Minuten – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Minuten – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/ http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/#respond Tue, 31 Jul 2018 07:00:15 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4530 Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die…

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Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die Modewelt, wobei man über beiderlei Hintergründe ähnlich wenig erfährt: Das ist Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft. Während die Kindheit und Jugend der größten Modeschöpferin des 20. Jahrhunderts in einem Dunkeln liegen, dass Coco selbst nicht aufhellen wollte, ist vieles über ihre ersten Karriere-Schritte in Paris bekannt. Da kommt es nur auf den Fokus an.

Die fabelfreie Welt der Rebellin

Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.

Audrey Tautou als Coco Chanel | Bild: Warner Bros. France

Totale: Coco im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.

Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:

Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)

Persönlicher Kontext

Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.

Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.

Fokus: Coco im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.

Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.

Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.

Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.

Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.

So läuft’s eben nicht

Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:

Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. |  Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)

Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.

Der Trailer zum Film

Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.

Dunkle Seiten

Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)

Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:

Fazit zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft

Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.


Weitere Filmkritiken:

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Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/ http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/#respond Wed, 25 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4288 Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia…

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Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia schaut ein Handyvideo. Sie sitzt auf dem Sofa. Draußen brütet die Hafenstadt Padstow unter der Sonne. Das Sprachwirrwarr der Tourist*innen und das Geschrei der Möwen dringen durchs offene Fenster herein, mit den Sonnenstrahlen. Ich setze mich zu Sonia, in den Schatten der Gardine. Das Video hat eine Freundin bei Facebook geteilt. Fünf Minuten, fast vorbei, Sonia scrollt nochmal auf Anfang. So derart im alltäglichen Zwischendurch begriffen, aus irgendwelchen Gedanken gerissen, entdecken wir das Musikvideo zu Birthplace von Novo Amor. Wie eine Flaschenpost im Meer der Massenmedien. Mit wichtiger Botschaft und doch hoffnungslos verloren im ganzen Müll, der das Netz anfüllt.

Im Rachen des Todes

»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.

Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert? 

Free Diver Michael Board und ein Manta Rochen im Meer, Standbild aus dem Musikvideo Birthplace von Novo Amor

Was kann Kunst schon ausrichten?

Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?

Novo Amor und die Natürlichkeit

Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.

»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.

Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.

Die Nähe zum Visuellen

Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.

Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)

Mehr Plastik als Fische

Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.

Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace

Unsere selbstgemachte Nemesis

Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.

Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.

Die Geburt des Wals

Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.

Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.

Bali: Müll auch zu Lande

Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.

Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:

In aller Ruhe atemlos: Michael Board

Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.

Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace

Blind im Angesicht des Wals

Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:

Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.

Die Lyrics zu Birthplace + deutsche Übersetzung

Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:

Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.

Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.

[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.

Vom Menschen in Bestform

Be at my best, 
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.

Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.

[Refrain]

Here, at my best, it’s all at rest, 
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.


Weitere Links:

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Wie ein Staffelfinale, nur echter | Gedanken zur Hochzeit http://www.blogvombleiben.de/wie-ein-staffelfinale-gedanken-zur-hochzeit/ http://www.blogvombleiben.de/wie-ein-staffelfinale-gedanken-zur-hochzeit/#respond Sat, 07 Jul 2018 17:00:09 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4246 Seit September vergangenen Jahres wussten wir, dass dieser Tag kommen würde. In den vergangenen Monaten hatten…

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Seit September vergangenen Jahres wussten wir, dass dieser Tag kommen würde. In den vergangenen Monaten hatten wir mal lockere, mal wuselige Planungsphasen. Eher zufällig haben wir in eben dieser Zeit wieder einmal unsere Lieblings-Sitcom Friends (1994-2004) durchgeschaut. Darin geht es bekanntlich nicht selten um eben jenes Thema, das uns selbst bewegte. Und wäre unser Leben eine Serie, dann war am vergangenen Wochenende wohl Staffelfinale – mit Hochzeit! Wir möchten allen Beteiligten ganz herzlich danken!

Hochzeit? Check.

Sonia und David Lensing bei der Hochzeit

David: Bei der Serie Friends ist es ja so, dass Hochzeit als Thema zuweilen auf eine Weise behandelt wird, die man als durchaus abschreckend empfinden kann. Je nach dem, wann man sich mit wem gerade am ehesten identifiziert. Ich persönlich kriege Monicas Wedding-Ordner nie aus dem Kopf. Dieses monumentale Sammelwerk für die Planung sämtlicher Aspekte rund um »den schönsten Tag«. Ein armdicker Packen Unterlagen, mit dem man eine ganze Hochzeitsgesellschaft hätte totschlagen können. Wenn in meinen Alpträume Requisiten aus Friends auftauchten, dann nicht etwa Phoebes Gladys-Gemälde – sondern dieses Ding.

Ein winziges bisschen hatte ich ja die Befürchtung, dass auch Sonia vor der Hochzeit so einen Ordner hervorziehen würde. Tadaaa! Brautzilla! Aber allzu ernst hab ich diese Sorge nie genommen. Sonst hätt‘ ich sie ja nicht gefragt.

Sonia: Ahnte ich etwas, als wir aufs Tretboot stiegen und die Schlucht von Gorges de Verdon entlang paddelten? Ein klein wenig schon. Lag da etwas Seltenes in seinem Blick? Erst auf das türkisfarbene Wasser gerichtet (sucht er wieder Fische?), dann in meine Augen. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich. So lang hat er mich noch nie angeguckt (wie ein Fisch halt 😜). »Ja, ich bin nur ein wenig nervös, weil ich denke, dass ich dich jetzt etwas fragen möchte.« Ab da ahnte und irrte und ahnte ich wieder. Erst ein Griff in die Kameratasche – ok, Sonia, er will nur den Akku wechseln – doch dann: »Sonia Małgorzata Kansy…« –  tja, ein Dreivierteljahr später, da trag ich diesen Namen nun nicht mehr. Denn ich hab »Ja« gesagt.

Das größte Geschenk

Und heute möchte ich »Danke« sagen. Danke an unsere Familien, die uns mit kreativer Energie und Organisationstalent tatkräftig unterstützt haben. An meine Brautjungfern und Freundinnen, die mir beim Brautkleid, den Schuhen und den letzten Minuten vor dem Einzug mit Rat und Tat, Fingerspitzengefühl und Piccolöchen zur Seite standen. An meinen Trauzeugen und großen kleinen Bruder, dessen Stimme für Gänsehaut sorgte (danke für die Rede!) und jedes Bein bewegte (danke für den Auftritt mit deiner Band!!!). Danke an alle Freunde und Verwandte, die diesen Tag so wunderschön harmonisch gemacht haben. Und danke natürlich an Jesse, unseren tollen Zeremonienmeister!

Last but not least: Danke ans Universum. An was auch immer da draußen uns so viel Glück beschert hat. Wir konnten diesen Tag gemeinsam mit all unseren Lieben in guter Gesundheit feiern – das war das größte Geschenk. Denn Bräute lasst es euch sagen: Egal, welche Deko, Blumen, Schnick und Schnack und Pinterest-Zeugs euch auf Trab halten, am Ende ist all das nicht wichtig. Dass man zusammen aufs gemeinsame Wohl anstoßen kann, das stellt alles andere einfach in den Schatten.

Die Blogger Sonia und David Lensing mit dem Schauspieler Jesse Albert.

David: Mir war wichtig, dass wir eine freie Trauung feiern – und Sonias Traum war’s, draußen zu heiraten. Drum haben wir unsere Wünsche zusammengelegt und unsere Hochzeit als freie Trauung unter freiem Himmel gefeiert. Dass uns bei diesem Fest ein Trauredner begleitet hat, der uns auch noch persönlich kennt, dass war für mich die Kirsche auf der Sahnetorte. Sagt man das so? Na, Jesse Albert jedenfalls, mein Lieblingsschauspieler und zauberhafter Drehpausenclown, war eben diese Kirsche. Ich selbst kenne Jesse seit Frohzusein (2012), einem Kurzfilm übers Fremdgehen. Sonia hat ihn dann bei Wo wir weinen (2013) kennengelernt, einem Kurzfilm über Kriegstraumata. Fünf Jahre später haben wir uns nun endlich mal zu einem fröhlicheren Anlass zusammengefunden.

Jenes Höhere Wesen

Auch wenn ich im Gegensatz zu Sonia immer eher denke: letztendlich sind wir dem Universum doch egal… – dieses eine Mal muss ich meiner lieben Schicksalsschwärmerin doch beipflichten. Dass dieser Tag so hell und leicht und schön werden würde, dass hat zwischendurch nicht immer so ausgehen. In diesem Sinne ein dickes Danke an Jenes Höhere Wesen!

PS: Danke auch an alle Leser*innen, die unseren Blog vom Bleiben verfolgen! Wir wissen noch nicht genau, wohin diese Reise wohl geht, aber wir freuen uns sooo sehr, dass ihr sie begleitet 🙂

Euer schreiblustiges Paar,
Frau & Herr vom Bleiben


Zuletzt ein paar romantische Filmtipps:

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ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich http://www.blogvombleiben.de/filme-romeo-und-julia-1968-1996-2013/ http://www.blogvombleiben.de/filme-romeo-und-julia-1968-1996-2013/#respond Wed, 04 Jul 2018 07:00:50 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4118 Ist das Drehbuch nur gut genug, dann kann der Film nicht so schlecht werden. Das hat…

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Ist das Drehbuch nur gut genug, dann kann der Film nicht so schlecht werden. Das hat schon Alfred Hitchcock gepredigt: Drehbuch, Drehbuch, Drehbuch, die drei wichtigsten Dinge für einen Kracher-Film! Nehmen wir mal Romeo und Julia, ein Bühnenstück, das William Shakespeare vor über 400 Jahren ja schon beinahe in Drehbuch-Form niedergeschrieben hat. Im Folgenden geht’s um drei Filmadaptionen, die den Zeilen des Originals mehr oder weniger treu geblieben sind. Trotzdem wurden sie völlig unterschiedlich aufgenommen – von großer Bewunderung bis zum ultimativen Zerriss.

Was hätte Shakespeare getan?

Normalerweise schreibe ich zunächst eine kleine Inhaltsangabe zu der Geschichte, um die es geht, und/oder einen Hinweis, ob im nachfolgenden Text Spoiler enthalten sind. Das kann man sich bei Romeo und Julia getrost schenken, da der große Meister einem beides abnimmt: Im Prolog (der in jeder hier aufgeführten Filmadaptionen mehr oder weniger getreu zitiert wird) fasst William Shakespeare sein Stück zusammen und haut dabei selbst die dicksten Spoiler raus! Die Zeichnerin Mya L. Gosling (von Good Tickle Brain) hat diesem fragwürdigen Auftakt mal einem Comic gewidmet:

Der Prolog zu Romeo und Julia als Comic von Mya L. Gosling (Good Tickle Brain)

In diesem Sinne werde ich im Folgenden nicht en detail auf die Story eingehen. Die könnte ohnehin nicht besser zusammengefasst werden, als in dem Video Romeo und Julia to go (Shakespeare in 11,5 Minuten) von Michael Sommer.

Totale: Romeo und Julia im Zusammenhang

Historischer Kontext

William Shakespeare schrieb Romeo und Julia Ende des 16. Jahrhunderts, unter anderem unmittelbar inspiriert und beeinflusst von Arthurs Brookes Epos The Tragical History of Romeus and Juliet (1562). Ein fiktives Liebespaar mit diesen Namen geisterte längst durch die Werke europäischer Literaten – und das Motiv zweier tragisch Verliebter an sich ist natürlich noch viel, viel älter. Schon Hero und Leander, zwei Gestalten der griechischen Mythologie, mussten ihre glühende Liebe mit dem Leben bezahlen… kurzum: Bereits Shakespeare erfand das Rad nicht neu. Doch er schrieb eine sehr runde Version von Romeo und Julia, vom Arrangement der Szenen bis zur Sprache der Protagonisten, dazu starke Dialoge und nicht wenig Humor – ein Meisterwerk war geboren!

So wilde Freude nimmt ein wildes Ende,
Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu’r und Pulver
Im Kusse sich verzehrt. Die Süßigkeit
Des Honigs widert durch ihr Übermaß… | Lorenzo in Romeo und Julia (hier online zu lesen)

3 von über 30 Filmen

Apropos Übermaß: Kaum wurde rund 300 Jahre nach Shakespeares Tragödie das Kino erfunden, gaben sich Romeo und Julia als Filmpaar die Ehre. Von einem Kurzfilm im Jahr 1908 (der heute als verschollen gilt) bis in die Gegenwart zählt die Liste von Filmen basierend auf Romeo und Julia weit über 30 Werke. Hier wollen wir uns nur drei der populärsten oder jüngsten Verfilmungen annehmen:

  • Romeo und Julia (1968) mit Leonard Whiting und Olivia Hussey
  • William Shakespeares Romeo + Julia (1997) mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes
  • Romeo und Julia (2013) mit Douglas Booth und Hailee Steinfeld

Persönlicher Kontext

In der Schule habe ich das Stück tatsächlich nicht gelesen. Stattdessen sah ich vor kurzem erst aus einer Laune heraus bei Netflix die Adaption von Baz Luhrmann und dachte, huch, so ein flippiges Spektakel im MTV-Look, DAS ist also Romeo und Julia, diese uralte Romanze, um die ich mich bis dato herumgedrückt habe? Mein Weltbild stand Kopf. Also las ich dann doch mal die Tragödie und sah mir zwei weitere Filme an, um wieder auf mein Leben klarzukommen. Nun haben wir schon Sommer 2018 und ich kann endlich mitreden, wenn es um das große Schmachten am Balkon geht. Jetzt, da die wohl wichtigste Verfilmung des Stoffs genau 50 Jahre her ist.

