Menschen – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Menschen – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 GOOD NIGHT STORIES FOR REBEL GIRLS | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-good-night-stories-for-rebel-girls-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-good-night-stories-for-rebel-girls-2017/#respond Wed, 08 Aug 2018 06:00:57 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4548 Weibliche Errungenschaften scheinen in der Menschheitsgeschichte eher rar. Haben denn nur Männer die Welt verändert? Das…

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Weibliche Errungenschaften scheinen in der Menschheitsgeschichte eher rar. Haben denn nur Männer die Welt verändert? Das Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls von Elena Favilli und Francesca Cavallo räumt mit dem antiquierten Geschlechter-Verständnis auf. Es zeigt großen und kleinen Leser*innen, dass Heldentaten und Vision von Persönlichkeiten und nicht von Geschlechtern realisiert werden.

Prinzessin? Mach die Augen auf!

Blicke ich auf meine Kindheit zurück, muss ich zugeben: meine Emanzipation ging recht schleppend vonstatten. Neben Einflussfaktoren wie familiäres und soziales Umfeld lag das am Einfluss und der Rezeption von Kindermedien. Allen voran meiner geliebte Walt Disney Classic Collection. Die dort dargestellten Geschlechterrollen prägten mich maßgeblich mit. Dornröschen als in Not geratene Schönheit, Schneewittchen als gutgläubige, in Not geratene Schönheit oder Belle als in Gefangenschaft genommene Schönheit.

Dieses Jungfrau in Nöten-Bild zieht sich durch die so oft zugrunde liegenden Grimmschen Märchen. So dass Mädchen vor dem Zubettgehen eingetrichtert wurde, das weibliche Geschlecht sei zwar schön, aber nun mal schwach. Und deshalb angewiesen auf den starken Prinzen. Doch um Disney gegenüber fair zu bleiben: Mit den späteren Frauenfiguren Mulan, Pocahontas und (meiner Favoritin) Meg in Hercules flimmerten auch Persönlichkeiten auf dem Bildschirm, die durchsetzungsstärker waren. Oder eben: rebellisch! (Ach, und wer Rotkäppchen als Aktivistin erleben will, kann sich die Rotkäppchen-Version der Bocholter Märchenoma Ursula Enders anschauen.)

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Es waren einmal… 100 starke Frauen

Zum Inhalt: In 100 Kurzgeschichten und künstlerischen Illustrationen präsentieren Elena Favilli und Francesca Cavallo 100 Mädchen und Frauen, die unsere Gesellschaft zu Höherem verholfen haben. Ob Rennfahrerin Lella Lombardi, Modeschöpferin Coco Chanel (hier geht’s zur Filmkritik über das Biopic zu Coco) oder Aktivistin Malala Youzafzai. Die Protagonistinnen in diesem Buch sind Vorbilder. Nicht nur für Mädchen, sondern natürlich auch für Jungen. Schließlich geht es um Geschichten, die Geschichte geschrieben haben. Um starke Menschen, die mutig waren, zu scheitern, aufzustehen und weiter nach ihren Zielen zu greifen.

Ein Crowdfunding-Projekt gegen Geschlechter-Klischees

Das geplante Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls der beiden italienischen Autorinnen Elena Favilli, Journalistin, und Theaterregisseurin und Schriftstellerin Francesca Cavallo traf einen internationalen Nerv. Als Reaktion auf das Video If you have a daughter, you need to see this (siehe unten) beteiligten sich Menschen aus über 70 Ländern mit mehr als 1 Million Euro bei der Crowdfunding-Kampagne. Sie halfen dabei, dass die Geschichten von 100 beeindruckenden Frauen in die Buchläden, die Kinderzimmer und in die Köpfe der Menschen einziehen konnten. Dank ihres Erfolgs gilt Good Night Stories for Rebel Girls als erfolgreichstes Kinderbuch im Bereich Crowdfunding.

