert.
Ein vegetarischer Hai, »Meins«-schreiende Möwen, der 7-armige Octopus und die Popcorn-liebende Becky – das Universum von Nemo und Dorie ist voll von liebenswerten Ideen und Details. Technisch für ihre jeweilige Zeit perfekt umgesetzt und dramaturgisch gekonnt zu in sich geschlossenen Abenteuern verpackt, sind Findet Nemo und Findet Dorie heute schon Klassiker, die aus dem immer größer werdenden Meer der animierten Filme herausstechen.
Und hier nochmal für alle: Ein Aquarium! Nicht mehr virtuell, von einer verpixelten DVD, sondern in 4K und direkt aus dem Netz – 3 Stunden Fische gucken! Allein dafür hat sich die Erfindung des Internets schon gelohnt.
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]]>Der Beitrag VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Zum Inhalt: Im Jahr 1991 lebt die 15-jährige Verónica mit ihrer Mutter und drei kleinen Geschwistern zusammen in einem Apartment in Valleca, einem Stadtteil der Arbeiterklasse im Süden Madrids. Der Vater ist vor kurzem gestorben. Die Mutter schiebt Überstunden, um die Familie zu ernähren. Verónica trägt die Verantwortung für ihre Zwillingsschwestern sowie ihren kleinen Bruder Antoñito. Die Haupthandlung beginnt am Tag der Sonnenfinsternis. Während alle Schüler*innen mit den Lehrenden auf dem Schuldach zur Sonne starren – durch (zuweilen provisorische) Schutzbrillen – schleichen sich Verónica und zwei Freundinnen in den Keller, um mit einem Hexenbrett (Ouija) die Geister der Verstorbenen zu beschwören… mit dramatischen Folgen.
Ja, so eine Art von Film ist das: Gläserrücken und Dämonen aus dem Jenseits, Schatten und Geräusche und durchdrehende Leute – diese ganz bestimmte, überquellende Horrorfilm-Schublade, in der das Diesseits vom Jenseits terrorisiert wird. Was Verónica aus der Masse ein wenig hervorstechen lässt: Der Film »basiert auf wahren Begebenheiten«, wobei das auch jeder dritte Vertreter dieses Genres von sich behauptet. Was ist da Wahres dran?
Hinweis: Im Absatz »Historischer Kontext« werden die wahren Begebenheiten besprochen – mit Spoilern! Bis dahin, entspanntes Lesen!
Verónica beginnt mit einem Notruf. Noch vor dem ersten Bild hören wir aus dem Off die Stimmen. Tipp, um den Effekt eines Horrorfilms zu verstärken: Originalsprache mit Untertitel schauen. Erst recht bei Filmen, die auf ihre »wahren Begebenheiten« pochen, bleibt damit mehr von der Authentizität bestehen.
– Hier spricht die Polizei.
– Hilfe! Bitte helfen Sie!
Mit diesen Worten beginnt der Film. Das erste Bild: zwei Streifenwagen, die mit Blaulicht, durch Gewitter, Regen, Nebel rasen. In der Bildecke tauchen die Eckdaten auf: Madrid, 15. Juni 1991, 01:35 Uhr nachts. Bis auf die Minute genau datiert, diese herannahenden Streifenwagen. Schwarzblende.
– Bitte beruhigen Sie sich. Was ist passiert?
– Bitte, Sie müssen kommen! Er ist drinnen!
Die Anruferin klingt nach einer Teenagerin, die panisch ins Telefon schreit. Im Hintergrund wimmert ein Kind. Es folgen Detailaufnahmen von den Einsatzwagen. Schwarzblende. Wieder die Stimme der Polizistin am Hörer:
– Bitte beruhigen Sie sich. Sagen Sie mir, was Sie sehen. Ist jemand in Ihrem Haus? Hallo?
Ein Schrei, ein Knacken in der Leitung. Schnitt auf einen Kommissar, der seine Zigarette weg schnippt und aus dem Auto steigt. Im strömenden Regen geht er um den Wagen rum. Im Hintergrund ist – von den Blitzen effektvoll beleuchtet – das Wohnhaus zu sehen, aus dem der Notruf kam.
Es erinnert an jenes hohe Apartmenthaus aus REC, in dem sich 2007 ein klaustrophobischer Alptraum bis ins oberste Stockwerk abgespielt hat. Doch REC war ein handfester Zombiefilm. Verónica behauptet, wahr zu sein. Wir erfahren die genaue Adresse, den genauen Namen des Kommissars. Wir begleiten ihn in eine verwüstete Wohnung. Im Chaos liegt ein Jesuskreuz, das von einem Polizisten aufgehoben wird. Blutspuren führen vom Bad in ein verschlossenes Zimmer… was die Einsatzkräfte darin erwartet, schreibt ihnen den blanken Schrecken ins Gesicht. Ein grauenhafter Schrei von irgendetwas, das nicht gezeigt wird, geht über…
…in die Großaufnahme eines Mädchens mit Zahnspange, das mit weit aufgerissenem Mund ganz genüsslich gähnt. Das Mädchen liegt im Bett, die Sonne scheint ins Zimmer. Rückblende, »Drei Tage zuvor«. Ab jetzt wird erzählt, wie es zu der Schreckensnacht kam, die der Prolog anteaserte. Jene Sonnenfinsternis im Jahr 1991, die in Wirklichkeit am 11. Juli stattfand, wurde für den Film also – ob schlecht recherchiert oder dramaturgisch bedingt – in den Juni vorgezogen.
Am frühen Morgen des 15. Juni 1991 erhielt die Polizeiwache 02-12 in Madrid einen Notruf. Diese Geschichte basiert auf dem Polizeibericht, den der für den Fall verantwortliche Polizist einreichte.
Texttafel aus dem Prolog von Verónica
Es gibt tatsächlich einen Polizeibericht. Kopien davon finden sich – in spanischer Sprache – online und sind insbesondere zum 20. Jubiläum des Falls vielfach diskutiert worden, von spanischen Websites, die sich um Paranormalität drehen. In diesen Kreisen ist der »Valleca Fall« sehr bekannt. Der Name leitet sich von jenem Stadtteil Madrids ab, in dem eine 18-jährige Frau namens Estefania Gutiérrez Lázaro (im Film: Verónica, 15 Jahre alt) eine Séance (also eine spiritistische Sitzung, oder: Gläserrücken) in ihrer Schule durchführte. Eine Nonne zerbrach schließlich ihr Hexenbrett und beendete damit die Sitzung (im Film zerbricht es wie von Geisterhand). Während Verónica im Film während dieser Séance ihren toten Vater zu beschwören versucht, waren Estefanias Eltern beide noch wohlauf – soweit die ersten Unterschiede zwischen Fakten und Fiktion.
In der Folgezeit erlitt Estefania Gutiérrez Lázaro mehrere Krampfanfälle und hatte Halluzinationen von Schatten und Wesenheiten, die sie umgeben. Später ist sie – wie die Verónica im Film – in ihrem jungen Alter gestorben.
Allerdings nicht wirklich »wie im Film«. Während Verónica in einem spektakulären Finale daheim gegen einen Dämon kämpft, von diesem malträtiert wird und auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt, war Estefania zum Zeitpunkt des Todes längst im Krankenhaus. Die Umstände ihres Todes vor rund 30 Jahren sind nicht geklärt. Wenn aber eine 18-Jährige an Krampfanfällen und Halluzinationen leidet, gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, die den tragischen Tod eines so jungen Menschen verursachen können. Ohne dämonischen Einfluss.
In dem Polizeibericht, auf dem dieser Film angeblich basiert, geht es nicht wirklich um Estefania Gutiérrez Lázaro . Deren Familie hat die Polizei nach dem Tod ihrer Tochter erstmal gar nicht kontaktiert. Erst ein Jahr später waren Polizist*innen bei Estefanias Eltern daheim. In ihrem Bericht ist von Geräuschen auf einer Veranda die Rede, und der geschlossenen Tür eines Kleiderschranks, die plötzlich und in unnatürlicher Weise aufging. Außerdem fiel eine Jesus-Figur von ihrem Kreuz und ein brauner Fleck breitete sich aus.
Das ist alles. Drei durchaus ungewöhnliche Beobachtungen, die man als »paranormal« bezeichnen kann. Sie wurden auf jeden Fall als paranormal interpretiert – und die Tatsache, dass diese Beobachtungen in einem offiziellen Polizeibericht festgehalten sind, das macht den »Valleca Fall« so berühmt. Zumindest bei Menschen, die an Paranormales (im »Geister aus dem Jenseits«-Sinne) glauben.
Ich persönlich glaube nicht an Paranormalität, wie sie mir in unzähligen Filmen nun schon auf verschiedenste Herangehensweisen näher gebracht wurde. Und selbst, wenn in einem Polizeibericht von paranormalen Beobachtungen die Rede ist, ist mein erster Reflex die Annahme, dass eventuell die zuständigen Polizist*innen ihrerseits an Paranormales glaubten (man »sieht, was man sehen will«). Oder, dass es doch eher natürliche Erklärungen für vermeintlich unnatürliche Beobachtungen wie eine sich öffnende Schranktür, einen vom Kreuz fallenden Jesus und einen brauen Fleck gibt.
Das »sehen, was man sehen will«, gilt selbstverständlich auch für mich. Ich mag rationale Erklärungen – und das Verhalten von Dämonen oder anderen Jenseits-Wesenheiten in Filmen erscheint mir maximal irrational. Liegt vermutlich daran, dass sie »nicht von dieser Welt« sind und ich damit ungültige Ansprüche stelle. Aber dann erstaunt mich doch die innere Logik, mit der all die irrationalen Aktionen von Dämonen ganz gezielt – wie Arsch auf Eimer – zu unseren Ängsten passen. Auf rationale »Horrorfilm bedient Furchtvorstellungen« Art und Weise.
Was die Unterschiede zwischen »Fakten und Fiktion« angeht, so berufe ich mich mit der Erläuterung der »wirklichen Begebenheiten« wohlgemerkt auch nur auf Internetseiten, keine amtlichen Dokumente. Newsweek hat die Geschichte über Estefania Gutiérrez Lázaro in Gegendarstellung zu dem Film in Form gebracht, die seriöseste Aufarbeitung, die ich auf Englisch finden konnte (wobei manche Links von diesem Artikel auf wiederum gar nicht seriöse Seiten verlinkt sind). Es ist anzunehmen, dass man im spanisch-sprachigen Internet bessere, detailliertere, fundierte Auseinandersetzungen mit dem Fall finden würde.
Andererseits: Vielleicht auch nicht. Vor rund 30 Jahren ist in einem Krankenhaus eine junge Frau gestorben – und alles, was heute noch in ihrem Namen passiert, ist Kunst, Kult und Kommerz, angereichert mit all den urban legends, die in der jahrzehntelangen Rezeption des Falls hinzugedichtet wurden. Ich verstehe, dass Dämonen-Horrorfilme besser »funktionieren«, wenn man dem (wohlwollenden) Publikum glauben machen kann, die Handlung basiere auf wahren Begebenheiten. Das ist eben viel gruseliger – und der Regisseur Paco Plaza macht keine halben Sachen: Er stellt seinen Film inklusive Abspann-Fotos vom »Tatort« als geradezu dokumentarisch dar (die Fotografie mit dem ausgebrannten Gesicht Estefanias hat es beispielsweise tatsächlich gegeben). Beim Toronto International Film Festival sagte Plaza zum Wahrheitsgehalt seines Films:
Ich denke, wenn wir etwas erzählen, dann wird daraus eine Story, selbst wenn es Nachrichten sind. Man muss nur verschiedene Zeitungen lesen, um zu wissen, wie unterschiedlich die Realität sein kann, je nach dem, wer sie erzählt. Ich wusste, dass wir die realen Begebenheiten verfälschen würden. Ich wollte es bloß zu einer in sich geschlossenen Vision machen […] Also die ganze Geschichte von Veronica und ihren Schwestern und Antoñito, diesem kleinen Marlon Brando mit Brille, das ist alles eine Vision.
Paco Plaza, Regisseur von Verónica
Kurzum: Mit dezenter Anlehnung an den gefallenen Jesus aus dem Polizeibericht, hat man einen mit christlicher Symbolik und dämonischem Schauer aufgeladenen Plot gebastelt, der nicht auf diesem Bericht »basiert«, sondern von ihm inspiriert ist – das wäre die ehrlichere Wortwahl gewesen. Mal wieder. Wie immer.
Ein Teil in mir findet es immer etwas respektlos, wenn sich Horrorfilme nur um des Grusel-Effekts willen auf echte Menschen (mit echten Familien und Angehörigen) beziehen. Aber was weiß ich, wie die Betroffenen dazu stehen? Einen Kommentar etwaiger Familienmitglieder zu dem Film Verónica konnte ich nicht finden.