Olivia Hussey, Harold Perrineau, Jr. und Douglas Booth, je Schauspieler in Adaptionen von Romeo und Julia | Bild: Twenieth Century Fox
Die Schauspielerin Olivia Hussey und ihre Kollegen Harold Perrineau, Jr. und Douglas Booth. | Bild: Twenieth Century Fox

Close-up: Romeo und Julia im Fokus

Nackte Brüste und brüske Kritiker

1968 wurde Romeo und Julia erstmals mit jugendlichen Schauspielern in den Hauptrollen umgesetzt. In Shakespeares Stück sind die beiden Verliebten zwischen 13 und 14 Jahren alt. Arg jung aus heutiger Sicht, wenn man an die Leben-und-Tod-Duelle und das Hals-über-Kopf-Heiraten denkt. Als der Regisseur Franco Zeffirelli im Rahmen einer weltweiten Suche nach unbekannten Jungdarsteller*innen fündig wurde, waren Leonard Whiting 17 und Olivia Hussey 15 Jahre alt. Trotz Husseys Minderjährigkeit enthält der Film eine Szene, in der das Paar nackt im Bett liegt (nicht: rummacht, wohlgemerkt!) und für einen Moment Julias Brüste zu sehen sind. »Soft Porn«, pönte darüber ein Pastor der amerikanischen Grace Christian Fellowship und forderte eine Kürzung des Films, der im Englischunterricht seiner Gemeinde behandelt wurde. Zeffirellis Reaktion darauf:

Wenn er in ein Museum kommt, dreht sich dieser Mann auch von Aktgemälden weg? […] Ich weiß nicht, wie jemand Anstoß an dieser Szene nehmen könnte! | Franco Zefferelli, in: Pitch Weekly (März 1999)

Die Kirche störte sich wohlgemerkt offenbar mehr an der Nacktheit an sich, als am Alter der Jugendlichen. Apropos: Hier ein Filmtipp zu Spotlight (2015) über den Missbrauchs-Skandal in der römisch-katholischen Kirche in Boston.

Romeo und Julia im Interview

Aufgrund der amerikanischen Gesetzeslage war es Olivia Hussey wegen der Nacktszene nicht erlaubt, ihren Film in amerikanischen Kinos zu sehen. Der Jugendschutz hat sie vor dem Anblick ihrer eigenen Brüste bewahrt, well done, Amerika. Auf diesen absurden Umstand wurde die (dann 16-jährige) Hussey bei einem Interview im Veröffentlichungsjahr des Films – 1968 – angesprochen. Hier der entsprechende Ausschnitt aus dem Interview, während dem sie ganz entspannt ihre Zigarette raucht. Hach ja, andere Zeiten…

Knarren, Karren, Karneval – Shakespeare, bunt und queer

1997 nahm sich Baz Luhrmann des Stoffes an und inszenierte ihn in einer Art und Weise, die für ihn bald zum Markenzeichen werden sollte: bunt und schrill, Theater für die Leinwand. Sein Romeo + Julia gilt inzwischen als zweiter Teil seiner Roter-Vorhang-Trilogy / Red-Curtain-Trilogy, zusammen mit Strictly Ballroom (1992) und Moulin Rouge (2001).

Luhrmann behält die Sprache Shakespeare bei, verpackt dessen Stück jedoch in neuem Gewand, mit Knarren statt Schwertern in einer Mafia-Stadt der Gegenwart. Kluger Schachzug – verbietet sich damit doch jeder Vergleich mit der meisterlichen Adaption von 1968.

Was ich mit Romeo + Julia machen wollte, war einen Blick darauf zu werfen, auf welche Weise Shakespeare selbst einen Film aus einem seiner Stücke gemacht hätte, wenn er Regisseur gewesen wäre. Wie hätte er es angestellt? […] Wir wissen vom elisabethanischen Theater und dass er für 3.000 betrunkenen Zuschauer*innen gespielt hat, vom Straßenkehrer bis zur Königin von England – und seine Konkurrenz waren Bärenjagd und Prostitution. […] Er war also ein unermüdlicher Entertainer und Anwender unglaublicher Techniken und theatralischer Tricks. […] | Baz Luhrmann im Interview (19. Dezember 1996)

Der wohl interessanteste Charakter in Baz Luhrmanns Adaption ist aber weder Romeo (gespielt von Leonardo DiCaprio) noch Julia (Claire Danes), sondern Romeos Freund Mercutio (Harold Perrineau, Jr.). Der Wissenschaftler Anthony Johae schreibt:

Das Gegenteil von Liebe

Mercutio, die Drag-Queen, wird [während des Karnevals] »gekrönt« mit einer Frauenperücke und in ein weißes Kleid gehüllt. Außerhalb [des Karnevals] in der wirklichen Welt bacchalanischer Exzesse, da ist er ein schwarzer Mann, der weder zum hispanischen Haus der Capulets noch zum kaukasischen Haus der Montagues passt. Er wäre ein Außenseiter, wenn er nicht (platonisch oder anders) mit Romeo befreundet wäre.

Ist diese Freundschaft homoerotischer Natur? Einen Hinweis darauf bespricht Blogger*in lilymargaretjones in einem Beitrag über Mercutios Darstellung als queer in Luhrmanns Adaption. Es geht um die Szene, in der Tybalt gegenüber Romeo und Mercutio eine sexuelle Beziehung zwischen eben diesen beiden andeutet und Mercutio daraufhin erbost sein »Schwert« zieht. (Eigentlich eine Schusswaffe, doch die phallische Wortwahl bleibt bestehen).

Da das Gegenteil von Liebe nicht Hass sondern Gleichgültigkeit ist, könnte Mercutio’s empfindliche und defensive Reaktion auf den Vorwurf der Homosexualität andeuten, dass er selbst schwul ist.

Abgesehen davon: Interessant ist nicht nur Mercutios Freundschaft mit Romeo, der unberührt bleibt von Mercutios offener Darstellung von Weiblichkeit, sondern auch Mercutios Verhältnis zu Benvolio und den anderen Montague-Jungs. Niemand zeigt sich homophobisch gegenüber Mercutio. Das zeigt, dass Mercutio entweder gar nicht (in welcher Art auch immer) queer ist, oder dass es in Luhrmanns Verona-Beach-Universum schlicht »okay« ist, queer zu sein – oder beides.

Apropos queer und das Spiel mit Geschlechtsidentitäten, hier gibt’s einen Filmtipp zu Female Trouble (1974) sowie weiterführende Literatur zum Gender-Thema: Eine Einführung in Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (1990).

Alles glänzt… so schön neu

2013 dann das: Eine Neuverfilmung der Tragödie wieder im historischen Gewand, so wie der Klassiker von 1968 nur unendlich prunkvoller. Co-Produziert wurde Romeo und Julia (2013) von Swarovski – dem Kristallglas-Hersteller.

Von zahlreichen Kritiker*innen wurde diese Adaption regelrecht zerrissen. Zum Einen werde Shakespeares Sprache nicht angemessen vorgetragen (dazu kann ich mangels Fachkenntnis nix sagen). Zum Anderen, weil das Original-Stück in großem Maße umgeschrieben worden sei. Tatsächlich fließen in Shakespeare Tragödie plötzlich Floskeln ein, wie »mit guten Vorsätzen ist die Hölle gepflastert«. Witzig, dass nun dieser Film selbst als so ein Pflasterstein gesehen werden kann, der die Hölle dekoriert. Denn die Geschäftsfrau Nadja Swarovski meinte es nur gut:

R+J für Generation Z

Wir dachten, es sei sehr wichtig, Romeo und Julia auch der jüngeren Generation auf eine sehr angenehme Weise zu übermitteln.

Der Film sieht grandios aus in Sachen Kulissen, Kostümen, Lichtsetzung – und fährt prominente Schauspieler*innen auf. Etwa Natascha McElhone, Paul Giamatti oder Ed Westwick, der Zielgruppe dieses Films sicher bekannt aus der Jugendserie Gossip Girl. Nun, wenn der Film jugendlichen Zuschauer*innen gefällt und (auf neumodische Weise) an Shakespeare heranführt, dann kann’s doch herzlich egal sein, was ach so gestandene Filmkritiker*innen von der Umsetzung halten. Sie sind einfach nicht gemeint.

Kritiker wie Ty Burr (The Boston Globe) zum Beispiel, der doch ernsthaft ins Felde führt, der Film verstoße gegen die Kardinal-Regel von Romeo-und-Julia-Verfilmungen, dass der Romeo (gespielt von Douglas Booth) »niemals hübscher sein dürfe als die Julia« (Hailee Steinfeld). Das meint auch Justin Chang (Variety). Shame on you, guys. Mit solch oberflächlichen, irrelevanten Bemerkungen wollt ihr eure tiefgründige Kritik untermauern, die neumodische Verfilmung aus 2013 werde dem großen Shakespeare nicht gerecht? Pah. Über solchen Sexismus hätte Shakespeare seine verkokste Nase gerümpft.

Fazit zu Romeo und Julia

Nun, welcher der drei Filme ist denn nun der Beste?

Wie gesagt, Baz Luhrmanns Romeo + Julia (1996) läuft außer Konkurrenz. Das Ding funktioniert als eigenwilliges Kind seiner Zeit, den videoästhetisch trashigen 90er Jahren. Romeo und Julia aus dem Jahr 2013 ist bei aller Kritik ein Augenschmaus, ein wirklich schöner Film, dessen Soundtrack mir persönlich sehr gefällt (Filmkritikerin Susan Wloszczyna hingegen gar nicht, »Fahrstuhl-Musik«). Was ich an der Tonspur auszusetzen hätte: dass Romeo in der deutschen Synchronisation wie Bart Simpson klingt. Macht das Reinfühlen in die Romanze ein kleines bisschen unmöglich. Dann doch lieber auf Englisch schauen, nix verstehen und einfach die schönen Bilder genießen.

Absoluter Favorit in Sachen großartiger Adaption ist und bleibt Romeo und Julia (1968). Der Film ist grandios gespielt von allen Beteiligten, mit jeder Menge Temperament und Humor. Das gegenseitige Anhimmeln der jungen Liebenden ist so übertrieben wie glaubwürdig. Wenn Romeo (Leonard Whiting) den Baum zu Julias Balkon hochklettert oder im nebligen Morgengrauen freudig springend durch Wald und Wiese rennt, dann strahlt die Figur ein jugendliches Verliebtsein aus, an dass Leonardo DiCaprio und Douglas Booth nicht herankommen. Auch Olivia Hussey spielt die Rolle der Julia so vielseitig, dass sie weit mehr ist, als ein begehrenswertes love interest. Hussey schmachtet und schwärmt und scherzt und schimpft und schluchzt und reißt die Zuschauer*innen in jeder ihrer Emotionen mit. Chapeau!

Sterben im Staub · Liebe statt Krieg

Besonders stark ist auch die Schwertkampf-Szene rund um Mercutio, Tybalt und Romeo auf den leergefegten, glühenden Plätzen Veronas. Voller Spannung und Witz inszeniert, wandelt sich ein anfangs harmloses Duell zu einem packenden Kampf um Leben und Tod. Mit wilden Schlägen und Wälzen im Staub, unschön, aber umso echter. Dagegen können DiCaprios tränenreicher Schuss und das bisschen Schwert-Kling-Kling der 2013er-Verfilmung einpacken. Als Erzähler in der italienischen Fassung ist übrigens Vittorio Gassman zu hören, bekannt aus: Il sorpasso / Verliebt in scharfe Kurven.

Romeo und Julia als junge Verliebte, die sich trotz ihrer verfeindeten Familien in die Arme fallen – das kann man übrigens auch in der Adaption von 1968 als Kinder ihrer Zeit beschreiben. Sie funktionierten prima als Identifikationsfiguren für die 68er-Generation, die nichts mit den Kriegen ihrer Eltern am Hut haben wollte. Make love, not war.