Auch die Pressestimmen unterstreichen die Relevanz und den Erfolg dieses feministischen Kinderbuchs. Hier eine Auswahl:

Entgegen dem Titel sind die pointierten, auf je eine Doppelseite verdichteten Kurzporträts zu jeder Tageszeit ein Genuss. So viel geballte Girlpower ist eine Ermunterung und Bestätigung für jede Heranwachsende, große Träume und hohe Ziele zu haben. 

Verena Hoenig (Neue Zürcher Zeitung), 11.12.17

Bei Good Night Stories for Rebel Girls ließe sich die Botschaft so zusammenfassen: Wie ein Leben sich gestaltet, kann man nicht wissen; aber wer für seine Träume und Ideen einsteht, integer lebt und aufbegehrt, der trägt zu seinem eigenen Glück und meistens auch zum Wohlergehen anderer bei.

Yalda Franzen (SPIEGEL Online), 29.10.17

Elena Favilli und Francesca Cavallo liefern mit heroischen, die Selbstermächtigung in sämtlichen Spielarten feiernden Kurzbiografien ein Prägungsmodell für Heldinnen der Zukunft.

Jamal Tuschick (Der Freitag)

Frage: Gibt es das schwache Geschlecht? Einer Antwort darauf sind wir in diesem Blogbeitrag auf den Grund gegangen: Bio mit Beauvoir.

Zur Wirkung des Buchs

Mit ihrem feministischen Kinderbuch haben die Autorinnen einen wertvollen Sammelband diverser Frauen- und Mädchengeschichten aus dem echten Leben kreiert. Das gehört in jedes Kinderzimmer. In knappen Texten, die fast alle klassisch mit »Es war einmal…« eröffnen, werden statt Klischee-Märchen Lebensgeschichten erzählt. Diese dürften sowohl Kindern auch als Erwachsenen Inspiration und Mut einflößen. Hierzu gehören besagte Coco Chanel, Schriftstellerin Astrid Lindgren, Michelle Obama und 97 mehr. Jede*s der Mädchen und Frauen wird sowohl textlich als auch künstlerisch porträtiert und so zu einer Gute-Nacht-Heldin. So facettenreich die Protagonistinnen selbst erscheinen, so imponieren auch die mitwirkenden 60 Künstlerinnen aus aller Welt mit ihrem eigenem Stil.

Ein schöner Bonus: Das Kinderbuch wurde 2018 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Wien als Sieger in der Kategorie Junior-Wissensbücher ausgezeichnet.

Einen Einblick ins Kinderbuch gibt’s hier:

Blick ins Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Fazit zu Good Night Stories for Rebel Girls

Ein Hoch auf die mutigen und unerschrockenen Frauen und Mädchen in diesem Kinderbuch (und in der Welt)! Und ein Hoch auf die beiden Autorinnen und die 60 Künstlerinnen. Mit den wahren Geschichten motivieren sie Mädchen, aktiv zu werden und für ihre Werte einzustehen. Dieses Verständnis muss gefördert werden. Denn immer noch herrscht ein veraltetes Rollenbild, das Medien wie Menschen reproduzieren und an den Nachwuchs weitertragen. Die immense Teilnahme an diesem Crowdfunding-Projekt macht deutlich, wie relevant und dringend das Thema Geschlechter-Verständnis ist. Mit ihren echten Märchen vermittelt das Kinderbuch Good Night Stories For Rebel Girls auf kindgemäße Weise ein differenzierteres Bild vom weiblichen Geschlecht. Ich vergebe 10 Sterne.

TitelGood Night Stories for Rebel Girls 
Erscheinungsjahr2017
Autor*in, Illustrator*inElena Favilli (Autorin) 
Francesca Cavallo (Autorin)
VerlagHanser Verlag
Umfang224 Seiten
Altersempfehlungab 12 Jahren
ThemaMut, Gender, Frauenbild

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Märchenoma Ursula Enders aus Bocholt-Suderwick | 1926-2018 | Nachruf http://www.blogvombleiben.de/nachruf-maerchenoma-ursula-enders/ http://www.blogvombleiben.de/nachruf-maerchenoma-ursula-enders/#respond Mon, 06 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4663 Am vergangenen Freitag, 3. August ist Ursula Enders gestorben. Daheim, in der Wohnstube des ehemaligen Bauernhaus…