In dem Q&A auf besagtem Festival beantwortet Paco Plaza übrigens auch eine Frage dazu, wie man die Kinder am Set betreut hat – angesichts doch recht krasser Szenen, in denen sie von einer gruseligen Gestalt bedroht werden oder Fleisch aus dem Körper ihrer Schwester beißen. Plaza beantwortet diese Frage ab Minute 00:50 (auf Englisch):
Ich stolperte über diesen Film, als ich zu Pascal Laugiers Ghostland (2018) recherchierte, einem anderen aktuellen Horrorfilm, der zuweilen mit Verónica verglichen wurde (obwohl die Filme unterschiedlicher kaum sein könnten). Über Verónica – der am 26. Februar 2018 erstmal bei Netflix veröffentlicht wurde – las ich dann immer häufiger die Phrase »scariest movie ever«, was mich leicht zum ködernden Filmfisch gemacht hat. Zack, Netflix aufgemacht, her mit dem Bissen!
Also, ist Verónica »der gruseligste Film aller Zeiten«? Also aus inzwischen über 120-jähriger Filmgeschichte, die Werke wie William Friedkins Der Exorzist (1973) und Werner Herzogs Nosferatu (1979) hervorgebracht hat? (Um nur zwei von unzähligen Klassikern zu nennen.) Natürlich absolut nicht. Verónica ist nicht einmal der gruseligste Film von Paco Plaza (wie gesagt: REC!).
Heißt, ich bin wiedermal auf etwas reingefallen, was entweder eine gelungene PR-Kampagne oder ein glücklicher Selbstläufer war: Ein paar Internet-User, die ihr Grauen über Verónica bei Twitter dokumentiert haben. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich, der ich so gerne Bill Maher zitiere, aus: New Rule: That’s Not News. In diesem YouTube-Video beschreibt der amerikanische Late-Night-Moderator zur Bauchbinde »charlatan’s web« das Phänomen, das Medienportale irgendwelche Stimmen aus dem Internet aufgreifen und ihnen Relevanz andichten, selbst wenn sie es mit gegebener Vorsicht tun. Beispiel:
Das Netz streitet über Verónica – laut Netflix „der gruseligste Horrorfilm aller Zeiten“, den angeblich kaum ein Zuschauer bis zum Ende durchhält.
Britta Bauchmüller (Kölnische Rundschau), 19.03.18
»Das Netz« = ein paar Twitter-User
»laut Netflix« = PR-Texter*in
»kaum ein Zuschauer« = noch ein paar Twitter-User
Unterm Strich beruft sich dieser Satz auf vielleicht 2 Dutzend Tweets von Netflix-Usern (stellvertretend für »das Netz«) und eine Person, die dafür bezahlt wird, Netflix-Filme ins Gespräch zu bringen. Das Ganze verpackt unter der Schlagzeile »Verónica und Co. Diese Horrorfilme auf Netflix hält kaum jemand bis zum Ende aus«. Werbung vom Feinsten. Läuft bei Netflix.
Wer auf Dämonen-Filme steht, wird an Verónica seine Freude haben. Der Film ist handwerklich gut gemacht, wenn auch (von ein paar visuellen Ideen mal abgesehen) sehr konventionell. Er fügt dem Genre nichts Neues hinzu, bedient sich an dessen Zutaten aber sehr geschickt – und Sandra Escacena trägt die Zuschauer*innen als Heldin, der man nichts Böses wünscht, gut durch die Handlung. Grusel-Atmosphäre kommt auf, selbst wenn man Gläserrücken und Dämonen für Hokus Pokus hält, deshalb: ja, okay, guter Film…
Der Beitrag VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag Märchenoma Ursula Enders aus Bocholt-Suderwick | 1926-2018 | Nachruf erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Als die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit anfingen, im Volksmund verbreitete Märchen und Sagen zu sammeln, da stießen sie auf Menschen wie Dorothea Viehmann. Eine rüstige Frau jenseits der Fünfzig, die nach dem Tod ihres Mannes für sich und ihre sieben Kinder zu sorgen hatte. Wilhelm Grimm schrieb über Dorothea:
Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß […]. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte.
Wilhelm Grimm, in: Kinder- und Hausmärchen, Band 1 (1819)
Eben diese Worte kann man heute, knapp 200 Jahre später, auf Ursula Enders anwenden. Wenn sie sich hinsetzte, um ihrer Hörerschaft von Rotkäppchen und Co zu erzählen, dann konnte man sehen, wie die Geschichten vor ihrem inneren Auge lebendig wurden. Doch die Märchenoma war nicht nur eine tolle Erzählerin. Sie war ein Energiebündel, eine Macherin – und eine unglaublich warmherzige Persönlichkeit. Dabei war ihr Lebensweg wahrlich kein leichter.
In dem Jahr, in dem Gertrude Ederle als erste Frau den Ärmelkanal durchschwamm, da kam in Thüringen, nicht weit von der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei, das Mädchen Ursula zur Welt. 1926. Dort geboren und bis in die 90er Jahre nie weit fortgezogen, hat Ursula Enders ihre Kindheit in der Weimarer Republik gelebt, ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus, ihr Erwachsenenalter in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der kommunistischen DDR, noch später in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Fünf verschiedene, politische Systeme vor der immer gleichen Kulisse des thüringischen Waldes.
Eine ihrer frühesten Erinnerungen, würde jenes Mädchen viele Jahrzehnte später als Bocholter Märchenoma erzählen, waren die Spaziergänge mit der Großmutter, die ihre Enkelin auch mit den vielen Märchen bekannt machte, die sie später auswendig erzählen konnte. Als Kind begleitete Ursula ihre Oma oft in das Waldgebiet neben dem Friedhof. Dort pflückten sie Schlüsselblumen und Leberblümchen, aus denen das geschickte Mädchen Sträuße band, für die es pro Strauß 2 Pfennig bekam.
Da hab ich mich so drüber gefreut – wenn ich heimkam und der Mutter 20 Pfennig geben konnt‘, die ich verdient hab. Dann war sie glücklich.
Ursula Enders im Juli 2015
Doch die heile Welt währte nicht lange. Ursula hatte 9 Geschwister, der Vater war »im Krieg geblieben«. Der Mutter standen im Monat gerade mal 80 Mark zur Verfügung. Sie konnte sich bald nicht mehr um alle Kinder kümmern, nicht mehr alle ordentlich ernähren, drum gab sie einige weg.
Neben 2 Brüdern wurde auch Ursula im Alter von 9 Jahren in eine andere Obhut überlassen, nach Gera. »Bei fremde Leute«, wie sie später zu sagen pflegte. Fremde Leute, bei denen sie kein Glück erfahren sollte. Im Gegenteil: Viel Arbeit, keine Liebe. »Nicht mal einen winzigen Pfefferkuchen gab’s zu Weihnachten«, erinnerte sich Ursula, die in diesen Jahren viel geweint habe. So etwas erzählte sie nicht, um Mitleid zu erregen, sondern auf die Frage, wie aus Ursula Enders denn die »Märchenoma« geworden ist, die immer Süßigkeiten im Haus hat, wenn Kinder zu Besuch kommen – oder Lämmchen (kein Scherz).
Damals nämlich, in den bitterarmen, tränenreichen Mädchentagen, schon da habe sie sich gesagt: »Wenn ich mal groß bin, und alt, dann geb ich den Kinder das zurück, was ich selbst nie hatte.« Um 1940, im Jugendalter von gerade einmal 14 Jahren, begann Ursula Enders zu arbeiten.
Nach dem 2. Weltkrieg nahm das Stahlwerk Thüringen die Produktion im Hochofen II auf. Es ist der einzige, noch erhaltene Hochofen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, der in der DDR weiter betrieben wurde. An diesem Hochofen arbeitete Ursula Enders jahrzehntelang. Selbst als sie Kinder bekam – nachdem sie 1950 geheiratet hatte – dauerten die Auszeiten nie lange. »Nach 4 Wochen gab man das Kind in die Krippe und die Arbeit ging weiter.«
Ihr Mann schuftete in einem Uranbergwerk, unter Tage und unter schwersten Bedingungen. Schon im Alter von 50 Jahren starb er an einer Staublunge und Ursula Enders stand mit ihren Kindern allein da. In einem Schuppen, den ihr 1966 die Gemeinde zur Verfügung stellte, richtete die Mutter es ihren Kindern und sich wohnlich ein – und bekam selbst eine Stelle im Uranbergwerk zugewiesen.
Anfang der 90er Jahre war dann auch Ursula Enders von der schweren Plackerei mit Presslufthammer und Steinbrocken im Bergwerk so geschunden und lungenkrank, dass sie von der Krankenkasse nach Düsseldorf geschickt wurde. Dort hatte man Erfahrung mit der Behandlung von Staublunge. Doch diese Behandlung sei intensiv, hieß es, und man riet Ursula einen Umzug in den Westen des vor kurzem wiedervereinigten Deutschlands. So mietete sie sich eine ehemalige Bauernkate in Bocholt-Suderwick, wo sie bis zu ihrem Tod am 3. August 2018 wohnen bleiben würde.
Obwohl diese Bauernkate nur ein paar Minuten, Wiesen und Felder entfernt liegt von meinem Elternhaus, dauerte es bis vor rund 5 Jahren, ehe ich Ursula Enders kennenlernen sollte.
Ich kann mich an eine Fahrradtour im Sommer 2013 erinnern, da kamen wir in der Keminksweide in Bocholt-Suderwick vorbei. Es war ein heißer Tag, pralle Sonne, keine Wolke am Himmel, keine anderen Radler oder Autos unterwegs. Ein sehr stiller Sonntag im Hinterland. Vor diesem seltsamen Bauernhaus, das von bunten Hütten umgeben war, machten wir Halt. Man muss sagen: An dieser Anlage gibt es kein großes Schild, das auf die Märchenwelt der Ursula Enders hinweist. Und so erschließt sich zufälligen Besucher*innen die Kulisse ohne Kontext nicht sofort.
Weit und breit kein Mensch zu sehen, schlenderten wir von Hütte zu Hütte und betrachteten die Märchen darin – bis ins hinterste Häuschen, das man gar betreten konnte. Auch darin, bis hoch unter die Decke arrangiert: Märchenhafte Figuren und Requisiten, die in ihrem stillen Dasein altbekannte Geschichten bewahrten. Ich muss zugeben, wie wir damals so zum ersten Mal in dieser an jenem Tag menschenleeren Märchen-Ausstellung waren, fand ich’s ein bisschen schaurig. (Das kommt davon, wenn man zu viele Gruselfilme sieht, in denen Puppen zum Leben erwachen.)
Im selben Sommer begann ich als Redakteur und rasender Reporter für den Stadtkurier in Bocholt zu arbeiten. Und es sollte nicht lange dauern, bis ich gen Ende 2013 in dieser Funktion nochmals in die Keminksweide kam. Mit Stift und Zettel und lauter Fragen rund um einen bevorstehenden Weihnachtsmarkt, auf dem Ursula Enders einige ihrer Märchenhäuser ausstellte.
Ich staunte nicht schlecht über diese Frau: Hinter dem unscheinbaren, harmlosen Titel der »Märchenoma« steckte ein Mensch von unglaublicher Schaffenskraft. Zunächst saßen wir noch bei Kaffee und Kuchen (selbstgemacht, natürlich) in ihrer kleinen Küche, die selbst wie einer Märchenwelt entsprungen schien. Ringsum türmten sich Puppen und Fabelgestalten. Wenig später bekam ich dann ihre Werkstätte zu sehen, im Wesentlichen:
Eine Nähmaschine zwischen Badewanne und Fenster zum Garten. An diesem bescheidenen Plätzchen entstanden, in stunden- und tagelanger Arbeit, die Kleider für die unzähligen Figuren draußen in der Ausstellung.
Info: Ursula Enders hat nicht erst in Bocholt-Suderwick damit angefangen, Märchen in Szene zu setzen. Schon in ihrer Heimat baute sie erste Märchen auf, die später von ihrer Tochter zum Märchenwald Saalburg ausgebaut wurden.
Zu Ostern kam ich wieder, als die Märchenoma diese Ausstellung anlässlich der Feiertage um diverse Hasen und Ostereier bereicherte. Während ich im Winter mein Kopfhaar noch lang getragen hatte, kam ich nun kurz geschnitten daher und durfte mir erstmal anhören, dass »beim letzten Mal eine sehr nette Kollegin von Ihnen da war« – »Ehm… nee, das war auch ich.«
Seitdem kam ich auch mal zwischen den Presseterminen vorbei, einfach nur, damit sich das Gesicht einprägen möge. Und wegen den Süßigkeiten, klar. Und den Märchen, sowieso. Aber eigentlich, das werden sich andere Besucher*innen sicher ebenso eingestehen, kam man vor allem wegen dieser herzensguten Seele gerne dorthin, ins Märchenland.
Wenn man so mit Ursula Enders in der Küche saß, dann konnte es passieren, dass ein kleines Schaf hereinspazierte. Dieses Lämmchen lag auch gerne am Fußende auf Ursulas Bett, während von draußen durchs Fenster die großen Schafe hineinspähten. Nach getaner Arbeit (jeden Morgen um 6.30 Uhr aufstehen, jeden Tag 5-6 Stunden nähen) lag die Märchenoma selbst erschöpft in diesem Bett – doch auch von dort hatte sie immer etwas Süßes in Greifweite, wenn man zu Besuch kam.