Weitere Filme über Liebe (und andere Katastrophen):

Der Beitrag ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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THE TALL MAN mit Jessica Biel | Film 2012 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-the-tall-man-2012/ http://www.blogvombleiben.de/film-the-tall-man-2012/#respond Tue, 03 Jul 2018 07:00:01 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4305 The Tall Man ist der dritte Streich von Regisseur Pascal Laugier, der zuletzt mit einem Budget…

Der Beitrag THE TALL MAN mit Jessica Biel | Film 2012 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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The Tall Man ist der dritte Streich von Regisseur Pascal Laugier, der zuletzt mit einem Budget von mutmaßlich 6,5 Millionen US-Dollar den Film Martyrs (2008) umgesetzt hat. Ein Schocker, der sich zum größten Teil in einem einzigen Haus abspielt und dermaßen aufs Maul ist, dass die Erwartungen an den Nachfolger unter Genre-Freund*innen hoch waren. Was haut uns dieser Typ wohl um die Ohren, wenn er sich mit dem knapp dreifachen Budget austoben darf?

Auf Schocker folgt Twister

Diese Budget-Spritze (mutmaßlich, mal wieder, solche Zahlen lassen sich schwerlich verifizieren: 18 Millionen US-Dollar) verdankt Pascal Laugier der Schauspielerin Jessica Biel (Eine himmlische Familie, Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre). Durch ihre Begeisterung für Martyrs und Zusage, in Laugiers neuem Projekt die Hauptrolle zu übernehmen, bekam er den finanziellen Support, den es brauchte. Für spektakuläre Drehorte, Kamera-Tricks und -Flüge und Auto-Stunts und Steven McHattie und, und, und…

Ich liebte Martyrs. Es war hart und brutal, ihn zu sehen, aber er war elegant – macht das Sinn? Ich war so beeindruckt von Pascals Schaffen, dass ich einfach mit ihm zusammenarbeiten musste. | Jessical Biel im Interview mit Ryan Turek (comingsoon.net)

Das Drehbuch hat Laugier, wie in seinem Erstlingswerk Haus der Stimmen (2004) und Martyrs wieder selbst verfasst. Also, worum geht’s in The Tall Man?

Zum Inhalt: In einer kanadischen Kleinstadt gehen Armut und Schrecken um. Nicht nur, dass nach Schließung der Bergbauminen die Männer ihre Arbeit verlieren – jetzt werden auch noch Kinder entführt! Eine ganze Reihe hat es schon erwischt. Angeblich wurden sie verschleppt von einer Gestalt, den man im Ort nur den »großen Mann« nennt…

Hinweis: Ab dem Abschnitt »Bleibender Eindruck« wird fleißig gespoilert, bis dahin, entspanntes Lesen! Aktuelle Streamingangebote gibt’s bei JustWatch.

Schauspielerin Jessica Biel rennt bei Nacht eine Straße entlang, Standbild aus dem Film The Tall Man

Totale: The Tall Man im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Ich wollte etwas völlig anderes machen, als in Martyrs. Das habe ich von Ruggero Deodate gelernt. […] Er hat mich eingeladen, in Rom, hat mir Pasta gemacht und sagte: »Pascal, du hast dasselbe Problem, das ich mit Cannibal Holocaust hatte. Dein Film ist so schockierend, dass die Leute noch in 20 Jahren nur über Martyrs reden werden. Mir ging es genauso, ich war halb glücklich, halb traurig darüber. Ich hab nach Cannibal Holocaust immerhin 15 andere Filme gemacht!« Mir war also die Falle, in die ich als Regisseur tappen konnte, sehr bewusst. | Filmemacher Pascal Laugier beim Film4 FrightFest-All Nighter in London, 27. Oktober 2012

Persönlicher Kontext

Ich kenne Cannibal Holocaust (1980, hierzulande auch bekannt als: Nackt und zerfleischt). Danach hatte ich erstmal nicht das Bedürfnis, noch weitere Filme von Ruggero Deodate zu sehen. Insofern weiß ich nicht, was dieser Regisseur nach seiner kontroversen Kannibalen-Pseudo-Doku noch so gemacht hat… ist er damals in eine Falle getappt, indem er versucht hat, sich selbst im selben Genre zu übertreffen? Und worin genau – Brutalität? Blutzoll? Oder hat er damals schon, wie Laugier jetzt, erstmal etwas völlig anderes gemacht? Und entgeht man damit der Falle? Oder kann man trotzdem eine große Enttäuschung abliefern?

[Enttäuschung in einem weniger persönlichen Sinne. Schon Martyrs hat mir zu wenig gefallen, als dass ich meine Erwartungshaltung an The Tall Man mit »Vorfreude« beschreiben würde. Stattdessen also bitte in einem filmkritisch-sachlichen Sinne verstehen, diese ENTTÄUSCHUNG!]

Close-up: The Tall Man im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Los geht’s mit einer Texttafel: »In den USA werden jedes Jahr 800.000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten werden nach ein paar Tagen gefunden. 1000 Kinder verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.« Als Zuschauer*in rechne ich natürlich (nach Martyrs) mit einem derben Horrorfilm, keiner Doku. Auf mich persönlich wirkt es angesichts besagter Erwartungshaltung arg pietätlos, eine solche Statistik einzublenden. Hinter blanken Zahlen stehen schließlich echte Schicksale, aber naja… warum guck ich denn nicht gefälligst ne Doku, anstatt mich hier mit Horrorkino einzulullen?

Es beginnt als Thriller

Ein Kommissar kommt aus einer Höhle. Umgeben von Polizisten, die alles absperren sollen. Schnitt zu Detailaufnahmen vom Gesicht einer weinenden, zitternden Frau. Mit einer Pinzette werden ihr Scherben aus der blutenden Stirn entfernt. Der Kommissar kommt rein, schaut grimmig, sagt, man habe ihn nicht gefunden, die anderen Kinder auch nicht. Die Frau wirkt benommen… Schnitt zu einer Luftaufnahme über kanadische Wälder und die Kleinstadt Cold Rock, in der sich abspielen soll, was wie ein Thriller beginnt. Zu Stimmungsbildern aus der verwahrlosten Kleinstadt spricht ein Mädchen aus dem Off:

Unsere Stadt ist seit 6 Jahren tot. Zunächst dachten wir, die Schließung der Mine sei daran schuld. Am Verlust der Arbeitsplätze, an dem Fehlen von Geld, dem Fehlen von allem. Doch dann mussten wir etwas viel Schlimmerem die Schuld geben, denn es war etwas nach Cold Rock gekommen, etwas Böses, das unsere Stadt von innen heraus auffrass…

Sehgewohnheiten gefoltert

Knapp 10 Minuten von The Tall Man sind um, als der Vorspann eingeschoben wird. Einmal mehr: Kameraflüge über die Stadt und die Einblendung der Namen aller Beteiligten… An dieser Stelle hat mich dieser Film leider verloren. Die visuelle Art und Weise, wie die Vorspann-Schrift in die Filmaufnahmen eingebracht ist, bricht mit der bis dahin aufgebauten ernsten, düsteren Stimmung. Überhaupt bricht sie mit meinen Sehgewohnheiten, weil ich für gewöhnlich nicht gern Trash schaue – und der Vorspann schreit vom Look her so sehr nach TRASH!, dass man statt der Namen auch einer »Trash, Trash, Trash« hätte einblenden können.

Echt ey, als hätte da jemand gerade coole Tools bei After Effects entdeckt, die auf Teufel komm raus in den nächsten Film rein müssen… Gewiss, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber ich spreche ja auch nur von meinem Sinn für Ästhetik, der von diesem Vorspann gefoltert wurde.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Sprechen wir also, statt über Ästhetik (über die ich noch viel zu meckern hätte, Stichwort: alberne Schnitte, schlechte CGI), einfach über den Inhalt von The Tall Man. Manche User des Internets empören sich unter Negativkritiken zu dem Film, dass man diesen intelligenten Thriller doch nicht einfach mit Martyrs vergleichen dürfe, und überhaupt-

Stop! Was das »Intelligente« des Films angeht, möchte ich ihn dessen gerne berauben. Weil sich das »Intelligente« in meinem Schädel regelrecht beleidigt fühlte von dem, was es da zu verarbeiten bekam. (Und dazu brauche ich keinen Vergleich zu Martyrs!) Als »intelligent« wird noch am ehesten die Komposition der Story bezeichnet, mit ihren Twists and Turns, den 180-Grad-Wendungen, die bei den Zuschauer*innen für Verwirrung sorgen. Angenehme Verwirrung. Mindfuck-Filme halt, wie The Game (1997). Doch aufgepasst! Manche vermeintliche Mindfuck-Filme entlarven sich als »Fuck the mind!«-Mumpitz. Da wird die Logik der Story schon im Produktionsprozess so wenig hinterfragt, dass sich Zuschauer*innen fragen müssen: Bin ich der/die Erste, dem/der das dumm vorkommt?

Um die Leser*innen in die Diskussion miteinzubeziehen, hier mal die Story des Films The Tall Man in chronologischer Reihenfolge, ohne inszenatorische oder dramaturgische Tricks:

Die Story ohne die Twists

The Tall Man handelt von einem Ehepaar – er Arzt, sie Krankenschwester – das viel von der Welt gesehen hat. Afrika, arme Kinder. Das Paar entscheidet sich, etwas gegen die Kinderarmut zu tun. Aber nicht in Afrika, sondern in Kanada, da gibt’s ja auch arme Kinder. Etwas weniger arm, etwas besser behütet, aber sei’s drum. Das Paar will auf jeden Fall diesen Kindern helfen. Und zwar, indem sie die Kinder aus armen Familien klauen und an reiche Familien übergeben. Kid-Robbin‘ Hood.

Das ist die Prämisse des Films: Ein Paar will Kindern helfen, indem es sie auf eigene Faust aus armen Familie entfernt und in reiche Familie gibt. Das ist intelligent? Mir fallen spontan ein paar andere Ideen ein, wie ein Arzt und eine Krankenschwester armen Kindern helfen könnten. Diese spezielle Idee würde ich dabei, auf einer Intelligenzskala, eher unter »extrem dumm« einordnen, direkt unter: Arme Kinder mit Drogen versorgen, damit sie sich damit einen Kundenstamm aufbauen und finanzielle Unabhängigkeit erlangen können. Ach, lächerlicher Vorschlag?

Wie hättest du es getan?

Kommen wir zur Umsetzung der Prämisse: Um den Plan zu verwirklichen, bezieht das Ehepaar ein Haus über einem Minenstollen. In einem Städtchen, in dem augenscheinlich jede*r jede*n kennt. Dann fängt das Paar an, Kinder zu kidnappen. In dieser kleinen Stadt, in der sie wohnen, Kinder von Familien, die sie kennen. Alle paar Wochen entführen sie ein armes Kind und halten es in ihrem Haus (unter für das Kind angenehmsten Umständen) gefangen, bis sie es durch das Tunnelsystem aus der Stadt schleusen und an reiche Menschen verschenken.

Denn Geld wollen der Arzt und die Krankenschwester damit nicht verdienen. Ihr Motiv ist schlicht, das sie gute Menschen sind (und dass die Frau keine Kinder kriegen kann, das wird nebenbei auch erwähnt). Der Mann hält sich während dieses ganzen Treibens übrigens versteckt und gilt als verstorben, damit die Frau als Witwe ihr Dasein fristen kann, was irgendwie von Vorteil zu sein scheint, für ihre Strategie…

Eltern reich, alles gut

Am Ende zeigt sich, dass sie nicht nur alle Kinder aus ein- und demselben Städtchen entführen, sondern zuweilen auch in dieselbe Stadt vermitteln. So dass sich die Kinder dort begegnen. Kinder, die übrigens durchaus schon so alt sind, dass man von einem Erinnerungsvermögen sprechen kann. WTF!? Wie kann dieses Ehepaar nicht längst aufgeflogen sein?

Zu aller aller Letzt wird dann noch – mit einem dramatischen Bruch durch die vierte Wand – die moralische Frage aufgeworfen, ob die Kinder in ihren neuen, reichen Familien denn wirklich glücklicher sind? Oder nicht? Oder doch?

Um Hitchcocks Willen!

Was soll man denn als Wahrscheinlichkeitskrämer zu so einer Geschichte sagen? Ja, gut, danke, kauf ich dir ab!? Wie schon bei Martyrs lässt sich natürlich jede noch so dumme Aktion in einem Film entschuldigen, indem man die Protagonisten als irre abtut. Das Paar handelt zwar irgendwie rational und einigermaßen organisiert. Aber wenn schon die Prämisse derart idiotisch und deren Umsetzung so kompliziert wie möglich daher kommt, dann doch wohl, weil die Story im Dienste eines Filmes steht, der unbedingt Haken schlagen möchte.

Mein liebster Aufreger in The Tall Man ist übrigens die Szene, in der sich die Frau – als Kidnapperin entlarvt – mit einem entführten Kind in ihr Haus begibt. Ein großes Haus mit großes Fenstern und so. Ihr folgt ein Mob, der sich quasi aus der halben Stadt zusammensetzt. Sehr wütende Menschen, wütend darüber, dass die Kinder aus ihren Familien entführt wurden, Schicksal ungewiss. Leben sie noch? Oder nicht? Doch diese wütenden Menschen bilden den wohl harmlosesten Mob der Filmgeschichte. Stundenlang hält er sich vor dem Haus auf und brüllt rum. Ohne die Tür aufzubrechen oder wenigstens ein Fenster einzuschmeißen – obwohl ein Kind aus ihrer Gemeinschaft in dem Haus gefangen halten wird!