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Am vergangenen Freitag, 3. August ist Ursula Enders gestorben. Daheim, in der Wohnstube des ehemaligen Bauernhaus an der Keminksweide. Wer je an diesem Haus im grünen, grenznahen Hinterland vorbeigefahren ist, wird es schon von weitem gesehen haben: Dort wohnt jemand Besonderes. Den Menschen aus Suderwick, Bocholt und Umgebung, bis in die Niederlande, war Ursula Enders vor allem als die »Märchenoma« oder »Sprookjes Oma« bekannt. Ihrer Leidenschaft, Geschichten zum Leben zu erwecken, frönte sie bis ins hohe Alter. Ursula Enders wurde 92 Jahre alt.

Die lebendige Erzählerin

Als die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit anfingen, im Volksmund verbreitete Märchen und Sagen zu sammeln, da stießen sie auf Menschen wie Dorothea Viehmann. Eine rüstige Frau jenseits der Fünfzig, die nach dem Tod ihres Mannes für sich und ihre sieben Kinder zu sorgen hatte. Wilhelm Grimm schrieb über Dorothea:

Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß […]. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. 

Wilhelm Grimm, in: Kinder- und Hausmärchen, Band 1 (1819)

Eben diese Worte kann man heute, knapp 200 Jahre später, auf Ursula Enders anwenden. Wenn sie sich hinsetzte, um ihrer Hörerschaft von Rotkäppchen und Co zu erzählen, dann konnte man sehen, wie die Geschichten vor ihrem inneren Auge lebendig wurden. Doch die Märchenoma war nicht nur eine tolle Erzählerin. Sie war ein Energiebündel, eine Macherin – und eine unglaublich warmherzige Persönlichkeit. Dabei war ihr Lebensweg wahrlich kein leichter.

Die Schauspielerin Anni C. Salander mit Märchenoma Ursula Enders.

Das Mädchen mit den Schlüsselblumen

In dem Jahr, in dem Gertrude Ederle als erste Frau den Ärmelkanal durchschwamm, da kam in Thüringen, nicht weit von der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei, das Mädchen Ursula zur Welt. 1926. Dort geboren und bis in die 90er Jahre nie weit fortgezogen, hat Ursula Enders ihre Kindheit in der Weimarer Republik gelebt, ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus, ihr Erwachsenenalter in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der kommunistischen DDR, noch später in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Fünf verschiedene, politische Systeme vor der immer gleichen Kulisse des thüringischen Waldes.

Eine ihrer frühesten Erinnerungen, würde jenes Mädchen viele Jahrzehnte später als Bocholter Märchenoma erzählen, waren die Spaziergänge mit der Großmutter, die ihre Enkelin auch mit den vielen Märchen bekannt machte, die sie später auswendig erzählen konnte. Als Kind begleitete Ursula ihre Oma oft in das Waldgebiet neben dem Friedhof. Dort pflückten sie Schlüsselblumen und Leberblümchen, aus denen das geschickte Mädchen Sträuße band, für die es pro Strauß 2 Pfennig bekam.

Da hab ich mich so drüber gefreut – wenn ich heimkam und der Mutter 20 Pfennig geben konnt‘,  die ich verdient hab. Dann war sie glücklich. 

Ursula Enders im Juli 2015

Doch die heile Welt währte nicht lange. Ursula hatte 9 Geschwister, der Vater war »im Krieg geblieben«. Der Mutter standen im Monat gerade mal 80 Mark zur Verfügung. Sie konnte sich bald nicht mehr um alle Kinder kümmern, nicht mehr alle ordentlich ernähren, drum gab sie einige weg.

Fester Vorsatz in jungen Jahren

Neben 2 Brüdern wurde auch Ursula im Alter von 9 Jahren in eine andere Obhut überlassen, nach Gera. »Bei fremde Leute«, wie sie später zu sagen pflegte. Fremde Leute, bei denen sie kein Glück erfahren sollte. Im Gegenteil: Viel Arbeit, keine Liebe. »Nicht mal einen winzigen Pfefferkuchen gab’s zu Weihnachten«, erinnerte sich Ursula, die in diesen Jahren viel geweint habe. So etwas erzählte sie nicht, um Mitleid zu erregen, sondern auf die Frage, wie aus Ursula Enders denn die »Märchenoma« geworden ist, die immer Süßigkeiten im Haus hat, wenn Kinder zu Besuch kommen – oder Lämmchen (kein Scherz).