Ihr Lebensgefährte Dieter saß dann abends neben dem Bett. In der Ecke lief der Fernseher, die Nachrichten, auf stumm geschaltet. Und Dieter erzählte aus diesem oder jenem Kapitel der deutschen Geschichte, bemerkenswert kenntnisreich.
Im Sommer 2015 durften wir bei der Märchenoma einige Aufnahmen für unser Langzeit-Filmprojekt Es wird einmal… drehen, das jedes Jahr um ein paar Szenen weiter wächst. Dafür trat Ursula Enders selbst in ihrer Lebensrolle als Märchenoma in Erscheinung. Rückblickend wünschte ich mir, wir hätten damals einfach einen Kurzfilm gedreht. Irgendwas kleines, geschlossenes, damit wir Ursula Enders das Ergebnis noch hätten zeigen können. Denn ihre Gastfreundschaft unserem Filmteam gegenüber war unglaublich.
Ein kurzer Ausschnitt aus dem Projekt, das die Märchenoma mit ihrer Präsenz und ihrem Lebenswerk bereichert hat:
Ich bin der Märchenoma so dankbar für all die Inspiration und Mut, den sie den Menschen mit auf den Weg gegeben hat – und ich bereue es sehr, sie im vergangenen Jahr nicht mehr besucht zu haben. Man redet sich ein, »ja, ja, der Umzug, die Arbeit«, viel zu tun und was weiß ich. In Wahrheit habe ich einfach nur meine Prioritäten falsch gesetzt. Was kann denn besser warten, irgendein x-beliebiges Projekt oder ein über 90-jährige Frau, die trotz ihrem Frohsinn schwerkrank war?
Ursula Enders hat sich nicht in ihrer Märchenwelt versteckt, als wolle sie der Wirklichkeit entfliehen. Im Gegenteil: Sie hat sich sehr um ihre Nachwelt gesorgt. So sehr, dass sie auch mal vom »Grimmschen Original« abwich und ein Märchen nach eigenen Gutdünken umdichtete. Das Ergebnis war eine Art »Bocholter Version« des Rotkäppchens. Während der Drehtage im Spätsommer 2015 hat die Märchenoma uns diese Geschichte erzählt. Hier ist sie nochmal, ganz in ihrem Element:
Keine andere Dichtung versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge zu sagen wie das Märchen.
Johann Gottfried Herder
Mit diesem Zitat hat der Landrat Dr. Kai Zwicker den Hauptteil seiner Rede eingeleitet, im Juli 2014, als Ursula Enders die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde. Weiter sagte er:
Sehr geehrte Frau Enders, mit Ihrer Einstellung und Ihrem unermüdlichen Einsatz für Ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht nur in Bocholt, sondern in der ganzen Region – sind Sie ein Vorbild für Bürgerengagement und solidarisches Handeln. Für Sie selbst war dies immer selbstverständlich. Das ist es jedoch keineswegs. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass die Öffentlichkeit auf das Beispiel, das Sie geben, aufmerksam gemacht und zur Nachahmung aufgefordert wird.
Landrat Dr. Kai Zwicker
Info: Über die Verleihung berichtete auch der Gemeindebrief für Suderwick und Spork: Der Grenzgänger (Oktober-November 2014)
Nachahmung in Sachen Solidarität, die hat die Märchenoma seitens der Bevölkerung aus Bocholt und Umgebung erfahren, als Anfang das Sturmtief »Friederike« ihre Ausstellung zerstörte. Binnen 7 Wochen schafften es viele freiwillige Helfer*innen mithilfe von Spenden und tatkräftigen Händen, Ursula Enders Märchenwelt wieder aufzubauen. Ein beeindruckendes Beispiel für gesellschaftliches Engagement, das jetzt, da Ursulas Lebensweg zu Ende gegangen ist, als umso wichtiger in Erinnerung bleibt: Diese Helfer*innen haben einem Vorbild gezeigt, wofür es sich lohnt, ein Vorbild zu sein.
Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar andere Stimmen zu Wort kommen lassen, die sich in den letzten Tagen und Jahren über Märchenoma Ursula Enders geäußert haben. Inbesondere
Ich halte ihr Leben und ihre rastlose Tätigkeit […] für ein Vorbild für uns alle. Es zeigt uns, dass ein hartes Leben und ein schweres Schicksal nicht in Resignation und Verbitterung enden muß, sondern neue Kräfte und viel Kreativität freisetzen kann und den Wunsch, Liebe und Wärme zu geben und Freude in das Leben anderer Menschen zu bringen.
H. Lippelt | 2014
Ich denke. mit folgender Formulierung nicht zu übertreiben: Bocholt und
E. Geitel | 2014
die Umgebung verneigen sich in großem Respekt und tiefer Dankbarkeit vor dem Engagement und der enormen Leistung der – stets äußerst bescheidenen »Märchenoma«.
Ich sagte ihr zum Abschied: »Frau Enders. ich habe noch selten so über einen Menschen gestaunt.« Sie wehrte bescheiden, fast erschrocken ab: »Nein, nein, nicht staunen! Sie sollen sich freuen!«
M. Handschuh-Bauer | 2014
»Oma« Ursula zeigte schon mir, als ich noch ein kleiner »Windelscheißer« war, die Welt der Märchen. Das ist nun gut 25 Jahre her. Sie ist nicht meine leibliche Großmutter, doch im Herzen war sie es immer – jeder, der Ursula kennt, wird genau wissen, was ich meine. Und vermutlich wird fast jeder sie als »eigene Oma« ins Herz geschlossen haben. Verwandtschaftsgrad hin oder her.
Jennifer Woelk | 2018
Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, wenn sie Geschichten erzählte und dazu die passenden Figuren zeigte, welche sie stets selbst bastelte. Niemand konnte so schön die Stimme der drei kleinen Schweinchen nachäffen wie sie. Ursula hatte nie viel Geld und nutzte das bisschen, das sie hatte, um anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Bis heute – ja, sogar im Zeitalter der Medien, wo Märchen leider in den Hintergrund rücken, ist sie mit ihren Geschichten unglaublich beliebt. Sie war ein Herzmensch durch und durch. Ohne sie wird hier etwas fehlen… mach’s gut, Oma.
Oh, und bevor es in Vergessenheit gerät: Im Jahr 2010 hat die niederländische Sendung Joris‘ Showroom ein wirklich tolles, stimmungsvolles Porträt der Märchenoma – oder eben: »Sprookjes Oma« – produziert. Alle Rechte dieses Films liegen bei der Nederlandse Christelijke Radio Vereniging, doch ehe das schöne Filmdokument in der Versenkung verschwindet (online konnte ich es leider nicht mehr finden), möchte ich es hier abschließend für Interessierte zur Verfügung stellen:
Der Beitrag Märchenoma Ursula Enders aus Bocholt-Suderwick | 1926-2018 | Nachruf erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.
In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.
Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.
Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.
Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.
Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.
Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«
Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.
Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?
Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.
Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13
Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center
Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.
Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.
Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:
Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)
Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.
Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.
Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):
In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.
[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70
Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.
Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag GOOD WILL HUNTING mit Minnie Driver | Film 1997 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Hinweis: Liebe Leser*innen, über Good Will Hunting und alle Themen, die mit dem Film und allen Beteiligten einhergehen, könnte man ein Buch schreiben. Im Folgenden gehe ich nur auf eine kleine Auswahl an Namen und Themen ein. Spoiler voraus!, wohlgemerkt. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie immer via JustWatch.
Inhalt: Besagter fiktive geniale Typ namens Will verbringt seine Tage als Bauarbeiter oder Hausmeister, seine Abende mit Kumpels in Kneipen – und nachts liest er Lehrbücher von Historikern wie Howard Zinn oder andere akademische Schinken. Schließlich wird ein Professor auf das verkappte Genie aufmerksam und will sich seiner annehmen. Einzige Bedingung: Will muss sich auf eine Therapie einlassen.
Jene junge Männer hatten eine Stolperfalle in ihr Drehbuch eingebaut, ehe sie es irgendwelchen Filmproduzent*innen gaben. Bei der Falle handelte es sich um eine völlig zusammenhangslose homoerotische Liebesszene zwischen Will und seinem besten Freund. Wer diese Szene nicht bemerkte, war reingetappt: Diese Person hatte das Skript offenbar nicht gelesen. Die beiden Drehbuchautoren, das waren die inzwischen weltbekannten Schauspieler Ben Affleck und Matt Damon (Der Marsianer). Nur ein einziger Produzent sprach sie auf die Liebesszene an – also setzten sie das Projekt mit diesem Produzenten um. Ausgerechnet Harvey Weinstein.
Um die Zeit, zu der Good Will Hunting herauskam, im Jahr 1997, da soll Harvey Weinstein unter anderem Asia Argento, Rose McGowan und Ashley Judd (einst für die Rolle von Minnie Driver in Good Will Hunting im Gespräch) belästigt haben – um nur drei der prominentesten Frauen aus einer langen Liste von Namen zu nennen, die gegen Weinstein ihr Wort erhoben haben. Aus dem aktuellen Heist-Movie Ocean’s 8 wurde der Cameo von Matt Damon herausgeschnitten, man munkelt, der Grund sei eine Unterschriftensammlung gegen ihn, nachdem er einen relativierend Kommentar bezüglich sexueller Belästigung abgelassen hat. Im Kern: ein Tätscheln auf den Po und eine Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch seien nicht dasselbe und man dürfe nicht überreagieren mit den Verurteilungen.
Tatsächlich kann dem Schnitt eine andere, künstlerische Entscheidung zugrunde liegen – doch die Debatte um Damons Kommentar ist nicht wegzureden. Mit am lautstärksten hat darauf Minnie Driver reagiert, die Matt Damon schon aus Zeiten von Good Will Hunting kennt, in dem sie die einzige relevante Frauenrolle spielte.
Ich merke, dass die meisten Männer – gute Männer, Männer, die ich liebe – dass deren Fähigkeit begrenzt ist, es zu verstehen. Sie können einfach nicht verstehen, wie sich Beleidigung und Missbrauch auf einem täglichen Level anfühlen. […] Du kannst Frauen nicht einfach etwas über den von ihnen erlebten Missbrauch erzählen. Ein Mann kann das nicht tun, niemand kann das. Es ist so individuell und persönlich […]
So individuell wie der körperliche Missbrauch, der dem verschlossenen Protagonisten Will Hunting widerfahren ist – in diesem Film, der thematisch zur MeToo-Debatte durchaus einen gewissen Bezug hat. Tatsächlich sollte man Matt Damons Bemerkungen nicht vorschnell aus dem Kontext seines ganzen Lebens reißen, das sowohl On- also auch Off-Screen stark von feministischem Engagement geprägt ist. Mehr darüber kann man in einem ausführlichen Porträt von Matt Damon auf Bitch Flicks nachlesen (englisch). Darin schreibt die Autorin Lady T auch über besagte einzige relevante Frauenrolle:
Skylar, gespielt von Minnie Driver, ist eine der am besten ausgearbeiteten supporting characters, die ich in Filmen gesehen habe. Weil sie ein supporting character ist, dient sich – bei Definition – dazu, Will’s Entwicklung im Film mit voranzutreiben. Trotzdem ist sie ein voll ausgestalteter Mensch. Abseits vom obligatorischen »Girlfriend«-Archetypen, der nur im Film ist, um dem weiblichen Publikum eine Identifikationsfigur zu bieten. […] Während ein Großteil der Wirkung von Skylars Charakter in der Performance von Minnie Driver liegt, muss man Damon und Affleck etwas Anerkennung dafür zollen, dass sie eine Frau mit Hintergrundgeschichte geschrieben haben. Mit einer größeren Ambition als bloß: »Hey, da muss ein Mädchen im Film sein.«
Lesetipp: Anlässlich seines 20. Jubiläums hat die TV-Journalistin und Filmproduzentin Ivana Imoli im Dezember 2017 einen lesenswerten Artikel über den Film Good Will Hunting geschrieben.
Zuletzt: Auch Ben Affleck (der Will Huntings besten Freund Chuck spielt) ist derweil beschuldigt worden, Fehlverhalten gegenüber Frauen an den Tag gelegt zu haben. Hier ist seine reumütige, rücksichtsvolle Antwort darauf, im Gespräch mit Stephen Colbert (ab Minute 02:30 geht es um Harvey Weinstein und die MeToo-Debatte).
Good Will Hunting war einer der Filme, der wie Forrest Gump (1994), Gilpert Grape – Irgendwo in Iowa (1993) und Titanic (1997) mit als erster in meine Wahrnehmung als »richtige Filme mit Erwachsenen und für Erwachsene« rückte und von meiner Mutter als »super« eingestuft wurde. Das war nach meiner Disney-geprägten Kindheit. Und bevor ich mit dem systematischen DVD-Sammeln und Kultfilm-Suchten anfing. Kultfilme, die »cooler« waren als Good Will Hunting, was in ein paar meiner Jugendjahre leider synonym war mit: gewalttätiger. Bevor ich Good Will Hunting das erste Mal sah, war ich im Übrigen der Meinung, der Titel lasse sich übersetzen mit der »Jagd nach dem guten Willen«.