Der zahmste Mob aller Zeiten

Wir sehen den Mob nicht, stattdessen vollzieht der Herr Regisseur in dieser Szene einen schönen kleinen Trick, in dem die Kamera einmal von der Protagonistin, die auf dem Bett sitzt, einmal langsam durch den Raum schenkt, während die Zeit vergeht und Tag zu Nacht wird. Aber der wilde, wütende, tobende Mob, der ist immer noch da. Das sehen wir, als die Frau bei Tageslicht abgeführt wird und sich im Polizeiauto sogar ducken muss, weil die Scheiben des Polizei-Autos SOFORT eingeworfen werden.

Es wäre vermutlich unfreiwillig komisch gewesen, den tobenden Mob in den nächtlichen Stunden vor dem Haus zu zeigen. Ein Haufen richtig wütender Menschen, die einfach nur ihre Fäuste recken und Flüche rufen! Dass sie nicht ins Haus eindringen dürfen, um das Kind vielleicht noch zu retten, das steht halt so im Drehbuch. Und ans Drehbuch hält man sich, ob es Unsinn ist, oder nicht…

Mein zweitliebster Aufreger ist der Zirkelschluss, den der Film vollzieht. Wie oben zitiert, begründet die Off-Stimme die Verzweiflung in Cold Rock nicht nur mit der Schließung der Mine. Sondern damit, dass etwas Böses gekommen sei, um die Kinder zu klauen. Aber »das Böse« (das kid-robbin‘ hoodsche Ehepaar) ist ja gekommen, um die Kinder aus ihrer verzweifelten Lage zu holen. Die Lage aber ist ja verzweifelt, weil die Kinderräuber gekommen sind… also… mir wird schwindelig – und ich drohe, mich viel zu lange mit einem Film aufzuhalten, der mich schon jetzt zu viel Lebenszeit gekostet hat.

Fazit zu The Tall Man

Ja, hat mich wohl nicht so gerockt.


Bessere Filme:
  • Good Will Hunting (1997) über einen Professor, der einem armen jungen Mann in ein besseres Umfeld helfen möchte, indem er mit ihm Mathe paukt
  • Captain Fantastic (2016) über einen Papa, der seine Kinder vor der geistigen Armut da draußen retten möchte, indem er sie im Wald großzieht
  • Cargo (2018) über einen Mann, der zwei Kinder vor Zombies retten will, während er sich selbst in einen Zombie verwandelt, was aber okay ist, weil er sie ja huckepack nehmen kann und… ach nee, der war ja genauso bescheuert wie The Tall Man

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MARTYRS mit Morjana Alaoui + New French Extremism | Film 2008 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-martyrs-2008/ http://www.blogvombleiben.de/film-martyrs-2008/#respond Sat, 23 Jun 2018 07:00:22 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4295 Wie so viele brutale Dinge kennen wir Märtyrer*innen vor allem aus der Bibel. Mit »wir« meine…

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Wie so viele brutale Dinge kennen wir Märtyrer*innen vor allem aus der Bibel. Mit »wir« meine ich natürlich die römisch-katholisch erzogene Leserschaft, die wie ich im Kommunion-Unterricht immer dann wach wurde, wenn es gerade um Mord und Totschlag ging – was ja, bei aller Nächstenliebe, durchaus geregelt der Fall war, Gott sei Dank. Dieselbe seltsame Gewalt-Faszination, die mich damals in Glaubensfragen bei der Stange gehalten hat, mischt sich inzwischen in Film-Geschmacksfragen. Und damit kommen wir zu Pascal Laugiers Paradebeispiel für den neuen Extremismus im französischen Kino: Martyrs mit den Schauspielerinnen Mylène Jampanoï und Morjana Alaoui.

Mit dem Hammer gen Abgrund

Inhalt: Eine junge Frau, die als Mädchen lange Zeit gefangen gehalten und gefoltert wurde (gespielt von Mylène Jampanoï), macht sich Jahre später auf, um ihre Peiniger zu töten. Begleitet wird sie dabei von grauenvollen Halluzinationen und einer Freundin (Morjana Alaoui), die ahnungslos in ihren schlimmsten Alptraum tappt.

Hinweis: Dieser Text enthält Spoiler, also Details zu den gezeigten Gewaltexzessen. Wer auf solch ultrabrutalen Filme steht, den oder die wird das kaum stören. Höchstens neugierig machen, nicht wahr? Unter »Bleibender Eindruck« wird die Auflösung des Films kritisch besprochen. Aktuelle Streaming-Angebote gibt es bei JustWatch.

Eine ältere Dame mit Brille und Turban schaut ernst drein. Standbild aus dem Film Martyrs. | Bild: Wild Bunch Distribution

Mit seinem Spiefilmdebüt Haus der Stimmen (2004) – mit Model und Schauspielerin Virginie Ledoyen in der Hauptrolle – servierte der Regisseur Pascal Laugier einen etwas abgeschmackten Horror-Eintopf aus altbekannten Zutaten. 4 Jahre später lässt er nun sein nächstes Werk folgen, und wieder: ein Horror. Warum denn, Herr Regisseur?

Ich habe das Genre immer gemocht. Insbesondere in den 70er Jahren hat es einige sehr einzigartige Werke hervorgebracht, von Filmemacher*innen, die das Genre nutzten, um sehr persönliche Dinge auszudrücken – ebenso, wie eine bestimmte Vorstellung von der Welt. Wir sehen John Carpenter heute als einen Auteur, im europäischsten Sinne des Wortes (Filmschaffende als geistige Urheber*innen und zentrale Gestaltende eines filmischen Kunstwerks). Ich wollte in aller Bescheidenheit mit diesem Geist in Verbindung treten und einen Film machen, der – obwohl er alle Codes und Archetypen des Genres verwendet – so unerwartet wie möglich ist.

Pascal Laugier im Interview mit Virginie Sélavy (Electric Sheep), aus dem Englischen

Totale: Martyrs im Zusammenhang

Cineastischer Zusammenhang

In der Literaturwelt heißt es, das zweite Buch sei für Autor*innen das schwierigste Projekt. Wie es in der Filmwelt heißt, weiß ich nicht. Bloß, dass Quentin Tarantino sich nach seinem Debütfilm Reservoir Dogs (1992) mit dem Kult-Kracher Pulp Fiction (1994) in den Kino-Olymp schoss. Und dass Baz Luhrmann nach seinem Debüt Strictly Ballroom (1992) im Nachfolger William Shakespeares Romeo + Julia (1996) seinen ausgeflippten Inszenierungsstil salonfähig machte. Und dass James Cameron nach seinem (ungewöhnlichen) Debüt Piranha 2 – Fliegende Killer (1981) mit Terminator (1984) Filmgeschichte schrieb. Und dass Sofia Coppola nach ihrem Debüt The Virgin Suicides (1999) den Instant-Klassiker Lost in Translation (2003) ablieferte.

In der Filmwelt setzt das zweite Projekt zuweilen ungeahnte Potentiale frei. Die jungen Filmschaffenden stecken noch voller unverbrauchter Ideen und Schöpfungskraft und haben durch ein gelungenes Debüt meist mehr Budget zur Hand, um größere Visionen zu verwirklichen – oder dunklere. Pascal Laugier nutzte sein zweites Werk, um sich mit Anlauf in die Welle des New French Extremism zu stürzen.

Was ist der New French Extremism?

Dieses Label brachte der Filmkritiker James Quandt ins Gespräch, für einige französische Filme des 21. Jahrhunderts, die in Sachen Brutalität respektive Härte die Grenzen verschieben. Dazu werden etwa High Tension (2003) von Alexandre Aja oder Frontier(s) (2007) von Xavier Gens gezählt. Martyrs gilt als mustergültiges Beispiel für den New French Extremism, obwohl Regisseur Pascal Laugier ihn gar nicht so extrem sieht [und der Film etwa im Vergleich zu besagtem Frontier(s) auch weniger blutig ist].

Ich schwöre, dass es nie meine Motivation war, im Publikum Abscheu hervorzurufen. Wenn Kritiker*innen den Film als Gemetzel bezeichnen, als Zurschaustellung von Eingeweiden und als Gore, dann macht mich das traurig. Ich sehe meinen Film als eher zurückhaltendes Werk, ehrlich gesagt. Und ich würde mein Publikum damit gerne berühren, sie eintauchen lassen in einen Zustand tiefgreifender Melancholie, wie ich ihn erlebte, während der Dreharbeiten – denn ich denke, dass Martyrs in Wirklichkeit ein Melodram ist. Hart, gewalttätig, sehr verstörend, aber ebenso ein Melodram.

Pascal Laugier im Interview (s.o.)

Tatsächlich ist Martyrs also nicht so explizit, wie er angesichts der darin enthaltenen Gewalthandlungen hätte ausfallen können. Aber was heißt das schon, in einem Werk, in dem geschlitzt, geschossen und gehäutet und mit Rasierklinge, Schrotflinte und Vorschlaghammer getötet wird? Ist immer noch brutal, das Ding.

Persönlicher Zusammenhang

Ach, das waren noch Zeiten… Videoabend in Köln: Am 14. November 2011 sah ich mit einem Kumpel, betrunken und zu später Stunde, nach dem Kurzfilm Vanilleduft und Blutgeschmack (ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendfilmpreis – mit der Stimme von Larissa Rieß, inzwischen bekannt aus Neo Magazin Royale) und 30 Minuten oder weniger (enttäuschender Nachfolger von Zombieland-Regisseur Ruben Fleischer) zum ersten Mal den Film Martyrs. Jener Kumpel hatte ihn mitgebracht, ein »krasser Film« sei das.

Ich erinnere mich noch, dass wir uns über einige Logiklücken lustig machten und ich gen Ende dachte: Was für ein dumpfer Torture Porn ist das denn!? Besagter Kumpel war fasziniert vom Finale und der Pointe. Ich fand das ganze Ding nicht so dolle und war mir sicher, Martyrs »einmal und nie wieder« gesehen zu haben.

Einmal und nie wieder und noch einmal

Stattdessen aber, um über den neuen Film Ghostland (2018) von Pascal Laugier besser schreiben zu können, zog ich mir 7 Jahre später dessen extremsten Film tatsächlich nochmal rein… aus Gründen der Vollständigkeit oder was weiß ich. Und sogar das amerikanische Remake davon. Aus Gründen, die ich rückblickend so gar nicht mehr nachvollziehen kann.

Jedenfalls musste ich überrascht feststellen, wie vieles mein Hirn von all dem fleißigen Filmkonsum vergangener Jahre doch wieder vergessen hat (was vielleicht am Captain-Morgan-Konsum während damaliger Videoabende lag, Rätsel über Rätsel, die wohl nie beantwortet werden…)

Den Prolog von Martyrs zum Beispiel, den hatte ich komplett vergessen…

Close-up: Martyrs im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Der Film beginnt mit einem Mädchen, das verstört, verdreckt, mit kurzgeschorenen Haaren und in blutbesudelter Unterwäsche von einem Industriegelände flieht. Sie rennt und schreit und Schnitt. Es folgt ein Vorspann im Super-8-Look, dokumentarische Filmaufnahmen aus dem Jahr 1971, in dem jenes Mädchen von der Polizei gefunden und in einem Waisenhaus untergebracht wird. Die Tatort-Begehung der Polizei erbringt keine Hinweise und das verstörte Mädchen mit dem Namen Lucie schweigt. Nur zu einem anderen Mädchen im Waisenhaus, Anna, baut sie Vertrauen auf. Sie schlafen gemeinsam in einem Raum, in dem Lucie nachts die traumatischen Erfahrungen in Form einer Grauengestalt heimsuchen…

Aber na ja, gääähn. Dieser komplette Prolog ist (obwohl technisch und visuell toll gemacht) dermaßen mit Horrorfilm-Klischees gespickt, das mein Hirn ihn wohl unter »ferner liefen« versenkt und vergessen hatte.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Der eigentliche Horror – mit einer Szene, die im Gedächtnis bleibt – beginnt nach 8 Minuten oder eher: »15 Jahre später«, so die Einblendung nach dem Titel. Wir sehen eine Familie am Frühstückstisch. Vater, Mutter, Tochter, Sohn (letzterer gespielt von Xavier Dolan, der später als gefeierter Jungregisseur reichlich berühmt werden sollte). In der Küche wird einander liebevoll geneckt.

Das Beste an einer Familie – man ist nie allein!
Das Schlechteste – man ist nie allein.

Alter Kalenderspruch

Das alltäglich-zänkisch-harmonische Beisammensein wird jäh unterbrochen, als es an der Tür klingelt. Der Vater öffnet und muss als Erster dran glauben. Wenige Minuten später ist die gesamte Familie tot. Dermaßen kalt und konsequent hingerichtet, dass etwaige Langweile ob des abgelutschten Prologs futsch ist und selbst gestandene Horror-Begeisterte gebannt vorm Bildschirm sitzen.