Damals nämlich, in den bitterarmen, tränenreichen Mädchentagen, schon da habe sie sich gesagt: »Wenn ich mal groß bin, und alt, dann geb ich den Kinder das zurück, was ich selbst nie hatte.« Um 1940, im Jugendalter von gerade einmal 14 Jahren, begann Ursula Enders zu arbeiten.

Jahrzehntelange Plackerei

Nach dem 2. Weltkrieg nahm das Stahlwerk Thüringen die Produktion im Hochofen II auf. Es ist der einzige, noch erhaltene Hochofen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, der in der DDR weiter betrieben wurde. An diesem Hochofen arbeitete Ursula Enders jahrzehntelang. Selbst als sie Kinder bekam – nachdem sie 1950 geheiratet hatte – dauerten die Auszeiten nie lange. »Nach 4 Wochen gab man das Kind in die Krippe und die Arbeit ging weiter.«

Ihr Mann schuftete in einem Uranbergwerk, unter Tage und unter schwersten Bedingungen. Schon im Alter von 50 Jahren starb er an einer Staublunge und Ursula Enders stand mit ihren Kindern allein da. In einem Schuppen, den ihr 1966 die Gemeinde zur Verfügung stellte, richtete die Mutter es ihren Kindern und sich wohnlich ein – und bekam selbst eine Stelle im Uranbergwerk zugewiesen.

Zur Genesung fort aus der Heimat

Anfang der 90er Jahre war dann auch Ursula Enders von der schweren Plackerei mit Presslufthammer und Steinbrocken im Bergwerk so geschunden und lungenkrank, dass sie von der Krankenkasse nach Düsseldorf geschickt wurde. Dort hatte man Erfahrung mit der Behandlung von Staublunge. Doch diese Behandlung sei intensiv, hieß es, und man riet Ursula einen Umzug in den Westen des vor kurzem wiedervereinigten Deutschlands. So mietete sie sich eine ehemalige Bauernkate in Bocholt-Suderwick, wo sie bis zu ihrem Tod am 3. August 2018 wohnen bleiben würde.

Obwohl diese Bauernkate nur ein paar Minuten, Wiesen und Felder entfernt liegt von meinem Elternhaus, dauerte es bis vor rund 5 Jahren, ehe ich Ursula Enders kennenlernen sollte.

Gestatten, die Märchenoma

Ich kann mich an eine Fahrradtour im Sommer 2013 erinnern, da kamen wir in der Keminksweide in Bocholt-Suderwick vorbei. Es war ein heißer Tag, pralle Sonne, keine Wolke am Himmel, keine anderen Radler oder Autos unterwegs. Ein sehr stiller Sonntag im Hinterland. Vor diesem seltsamen Bauernhaus, das von bunten Hütten umgeben war, machten wir Halt. Man muss sagen: An dieser Anlage gibt es kein großes Schild, das auf die Märchenwelt der Ursula Enders hinweist. Und so erschließt sich zufälligen Besucher*innen die Kulisse ohne Kontext nicht sofort.

Weit und breit kein Mensch zu sehen, schlenderten wir von Hütte zu Hütte und betrachteten die Märchen darin – bis ins hinterste Häuschen, das man gar betreten konnte. Auch darin, bis hoch unter die Decke arrangiert: Märchenhafte Figuren und Requisiten, die in ihrem stillen Dasein altbekannte Geschichten bewahrten. Ich muss zugeben, wie wir damals so zum ersten Mal in dieser an jenem Tag menschenleeren Märchen-Ausstellung waren, fand ich’s ein bisschen schaurig. (Das kommt davon, wenn man zu viele Gruselfilme sieht, in denen Puppen zum Leben erwachen.)