Good Will Hunting beginnt nach einem Schlaue-Bücher-im-Kaleidoskop-Vorspann mit einer kurzen Szene von Will Hunting (Matt Damon) beim Speedreading in seiner heruntergekommenen Bude. Er blättert durch die schlauen Bücher durch, als seien es Fotobände, kleiner Hinweis auf sein fotografisches Gedächtnis. Dann rollt eine rostige Karre vor seine Haustür in eher ärmlicher Nachbarschaft. Ein Typ im Jogging (Ben Affleck) steigt aus. Wills Kumpel, der ihn von zu Hause abholt – dieses Ritual soll noch eine wichtige Rolle im Film einnehmen, in symbolischer und dramaturgischer Hinsicht.
Lesetipp: 14 verrückte Fakten über Good Will Hunting (von Mental Floss)
Mit jedem Mal Sehen gewinne ich dem Film neue kleine Entdeckungen ab und mag ihn dafür sehr. Jüngst etwas sensibilisiert für feministische Sichtweisen, war ich bei der jüngsten Sichtung arg erschrocken darüber, wie wenige Frauen darin vorkommen. Good Will Hunting mag krasse Mathe-Aufgaben packen, aber er rasselt mit Karacho durch den Bechdel-Test, in allen Punkten, angefangen damit, dass nicht einmal drei Frauenfiguren mit Namen darin vorkommen. Überrascht war ich, dass der Film in feministischen Reviews erstaunlich gut abschneidet. So schreibt Ashley Woodvine:
Es klingt kindisch, aber Good Will Hunting hat mich gelehrt, tiefe Gefühle für einen Film zu entwickeln, der ausschließlich von männlichen Problemen handelt. Es ist nicht ungewöhnlich für mich, dass ich Filme über Männer mag (wie könnte man auch nicht, wenn 90 Prozent der Filme von Männern handeln), aber ich erwische mich oft bei dem Gedanken »das hier wäre besser, wenn es über Frauen wäre« […] – jedenfalls bin ich froh, dass Good Will Hunting ein Film über Männer ist. Wieso? […]
Good Will Hunting zeigt eine Männerfreundschaft auf eine Art und Weise, die sich nicht um Sexismus gegenüber Frauen dreht. Der Film vermeidet solche Stereotypen rund um junge Männer der Arbeiterschicht – und fordert sie dadurch heraus. Vor allem aber ist Good Will Hunting eine fantastische Kritik an der Idee von ultimativem männlichen Erfolg und dem »Streben nach Größerem«. | Ashley Woodvine (Screen Queens)
Gleichzeitig finden Männer-Portale, die ihre maskuline Vormachtstellung in Gefahr sehen, »powerful ideas« in diesem Film (»Wird alle brauchen einen Mentor, der uns bei der Seelenarbeit auf dem Weg zur Reife assistiert« … geht auch Mentorin? Wohl eher nicht.) Der Blogger Luke O’Neil schreibt indes als Mann einen feministisch-kritischen Artikel, während die Bloggerin astriaicow (unter Berücksichtigung anderer Artikel eher anti-feministisch eingestellt) einen ganz anderen Aspekt an dem Film kritisiert, als das Männer/Frauen-Verhältnis: die Fehldarstellung des Genies.
Mit Hinweis auf ihren chinesischen Hintergrund (China, »wo Anstrengung und harte Arbeit von hoher gesellschaftlicher Bedeutung sind«) schreibt sie:
Der Film scheint sagen zu wollen, dass jemand, der ein Thema nicht tiefgreifend erarbeiten will, der es einfach als Hobby nebenbei macht, einfach so komplexe mathematische Beweise erbringen kann. Als ginge es um Brettspiele für Kinder. Es stimmt, dass es Genies gibt, die kein formales Training zu einem bestimmten Thema brauchen (formal im Sinne beständig geschult) und gewisse Dinge besser verstehen, als die meisten Menschen. Doch es gibt kein Genie, dass Dinge einfach am Rande als Hobby macht und trotzdem Leute aussticht, die ihr ganzes Leben diesen Dingen verschrieben haben. Selbst [der berühmte Mathematik-Autodidakt] Ramanujan, der in diesem Film erwähnt wird, hat sich in Mathematik abgeschuftet. Er ging nicht einfach zu seinem Alltags-Job und nächtlichen Partys und kam dann heim, boom!, um komplexe Probleme zu lösen. Diese Menschen widmen ihr Leben einem Thema, ob im Rahmen beständigen Unterrichts oder auch nicht. DAS IST, was den Unterschied macht.
Good Will Hunting legt den Fokus, wie viele amerikanische Filme, allzu sehr auf Talent und nicht auf die Anstrengung. Das macht ihn unglaubwürdig und setzt Genies […] herab.
Good Will Hunting ist ein Film, der versucht, Genies auf das Level normaler Leute abzusetzen. Damit normale Leute sich wohler damit fühlen können, keine Genies zu sein. Die Wirklichkeit funktioniert so nicht, Leute! Genies mögen kein perfektes Leben haben, aber sie entzünden ein Leuchtfeuer für uns Normalos, um aus der Dunkelheit unserer simpel gestrickten Gedankenwelten zu tappen. DAS IST ES, was sie zu etwas Besonderem macht. Aber Good Will Hunting will dich in dem Glauben lassen, dass dieses Leuchtfeuer nichts weiter als eine Taschenlampe ist – und die Dunkelheit das, wo’s am sichersten ist. | astriaicow, in: Why Good Will Hunting is a bad movie, hier im Original nachzulesen (englisch)
Ich denke, selbst mit aller Kritik im Hinterkopf, kann man Filme wie Good Will Hunting noch mit Gewinn sehen. Bestenfalls entdeckt man darin einmal mehr neue Facetten. Dramaturgisch ist der Film absolut gewöhnlich, aber gut gemacht. Und er lässt sein Publikum (na ja… uns normale Nicht-Genies halt, als die wir entlarvt wurden…) mit einem Gefühl angenehmer Genugtung zurück. Zu erwähnen ist auch noch die Performance von Robin Williams. Der hat mit Charisma und Improvisation diesen Film bereichert und damit seinen ersten und einzigen Oscar gewonnen – für seine Rolle als Will Huntings Therapeut.
Zuletzt habe ich Good Will Hunting zufällig mit einem studierten Psychologen und Therapeuten gesehen. Der hat die Therapiestunden in Good Will Hunting mit einem milden Lächeln als »na ja, sehr unkonventionell halt« kommentiert. Sie seien allenfalls durch ihren Erfolg gerechtfertigt. Szenen wie der körperliche Übergriff des Therapeuten, der Will einmal wortwörtlich an die Kehle srpingt, zeugten zumindest nicht von Professionalität.
Zu guter Letzt, wie man aus Good Will Hunting einen Trailer für einen völlig anderen, aber irgendwie auch ziemlich coolen Film schnipseln kann, zeigt dieser grandiose Fake Trailer:
Der Beitrag GOOD WILL HUNTING mit Minnie Driver | Film 1997 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag HAIRSPRAY mit Ricki Lake, Nikki Blonsky | Filme 1988, 2007 | Kritik, Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Mit den »Bradys« sind Ian Brady und Myra gemeint, seine Lebensgefährtin oder vielmehr: Komplizin. Die beiden haben in den 60er Jahren mehrere Kinder und Jugendliche gefoltert und grausam ermordet. »Die Mansons« sind jenes kriminelle Kollektiv um den Rassisten Charles Manson, der seine Anhänger*innen ebenfalls zu Morden aufrief. Die Faszination des Filmemachers John Waters für die Manson-Familie, deren Mitglieder*innen er gar im Gefängnis besuchte, geht soweit, dass er seinen Film Female Trouble (1974) einem Manson-Mitglied widmete: Charles Watson. Dieser war unter anderem an der Ermordung der Schauspielerin Sharon Tate beteiligt. Mit der Aufsehen erregenden Bluttat sollte – so die Idee des fanatischen Charles Manson – ein Rassenkrieg zwischen Schwarzen und Weißen ausgelöst werden.
Wie passt die Faszination für derart menschenverachtende, rassistisch motivierte Taten mit einem Film wie Hairspray zusammen, der wie kaum ein anderer für Nächstenliebe und Toleranz wirbt, Menschen zusammenbringen will und Anstand statt Ausschluss fordert? Diese Frage stellt sich nur dann, wenn wir unser logisches Denkvermögen auf einen Gegenstand anwenden, der von Natur keiner inneren Logik folgt: Homo Sapiens.
[andere Frage: Wie kommt David Edelstein zu einer solch grauenvollen, unnötigen Floskel? Als Familienmitglied eines der Mordopfer liest sich ein solcher Humor sicher als blanker Hohn.]
Jener John Waters, Regisseur des Hairspray-Originals, hat im Hairspray-Remake einen kleinen Gastauftritt. Die Hauptfigur Tracy (Nikki Blonsky) begegnet ihm, während sie singend den Bürgersteig entlangmarschiert. Waters, mit seinem markanten Bleistift-Schnurrbart und einem langen Mantel, grüßt das Mädchen freundlich. Dann wendet er sich ab und reißt den nächsten Passantinnen gegenüber seinen Mantel auf, darunter offenbar nackt, der alte Perversling.
Diese Szene, in der zwischen nettem Gruß und obszöner Geste nur Sekunden liegen, ist beispielhaft für John Waters. Dessen zotiger Flausenkopf ist es, der das Original-Drehbuch zu Hairspray hervorgebracht hat, einem integrativen Feel-Good-Familienfilm vom Feinsten, sowohl in alter als auch in neuer Version.
Inhalt: Hairspray handelt von der Teenagerin Tracy Turnblad (1988: Ricki Lake, 2007: Nikki Blonsky). Sie und ihre Freundin Penny sind große Fans der Corny Collins Show. In dieser TV-Show, die von ihrer Heimatstadt Baltimore ausgestrahlt wird, tanzen weiße Teens zu hipper Musik (für die schwarzen Teens gibt es einen »Negro Day«, einmal im Monat). Die jungen Tänzer*innen der Show werden vom Publikum als Stars gefeiert – und Tracy träumt davon, selbst einmal in dieser Show aufzutreten… der Traum wird wahr, dank ihrer Tanzbegabung und trotz ihres Übergewichts. Die Berufung des fröhlichen, fülligen Mädchens in die Show löst einen ungeahnten Wandel in Baltimore aus.
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text nimmt (im Absatz »Bleibender Eindruck«) nur ein paar Pointen vorweg, verrät aber nichts über den durchaus spannenden Handlungsverlauf. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.
Dass ausgerechnet John Waters einen Film über die Integration von Außenseitern in die öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung macht, hat einen autobiografischen Touch. So integrierte sich der Untergrund-Filmemacher mit einem Faible für Fetische und gesellschaftliche Außenseiter mit seinem ersten Mainstream-Film Hairspray doch selbst in die öffentliche Wahrnehmung.
Während sein wohl berüchtigtes Werk, Pink Flamingos (1972) nur von einem vergleichsweise kleinen Personenkreis als Kultfilm und »Meilenstein des schlechten Geschmacks« gefeiert wird, hat Hairspray seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1988 eine breite Rezeption erfahren. Von einer Adaption als Broadway-Musical im Jahr 2002 bis zum Kino-Remake im Jahr 2007, das Film und Musical auf virtuose Weise miteinander verbindet.
Durch die Lektüre von Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter bin ich auf Hairspray aufmerksam geworden. Butler führt diesen Film aufgrund des Schauspielers Harris Glenn Milstead alias Divine an, der – als vermutlich berühmteste Drag-Queen seiner Zeit – in Hairspray eine Doppelrolle spielt. Er tritt als rassistischer Fernsehstudio-Boss sowie als Mutter der Hauptfigur auf. Letztere Rolle fällt deutlich größer aus.
Divine hat bis Hairspray in jedem Film, den er mit seinem Jugendfreund John Waters zusammen gemacht hat, die weibliche Hauptrolle gespielt und (darum geht es Butler bei besagter Referenz) den Eindruck geprägt, dass »weiblich sein« vielmehr ein Akt der Nachahmung als eine »natürliche Tatsache« ist.
Wenige Wochen nach dem Kinostart von Hairspray (1988) starb Divine im Alter von 42 Jahren an einem Herzstillstand. Er hatte Zeit seines Lebens mit seinem Übergewicht zu kämpfen und wog zum Zeitpunkt seines Todes etwa 170 Kilo.
Im Remake von Hairspray (2007) wurde die Rolle der Mutter Edna Turnblad, gewiss als Hommage an Divines Darstellung, an einen Mann vergeben: John Travolta. Diese Besetzung der Mutterrolle mit einem Mann hatte auch schon eine gewisse Tradition, wurde so doch bereits bei der Musical-Adaption vorgegangen. Aufgrund meiner closure issues habe ich Original und Remake von Hairspray kurz hintereinander gesehen.
Hairspray (1988) beginnt mit dem gleichnamigen Song von Rachel Sweet (mit Deborah Harry). Dazu sehen wir, in der ersten Einstellung, den Haupteingang zu einer TV-Station, an deren Fassade die Buchstaben WZZT prangen. Drinnen sind Vorbereitungen in Gange. Junge Damen und Herren machen sich fit für den Beginn einer neuen Folge von The Corny Collins Show. Tanzende Teens im TV, die hunderttausende Teens vor Amerikas Fernsehgeräten in Euphorie versetzen.