Der Film wird das Haus, das soeben Schauplatz eines Blutbads geworden ist, nur noch für ein paar gekonnt eingeflochtene, kurze Rückblenden verlassen. Ansonsten spielt sich die weitere Handlung eben dort ab, wo die scheinbar so harmlose Familie wohnte: Die erste Hälfte des Films ist im Erdgeschoss angesiedelt, die zweite Hälfte im Keller. Die letzte halbe Stunde ist dominiert von einem »Martyrium«, so muss man’s wohl verstehen. Das heißt: minutenlange, dumpfe Folter ohne Aussicht auf Entkommen (heißt auch: ohne Spannung). Die Hauptfigur soll im Handlungsverlauf eine Entwicklung durchmachen, so schreibt es die Erzähltheorie vor. In Martyrs besteht diese Entwicklung darin, dass die junge Frau (Morjana Alaoui) mental und körperlich gebrochen wird. Sie dient als bloßes, wort- und willenloses Objekt einer gewaltversessenen Sekte und mehr nicht.

Mädchen schlagen

In der ersten Hälfte steht diese Frau noch im Dienste ihrer Geliebten, die wiederum eine von ihren Dämonen Getriebene ist. Kurzum: Die Hauptfiguren von Pascal Laugiers Martyrs lassen sich schwerlich als Subjekte mit freiem Willen bezeichnen. Da liegt es nahe, mal einen feministischen Blick auf den Film zu werfen. Dazu die Filmbloggerin Ariel Schudson:

Was ich gesehen habe, war ein Regisseur, der sich daran aufgegeilt hat, Mädchen zu schlagen – weil er das in einem Film machen darf. Das ist… na ja, Kunst-  und Meinungsfreiheit und so, aber meine freie Meinung lautet, dass es ein armer Gebrauch dessen ist. Zumal es ein guter Film hätte werden können.

Das Konzept war verblüffend. Der erste Akt war intensiv, gut gemacht, dramaturgisch ausgefeilt und das Timing war wundervoll. Ich hab den Fucker genossen. Aber sorry. Ich denke nicht, dass das Märtyrer-Konzept dadurch vermittelt wird, dass meine Augäpfel geprügelt werden mit Bildern von ihrem zerbrechenden Körper.

Das nächste Mal, wenn jemand zu mir sagt, Martyrs sei ein verstörender Film, dann werde ich kontern müssen mit: Bitte verwechsele verstörend nicht mit abstoßend. Es ist ein schmaler Grat, und wenn der Film nur die Kontrolle über sich behalten hätte, nicht versucht hätte, einen Kotau vor den Folter-Pornografen dieser Welt zu machen, dann hätte er ein echt Meisterwerk werden können. Darüber, was man mit Gewalt, der Gedankenwelt und den Ideen von Religiosität und Schmerz machen kann.

Ariel Schudson, in: Martyrs & Misogyny: Simply Disturbing, or Disturbingly Simple? (aus dem Englischen)

Der magische Schnitt und anderer Bullshit

Noch kurz was zur inneren Logik: Diese Luke, die in den Keller führt, mit einer Leiter… vom Szenenbild her ne schöne Sache, für die Handlung ein bisschen – schwierig? Es gibt die Szene, in der Anna eine Frau aus dem Keller befreit. Letztere ist in einem fürchterlichen Zustand, abgehungert, schwach, und hat eine Metallvorrichtung an den Schädel genagelt (!) bekommen, die sie blind macht. Anna geleitet diese arme Frau, die kaum gehen und schlecht sehen kann, also durch den Keller und – Schnitt! – durchs Obergeschoss. Wie hat sie die Frau denn die Leiter hoch durch die Luke gekriegt?

Andere Szene: Anna wird im Obergeschoss von den Bösewichten an den Haaren gepackt, weggezerrt und – Schnitt! – durch den Keller weitergezerrt. Ob sie Anna an der Luke kurz losgelassen haben, damit sie selbst hinabsteigen kann? Oder haben sie Anna an den Haaren herabgelassen? Aber okay, das sind technische Details, die man ignorieren kann.

Am Ende aber versammelt sich eine Runde älterer Damen und Herren, die ihre Märtyrerin feiern wollen. Man hat Anna also so lange gefoltert und ihr schließlich die Haut abgezogen, dass sie – kurz vor ihrem Ableben – Visionen hat, die nicht von dieser Welt sind. Ich zitiere einen Vorsprecher der Sekte, der sich an die Versammelten richtet (übersetzt aus dem Englischen):

Erklärung? Zweifelsohne fragwürdig

[…] Zwischen 12:15 und 2:30 Uhr sah Anna ins Jenseits und die dahinter liegende Welt. Sie haben mich richtig gehört. Ihr ekstatischer Zustand dauerte 2 Stunden und 15 Minuten. Das war keine Nahtoderfahrung. Es gibt keinen Zweifel daran, dass ihr Märtyrertum authentisch war. Um 2:30 Uhr verließ sie den Zustand…

Stop, stop, stop, mit so einem flauschigen Nebensatz kommt ihr nicht davon! Es gab »keinen Zweifel« an den Aussagen dieser euch feindlich gesinnten, wenn überhaupt noch bei Sinnen seienden, endlos gefolterten, im Schmerzdelirium wabernden Zeugin? Warum denn nicht? Was hat sie so glaubwürdig gemacht? Abgesehen davon, dass ihr Irren sicher nur gehört habt, was ihr hören wolltet… ach, ich fürchte, mit dieser lahmen Ausrede kann man jede noch so verkorkste Story rechtfertigen: Die Protagonisten sind halt irre.

Dasselbe Argument kann Pascal Laugier aus zu seinem nächsten, noch hanebücheneren Film auftischen: Es sind halt alle irre. Ein ähnlich dämliches Argument kann Laugier anwenden, wenn die »Warum ausgerechnet Gewalt gegen Frauen?«-Frage fällt: Eine ältere Dame, das Oberhaupt der Sekte, erklärt feierlich, dass ihre langjährigen Studien ergeben hätten, dass junge Frauen für ein Martyrium am besten geeignet seien. Warum? Darum. Isso. Erklärung Ende.

Ja, ok. Find ich doof. Aber…

Das Remake: Martyrs (2015)

…es geht immer noch ein bisschen doofer. Dazu verlasse man sich einfach auf die Amerikaner und ihren Hang zu unnötigen Remakes. Ein solches gibt es natürlich auch zur Martyrs, unter demselben Titel, aus dem Jahr 2015.

Das Remake beginnt mit einem Mädchen, das von einem Industriegelände flieht. Weniger verstört und verdreckt als im Original und ohne kurzgeschorene Haare, weil, naja, ach, keine Ahnung, war wohl einfacher so. Schon während dieser Szene werden die Vorspann-Titel eingeblendet: »Directed by Kevin Goetz & Michael Goetz«. Mh, da hättet ihr euch ein »Goetz« doch schenken können, Jungs, dachte ich noch… aber siehe da: die Gebrüder Goetz hätten sich den ganzen Film schenken können. Das Remake ist in jeder Hinsicht billiger produziert, als das Original, zum Fremdschämen schlecht. Es sei denn, der Film versteht sich als Trash-Kunst à la The Asylum – aber selbst diese Filmproduktionsgesellschaft (verantwortlich für Titanic 2, Nazi Sky, Sharknado und ähnliche Perlen) würde das Martyrs-Remake vermutlich aufgrund »mangelnder Ambitionen« schelten.

Fazit zu Martyrs

Auf Festivals wurde Pascal Laugier beschimpft und gefeiert. Ich hätte vermutlich dazwischen gesessen und einfach nicht geklatscht. Der letzte Akt war mir zu stumpf, die Auflösung schlicht dämlich.

Horror sollte meiner Ansicht nach kein vereinendes Genre sein. Es muss teilen, schocken, Brüche hinterlassen in den Gewissheiten der Zuschauer*innen und ihrem Hang zu einer Art Konformismus. Horror ist grundsätzlich subversiv. Sonst sehe ich darin keinen Sinn.

Pascal Laugier

Subversiv im Sinne von aufrüttelnd, nehme ich an. Zerstörerisch, Konventionen aufbrechend, zu Streit anregend, aus dem Neues erwächst – ja! So sollte Horror sein! Allein, dass Laugiers vorheriger Film (Haus der Stimmen) zu gehaltlos und sein nachfolgender Film (The Tall Man) zu absurd ist, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Laugiers vierter und neuster Film (Ghostland) vereint die Brutalität aus Martyrs mit den Twists aus The Tall Man und funktioniert als solider Horrorfilm, seine aufwändigste und technisch beste Arbeit bis dato. Der letzte gesprochene Satz aus Ghostland scheint mir – »subversiv« hin oder her – den Antrieb von Pascal Laugier (der bisher all seine Drehbücher selbst schrieb) mehr auf den Punkt zu bringen:

I like to write storys.

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HAUS DES GELDES mit Alba Flores | Serie, 2017-18 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/serie-haus-des-geldes-2017-2018/ http://www.blogvombleiben.de/serie-haus-des-geldes-2017-2018/#respond Fri, 15 Jun 2018 04:00:16 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3893 2018 ist das Jahr der Netflix-Originale. Der Streaming-Dienstleister haut so viele eigene Produktionen raus, dass er…

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2018 ist das Jahr der Netflix-Originale. Der Streaming-Dienstleister haut so viele eigene Produktionen raus, dass er etablierte Studios nervös machen dürfte und seine Nutzer*innen regelrecht überfordert: Alle vier, fünf Tage ein neuer Film und noch sehr viel mehr Serien, wer soll das alles gucken!? Zumal Filme wie Cargo (2018) den Eindruck verstärken, dass da Quantität vor Qualität den Ton angibt. Wie steht es nun um eine in jüngster Zeit sehr prominente Serie, die auf Netflix von sich reden macht? Film- und Serien-Fachmann Markus Hurnik hat Haus des Geldes für uns mal unter die Lupe genommen.

Gastbeitrag von Markus Hurnik

Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Beitrag enthält keine Spoiler.

Der perfekte Überfall, mal wieder

Heute sollte ich mich auf Netflix  beim Haus des Geldes wiederfinden, eine Serie aus spanischer Produktion, die in den letzten Monaten innerhalb Europas deutlich an Popularität gewonnen hat. Das »Haus des Geldes« ist die spanische Zentralbank in Madrid. Diese soll durch den »perfekt« geplanten Überfalls eines »Professors« mit seinem bunt zusammengewürfelten Team, um ihr Geld erleichtert werden.

Schauspielerin Alba Flores in der Serie Haus des Geldes

 

Starker Start, aber stärkere Konkurrenz

Die Serie startete spannend und die ersten 3-4 Folgen wussten zu begeistern. Doch dann kam die Ernüchterung. 22 Folgen und jede ungefähr 40 Minuten lang! Viele würden nun sagen, das ist doch super und endlich habe ich für längere Zeit Unterhaltung aus einem Guss, doch leider zerstört die lange Zeitspanne jegliche Langzeitspannung. Denn eine klassische Heist-Geschichte sollte Tempo und Emotionen haben und sich nicht in sich verlieren. Jedoch tut Haus des Geldes genau dies. Was fulminant startet, verweilt ab einem gewissen Punkt immer mehr auf Einzelschicksalen, während  die Story nur noch vor sich hin dümpelt. Das am Anfang entwickelte Gefühl, »hey, das ist ein perfekt geplanter Coup, das wird eine richtig coole Erfolgsstory für die Bankräuber und die Bösen werden als die wahren Helden etabliert«, löst sich schnell in Luft auf.

Gerade nach Filmen wie Bube, Dame, König, grAS, Snatch oder Oceans sind die Erwartungen an eine solche Handlungsentwicklung hoch. Der Bösewicht als Held und als der perfekte Verbrecher. Dieser Punkt ist für viele Serien und Filme entscheidend. Denn derjenige, welcher Banküberfall-Filme, wo Coups respektive Handlungsweisen nicht zu viele moralische Fragen aufwerfen bevorzugt, wünscht sich eine solche Handlung. Das Bedürfnis, dass ein Plan reibungslos läuft und der moralische Zeigefinger nicht zu sehr erhoben wird. Schwarzer Humor, moralisch fragwürdige Handlungen und Erfolgsmomente der Gangster, der Filmfans begeistert von der Couch aufspringen lässt, entscheidet durchaus über Erfolg und Misserfolg einer Serie, je nachdem, wie sehr man sich mit den Charakteren identifiziert.

Dummheit nervt

Auch sind die Handlungen der einzelnen Charaktere der Serie teilweise absolut nicht plausibel und »dumm«. es ärgert einen extrem, wenn einer der Protagonisten immer wieder absolut unüberlegt, dumm und irrational handelt – völlig unmöglich bei einem solch perfekt geplanten Verbrechen.