Kaffee und Kuchen für Karl(a) Kolumna

Im selben Sommer begann ich als Redakteur und rasender Reporter für den Stadtkurier in Bocholt zu arbeiten. Und es sollte nicht lange dauern, bis ich gen Ende 2013 in dieser Funktion nochmals in die Keminksweide kam. Mit Stift und Zettel und lauter Fragen rund um einen bevorstehenden Weihnachtsmarkt, auf dem Ursula Enders einige ihrer Märchenhäuser ausstellte.

Ich staunte nicht schlecht über diese Frau: Hinter dem unscheinbaren, harmlosen Titel der »Märchenoma« steckte ein Mensch von unglaublicher Schaffenskraft. Zunächst saßen wir noch bei Kaffee und Kuchen (selbstgemacht, natürlich) in ihrer kleinen Küche, die selbst wie einer Märchenwelt entsprungen schien. Ringsum türmten sich Puppen und Fabelgestalten. Wenig später bekam ich dann ihre Werkstätte zu sehen, im Wesentlichen:

Eine Nähmaschine zwischen Badewanne und Fenster zum Garten. An diesem bescheidenen Plätzchen entstanden, in stunden- und tagelanger Arbeit, die Kleider für die unzähligen Figuren draußen in der Ausstellung.

Die Ausstellung der Märchenoma in Bocholt-Suderwick

Info: Ursula Enders hat nicht erst in Bocholt-Suderwick damit angefangen, Märchen in Szene zu setzen. Schon in ihrer Heimat baute sie erste Märchen auf, die später von ihrer Tochter zum Märchenwald Saalburg ausgebaut wurden.

Zu Ostern kam ich wieder, als die Märchenoma diese Ausstellung anlässlich der Feiertage um diverse Hasen und Ostereier bereicherte. Während ich im Winter mein Kopfhaar noch lang getragen hatte, kam ich nun kurz geschnitten daher und durfte mir erstmal anhören, dass »beim letzten Mal eine sehr nette Kollegin von Ihnen da war« – »Ehm… nee, das war auch ich.«

Herzensgute Seele

Seitdem kam ich auch mal zwischen den Presseterminen vorbei, einfach nur, damit sich das Gesicht einprägen möge. Und wegen den Süßigkeiten, klar. Und den Märchen, sowieso. Aber eigentlich, das werden sich andere Besucher*innen sicher ebenso eingestehen, kam man vor allem wegen dieser herzensguten Seele gerne dorthin, ins Märchenland. 

Wenn man so mit Ursula Enders in der Küche saß, dann konnte es passieren, dass ein kleines Schaf hereinspazierte. Dieses Lämmchen lag auch gerne am Fußende auf Ursulas Bett, während von draußen durchs Fenster die großen Schafe hineinspähten. Nach getaner Arbeit (jeden Morgen um 6.30 Uhr aufstehen, jeden Tag 5-6 Stunden nähen) lag die Märchenoma selbst erschöpft in diesem Bett – doch auch von dort hatte sie immer etwas Süßes in Greifweite, wenn man zu Besuch kam.

Ihr Lebensgefährte Dieter saß dann abends neben dem Bett. In der Ecke lief der Fernseher, die Nachrichten, auf stumm geschaltet. Und Dieter erzählte aus diesem oder jenem Kapitel der deutschen Geschichte, bemerkenswert kenntnisreich.

Es wird einmal…

Im Sommer 2015 durften wir bei der Märchenoma einige Aufnahmen für unser Langzeit-Filmprojekt Es wird einmal… drehen, das jedes Jahr um ein paar Szenen weiter wächst. Dafür trat Ursula Enders selbst in ihrer Lebensrolle als Märchenoma in Erscheinung. Rückblickend wünschte ich mir, wir hätten damals einfach einen Kurzfilm gedreht. Irgendwas kleines, geschlossenes, damit wir Ursula Enders das Ergebnis noch hätten zeigen können. Denn ihre Gastfreundschaft unserem Filmteam gegenüber war unglaublich.