Diese Show hat es wirklich gegeben. Und tatsächlich basiert der Handlungsstrang über die Integration schwarzer Jugendlicher in das weiße Show-Format in gröbsten Zügen auf wahren Tatsachen. Die echte Show (The Buddy Deane Show) wurde 1964 abgesetzt, weil die echte TV-Station (WJZ-TV) unfähig war, die Diskriminierung von Afroamerikanern zu unterlassen. Dieses Kapitel aus einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels hat sich John Waters in Hairspray zum Thema gemacht. Neben Schön- und Schlankheitswahn, Bodyshaming, Generationenkonflikten und der Verlogenheit des Showgeschäfts. Eine Menge Stoff für einen knapp 90-minütigen Film.
Ob das Remake, Hairspray (2007), deshalb eine satte halbe Stunde länger ist, als das Original? Nein, thematisch geht die Neuauflage nicht mehr in die Tiefe. Wohl aber in Sachen Genre. Durch die Integration der Musical-Nummern bekommt das Remake eine neue Facette. Diese macht es zu etwas Eigenständigem, das sich inszenatorisch vom Original emanzipiert. Schon die erste Szene wird zwar auch mit einem Song eröffnet, doch diesen singt – aus vollem Leibe und Herzenslust – die »neue Tracy Turnbled« auf ihrem Weg zur Schule.
Immer wieder wird die Handlung, die sich am Original orientiert, allerdings dramaturgische Änderungen vornimmt, von Gesangseinlagen der Schauspieler*innen übernommen. Denn siehe da: Sie können alle fantastisch singen! Außer John Travolta, aber ok.
Man hat es hier zweifelsfrei mit zwei Herzensprojekten zu tun. Jedes für sich begeistert durch eine leidenschaftliche Umsetzung aller Beteiligten. Und auch die Brücke zwischen den Filmen steckt voller schöner Details. Schubst die Tracy im Original noch eine Ratte weg, um in Ruhe einen romantischen Moment auskosten zu können, füttert die Tracy im Remake ein paar Ratten am Straßenrand, wie zur Wiedergutmachung. Jerry Stiller, der im Original Tracys Vater spielt (und in dieser Rolle ein 90er-Kind wie mich sehr an Arthur aus King of Queens erinnert), tritt im Remake als Inhaber eines Schönheitssalons auf.
Neben derlei kleinen Verbindung stechen Kenner*innen beider Filme natürlich umso mehr die Unterschiede ins Auge. Wie sehr diese nun als Mehrwert oder Missetat empfunden werden, ist Geschmackssache. Mir persönlich gefällt das Erzähltempo des Originals besser (auch wenn dadurch die Musical-Nummern wegfallen). Das Drehbuch des Remakes lässt sich bedachtsam Zeit, jede Wendung und Gefühlsregung so im Dialog zu klären, dass auch wirklich jede*r checkt, was abgeht. Muss nicht sein. Im Original passieren Dinge einfach. Manchmal auch überrumpelnd schnell, das atmet den Charme eines impulsiveren Projekts. (Hängt gewiss mit dem markanten Budget-Unterschieden zusammen.)
So gelungen ich Waters Cameo im Remake finde, ist seine Rolle als sadistischer Psychiater im Original umso grandioser. Und die Rolle der Penny Pingleton, die im Original noch mit einem »P« für »Punished« herumlaufen muss, bleibt im Remake (trotz der tollen Schauspielerin Amanda Bynes) meinem Empfinden nach vergleichsweise blass. Insgesamt fehlt es dem Remake an dem absurden John-Waters-typischen Humor. Wenn etwa (im Original) der Mädchenschwarm in einem »police riot« von Handtaschen niederknüppelt wird und mega die Show draus macht.
Auch die »Special Education Class«, im Remake ganz offensichtlich die Klassse mit den cooleren Kids, ist im Original noch ne urkomische Rasselbande, die selbst von Sportlehrerin (die Dogdeball-Trainerin, grandiooos lustig!) hart gedisst wird.
Beide Filme sind sehr lustig und versprühen ansteckend gute Laune. Während im Original der Humor mehr Raum einnimmt, sind es im Remake die Musik- und Tanzeinlagen, dann auch mit Gesang. Das Original ist kurzweiliger, das Remake opulenter, das Original flotter, das Remake bunter. Man kann getrost beide Filme schauen und sich auf zwei tolle Umsetzungen der gleichen Geschichte freuen. Die Hauptdarstellerinnen Ricki Lake und Nikki Blonsky sind übrigens gleichermaßen großartig charismatisch und liebenswert, die Highlights dieser Filme!
Der Beitrag HAIRSPRAY mit Ricki Lake, Nikki Blonsky | Filme 1988, 2007 | Kritik, Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag STRICTLY BALLROOM mit Tara Morice | Film 1992 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Inhalt: Strictly Ballroom erzählt die Geschichte von Scott Hastings (Paul Mercurio), einem australischen Turniertänzer auf Erfolgskurs. Als er eines Tages seine eigenen Schritte aufs Parkett bringen will, läuft ihm die Partnerin davon. Die Führungsriege der Tanzvereinigung und seine eigene, ehrgeizige Mutter sind empört. Während Letztere händeringend nach einer neuen Partnerin für ihren Sohn sucht, bändelt dieser mit einer jungen Frau namens Fran (Tara Morice) an, dem anfangs unauffälligen Mauerblümchen…
Hinweis: Liebe Leser*innen, liest man Filmkritiken zu Strictly Ballroom, muss man sich doch wundern. Immer wieder wird betont, wie konventionell und vorhersehbar der Plot des Films sei. Und im gleichen Atemzug wird er gefeiert, nicht zuletzt eben dafür. In der Überhöhung von Klischees und dem Charme der Umsetzung liegt die besondere Güte von Strictly Ballroom, insofern enthält der folgende Text keine Spoiler. Da gibt’s nichts zu verraten, was die Zuschauer*innen nicht ohnehin erahnen würden.
Der Film ist in voller Länge online verfügbar, siehe unten.
1984 pitchte die Drehbuchautorin Eleanor Bergstein einem Filmstudio erstmals die Idee, aus der später Dirty Dancing hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Amerika, der zum internationalen Hit avancieren würde. Im selben Jahr, 1984, präsentierten Studenten des National Institute of Dramatic Art in Sydney ein Bühnenstück über die Welt des Ballroom Dancing, aus dem später der Film Strictly Ballroom hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Australien, der zum internationalen Hit avancieren würde. Allerdings erst 5 Jahre nach Dirty Dancing, dem Überraschungserfolg von 1987.
Der Gedanke, Strictly Ballroom reite auf der Erfolgswelle von Dirty Dancing oder sei gar ein Abklatsch dessen, ist also daneben. Baz Luhrmann, der schon damals in das Studenten-Stück involviert war und später die Regie für die Verfilmung von Strictly Ballroom übernahm, ging es darum, dem Skript den Naturalismus auszutreiben. Die Produzenten wollten, dass der damals erst 28-jährige Schauspielstudent mit einem professionellen Drehbuchautor zusammenarbeitete. Luhrmann aber setzte sich letztlich durch, einen theatralischen Ton beizubehalten und die ganze Turniertanz-Welt bewusst zu überzeichnen.
Vergleiche zu Dirty Dancing begrüße ich nicht. Unser Film ist eine Allegorie, eine Art Fantasie, Dirty Dancing ist es nicht. | Baz Luhrmann im Hollywood Reporter, 14.10.1992
…verglichen werden die Filme natürlich trotzdem. Dabei hat es Andrew Price (Commentarama) wohl am besten zusammengefasst, auch wenn sein Diss gegen Dirty Dancing etwas hart ausfällt:
Während Dirty Dancing durchweg ernst ist, ist Strictly Ballroom sehr augenzwinkernd. Auch die Choreographien sind überlegen. Dirty Dancing ist da typisch Hollywood. Der Film zielt darauf ab, flashy zu sein – und wenn er stellenweise auf sexy macht, ist es offensichtlich und überzogen. Das Tanzen in Strictly Ballroom hingegen zeugt von enormen technischen Skills. Es fühlt sich an, als lünkere man in die Übungsstunden echter Tänzer*innen, die im Privaten ihre Limits testen wollen. Dirty Dancing wirkt dagegen gestellt. | Hier geht es zur ausführlichen Filmkritik (auf Englisch)
Tatsächlich handelt es sich bei Hauptdarsteller Paul Mercurio nicht um einen Schauspieler, sondern einen professionellen Tänzer, der in Strictly Ballroom zum ersten Mal für einen Film vor der Kamera stand.
In der 9. Klasse damals, ich muss etwa 13 Jahre alt gewesen sein, da wurden wir Schüler*innen liebevoll dazu gedrängt, die Freitagnachmittage doch mal in der Tanzschule zu verbringen. Klassischer Paartanz, Standard und Latein, erst für Anfänger, dann Kurs Nummer 2… 3 Jahre blieb ich dabei. Ein paar Turniertänze, ein paar Dramen hinter den Kulissen, ohne Bühne großes Theater, typisches Tanzschul-Gezeter. Zwischen Abendtrainings und Abschlussbällen hab ich meine Pubertät ausgelebt, mit peinlichen Spitzen.
Dirty Dancing 2 und Darf ich bitten? (beide 2004) haben wir damals mit versammelter Tanztruppe im Kino gesehen. Dirty Dancing, das Original, das stand als bester Tanzfilm aller Zeiten quasi nicht zur Diskussion. Zu der Zeit entdeckte ich auch Moulin Rouge (2001), nahm ihn begeistert in meine junge DVD-Sammlung auf und hielt mich für einen großen Filmkenner. Ach, wie klein doch diese Bubble war, in der ich damals vor mich hin blubberte. Nicht einmal das Spielfilm-Debüt des Moulin-Rouge-Regisseurs nahm ich zur Kenntnis. Obwohl es doch ein Tanzfilm über eben die Tänze war, die wir Woche um Woche lernten, Walzer, Cha Cha, Paso Doble…
Umfangreiche PDF-Broschüre zu Strictly Ballroom vom Film Institute of Ireland.
Strictly Ballroom beginnt mit einem roten Vorhang. Diese Einstellung mag Namensgeber für die spätere Vermarktung dieses Films als Teil der Roter-Vorhang-Trilogie (Red Curtain Trilogy) sein, zusammen mit Baz Luhrmanns Romeo + Juliet (1996) und besagtem Moulin Rouge (2001). Als erster und am geringsten budgetierter Film dieser thematisch und stilistisch verbundenen Reihe kommt Strictly Ballroom insgesamt jedoch deutlich weniger pompös daher. Die erste Szene zeigt die Silhouetten von Tänzern im Gegenlicht, Bewegungen in Zeitlupe zum Donauwalzer von Johann Strauss.
Der Walzer geht weiter, während wir den Silhouetten aufs Parkett folgen. Als völlig überkandidelt gestylte und gekleidete Tanzpaare paradieren sie vor Jury und Publikum und tanzen los, angefeuert von begeisterten Fans – und aufgedrehten Müttern. Das Bild gefriert auf einer Einstellung eines der Tänzer. Texteinblendung: Scott Hastings, Ballroom Champion. Aus dem Off kommt seine Mutter (Pat Thomson) zu Wort. Sie reflektiert die Erfolgsgeschichte ihres Sohnes, wird prompt eingeblendet. Als nicht minder aufgetakelte Frau sitzt sie neben ihrem selig grinsenden Ehemann auf einem rosa Sofa und spricht in die Kamera. Texteinblendung: Doug and Shirley Hastings, Scott’s Eltern.
Ja, der Tanzfilm Strictly Ballroom beginnt als Mockumentary! Und der Übergang von diesem Genre in das des klassischen Tanzfilms mit konventionellem Handlungsbogen gelingt so galant, wie Scott von seinen einstudierten Schritten in frei improvisierte übergeht.
Bisschen Hintergrundwissen zum Angeben, gefällig? Hier geht’s zu 20 Dingen, die du nicht über Strictly Ballroom wusstest | von der Herald Sun (auf Englisch)
Baz Luhrmann, der keinen naturalistisch anmutenden Film à la Dirty Dancing machen wollte, etabliert in Strictly Ballroom einen Inszenierungsstil, der »too much« als genau richtige Dosis ans Publikum bringt. Ein Konzept, dass Luhrmann bis The Great Gatsby immer exzessiver verwirklicht hat. Seit dem ersten Film arbeitet Lurhmann eng mit seiner Ehefrau, der Szenen- und Kostümbildnerin Catherine Martin, zusammen. Die wilden Kameraflüge und opulenten Kulissen, die wir von den beiden Filmschaffenden gewohnt sind, fallen in Strictly Ballroom ob des geringen Budgets weg. Die finale Szene wurde gar während eines echten Tanzturniers gedreht, vor echten Zuschauer*innen, die in der Pause kurzerhand zum Mitmachen gegeben wurden.