Dabei macht Haus des Geldes auch vieles richtig. So gibt es tolle Charaktere, den »Professor« (Álvaro Morte) – den Kopf der Bande, seine linke Hand und Nairobi, die flippige Gangster-Braut (Schauspielerin Alba Flores, siehe Bild). All diese sorgen für tolle Momente und ein großartiges Mittendrin-Gefühl. Tokio (Úrsula Corberó) dagegen ist mehr schmuckes Beiwerk. Ihre Rolle beim Überfall bleibt nebulös. Die Geiseln wiederum treten in der Masse nicht weiter in Erscheinung und man fokussiert sich auf einzelne Charaktere, die leider aber keine schauspielerischen Meisterleistungen präsentieren.

Fazit zu Haus des Geldes

Deutliche Schwächen an allen Ecken und Enden. Haus des Geldes eignet sich für Fans des klassischen Fernseh-Dauerkrimis, der nur wenig Besonderes bietet. Die Serie ist sicher etwas besser als der Durchschnitt, mehr aber auch nicht. Kurz um, wer gerade eine »Langzeitbeschäftigung« sucht und alle großen Knüller am Serienhimmel durchgeschaut hat, kann sich bedenkenlos Haus des Geldes anschauen.


Zum Autor

Markus Hurnik (28), langjähriger Berliner und Vorortbewohner, den es beruflich inzwischen zunehmend in sächsische Gefilde verschlägt. Er hat in seinen frühen Jahren für die Verlagsgruppe Randomhouse Jugendbücher rezensiert. Anfang der 2000er kam er vermehrt ins Kino und wurde filmabhängig. Studiert hat Hurnik etwas vollkommen Kunstfernes, vis-à-vis der Filmstudios Babelsberg.

Stammkino: Cineplex Titania Palast, Berlin
Lieblingskinos: Programmkino Ost, Dresden Thalia, Potsdam
Lieblingsfilme (eine Auswahl): La Grande Bellezza, Metropolis, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, Wall- E, Train to Busan

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SpokenWordClub mit Micha-El Goehre, Lena Liebkind & Co. http://www.blogvombleiben.de/spokenwordclub-mit-micha-el-goehre/ http://www.blogvombleiben.de/spokenwordclub-mit-micha-el-goehre/#comments Sat, 09 Jun 2018 07:10:11 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3807 Am gestrigen Freitag, 8. Juni, lud der SpokenWordClub in Köln zur letzten Sause vor der großen…

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Am gestrigen Freitag, 8. Juni, lud der SpokenWordClub in Köln zur letzten Sause vor der großen Sommerpause. Drum bekam die Show das Thema »Abschied« verpasst und wurde tränenreich. Doch abgesehen von einem wirklichen Abschied gestern Abend, der traurig war und eine Lücke hinterlassen wird, abgesehen davon gab’s überwiegend Lachtränen. Neben Comedy außerdem im Programm: Live-Musik, Talk und Rap und eine Lesung mit Ekel-Faktor von Micha-El Goehre.

Performance-Potpourri zum Abschied

Apropos Ekel-Faktor: Im Backstage-Bereich des Club Bahnhof Ehrenfeld hätte man mit einem Duschabwischer den Schweiß eimerweise von den Wänden wischen können, so kuschlig-muffig war’s dank der hohen Außentemperaturen im Kabuff unter der Bahnhofsbrücke. Dagegen ist ein Affenkäfig ein Luftkurort. Zum Glück verfügt der Club Bahnhof Ehrenfeld in Köln über eine doch ziemlich fette Klimaanlage, so dass wenigstens das Publikum auf Wohlfühlklima gehalten wurde. Lag vielleicht auch daran, dass (eben wegen des grandiosen Wetters) die Show dieses Mal nicht ausverkauft war.

Lena Liebkind, Micha-El Goehre und ein am Boden zerstörter Norman Sosa beim SpokenWordClub.
Lena Liebkind, Micha-El Goehre und ein am Boden zerstörter Norman Sosa – nur ein kleiner Teil des Line-ups vom letzten SpokenWordClub vor der Sommerpause.

Hier geht es zu weiteren Fotos vom SpokenWordClub am Freitag, 8. Juni 2018.

Mehr Luft zum Atmen für die Anwesenden, mit denen Singer/Songwriter Dan O’Clock in geradezu familiärer Atmosphäre ein kleines Warm-up veranstaltete. Als wenn zum Warm-werden gestern irgendwer ne Anleitung brauchte… Aber es hat ja schon Tradition, dass Dan O’Clock erst ein paar Songs und Spökes abrockt, ehe er mit der Showband das Intro auf die Bühne legt und die Moderatoren aus ihrem Kabuff hervorruft (dieses Mal ein besonders spannender Moment: Liegen die beiden Moderatoren backstage überhitzt in der Ecke und brauchen erstmal Eiswürfel, oder können sie noch selbständig gehen? Siehe da: Letzteres!)

1 Jesse, 1 Norman, 0 Muffins

Der Schauspieler Jesse Albert und der Stand-Up-Comedian Norman Sosa haben sich erneut die Ehre gegeben, den SpokenWordClub als Moderatoren-Duo zu begleiten. Zur letzten Show vor der Sommerpause tauchte Norman sogar pünktlich auf! Locker ne Dreiviertelstunde vor Showbeginn stand er im Backstage-Bereich. Mein Tipp: Er hat darauf gehofft, irgendjemand habe zur Abschieds-Show Muffins gebacken. Oh, welch Enttäuschung müssen die Babytomaten und Haribo-Tüten gewesen sein. Ich glücklicher Mann habe aus der Catering-Ecke noch ne Mini-Pizza ergattern können (zumindest hoffe ich, dass sie zu unserem Catering gehörte – lag etwas abseits und schmeckte etwas ledrig, aber na ja, Pizza ist Pizza ist immer geil). Hab noch zwei Hände voll Weingummis hinterher geschüttet und das während der Show schön bereut, als ich hinter meiner Kamera spürte, wie sich im Magen ein Klumpatsch Gelatine um den Pizza-Happen legte. Klingt ekelhaft? Warte ab, bis ich zum Programmpunkt Lesung von Micha-El Goehre komme…

Comedian Jamie Wierzbicki beim SpokenWordClub im CBE Köln.
Comedian Jamie Wierzbicki beim SpokenWordClub im CBE Köln.

Den Auftakt machte der Comedian Jamie Wierzbicki, seinerseits schonmal zu Gast beim SpokenWordClub. Und ach, wenn ich mich so an seine Anekdoten erinnere, ging’s mit diesem ersten Akt schon gut los in Sachen Ekel-Faktor. Wobei Stuhlgang ja noch ganz menschlich und alltäglich ist. Jamie Wierzbicki berichtete von Kloerlebnissen mit Bewegungsmelder-Beleuchtung. Kennt man ja: Sitzte mal drei Minuten in Ruhe auf’m Pott, schwups, stockfinster in der Kabine. Wie man ein solches Problemchen löst, unter anderem darum ging’s bei Jamie Wierzbicki.

Nach Köln gekommen, um zu bleiben: Lena Liebkind

Ein solider Start in den Abend, dicht gefolgt von Lena Liebkind, die prompt ihre Vorfreude kundtat: In Kürze zieht es die Comedienne dauerhaft nach Köln! Dort hat sie schon am Freitagmittag vor der Show ganz entspannt die Sonne im Park genossen und »die Asozialen« beim Abhängen beobachtet, »oder wie nennt ihr sie hier? Studenten, genau.« Um gescheiterte Kuppelversuche und peinliche Marotten ging’s beim Auftritt von Lena Liebkind, die als Vollzeit-Komikerin gerade neue Stoffe erarbeitet. Ich habe sie mit der gestrigen Performance gerade erst kennengelernt und bin gespannt, mehr von ihr zu hören.

Hier geht’s zu Erlebnisberichten der zurückliegenden SpokenWordClub-Saison, jeweils mit Video vom Abend:

Video zum SpokenWordClub im Juni 2018:

Amin Afify mit der Showband

Nach Lena Liebkind gab es Musik von Amin Afify, bekannt aus The Voice of Germany, wenn man The Voice of Germany kennt. Ich glaube, das läuft im Fernsehen, diesem altmodischen Phänomen eines linearen Programms, für das sich die Zuschauer*innen festen Sendezeiten unterordnen müssen. Mit Werbeblocks, die man nicht skippen kann, was ja okay ist, weil sich die Endgeräte eh nicht gut mit auf Klo nehmen lassen. Also einfach Werbung und Pinkeln synchronisieren und schwups, Fernsehen macht Spaß? Nee, keine Ahnung, mir bleibt es ein Rätsel, wie Fernsehen sich immer noch behaupten kann, in Zeiten des Internets. Zum Glück ist Amin Afify auch im World Wide Web unterwegs. Sein Album Treehouse (2017) gibt’s zum Beispiel bei Spotify. Reinhören? Klar doch:

Auf dem Album singt er mal Deutsch, mal Englisch – und eben so gab er beim SpokenWordClub zwei Songs in den zwei Sprachen zum Besten, mit seiner wirklich bemerkenswerten Stimme und unterstützt von der fantastischen SpokenWordClub-Showband.

Def Benski im Talk und Musikvideo

Als Talkgast war in dieser Ausgabe der stimmgewaltige Porzer Jung am Start: Def Benski! Schön mit Norman Sosa über alte Zeiten, Die Firma und das Musikerleben geschnackt, noch ’n kleinen Rap abgeliefert und am Rande sein neues Musikvideo erwähnt, das »gerade erst online gegangen ist.« Hat mich doch neugierig gemacht. Und siehe da: Geiles Teil geworden!

Im letzten Akt gab’s dann noch mal Comedy vom Feinsten mit Sertaç Mutlu, der – nicht weniger stimmgewaltig als Def Benski – in diverse Rollen schlüpfte, um das Publikum mit lachverkrampften Bauchmuskeln in die laue Juni-Nacht zu entlassen. Damit geht eine SpokenWordClub-Saison zu Ende, die ich von hinter der Kamera mitverfolgen und ihre goldigsten Momente zusammenschneiden durfte. Lauter schöne Erlebnisse für Aug und Ohr waren das!

Der SpokenWordClub kommt wieder

Weiter geht’s erst im September, mit einem Spätsommer-Special im Odonien. Dann mit minimal anderer Besetzung hinter der Bühne, weil in dieser »Abschied«-Ausgabe vom SpokenWordClub tatsächlich Abschied genommen werden musste – von Aufnahmeleiterin und »Stage-Mutti« Ramona Schipler, die zum letzten Mal hinter den Kulissen für Recht und Ordnung sorgte. Mit Blumen und Sektchen wurde sie zwischen den Sketchen und Acts noch einmal von allen geherzt. Dieses Mal vor den Kulissen, mitten auf der Bühne, samt tosendem Applaus des gestern Abend großartig gestimmten Publikums.

Micha-El Goehre und das Problem mit dem Ohr

Oh, ich hab die Ekel-Lesung vergessen! Aber nicht doch: Den Autor, Blogger und Poetry-Slammer Micha-El Goehre muss man sich für das Schlusswort aufheben. Gestern »begeisterte« er beim SpokenWordClub noch mit einem Text über eine heiße Nacht, die am nächsten Morgen darin aufging, dass er seinem Date in Ohr gesabbert hat. Frage an die Leserschaft: Wie bekommt man einen Speichelteich unbemerkt aus dem Ohr eines schlafenden Menschen, mit dem man danach noch die Option auf romantische Liebe haben möchte? So viel sei verraten: Die Handlungsmöglichkeiten sind allesamt mehr oder minder ekelhaft – und es war ein herrlicher Spaß, die Zuschauer*innen im Publikum sich kräuseln zu sehen vor Ekeln und Lachen im Wechselspiel. Richtig toller Auftritt von Micha-El Goehre!

Micha-El Goehre beim SpokenWordClub im CBE Köln.
Micha-El Goehre beim SpokenWordClub im CBE Köln.

Aber ein gutes Schlusswort ist diese Ohr-Speichel-Anekdote eigentlich nicht. Schnurzpiep, denn Micha-El Goehre hat noch so viel mehr auf Lager. Moderator Jesse Albert wies im Interview mit dem Poetry-Slammer zu recht auf einen Text hin, der durchs Internet schwirrt und jedes offene Ohr wert ist: Völkerball (Ein Text für Europa). Dieser Text von Micha-El Goehre ist wichtig, denn wir leben (wie es vermutlich jede Generation jemals gesagt hat) in wirren, irren, bescheuerten Zeiten.

Was sollen die Aliens denken?

Heute morgen las ich noch DIE ZEIT und mir sträubten sich schon wieder die Nackenhaare, als in einem Artikel Donald Trump zitiert wurde. Tatsächlich mal zwei, drei völlig normale, zusammenhängende Sätze zum Thema Nordkorea, ein »Kommentar des US-Präsidenten«. Als handele es sich bei Donald Trump um einen Politiker, der eine kompetente Aussage zu Nordkorea (oder sonstwas) treffen könnte. Ich vermisse bei sowas den Kontext, dass es sich ja immer noch um einen verlogenen Clown handelt, der sexistisch redet und rassistisch handelt, wahlweise andersherum, und – ach! – mit dem stolzen Allgemeinwissen eines 5-Jährigen auftrumpft.