Ein kurzer Ausschnitt aus dem Projekt, das die Märchenoma mit ihrer Präsenz und ihrem Lebenswerk bereichert hat:

Ich bin der Märchenoma so dankbar für all die Inspiration und Mut, den sie den Menschen mit auf den Weg gegeben hat – und ich bereue es sehr, sie im vergangenen Jahr nicht mehr besucht zu haben. Man redet sich ein, »ja, ja, der Umzug, die Arbeit«, viel zu tun und was weiß ich. In Wahrheit habe ich einfach nur meine Prioritäten falsch gesetzt. Was kann denn besser warten, irgendein x-beliebiges Projekt oder ein über 90-jährige Frau, die trotz ihrem Frohsinn schwerkrank war?

Eine Botschaft der Märchenoma

Ursula Enders hat sich nicht in ihrer Märchenwelt versteckt, als wolle sie der Wirklichkeit entfliehen. Im Gegenteil: Sie hat sich sehr um ihre Nachwelt gesorgt. So sehr, dass sie auch mal vom »Grimmschen Original« abwich und ein Märchen nach eigenen Gutdünken umdichtete. Das Ergebnis war eine Art »Bocholter Version« des Rotkäppchens. Während der Drehtage im Spätsommer 2015 hat die Märchenoma uns diese Geschichte erzählt. Hier ist sie nochmal, ganz in ihrem Element:

Keine andere Dichtung versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge zu sagen wie das Märchen.

Johann Gottfried Herder

Ausgezeichnetes Engagement

Mit diesem Zitat hat der Landrat Dr. Kai Zwicker den Hauptteil seiner Rede eingeleitet, im Juli 2014, als Ursula Enders die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde. Weiter sagte er:

Sehr geehrte Frau Enders, mit Ihrer Einstellung und Ihrem unermüdlichen Einsatz für Ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht nur in Bocholt, sondern in der ganzen Region – sind Sie ein Vorbild für Bürgerengagement und solidarisches Handeln. Für Sie selbst war dies immer selbstverständlich. Das ist es jedoch keineswegs. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass die Öffentlichkeit auf das Beispiel, das Sie geben, aufmerksam gemacht und zur Nachahmung aufgefordert wird.

Landrat Dr. Kai Zwicker

Info: Über die Verleihung berichtete auch der Gemeindebrief für Suderwick und Spork: Der Grenzgänger (Oktober-November 2014)

Nachahmung in Sachen Solidarität, die hat die Märchenoma seitens der Bevölkerung aus Bocholt und Umgebung erfahren, als Anfang das Sturmtief »Friederike« ihre Ausstellung zerstörte. Binnen 7 Wochen schafften es viele freiwillige Helfer*innen mithilfe von Spenden und tatkräftigen Händen, Ursula Enders Märchenwelt wieder aufzubauen. Ein beeindruckendes Beispiel für gesellschaftliches Engagement, das jetzt, da Ursulas Lebensweg zu Ende gegangen ist, als umso wichtiger in Erinnerung bleibt: Diese Helfer*innen haben einem Vorbild gezeigt, wofür es sich lohnt, ein Vorbild zu sein.

In Respekt und Dankbarkeit

Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar andere Stimmen zu Wort kommen lassen, die sich in den letzten Tagen und Jahren über Märchenoma Ursula Enders geäußert haben. Inbesondere

Ich halte ihr Leben und ihre rastlose Tätigkeit […] für ein Vorbild für uns alle. Es zeigt uns, dass ein hartes Leben und ein schweres Schicksal nicht in Resignation und Verbitterung enden muß, sondern neue Kräfte und viel Kreativität freisetzen kann und den Wunsch, Liebe und Wärme zu geben und Freude in das Leben anderer Menschen zu bringen.

H. Lippelt | 2014

Ich denke. mit folgender Formulierung nicht zu übertreiben: Bocholt und
die Umgebung verneigen sich in großem Respekt und tiefer Dankbarkeit vor dem Engagement und der enormen Leistung der – stets äußerst bescheidenen »Märchenoma«.