Wir konnten nur zwei Takes drehen, wegen dem kleinen Zeitfenster. In einem der Takes stürzte einer der Tänzer, weshalb wir nur ein Take verwenden konnten. | John O’Connell, Choreograph von Strictly Ballroom
Strictly Ballroom ist insofern übrigens ziemlich up to date, als der Antagonist des Films, der konservative, schmierige Chef der Tanzvereinigung namens Barry Fife (Bill Hunter), eine geradezu erschreckende Ähnlichkeit zu Donald Trump hat. Dem pöbelnden Clown, der aktuell das Weiße Haus okkupiert.
Oh, und apropos Trump: Um spanisch sprechende Immigranten geht es auch in Strictly Ballroom. Und zwar stammt die weibliche Hauptfigur Fran (mitreißend gespielt von Tara Morice) von spanischen Einwanderern ab. Dieser familiäre Background führt den Film zu seinen vielleicht schönen Szenen, die sich nicht im Rampenlicht, sondern im Hinterhof abspielen. Dort, wo sich Generationen und Kulturen begegnen – und Paso Doble tanzen.
Witzige Sache zu Strictly Ballroom: Man sieht jede Wendung kommen und muss doch lachen. | Peter Travers für Rolling Stone, 12.02.1993
Es hätte eine weitere, abgelutschte 08/15-Neuauflage vom hässlichen Entlein werden können. Doch mit starken Dialogen, charmanten Schauspieler*innen und einer ordentlichen Portion Humor, gut über den Film verteilt, gelingt Strictly Ballroom ein bemerkenswerter Film nach bekanntem Muster. Wer Dirty Dancing liebt, wird Strictly Ballroom mindestens sehr mögen – und vielleicht ernsthafte Schwierigkeiten im Ranking der persönlichen Lieblingsfilme kriegen. Für mich schubst Strictly Ballroom den Kultfilm mit Jennifer Grey tatsächlich vom Thron. Da kann Baby noch so viele Melonen heranschleppen…
Hier nun Strictly Ballroom (im englischen Original), viel Vergnügen!
Der Beitrag STRICTLY BALLROOM mit Tara Morice | Film 1992 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag 31. Bundes.Festival.Film. in Hildesheim | Rückblick, Tag 2 erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Braunhemd – die Begegnung | In diesem Film begegnen 3 Kinder aus dem Dritten Reich durch eine magische Tür in der Jugendherberge Sachsenhausen einigen Schüler*innen (12-13 Jahre alt) der Gegenwart, die sich dort mit den NS-Verbrechen auseinandersetzen sollen. Eine Zeitreise mit Folgen, lernen doch alle Beteiligten intensiver denn je über die entsetzlichen Taten der 1930/40er Jahre und die gesellschaftlichen Dynamiken, die sie hervorbrachten. Gleichzeitig hält der Film einen Finger in die Wunden unserer Zeit, in der Smartphones die Kommunikation verstümmeln und Cybermobbing Tür und Tor öffnen. | 57.47 Minuten, von Gerd Manzke (58) aus Linden, Schleswig-Holstein. Der Focus widmete dem beeindruckenden Projekt einen ausführlichen Artikel.
[Ksjucha] | Wieder geht’s um Vergangenheitsbewältigung, doch dieses Mal in einem viel kleineren Rahmen: Eine junge Frau namens Ksenia (vom Griechischen Xenia – die Fremde) reist mit dem Zug nach Omsk, um gegen den Willen ihrer Mutter ihren Vater in dessen Heimat näher kennenzulernen. Begleitet wird sie dabei von einer Freundin, die diese Begegnung mit der Kamera dokumentiert. Ein intimer, kleiner, schöner Film. Ein wenig entzaubert wurde [Ksjucha], als die Filmemacher*innen beim Bühnengespräch im Anschluss offenlegten, dass die Montage (der Schnitt und die Ausschnitte) nicht ganz die tatsächlichen Familien- und Reiseumstände wiedergeben. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deshalb sehenswert: Ein Film von der Kunst des suggestiven Erzählens. | 6.02 Minuten, von Eva Hoffmann (25, @iwyiwi) aus Berlin.
Ab zum Mond | Der jüngste Regisseur des Festivals hat die Kamera seines Vaters mal auf seine Geschwister gehalten. Es geht darum, wie sein kleiner Bruder seine noch kleinere Schwester zum Mond schießen will. Ein charmantes Projekt, sowohl die Mond-Aktion als auch der Film selbst. | 2.54 Minuten, von Gaetano Romagnoli (8) aus Köln, Nordrhein-Westfalen. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Der Name Romagnoli hat mich schon in der Jurysitzung im März hellhörig werden lassen. Aus Köln, auch das noch! Da ist doch Marco Romagnoli aktiv, der berüchtigte Filmemacher mit dem markanten Schnitt und Look und Sound, Musikvideos für die deutsche Rap-Szene, Kurzfilmfutter für Festivals, fleißiger Mann (siehe: sein Vimeo-Profil). Tatsächlich ist Gaetano sein ältester Sohnemann, der sich wohl anschickt, in Papas kreative Fußstapfen zu treten. In der Jurysitzung für den Deutschen Jugendfilmpreis haben wir immer mal wieder darüber diskutiert, wie groß bei etwaigen Projekt von besonders jungen Einreicher*innen der Einfluss von Erwachsenen gewesen sein mochte. So auch bei Ab zum Mond, der gerade im gekonnten Musikeinsatz zumindest den Einfluss des väterlichen Mentors vermuten lässt.
Doch wie soll ein achtjähriger Junge zum Filmschaffen kommen, wenn ihm gar niemand aushilft? Film ist Teamwork, ist doch klar. Wenn ein Kind Musik macht, stören wir uns auch nicht daran, dass es sich das Instrument von Erwachsenen beibringen lässt und fremde Noten spielt. Wenn es später mal ganz Eigenes komponiert, wunderbar, aber das Handwerk will erstmal gelernt sein. Und so ist es auch beim Film von Kindern und Jugendlichen: Manchmal ist es für die Jury ein schmaler Grat, zu entscheiden, ab wann der Fremdeinfluss zu groß ist und die kreative Leistung dominiert. Bei Ab zum Mond von Gaetano Romagnoli kamen wir zu dem Schluss, dass der Junge die Zügel zur Genüge selbst in der Hand hatte. Der Film ist visuell, thematisch und sprachlich aus Kinderperspektive erzählt.
Und alles wird wie früher… | In Sachen Kadrage und Farben spricht dieser schöne, subtile Film schon eine richtig cineastische Sprache. Es geht um ein Mädchen (gespielt von Kristin Braun), das nach langer Zeit ein Freundin aus Kindheitstagen wieder trifft. Und es ist eben nicht, »alles wie früher« … der Film hat den Nachwuchspreis beim Christian-Tasche-Filmpreis gewonnen und ist hier in voller Länge zu sehen. Für mein Gefühl hätte der Film (konkreter: die Tanzszenen) deutlich kürzer geschnitten werden können, ohne etwas von der intensiven Gesamtwirkung einzubüßen, doch Bildsprache und Erzählweise des jungen Regisseurs lassen ein Faible für Langfilme vermuten – da macht es absolut Sinn, sich im gemächlichen Erzählen zu üben. Ich bin gespannt, mehr zu sehen! | 15 Minuten, von Victor Gütay (17) aus Gifhorn, Niedersachsen.
Der Törtchendieb | Eine rasante Verfolgungsjagd von Knetfiguren durch eine liebevolle Pappstadtkulisse. Dieser Film stach allein ob seines Produktionsaufwandes und Charme des Handgemachten aus dem bunten Kurzfilm-Reigen am Wochenende des Bundes.Festival.Film. hervor. Eine großartige Geschwisterleistung, von der amüsanten Stop-Motion-Animation bis hin zur gekonnten Dramaturgie. | 2.42 Minuten, von Ferdinand Maurer und seiner Schwester Fanny (13-14) aus Frankfurt am Main, Hessen.
Spiel-Film | Ein Computerspiel in der Entwicklungsphase – mit Menschen, die ins Spiel reingesogen werden, und Monstern, die aus dem Spiel herausklettern. Was für ein Spaß! Bei der kleinen Referenz an Pulp Fiction (der goldene Schein aus dem geöffneten Koffer) frage ich mich, ob man da wirklich erwachsenen Einfluss vermuten muss, oder diese Referenz so sehr in unsere Popkultur übergegangen ist, dass die Kinder sie selbst einbringen. Denn sie wissen nicht, was sie tun… | 6.30 Minuten, von den Kindern der Trickfilm-AG aus Bochum, Nordrhein-Westfalen.
OSTKAKTUS | Eine Punkband redet über das Wesen des Punk. Erst werden die jungen Musiker*innen interviewt, dann verhört – alles in der detailverliebt heraufbeschworenen DDR. Der Film gipfelt in einem Konzert, das in geschickter Parallelmontage zum Geschehen am Grenzübergang Gänsehaut hervorruft. Für mich einer der besten Beiträge zum 31. Bundes.Festival.Film.; bin immer noch schwer beeindruckt davon, dass die Filmemacher*innen sogar den Song fürs Finale selbst geschrieben und so großartig »geil scheiße« in Szene gesetzt haben: »Ohne Stacheln woll’n sie ihn, doch der Kaktus mag das nicht!«. Inspiriert wurde der Film von Gilbert Furians Buch Auch im Osten trägt man Westen. | 16.01 Minuten, von Johanna Ziemer, David Vagt (21, 19) aus Potsdam, Brandenburg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Handprints | Als hoffnungslos verlorener Rezipient im Angesicht von abstrakter Kunst, hatte ich es auch bei diesem Experimentalfilm schwer. In krassen, gesättigten, flackernden Bildern beschwört Handprints eine alptraumhafte Atmosphäre herauf, die an David Lynch denken lässt. Bloß, dass es sich bei dem Kopf dahinter um einen erst 15 Jahre alten, kreativen Filmemacher handelt. Dieser Umstand, dass ein so junger Typ ein so vielschichtiges, undurchsichtiges Werk hervorbringt, hat mich am meisten fasziniert. Den Film konnte ich in seinen Bedeutungsschichten leider nicht entzwiebeln. | 6.05 Minuten, von Janis Kraffzik (15) aus Tostedt, Niedersachsen. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Insgesamt gab es beim 31. Bundes.Festival.Film. nur wenige solcher außergewöhnlicher Experimentalfilme – und auch Dokumentarfilme waren vergleichsweise rar gesät. Als einen Trend nahmen wir seitens der Jury des Deutschen Jugendfilmpreises vielmehr das fiktionale Erzählen wahr, das sich dramaturgisch und visuell oft an den großen Vorbildern orientierte. Gekonnte Nachahmung der Technik und Soft Skills etablierter Kino-Größen wie David Fincher oder Xavier Dolan, weniger der Bruch mit Konventionen des Erzählens. Doch Ausnahmen gibt es immer wieder, und Handprints würde ich dazu zählen. Spannender Beitrag!
Immer Beste Freunde | Eine liebevolle Collage von besten Freund*innen (9-12 Jahre alt), die einander ihre Freundschaft erklären. Dabei kommen Dialoge zustande, die mit zu den witzigsten den Bundes.Festival.Film. zählen. Bezaubernder, kleiner Film! | 14.46 Minuten, vom Filmclub Gera-Pforten e.V. / Stefan Gabel (58) aus Gera, Thüringen. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Advents-Überraschung | Ein Stop-Motion-Film von drei Jungs, die eine Kriminalgeschichte rund um den Weihnachtsmann erzählen. Mit ideenreichen Bildern und unterhaltsamen Wendungen. | 3.12 Minuten, von Eric Hendrich, Anton und Julius Kleinhanß (7-8) aus Alsheim, Rheinland-Pfalz. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Reni | Das Porträt einer Frau, die mit einer durch das Schlafmittel Contergan verursachten Behinderung ihr Leben bestreitet. Als Künstlerin und Schauspielerin weiß sie dabei ein ums andere Mal, das Publikum dieses interessanten Dokumentarfilms zu überraschen. | 18.10 Minuten, von Josef Pettinger (70) aus Göppingen, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Ninja Motherfucking Destruction | Hinter dem Titel hab ich erstmal ein Trash-Fest vermutet. Stattdessen: Ausschnitte aus dem Leben dreier Freundinnen, unaufgeregt arrangiert, lebensnah inszeniert, ein Film wie eine Kapsel. Konserviert werden darin kleine Momente, Gesten, Blicke zwischen den Protagonistinnen, über deren Gedanken und Beziehungen zueinander wir nur rätseln dürfen. | 11.22 Minuten, von Lotta Schwerk (20, auch: Was wir wissen, Okay.) aus Berlin. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Aye, Aye! | Eine komische Bohne gerät in hohen Regalschluchten plötzlich in Seenot. Eine Animation als Verbildlichung dessen, wie es im Kopf eines an Demenz erkrankten, pensionierten Seemannes zugeht. Ein berührender Film! | 4.57 Minuten, von Aruna Gallas, Julia Maier, Majda Sehovic (21) aus Ravensburg, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
punktpunktkommastrich | In mancherlei Hinsicht der heftigste Beitrag zum 31. Bundes.Festival.Film.: Die schwangere Tilda soll sich im Rahmen eines Schulprojektes um einen Babysimulator kümmern. Dieser Film hat wie kein Anderer ob kontroverser und interessanter Einzelszenen und Bilder zu Diskussionen in der Jury geführt. Die Filmemacherinnen arbeiten bereits an ihrem nächsten Projekt. Man darf auf deren weiteres Schaffen gespannt sein. | 14.52 Minuten, von Georgia Bauer und Rahel Jung (18-19) aus Stuttgart, Baden-Württemberg. Hier geht es zum YouTube-Kanal der beiden, auf denen auch punktpunktkommastrich in voller Länge zu sehen ist.