Wenn wir diesen Kontext nicht beharrlich mitliefern und solche Clowns wie ernst zu nehmende Politiker zitieren – was sollen denn dann unsere späten, späten Nachkommen oder etwaige Aliens irgendwann mal denken, wenn sie solche Zeitungsartikel ausgraben? Dass wir in dem Kommentar dieses Clowns, der zwischen unzähligen geistigen Totalausfällen zufällig auch mal was Zitierfähiges schwafelt, eine relevante Aussage sehen!?

emotional vs. sachlich

Ich weiß, in meiner blanken, einseitigen Antihaltung gegen einen gewählten Amtsträger wie der Donald komme ich nicht sehr sachlich daher. Aber scheiß auf sachlich. Sachlich können wir Menschen nicht. Menschen sind EMOTIONAL! Das ist ja das Problem und andererseits auch irgendwie schön. Emotionen machen uns aus, weit mehr als ein Gespür für Gerechtigkeit und Gemeinschaft. Und das ist schon wieder nicht schön. Ach, Menschen, hin-und-her-gerissene, irrationale, sich-selbst-überschätzende Wesen, die mit ihren Makeln und Trieben auf der Stelle treten… wie ich uns hassliebe.

Zum Schluss ne Runde Völkerball, von Micha-El Goehre:

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Mumblecore selbstbemacht – ein Kurzfilm-Schnittbericht http://www.blogvombleiben.de/mumblecore-selbstbemacht-schnittbericht/ http://www.blogvombleiben.de/mumblecore-selbstbemacht-schnittbericht/#respond Fri, 01 Jun 2018 07:18:01 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3657 Unser neuer Kurzfilm ist fertig, juchee! Das Ding trägt den Titel AMUREUS KISS und fügt der…

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Unser neuer Kurzfilm ist fertig, juchee! Das Ding trägt den Titel AMUREUS KISS und fügt der Geschichte von Alex und Zoey ein neues Kapitel hinzu. Die finale Schnittfassung des Films wurde am selben Tag fertig, an dem das Ergebnis dann auch prompt vor Publikum gezeigt wurde, bei der Kurzfilm_Nacht #1 im Bremer Presse-Club. Ein wunderbarer Abend unter Filmenthusiasten! Ab sofort ist AMUREUS KISS jetzt auf YouTube verfügbar (siehe Video weiter unten!) und wird für eine kleine Festivalauswertung aufbereitet. Alles weitere im Schnittbericht:

Amourös im Wirbelsturm

Vor dem Schnittbericht erst noch einmal aus dem Drehbericht vom 9. Mai kurz zusammengefasst. Also: Umgesetzt haben wir unseren Kurzfilm AMUREUS KISS in einem frisch bezogenen Aachener Apartment. In dem sollte noch ne Wand schwarz gestrichen werden. Das bauten wir kurzerhand in die Filmhandlung ein. Damit übernahm der Cast das Streichen (obwohl nach Drehschluss noch ein klitzekleines bisschen nachgestrichen werden musste, wie der fertige Kurzfilm erahnen lässt). Vor der Kamera standen neben Jesse Albert (als Alex) und Stephanie Jost (als Zoey) die Kölner Schauspieler Florian Gierlichs (Noah), Swantje Riechers (Fiona) und Juliana Wagner (Mia). Idee war, das junge, Frust schiebende Ehepaar Alex und Zoey mit ein paar Freunden zu konfrontieren. Diese fegen wie ein Wirbelsturm um sie herum und bringen neuen Schwung in festgefahrene Fronten!

Florian Gierlichs, Jesse Albert und Stephanie Jost im Kurzfilm AMUREUS KISS, Titelbild zum Schnittbericht

Noah (Florian Gierlichs) ist dabei mehr als nur ein alter Kumpel von Alex. Der hat sich ja schon im Kurzfilm TCHINA WURM (2015) als »schwul oder bi – auf jeden Fall verwirrt« geoutet. Tatsächlich kommt es aber nicht nur zwischen den beiden Jungs im Laufe des Abends (an dem mehr getrunken als gestrichen wird) zu amourösen Annäherungen. Sondern irgendwie zwischen allen. So ein bisschen.

Impro sprengt den Rahmen

Gedreht haben wir den lieben langen Tag, von morgens 9 Uhr bis spätabends. Mit anschließender Drehschluss-Party, bei der die halb vollendete Wand fertig gestrichen und alle Flaschen leer gemacht wurden. Man soll einen Drehort ja ordentlich verlassen…

Das erklärte Ziel lautete, an einem Tag einen Kurzfilm zu drehen. Bloß, dass ursprünglich ein Film von 9 Minuten Spieldauer geplant war. Weil die ersten beiden Teile dieser Quasi-Kurzfilm-Trilogie (Teil 1: TCHINA WURM, Teil 2 JAW CHILLI) eben je 9 Minuten dauerten und man ja noch seine Neurosen haben dürfen wird. Na, wie dem auch sei, Pustekuchen! Das Konzept »Improvisation« hat etwaige Planungen gesprengt und aus 9 Minuten wurden rund 20 Minuten, die aus diesen 24 Stunden inklusive Aftermath, Pennen und Aufräumen hervorgehen. Wobei nur zwei Bilder im Film – gegen Ende – erst am nächsten Morgen entstanden sind: Die durchs Fenster blinzelnde Sonne und die fertig gestrichene Wand…

Kaum daheim am Schnittplatz, wollte ich mich direkt ans Sichten des Materials machen. Das gestaltete sich aufgrund der Menge an Material als knifflig. Nicht nur, dass wir am Drehtag wirklich fleißig waren und etliches Improzeugs ausprobiert haben. Gedreht wurde außerdem in 4K, einer sehr hohen Bildauflösung. Einfach nur, weil die Kamera es kann. Dabei entstehen immense Datenmengen (allein für AMUREUS KISS kam über 1 Terabyte an Rohmaterial zusammen). Dafür hat man hochwertigeres Footage, aus dem in der Nachbearbeitung mehr herauszuholen ist. Und seien es nur schöne Standbilder wie diese hier:

Impression aus AMUREUS KISS

Florian Gierlichs, Jesse Albert und Stephanie Jost in dem Kurzfilm AMUREUS KISS
Schauspielerin Stephanie Jost ist grandios darin, verschiedene Stimmungen in einer Rolle zu balancieren. Hier im Zwiegespräch mit dem facettenreichen Jesse Albert.
Die Schauspielerinnen Juliana Wagner und Stephanie Jost in dem Kurzfilm AMUREUS KISS
Hat der Rolle der kratzbürstigen Mia doch liebenswerte Facetten abgewonnen: AMUREUS KISS war meine erste Zusammenarbeit mit Juliana Wagner, beeindruckende Schauspielerin und Hundebänderin! Nicht im Bild weil unterm Tisch: Ronald.
Florian Gierlichs und Jesse Albert auf dem Balkon, Standbild aus dem Kurzfilm AMUREUS KISS
Zwei Improvisationstalente unter sich: Zwischen Florian Gierlichs und Jesse Albert stimmte die Chemie so sehr, dass deren »Beziehungskiste« im Film viel mehr Raum bekommen hat, als ursprünglich geplant.
Die Schauspielerinnen Swantje Riechers und Stephanie Jost in dem Kurzfilm AMUREUS KISS
Die Figur Fiona war auf dem Papier noch eher als guter Hausgeist zwischen den Streithähnen, eher unscheinbar. Schauspielerin Swantje Riechers hat die Rolle nicht nur mit Leben gefüllt – sondern mit ihrem ausdrucksstarken Spiel ordentlich Schwung reingebracht! Was für ne Freude, dabei zuzusehen!

Weitere Standbilder in Original-Auflösung gibt es hier zu sehen.

Wunderhübsch, charismatisch, witzig

Sind das nicht ein paar wunderhübsche Menschen, die wir da vor der Kamera versammelt haben? Und charismatisch und witzig und hach, ein Haufen zum Verlieben. JEDENFALLS: 4K heißt vier Mal so groß wie HD heißt jede Menge Gigabyte heißt Speicherplatznot. Ich möchte in diesem Schnittbericht nicht zu sehr auf langweilige technische Details eingehen. Verkürzt gesagt dauerte es nach Drehschluss noch eine Woche, ehe ich meinen heimischen Arbeitsplatz soweit aufgerüstet hatte, dass ich das Material doppelt sichern und endlich sichten konnte. Ach, darum hätte man sich ja auch vor dem Dreh mal kümmern können, meinst du!?

Kommen wir zum eigentlichen Schnittbericht… nach dem technisch kniffligen Part kam die künstlerische Herausforderung: Wie schneidet man einen Improfilm? Zunächst ist es ja kein reiner Improvisationsfilm wie der Mumblecore-Klassiker Hannah Takes the Stairs mit Greta Gerwig (2007). Einige Szenen und Übergänge basierten auf einem geskripteten Dialog, der zumindest als dramaturgische Richtschnur dienen sollte. Wie sehr sich daran gehalten wurde, mag bei Interesse jede*r für sich selbst nachlesen, hier gibt’s das Drehbuch zu AMUREUS KISS als PDF. Nun glichen unsere Dreharbeiten auch nicht denen des deutschen Mumblecore-Films Papa Gold von Tom Lass (2011), bei dem angeblich kein Take wiederholt wurde. Bei der Vorstellung schaudert’s mir regelrecht. Ich gehöre zu den Filmemachern, die lieber ein paar Takes zu viel von einer Szene machen. Man mag argumentieren, damit verbraucht sich die Frische des Spiels oder Authentizität oder sonstwas. Spätestens am Schnittplatz bin ich froh, ein wenig Auswahl zu haben.

Auf die Rundheit kommt’s an – was ist die Rundheit?

Kurzum: Ich hatte eine Handvoll Szenen vor mir, die wir allesamt mehrmals aus verschiedenen Einstellungen gedreht haben, zum Teil lose auf einem Drehbuch basierend, zum größeren Teil frei improvisiert, zuweilen von Take zu Take unterschiedlich. Mir persönlich hat diese variationsreiche und freie Arbeitsweise sehr gefallen. Die Szenen sind in sich weniger rund, da ihre Anfänge und Enden weniger streng durchkomponiert sind. Stattdessen fühlen sie sich alltäglicher und damit echter an. Alltäglich heißt jedoch auch banal, daher kam es am Ende auf Auswahl und Blickwinkel an.

Wie soll von diesem Abend unter Freunden erzählt werden, damit sich daraus eine Geschichte ergibt, die trotz offener Szenen eine runde Sache ist?

Filmposter zum Kurzfilm AMUREUS KISS

Denn »rund« ist wichtig, denke ich. Diesen Anspruch stelle ich an einen Storyteller, dem ich meine Aufmerksamkeit schenke. Nach der Geschichte soll sich das Gefühl einstellen, ein dramaturgisch durchdachtes Werk oder (in Serien gedacht) Kapitel gesehen zu haben. Das hat nichts damit zu tun, ob der Ausgang eines Handlungsstrangs offen bleibt oder alle Fragen beantwortet werden. Letztlich ist keine Geschichte jemals zu Ende erzählt. Aber eben deshalb könnte ich eben so gut einfach aus dem Fenster sehen, das Leben betrachten, den zig Geschichten um mich herum folgen, die sich ständig und gleichzeitig abspielen, daran die schönen Momente entdecken.

Auf die Momente verdichtet

Warum einen Film sehen? Weil ein Film, sofern gelungen, eben »rund« ist. Heißt: das Leben und seine Geschichtenvielfalt verdichtet und einen Fokus gelegt auf die schönen oder bemerkenswerten Momente. Na, man kann viel darüber reden und hat am Ende doch nichts gesagt. Die lieben Leser*innen mögen selbst entscheiden, ob es im Fall von AMUREUS KISS geklappt hat, diesem eigenen Anspruch gerecht zu werden.

Der fertige Film ist nun auf YouTube zu sehen. Wenn er gefällt, würdest du mir einen großen Gefallen damit tun, meinen YouTube-Kanal weiterzuempfehlen und bestenfalls selbst zu abonnieren  (ein kleiner Klick für dich, ein großer Schritt auf meinem Weg in den »Selbständig von Webcontent leben können«-Modus – und ein fettes DANKE vorweg!). Hier ist er, unser Kurzfilm AMUREUS KISS:

Die Musik in AMUREUS KISS

Kein Schnittbericht ohne ein Wort zur Audiospur! Als Fan der isländischen Band Sigur Rós bin ich vor rund 10 Jahren auf ein inoffizielles Musikvideo zu dem Song Inní mér syngur vitleysingur aufmerksam geworden. Es zeigt einfach nur zwei Frauen und einen Mann im Auto, wie sie auf das Lied abgehen. Sehr sympathisch, macht gute Laune. Es hat mich auf weitere Videos des Mannes aufmerksam gemacht, der darin die Kamera »führte« (wenn man das bei dem spontanen Beifahrer-Dreh so sagen kann). Sein Name ist Pavel Ruminov, ein russischer Regisseur, der neben solch rauen Musikvideos in Homevideo-Ästhetik auch wundervolle, preisgekrönte Spielfilme dreht.