E. Geitel | 2014

Ich sagte ihr zum Abschied: »Frau Enders. ich habe noch selten so über einen Menschen gestaunt.« Sie wehrte bescheiden, fast erschrocken ab: »Nein, nein, nicht staunen! Sie sollen sich freuen!«

M. Handschuh-Bauer | 2014

Herzmensch durch und durch

»Oma« Ursula zeigte schon mir, als ich noch ein kleiner »Windelscheißer« war, die Welt der Märchen. Das ist nun gut 25 Jahre her. Sie ist nicht meine leibliche Großmutter, doch im Herzen war sie es immer – jeder, der Ursula kennt, wird genau wissen, was ich meine. Und vermutlich wird fast jeder sie als »eigene Oma« ins Herz geschlossen haben. Verwandtschaftsgrad hin oder her.

Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, wenn sie Geschichten erzählte und dazu die passenden Figuren zeigte, welche sie stets selbst bastelte. Niemand konnte so schön die Stimme der drei kleinen Schweinchen nachäffen wie sie. Ursula hatte nie viel Geld und nutzte das bisschen, das sie hatte, um anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Bis heute – ja, sogar im Zeitalter der Medien, wo Märchen leider in den Hintergrund rücken, ist sie mit ihren Geschichten unglaublich beliebt. Sie war ein Herzmensch durch und durch. Ohne sie wird hier etwas fehlen… mach’s gut, Oma.

Jennifer Woelk | 2018

Märchenoma im Fernsehen

Oh, und bevor es in Vergessenheit gerät: Im Jahr 2010 hat die niederländische Sendung Joris‘ Showroom ein wirklich tolles, stimmungsvolles Porträt der Märchenoma – oder eben: »Sprookjes Oma« – produziert. Alle Rechte dieses Films liegen bei der Nederlandse Christelijke Radio Vereniging, doch ehe das schöne Filmdokument in der Versenkung verschwindet (online konnte ich es leider nicht mehr finden), möchte ich es hier abschließend für Interessierte zur Verfügung stellen:

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Das schwache Geschlecht: Schicksal oder Mythos? | Bio mit Beauvoir http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/ http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/#respond Wed, 01 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4607 Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar!…

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Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar! Jetzt könnte man mit kindlicher Neugier noch weiter stochern: Warum ist das denn so? Und ist das wirklich so? Gibt es das »schwache Geschlecht«? Erwachsene Skepsis funkt dazwischen: Ob Kinder im 21. Jahrhundert diese Verunglimpfung überhaupt noch kennen, »das schwache Geschlecht«? Doch für Kinder hat der folgende Beitrag ohnehin zu wenig Bilder. Und zu viel versaute Sprache. Also bitte, liebe erwachsene Leser*innen, muntere Ein- und Mehrzeller da draußen, lasst uns über Geschlechter sprechen.

Ein Porträt von Simone de Beauvoir und die Frage: Gibt es das schwache Geschlecht?

Von Einfältigkeit und Entfaltung

Ich ziehe für die etwas plakative Frage – Gibt es das schwache Geschlecht? – ein Buch zurate, das schon ein wenig in die Jahre gekommen ist. Das andere Geschlecht (1949) von Simone de Beauvoir. Eine französische Philosophin und ihr monumentales Standardwerk über die Rolle der Frau von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis heute. Ja, okay, heute vor rund 70 Jahren – doch vieles von dem, was Beauvoir schreibt, hat nicht an Gültigkeit verloren.

Doch vorweg: Wer war Simone de Beauvoir? Zu dieser Frage hat ARTE einen amüsanten Film produziert – eine Art »Beauvoir kompakt«, 3 Minuten knackig kurzes Kennenlernen jener Frau, aus deren Werk hier fleißig zitiert wird:

In einem Meer vor unserer Zeit…

Wie es sich für ein Standardwerk gehört, fängt Beauvoir mit ihrer Untersuchung der Geschlechter-Verhältnisse ganz vorne an. Oh nein, nicht bei Adam und Eva – noch weiter vorne: Bei den namenlosen Einzellern, die sexlos durchs urgeschichtliche Meer wabern und lange vor Darwin denken: könnt‘ langsam mal weitergehen, die Evolution…

Ungeschlechtliche Fortpflanzung

Einzellige Lebewesen sind zur selbständigen Teilung fähig, da geht die Vermehrung ganz ohne Sex vonstatten. Diese ungeschlechtliche Fortpflanzung nennt man auch Schizogonie.