Waldstück | Zwischendurch mal eine kleine musikalische Einlage, zum Besten gegeben von einem witzig animierten Pilz-Orchester, das Vater und Tochter bei Waldspaziergängen in Bildern eingefangen und am Computer zum Leben erweckt haben. | 2.06 Minuten, von Stella Raith (21) aus Ditzingen, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Die Schatten auf meinem Gesicht | Ein Mann erzählt offen von seinen Depressionen. Ein junge Frau findet dazu bedrückend schöne, schlichte Bilder. Dieser kurze Dokumentarfilm gehörte zu den relevantesten Beiträgen, insbesondere durch das Gespräch der Beteiligten im Anschluss an die Filmvorführung beim Bundes.Festival.Film. Eine lobenswerter Umgang mit einem Tabuthema, ein Film, der als Türöffner dienen kann. | 4.32 Minuten, von Ann-Kathrin Jahn (22) aus Winnenden, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Wunderland | Im blauen Wald erwacht ein gelb gekleidetes Mädchen. Um sie herum: verwirrende, exzentrische Figuren, die eine auf den Kopf gestellte Sprache sprechen. Was ist da los? Eine hintersinnige Hommage an jene Alice von Lewis Carroll. | 11.55 Minuten, von Tanja Hurrle (19, auf Vimeo aktiv) aus Dieburg, Hessen. Die Filmemacherin stand auch stellvertretend für Joschua Keßler (Detailverliebt) auf der Bühne und hat die Gesprächsrunden nach den Filmen um zahlreiche Fragen bereichert. Eine aufgeweckte Kreative, die uns sicher noch weitere spannende Projekt bescheren wird.
CHRIST/EL | Alte Super8-Aufnahmen, arrangiert zu einem Familienporträt. Ein Sohn erzählt in einiger zeitlicher und scheinbar auch persönlicher Distanz von seiner Heimat, seinen Eltern, seiner Jugendzeit. Doch immer wieder wartet er mit intimen Einsichten und Momenten auf – ein bemerkenswertes Werk! | 8.58 Minuten, von Andreas Grützner (54) aus Hamburg. Hier geht’s zu seiner Website.
Der Zombiehausstein | DAAA HABEN WIR DAS TRASH-FEST! Auf die Idee muss man erstmal kommen. Ein Stein wird als Hausstein in die Familie aufgenommen, bis er stirbt und beerdigt wird (so richtig mit Grabstein, wie es sich gehört). Eines Nachts aber erwacht er wieder, der blutrünstige Stein, und geht auf Menschenjagd. Das ganze Ding ist in Rückblenden erzählt, aus einer schwarzweißen, bierernsten Polizei-Verhör-Rahmenhandlung heraus. Großartig: Im Anschluss stellte doch tatsächlich ein Zuschauer die Logik des Films in Frage. Müsse ein Zombiestein nicht eher Jagd auf andere Steine machen, statt auf Menschen? Ja, stimmt. Ansonsten ist Der Zombiehausstein in Sachen Logik aber wasserdicht. Ein weiteres irrationales Verhalten seitens des domestizierten Steines. | 5.27 Minuten, von Fynn Boitin, Sophia Heldt und Leon Schlemminger (15) aus Düsseldorf, Wismar, Mecklenburg-Vorpommern. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Sardinien | Ein junges Paar verbringt ein paar letzte gemeinsame Stunden, bevor er Richtung Sardinien abdüst. Hätte ein ach so entspannter Abend werden können, wenn da nicht die Kondome im Kulturbeutel wären. Grandios inszenierte Komödie, auf den Punkt gespielt von Marie Mayer und Konstantin Gerlach. Was haben wir gelacht, bei der Jurysitzung im März und jetzt im Thega Filmpalast, beim Bundes.Festival.Film. Dieser Streifen ist für ein großes Publikum gemacht. Obwohl ein gekonnt in sich geschlossener, schöner, kleiner Film, hätte Sardinien auch getrost als Szene einem Kinofilm entnommen sein können. So professionell ist der Film gemacht, so ausgearbeitet kommen die Figuren daher. Mehr davon! | 10 Minuten, von Alexander Conrads (25) aus Bad Vilbel, Hessen.
Hier geht’s zu einem Rückblick zu Tag 1 des 31. Bundes.Festival.Film. in Hildesheim.
Der Beitrag 31. Bundes.Festival.Film. in Hildesheim | Rückblick, Tag 2 erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag AUF WIEDERSEHEN, PAPA über Trennung | Kinderbuch 1995 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Puppen fallen lassen, in den Flur laufen, dem Vater um den Hals fallen, festkrallen. Dinge, die für meine Schulfreundin zum Ritual wurden, während ich das Spektakel aus dem Türrahmen beobachtete. Und das ganze Trara mit meinen 6 Jahren nicht so ganz verstand. Mein Vater war auch toll, klar. Aber gleich so auszurasten? Dass die Gefühlswelt von Trennungskindern eine andere ist, erzählt Brigitte Weninger einfühlsam in ihrem Buch Auf Wiedersehen, Papa.
Zum Inhalt: Sehnsuchtsvoll. Das ist mein erster Eindruck vom Bilderbuch Auf Wiedersehen, Papa mit Blick auf den Titel und das Cover im Hochformat. In einer einzigen Illustration mit reduzierten Elementen gelingt es Christian Maucler, den Kern der Geschichte aufzuzeigen: Ein Junge im Schlafanzug sitzt mit angewinkelten Knien auf dem Boden, hält seinen Teddybären fest und blickt in die Ferne, zum Schatten seines Vaters. Uns kehrt er dabei die Schulter zu. Hinter ihm – wie im Spiegelbild – sitzt ein kleiner Bär, der ebenfalls mit seinem Kuscheltier seinem Papabären hinterherschaut. Deutlicher könnte ein Titelbild kaum mitteilen, dass das Thema der Kindergeschichte »Abschiednehmen« ist und gleichzeitig auf die Emotionalität der Story einstimmen. Wer dieses Buch in die Hand nimmt, sieht: Das ist kein Friede-Freude-Eierkuchen-Buch. Hier geht es um ernste Kindergefühle.
Emotionen, die zwischen fröhlich, traurig, wütend und verletzt hin und her pendeln. Tom reagiert wie ein Kind reagiert, wenn es zwischen den Eltern hin und her gereicht wird. So hält seine Begeisterung für den Vater gerade an, bis dieser ihn wieder verlässt. Beim Abschied weicht Tom aus und verwehrt ihm einen Abschiedskuss. Den Schmerz, den Tom nachfolgend verspürt, lässt er verbal an seiner Mutter aus: »Lass mich in Ruhe!«, und verkriecht sich in seinem Bett.
Doch Tom ist nicht allein mit seiner Wut und Traurigkeit. Sein Teddybär erzählt ihm eine Geschichte, die Toms Familienleben auf fantasievolle Weise spiegelt. Eine Geschichte in der Geschichte, ein Déjà-vu mit gleichen Rollen und neuen Figuren. Denn Teddy hadert ebenfalls mit der Trennungssituation und vermisst Papabär schrecklich. Dass er immer wieder aufs Neue von seinem Vater verlassen wird, versteht Teddy nicht: »Aber ICH hatte doch keinen Streit mit Papa!« Alles sehr verwirrend für Teddy und Tom. Doch Mamabär findet die richtigen Worte, damit Teddy und Tom inneren Frieden mit ihren Vätern schließen können und sich beim Abschied auf ein Wiedersehen freuen können.
Mit der Trennungsproblematik greift Brigitte Weninger ein sensibles Thema auf, das die zielgruppenrelevanten Kinder vor eine Herausforderung stellt. Wie mit allen heiklen Stoffen, ist das Risiko der Autorin, das Feingefühl zu verfehlen, entsprechend groß. Zumal das Buch laut Klappentext für Sprösslinge ab 3 Jahren empfohlen wird. Doch mit ihrem Debüt, das bereits 1995 erschien, beweist die Kinderbuchautorin und Pädagogin das richtige Maß an Empathie für die Zielgruppe. Das Buch ist nah an der Lebenswelt von Trennungs- und Scheidungskindern angesiedelt.
Hinweis: Ein weiteres Kinderbuch zum Thema Trennung vom Vater ist Die wichtige Dinge (2015) von Peter Carnavas.
In einfacher, kindgerechter Sprache, mit wenig Text und gleichermaßen klaren und feingezeichneten Illustrationen von Christian Maucler konzentriert sich die Handlung auf das Wesentliche, auf die Gefühlslage von Tom und Teddy, die sich von ihren Vätern abgewiesen und vernachlässigt fühlen. Ein Zustand, den Trennungskinder nachempfinden und sich mit beiden Figuren identifizieren können. Durch den Fokus auf die konfliktträchtige Vater-Sohn-Beziehung, die zwischen Freud und Leid hin und her schwankt, rückt die ernste, traurige Stimmung der Story in den Vordergrund. Aus diesem Grund empfiehlt sich das Buch auch bei älteren Kindern zum gemeinsamen Vorlesen mit den Eltern, um anschließend darüber zu sprechen.
Die ganzseitigen, teilweile collagenartigen und seitenüberlappenden Bilder unterstützen die melancholische Atmosphäre des Inhalts ideal, indem die feinen Striche und gedeckten Farben das zarte Kindsgemüt reflektieren. Der innere Konflikt des Kindes wird auf behutsame Weise gelöst, indem die Autorin Mamabär – stellvertretend für Toms Mutter – erklären lässt, was sich so schwer erklären lässt. Am Ende bleibt die eindringliche Botschaft an das Kind zur Elternliebe: »Dieses Liebhaben hört nie auf.«
Um auf einige kritische Käuferstimmen (etwa bei Amazon) einzugehen: Keine Frage, der »Bösewicht« in dem Buch ist die Vaterfigur. Ob dies dem konservativen Rollenverhältnis geschuldet ist oder einfach der Geschichte, ist reine Spekulation. Emanzipierte Stimmen haben recht, die Mutterfigur hätte ebenfalls der Buhmann des Kindes sein können. In dieser Konsequenz müsste jede Geschichte auf das andere Gender übertragen werden. Für die Handlung und den Kern der Geschichte spielt es jedoch aus meiner Sicht keine Rolle, ob die Person mit dem Sorgerecht männlich oder weiblich ist. Für das Identifikationspotenzial des Kindes allerdings schon, so dass Kinder, die bei der Mutter wohnen, einen besseren Zugang zu dem Buch finden.
Was aber auch zählt, ist das Eingehen auf die innere Zerrissenheit des Kindes, welches sich von seinen Erziehungsberechtigten schmerzlich abgewiesen fühlt. Man kann die Trennung von Eltern verurteilen, wie einige Rezensenten, aber man kann ihr Vorkommen in unserer Gesellschaft nicht verleugnen. Für Kinder, die mit diesem Zustand umgehen müssen, ist es umso wichtiger, ihnen eine liebevolle Botschaft zu senden, die sie ein wenig tröstet.
Hinweis: Auf Wiedersehen, Papa wird auch in der Broschüre Kinderbücher zum Thema Trennung/Scheidung der Stadt Aachen vorgestellt (hier: Download als PDF).
In wenigen, aber umso bedeutungsvolleren Worten und Bildern haben Brigitte Weninger und der französische Illustrator Christian Maucler mit Auf Wiedersehen, Papa ein einfühlsames Bilderbuch zum Trennungsthema kreiert. Mit Aufgreifen der Kinderperspektive bringt die Geschichte den betroffenen Kindern Verständnis und Mitgefühl entgegen und hilft, diese konfuse Situation ein wenig besser zu verstehen und mit friedlicherem Herzen »Auf Wiedersehen« zu sagen. Ein empfehlenswertes Werk zum Vorlesen für Kinder in Trennungsverhältnissen, ab 3 Jahren mit Appel an Anschlusskommunikation. Ich vergebe 8 von 10 Sternen für Auf Wiedersehen, Papa.
Titel | Auf Wiedersehen, Papa |
Erscheinungsjahr | 2008 (erstmals 1995 erschienen) |
Autor/Illustrator | Brigitte Weninger (Autor), Christian Maucler (Illustrator) |
Verlag | minedition |
Seiten | 32 Seiten |
Altersempfehlung | Ab 3 Jahre |
Der Beitrag AUF WIEDERSEHEN, PAPA über Trennung | Kinderbuch 1995 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag Das Unbehagen der Geschlechter, Judith Butler | Buch 1991 | Zusammenfassung erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Grund liegt vor allem in der These, dass neben dem sozialen Geschlecht (engl. gender) auch das körperliche Geschlecht (sex) diskursiv geformt wird, durch performative Sprechakte. Dass Natur demnach schon ein Ergebnis kultureller Erkenntnisse (und nicht diesen vorausgehend) sei, das ist diejenige Prämisse von Judith Butler, die den Zugang zu ihrem Werk Das Unbehagen der Geschlechter für viele Leser*innen erschwert.