Außerdem ist der Tausendsassa als Musikproduzent unterwegs. Er arbeitet unter anderem mit der russischen Band Sherlock Blonde zusammen. Deren großartig stimmungsvoller Sound floss bereits in die Kurzfilme TCHINA WURM und JAW CHILLI mit ein. Für AMUREUS KISS habe ich nun einmal mehr auf das kongeniale Duo Pavel Ruminov und Natalya Anisimova (die Frontsängerin von Sherlock Blonde und Schauspielerin in Pavel Ruminovs Filmen) zurückgegriffen und drei Songs verwendet, die sie unter dem Bandnamen To Live And Die In Moscow herausgebracht haben. Seit fünf Jahren stehe ich mit Pavel im Mailkontakt, bin begeistert von seinem Antrieb und Schaffen und sage DANKE!, dass wir diese tolle Musik verwenden dürfen.

Algiedi von Konstantin Reinfeld

Doch AMUREUS KISS lebt nicht nur von den drei russischen Songs, sondern auch einem besonderen Score. Die instrumentale Untermalung diverser Szenen stammt von dem Musiker Konstantin Reinfeld. Diesen lernte Hauptdarsteller und Moderator Jesse Albert beim SpokenWordClub in Köln kennen und brachte seine Musik ins Gespräch. Als Mundharmonikaspieler und Komponist hat Konstantin Reinfeld 2015 das Album Algiedi herausgebracht, aus dem ich schließlich eine herrlich abwechslungsreiche Auswahl an Songs für AMUREUS KISS verwenden durfte. Auch dafür vielen Dank! Hier geht es zur offiziellen Website von Konstantin Reinfeld.

Schnittbericht-Fazit: Mumblecore, ja oder nein?

Ist AMUREUS KISS nun ein Mumblecore-Film geworden, wie ursprünglich geplant? Ehrlich gesagt, fürchte ich, nicht ganz. Dafür tragen Inszenierung, Tempo und Musikeinsatz zu sehr die aufdringliche Handschrift, die sich schon in TCHINA WURM und JAW CHILLI abgezeichnet hat. Der Kurzfilm erfüllt einige Mumblecore-Elemente, ist jedoch nicht rein genug, um als echter Mumblecore zu gelten. Dazu hätte es mehr Mut bedurft, das Tempo weiter herausnehmen und die Zügel in Sachen Dramaturgie noch mehr aus der Hand zu geben. Schnittbericht Ende.

In jedem Fall aber war es ein spannendes Projekt! Danke an alle Beteiligten, es war mir eine Freude und Ehre, mit euch zusammenzuarbeiten! Oder mit den Worten Sherlocks:

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THE NICE GUYS mit Angourie Rice | Film 2016 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-the-nice-guys-2016/ http://www.blogvombleiben.de/film-the-nice-guys-2016/#respond Sat, 26 May 2018 06:40:22 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3360 Der Gladiator ist ein bisschen außer Form geraten, doch schlägt sich noch ganz gut. Der La…

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Der Gladiator ist ein bisschen außer Form geraten, doch schlägt sich noch ganz gut. Der La La Ladyheld hingegen stolpert eher so durch den Plot und lässt es an Sexappeal missen. Die Buddy-Komödie The Nice Guys von Shane Black ist vielleicht nicht der richtige Film für Sie und Ihn im Kuschelmodus auf der Couch. Aber das macht ihn ja noch nicht zu einem schlechten Film… oder?

Laurel & Holly im Porno-Dschungel

Ryan Gosling – der liebenswerte Jazz-Griesgram aus La La Land – kriegt aufs Maul. Und das nicht zu wenig. Er stürzt oft und tief und leidet quietschend wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Und wenn er zwischendurch mal munter ist, erweist er sich als ziemliche Niete in seiner Profession als Privatdetektiv. Ja, für Verehrer von Ryan Gosling ist The Nice Guys ein hartes Brot. Mir persönlich hat dieser Streifen den Schauspieler nur sympathischer gemacht. Nehmen wir das Actionfest mal unter die Lupe.

Hinweis: Liebe Leser*innen, der Plot ist mir zu kompliziert, als dass ich hier im Detail darauf eingehen werde (keine Bange, sooo kompliziert ist er nicht, nur halt… durcheinander?) – dementsprechend ist der nachfolgende Text spoilerfrei. Aktuelle Streamingangebote finden sich wie immer bei JustWatch.

Ryan Gosling und Angourie Rice in dem Film The Nice Guys | Bild: EuroCorp Distribution
Die Schauspieler Ryan Gosling und Angourie Rice als Vater und Tochter im etwas umgekehrten Verantwortungsverhältnis in dem Film The Nice Guys | Bild: EuroCorp Distribution

Totale: The Nice Guys im Zusammenhang

Historischer Kontext

The Nice Guys spielt unverkennbar in den 70er Jahren, genauer: 1977. Während in Deutschland der RAF-Terror Schlagzeilen macht, wird in den USA die erste Hinrichtung seit über einem Jahrzehnt durchgeführt. Die Todesstrafe feiert ihr unrühmliches Comeback. Aber darum geht’s nicht. 1977 sind auch andere große US-Geschichtsthemen mit Popkultur-Potential schon gelaufen. Die Watergate-Affäre (längst!), der Vietnamkrieg (abgesehen von Millionen von Landminen, die noch rumliegen – aber die USA können sich ja nicht um alles kümmern, immerhin haben sie schon die zwei- bis dreifache Bombenmenge über Vietnam abgeworfen, wie im Zweiten Weltkrieg über Deutschland), ja selbst die Hippie-Ära ist passé. Vorbei der erneute Ruf nach »freier Liebe«. Stattdessen machen im Film The Nice Guys nur ein paar Umweltaktivisten auf die schlechte Luft aufmerksam – eine Randnotiz, die im Laufe der Handlung an erstaunlicher Relevanz gewinnen soll.

Kurzum: Die 70er Jahre schlagen sich in The Nice Guys vor allem im coolen Gewand nieder. Die Autos, die Klamotten, die Mucke, das bietet sich alles sehr gut eine für eine knallbunte, actionreiche Buddy-Komödie. Irgendwo hängt ein Kinoplakat für Jaws 2 in der Kulisse. Irgendwann treten Earth, Wind and Fire live auf, das sind so die nennenswerten 70er-Referenzen. (Wen’s interessiert: Hier geht es zum Casting-Aufruf, mit dem die 70er-Jahre-Band für den Film neu zusammengestellt werden sollte.)

Mal in den Soundtrack reinhören? Bitteschön:

Persönlicher Kontext

Ach ja, und der pornöse Schnurrbart darf beim 70er-Jahre-Feeling natürlich auch nicht fehlen. Den trägt Ryan Gosling unter der Nase. Und obwohl Sonia den Film gerne sehen wollte (wegen Ryan Gosling, darf ich aus Erfahrungswerten annehmen), hat sie bei der Plakat- und Trailerwerbung wohl nicht so ganz hingeschaut. Denn dieser dominante Schnurrbart schaffte es doch glatt, meiner lieben Partnerin das Ryan-Gosling-Erlebnis madig zu machen.

So kam’s dass nur ich, der ich den Film in maximaler Selbstlosigkeit nur Sonia zuliebe anklickte, am Ende auf meine Kosten kam. Zumindest wurde ich gut unterhalten. Mehr wollte dieses Action-Spektakel mit relativer Gagdichte gar nicht, glaub ich… hoff ich.

Close-up: The Nice Guys im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

The Nice Guys beginnt mit einem Kameraflug über Los Angeles bei Nacht, beginnend von hinter dem Hollywood-Schriftzug in den Hills (mäßige CGI), endend bei einem Hund, der in ein Haus reindackelt. Schnitt, die Kamera folgt dem Hund, bis sie an einem Jungen hängen bleibt, der ins Schlafzimmer seiner Eltern schleicht. Offenbar der Sohn des Hauses. Er mopst sich das Porno-Blättchen seines Vaters von unterm Bett und stöbert darin, bis plötzlich ein Auto mitten durchs Haus rast. Ja, das kommt etwas unerwartet. Krachender Einstieg. Der Junge inspiziert das Autowrack und findet in der Nähe einer halbnackte Frauenleiche, die einer Dame aus dem Porno-Blättchen ziemlich ähnlich sieht.

Man kann den Anfang des Films auch verkürzt zusammenfassen: Langsame Kamerafahrt über einen nackten Frauenkörper in einem Porno-Magazin + langsame Kamerafahrt über einen nackten, blutigen Frauenkörper nach einem Autounfall. Genug für Hilary, die nach drei Minuten erkannte, dass sie »offenbar nicht die Zielgruppe für den Film war«, wie die Leserin der Bechdel Test Movie List es sympathisch formuliert.

Bemerkenswerte Lesben

Dabei hat der Streifen den Bechdel-Test bestanden, was man bei einem Film wie The Nice Guys jetzt nicht unmittelbar erwarten würde. Der Bechdel-Test stammt aus dem Comic Dykes to Watch Out For (zu deutsch: Bemerkenswerte Lesben) und dient dazu, auf die Stereotypisierung weiblicher Figuren in Filmen hinzuweisen. Er ist ganz einfach:

  • Gibt’s im Film mindestens zwei Frauenrollen?
  • Sprechen sie miteinander…
  • …auch über etwas Anderes, als Männer?

Zack, so simpel lassen sich die schlimmsten Macho-Movies (von denen es erschreckend viele gibt) aussortieren. Obwohl in The Nice Guys zwei ziemliche Macho-Typen die Hauptrollen spielen (Russell Crowe und Ryan Gosling ermitteln als Privatschnüffler-Duo im Porno-Business) gibt es in dem Film ne Menge bemerkenswerter Frauenrollen.

Die gesuchte Tochter einer Politikerin entpuppt sich als meinungsstarke Aktivistin. Die korrupte Mutter plottet den ganzen Coup, der die Handlung überhaupt ins Rollen bringt. Deren knallharte Gehilfin macht es den Privatermittlern ein ums andere Mal schwer. Eine alte Dame bringt besagte Ermittler überhaupt erst auf die richtige Spur… wenn man so den Fokus drauf richtet, sind die Männer in diesem Film nur ne Bande gewalttätiger/betrunkener Dicks und Doofs, die ohne weibliche Anleitung gar nicht wüssten, worum sie sich kloppen sollen.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Gedächtnis bleibt dabei vor allem eine weibliche Rolle, die ob ihres Alters anfangs irritiert: Tochter Holly des von Ryan Gosling gespielten Detektivs. Keine Ahnung, wie alt sie im Film sein soll. Schauspielerin Angourie Rice (*2001) war bei den Dreharbeiten (beginnend im Oktober 2014) etwa 13 Jahre alt. Augenscheinlich noch ein liebes Kind, dass in Kreises rabiater Kerle und Porno-Partys nichts zu suchen hat. Tatsächlich erlebt man Holly jedoch als diejenige, die ihren Vater zur Disziplin ruft, einen miserablen Detektiv schimpft, ihn nach Hause fährt und ihm den Arsch rettet, öfter mal. Auch dem anderen Nice Guy, Russell Crowe, redet sie selbstbewusst ins Gewissen.

Mit The Nice Guys hatte Angourie Rice, im Real Life die Tochter eines Regisseurs und einer Autorin, ihren Durchbruch als Schauspielerin. Aktuell ist sie in Letztlich sind wir dem Universum egal zu sehen (mehr dazu im Interview mit Sarah Schindler) und bespricht selbst Filme auf ihrem WordPress-Blog Thoughts to keep me sane. Ob Angourie Rice eine Rolle im geplanten Nice-Guys-Reboot mit weiblichen Hauptrollen – The Nice Girls soll’s heißen – spielen wird? Wird sich zeigen.

Fazit zu The Nice Guys

Ein netter Film. Die Hard trifft Laurel & Hardy trifft Fuck for Forest, oder so. Nur Ryan Gosling zu mögen reicht eher nicht, um Gefallen an dem Film zu finden. Sonia ist nach einer Stunde ausgestiegen, fand den Film letztlich lahm, zu viel Geballer, zu wenig Emotionen. Längen hat er, da stimme ich zu, aber die Actionszenen sind ideenreich choreografiert und ein paar gute Lacher gibt’s auch. Reicht doch für ’n okayen Film.


Weblinks:
  • Der Film The Nice Guys bei Wikipedia
  • Filmkritik | Andreas Busche (Spiegel Online) über den Film The Nice Guys: Profis in Polyester
  • Filmkritik aus Cannes | Owen Glieiberman (Variety) über den Film The Nice Guys (englisch)
  • Filmkritik | Jackie K. Cooper (HuffPostüber den Film: »The Nice Guys« Is Not a Nice Movie (englisch)
  • Filmkritik | Kristen Kranz (Hypable) über den Film The Nice Guys: Not a nice trip to the movies (englisch)

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