Die Annahme, dass Körper durch Diskurse und performative Sprechakte konfiguriert werden, bedeutet jedoch nicht, dass Körper als materielle Realitäten vollständig auf Diskurse zurückführbar sind; lediglich, dass es keine von der symbolischen Ordnung unberührte körperliche Materialität gibt.
Hannelore Bublitz, in: Judith Butler zur Einführung (2002), S. 41
Im Folgenden soll eine grobe Übersicht zu dem Werk Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble und den davon ausgehenden Kontroversen gegeben werden. Hier geht es zu einer Zusammenfassung des Vorworts. Ein PDF der englischen Original-Fassung Gender Trouble von Judith Butler stellt die Mexikanerin Laura González Flores bereit.
In der Doku Judith Butler, Philosophin der Gender (2006) des Sender arte, sinniert die Autorin über den Ursprung von Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble. Dabei geht es um ihre jüdische Familie und deren Assimilation in Amerika. Judith Butler kam 1956 in Cleveland, Ohio zur Welt. Die Familie ihrer Mutter besaß eine Kinos in Cleveland. Wie viele Jüdinnen waren sie in diese neue Industrie eingestiegen, die im 20. Jahrhundert boomte.
Für die Generation amerikanischer Juden, die mich aufzog, bedeutete Assimilation offenbar, dass man sich den Geschlechtsrollen aus Hollywood-Filmen anzupasste. So wurde meine Großmutter zu Helen Hayes, […] mein Großvater war so etwas wie Clark Gable […].
In den späten 60ern und frühen 70ern, als ich versuchte, mit der Verteilung der Geschlechtsrollen klarzukommen, war ich mit diesen übertriebenen Rollenerwartungen konfrontiert. […] Vielleicht ist die Theorie von Das Unbehagen der Geschlechter aus meinem Versuch entstanden zu verstehen, wie meine Familie diese Hollywood-Normen verkörpert hat. Und dann auch wieder nicht. Sie versuchten sie zwar zu verkörpern, aber in gewisser Hinsicht war es ihnen gar nicht möglich.
Meine Schlussfolgerung war, dass jeder, der sich bemüht, diese Normen zu verkörpern, auf eine Weise daran scheitert, die viel interessanter ist, als ein Erfolg es sein könnte. | aus: Judith Butler, Philosophin der Gender (2006)
Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble sei eine Schrift, so Butler, in der es darum geht, wie wir als Gesellschaft gewisse Geschlechtsnormen konstruieren. In dieser Schrift wird die Geschlechtsidentität (gender) als eine Tätigkeit beschrieben. Wir stellen etwas dar, handeln in einer bestimmten Weise, sind ständig im Werden begriffen. Darüber definieren wir unsere Identität. Es geht um die Frage, auf welche Arten wir unsere Geschlechtsrollen erschaffen und was wir damit anstellen können?
Judith Butlers Buch Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble unterteilt sich in folgende 3 Kapitel.
Das erste Kapitel handelt von »Frauen« als Subjekte des Feminismus und der Unterscheidung zwischen körperlichem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender). Zwei zentrale Begriffe dieses Kapitels sind die »Zwangsheterosexualität« (die gesellschaftliche Fixierung auf heterosexuelle Lebensweisen) sowie der »Phallogozentrismus« (demnach viele Festlegungen dessen, was in der Gesellschaft als »weiblich« gilt, von Männern ausgehen). Ist zum Beispiel die »Frau« nur eine sprachlich konstruierte Geschlechter-Kategorie und die Sprache selbst phallogozentrisch? So sieht es die Psychoanalytikerin Luce Irigaray.
Luce Irigarays grundlegendes Argument ist, dass Philosophie seit Platon – und sogar schon vor diesem – auf der Idee eines singulären, operierenden Subjekts beruht, das seine Umwelt betrachtet und zu verstehen versucht – als einzelnes Subjekt; und dass darin die Auslöschung von Unterschieden begründet liegt, und des Weiblichen.
Isabelly Hamley, in: Luce Irigaray by Isabelle Hamley (YouTube, 02:40)
Neben Luce Irigaray geht es um die Schriftstellerin Monique Wittig. Diese stellte die These auf, dass »das Weibliche« das einzige Geschlecht sei, das in einer Sprache repräsentiert wird, die das Weibliche mit dem Sexuellen verknüpft. Wittig ist der Ansicht, dass nur die leiblichen Personen, die keine heterosexuellen Beziehungen im Rahmen der Familie (mit dem Zweck der Fortpflanzung als dem Telos der Sexualität) unterhalten, die Kategorien des Geschlechts anfechten oder zumindest in keiner Komplizenschaft stehen. Butler schreibt über Wittig:
In Erwiderung auf Beauvoirs These »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«, stellt Wittig die Behauptung auf, daß man, anstatt eine Frau zu werden, eine Lesbierin werden kann. Indem sie die Kategorie »Frau(en)« zurückweist, schneidet Wittigs lesbischer Feminismus scheinbar jede Art von Solidarität mit den heterosexuellen Frauen ab […].
Was für ein tragischer Fehler ist es […], eine schwule/lesbische Identität durch dieselben Mittel der Ausschließung zu konstruieren, als würde das Ausgeschlossene nicht gerade durch seine Ausschließung stets vorausgesetzt und damit sogar für Konstruktion dieser Identität erfordert. | S. 188-189
Jede Matrix, der eine Binarität zugrunde liegt, (ob nun weiblich/männlich oder lesbisch/schwul), verwirft diejenigen Subjekte, die sich in dieser Matrix nicht unterbringen lassen. Die verworfenen Subjekte werden zum »Anderen«, durch dessen Ausschließung sich die Subjekte innerhalb der Matrix konstituieren.
Das Verworfene [the abject] bezeichnet hier genau jene »nicht-lebbaren« und »unbewohnbaren« Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des »Nicht-Lebbaren« jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen. Diese Zone der Unbewohnbarkeit wird die definitorische Grenze für den Bereich des Subjekts abgeben.
Judith Butler, in: Körper von Gewicht (1997), S. 23
Fragen, die in diesem Kapitel zu erörtern sind:
Wie bringt Sprache selbst die fiktive Konstruktion des »Geschlechts« hervor, die diese verschiedenen Macht-Regime (Zwangsheterosexualität, Phallogozentrismus) trägt? (als solche werden Zwangsheterosexualität und Phallogozentrismus verstanden – in ihnen bündelt sich gesellschaftliche Macht)
Welche Kontinuitäten zwischen Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren suggeriert eine Sprache unterstellter Heterosexualität? Sind diese Begriffe eventuell diskret, also in ihrer jeweiligen Bedeutung gar nicht stetig fest und eindeutig bestimmt?
Und wenn Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren nicht fest bestimmt sind, welche kulturellen Verfahren bringen ihre angeblichen Beziehungen ins Wanken?
Das zweite Kapitel behandelt unter anderem das Inzesttabu. Dieses untersagt in fast allen Kulturen sexuelle Beziehungen zwischen Blutsverwandten. Das Verbot kann als ein Mechanismus dargestellt werden, der innerhalb eines heterosexuellen Rahmens versucht, bestimmte Geschlechtsidentitäten (gender identities) zu erzwingen. So lässt es sich in strukturalistischen, psychoanalytischen und feministischen Schriften darstellen, drei Perspektiven, die Judith Butler hier vorgestellt.
Sie unterzieht das Inzesttabu einer Kritik vermittels der Repressionshypothese von Michel Foucault. Die Repressionshypothese besagt, dass Macht repressiv individuelle Triebregungen und -äußerungen zurückdränge. Im Fall des Inzesttabus besteht die Repression in einem Verbot inzestuöser Handlungen, womit aber – indirekt – die Zwangsheterosexualität in der männlich bestimmten Sexualökonomie bestärkt wird. Gleichzeitig eröffnet das Inzesttabu eben diese Sexualökonomie jedoch auch für Kritik.
Des Weiteren werden im zweiten Kapitel die Begriffe »Identität«, »Identifizierung« und »Maskerade« analysiert. Sowohl im Werk der Psychoanalytikerin Joan Riviere als auch in anderen Theorien der Psychoanalytik. Fragen, die in diesem Kapitel zu erörtern sind:
Können psychoanalytische Theorien für eine Darstellung der komplexen geschlechtlich bestimmten »Identitäten« angewendet werden?
Handelt es sich bei der Psychoanalyse um eine anti-fundamentalistische Theorie, die sexuelle Vielschichtigkeit bejaht, womit die hierarchischen sexuellen Codes unserer Gesellschaft de-reguliert werden?
Oder arbeitet die Psychoanalyse eben zugunsten dieser Hierarchien, indem sie einen Komplex von Voraussetzungen über Identitätsgrundlagen aufrecht erhält?
Das dritte Kapitel von Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble unterzieht zunächst die Konstruktion des mütterlichen Körpers bei der Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Julia Kristeva einer Kritik. Butler verweist auf die impliziten Normen, die Kristevas Ausführungen zu Geschlecht und Sexualität zuweilen zugrunde liegen. Ein Beispiel von Butlers Beobachtungen:
Scheinbar akzeptiert Kristeva […] den Begriff einer primären Aggression und unterscheidet die Geschlechter je nach dem primären Objekt der Aggression […]. Daher versteht Kristeva die männliche Position als nach außen gerichteten Sadismus, während die weibliche Position ein nach innen gerichteter Masochismus ist. | S. 230
Für diese Kritik zieht Butler wieder den Philosophen Michel Foucault heran. Jedoch nicht, ohne auch Kritik an diesem zu formulieren und auf Widersprüche in seinem Werk hinzuweisen. Butler unterstellt Foucault eine »radikale Fehllektüre« der Tagebücher des intersexuellen Herculine Barbin, die Foucault entdeckte und veröffentlichte. Sowohl Foucault als auch Barbin vertraten, laut Butler, der Ansicht, dass Sexualität »außerhalb jeglicher Konvention« steht. Butlers Meinung nach hingegen sei die Sexualität »gerade von diesen Konventionen geprägt«. Foucaults Lesart von Barbins Tagebüchern verkenne…
…wie diese Lüste immer schon in das zwar unausgesprochene, aber durchgängig wirksame Gesetz eingelassen sind und gerade durch das Gesetz erzeugt werden, dem sie sich angeblich widersetzen. […]
Foucault, der nur ein einziges Interview zur Homosexualität gab und sich dem Moment der Beichte in seinem eigenen Werk stets widersetzt hat, präsentiert uns Herculines Geständnis in einer unverhohlen didaktischen Art und Weise. Handelt es sich hier vielleicht um eine verschobene Beichte, die auf eine Kontinuität oder Parallele zwischen seinem und ihrem Leben verweist? | S. 148, 152
Aller Kritik zum Trotz erweist sich Foucaults Auseinandersetzung mit der Kategorie des Sexus (die differenzierte Ausprägung eines Lebewesens bezüglich seiner Rolle bei der Fortpflanzung) als hilfreich, um zu Butlers Zeiten aktuelle, medizinische Fiktionen als solche zu entlarven.
Außerdem thematisiert Butler Wittigs Vorschlag einer »Desintegration« kulturell konstituierter Körper, deren Morphologie selbst eine »Folgeerscheinung des hegemonialen Begriffsschemas« sei. Mit Rückgriff auf Mary Douglas und einmal mehr Julia Kristeva schreibt Butler hier auch über die Begrenzung und Oberfläche von Körpern als politische Konstruktion.
Zuletzt schlägt Judith Butler einige parodistische Praktiken vor, die auf einer performativen Theorie der Geschlechter-Akte (gender acts) beruhen. Akte, welche die Kategorien des Körpers und Geschlechts, der Geschlechtsidentität und Sexualität ins Wanken bringen. Ziel ist es, diese Kategorien zu resignifizieren (neu zu bezeichnen) und eine Vervielfältigung innerhalb des binären Rahmens herbeizuführen.
Die Aufgabe [von Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble] ist, sich auf solche definierenden Institutionen: den Phallogozentrismus und die Zwangsheterosexualität zu zentrieren – und sie zu dezentrieren. | Vorwort, S. 9
Wichtige Namen/Personen aus Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble:
Simone de Beauvoir · Jacques Derrida · Mary Douglas · Michel Foucault · Sigmund Freud · Luce Irigaray · Franz Kafka · Julia Kristeva · Jacques Lacan · Claude Lévi-Strauss · Friedrich Nietzsche · Joan Riviere · Jacqueline Rose · Jean-Paul Sartre · Joan Scott · Monique Wittig · uvm.
Der Beitrag Das Unbehagen der Geschlechter, Judith Butler | Buch 1991 | Zusammenfassung erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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