Vielzellige Lebewesen können sich ebenfalls ungeschlechtlich vermehren. Dazu gehören etwa die Süßwasserpolypen, winzige Nesseltiere, an denen Knospen wachsen, aus denen dann neue Nesseltiere entstehen.

Beobachtungen haben gezeigt, daß die ungeschlechtliche Vermehrung sich unbegrenzt fortsetzen kann, ohne daß irgendeine Form von Degeneration auftritt. 1

Mit diesem Kommentar möchte Beauvoir der naheliegenden Reaktion entgegenwirken, evolutionären Fortschritt per se mit Überlegenheit gleichzusetzen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung »primitiver« Organismen nutzt sich nicht ab, schadet nicht den Individuen oder ist irgendwie »schlechter« als geschlechtliche Fortpflanzung. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Denkkategorien »besser« und »schlechter« mal für eine Weile abzuschalten. Das Leben ist erstmal nur.

Eingeschlechtliche Fortpflanzung

Unter dem Fachbegriff Parthenogenese (oder auch: Jungfernzeugung) fällt die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Dabei gehen etwaige Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen hervor. Die Parthenogenese ist bei manchen Pflanzen zu beobachten. Ebenso bei Blattläusen (die häufig über mehrere Generationen nur Weibchen hervorbringen), sowie gewissen Schnecken, Fischen, Schlangen und Eidechsen. Bestimmte Hormone sind es, die deren Eizellen vorgaukeln, sie seien befruchtet. Darauf folgt die Teilung und ein neuer Organismus entsteht – ohne, dass andersgeschlechtliche, befruchtende (von Menschen gemeinhin als »männlich« bezeichnete) Artgenossen dazu beigetragen hätten.

Es sind immer zahlreichere, immer kühnere Experimente mit Parthenogenese durchgeführt worden, und bei vielen Arten hat das Männchen sich als vollständig unnütz erwiesen. 2

Zweigeschlechtliche Fortpflanzung

Kommen wir zum nächsten Szenario: 2 Gameten verschmelzen miteinander. Gameten sind in einem Körper diejenigen Zellen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen – auch Geschlechtszellen genannt. Es gibt Algen, bei denen diese miteinander zu einem Ei verschmelzenden Gameten äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das nennt man Isogamie. Es zeigt, dass Gameten (die wir später »männlich«, »weiblich« differenzieren) grundsätzlich gleichwertig sind. Das schwache Geschlecht? Bis hierher: keine Spur.

Nun sind im Laufe der Evolution aus ursprünglich identischen Zellen voneinander zu unterscheidende hervorgegangen: Eizellen (Oozyten, auch »weibliche Geschlechtszellen« genannt) und Samenzellen (Spermatozyten, oder »männliche Geschlechtszellen«).

Zwei in Eins

Doch Achtung! Hier leitet uns die Sprache bereits auf naheliegende Irrwege. Tatsache ist, dass es verschiedenartige Gameten gibt, aus deren Verschmelzung ein Ei entsteht. Diese verschiedenartigen Gameten jedoch unterschiedlichen Geschlechtern (»weiblich«, »männlich«) zuzuordnen, mutet etwas voreilig an. Beide Ausprägungen von Gameten, also sowohl Ei- als auch Samenzellen, können gemeinsam in ein- und demselben Lebewesen vorkommen. Das kennt man zum Beispiel von bestimmten Pflanzen oder auch Ringelwürmern. Wenn Individuen  mehrere Arten von Geschlechtsausprägungen haben, die verschiedenartige Gameten hervorbringen (jene Eizellen und Samenzellen), dann sprechen wir von Zwittrigkeit.

Hermaphroditismus ist ein Fachbegriff für Zwittrigkeit, die sich aus der griechischen Mythologie ableitet – genauer: Aus Ovids Metamorphosen. Darin erzählt der Dichter die Geschichte vom gemeinsamen Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, nach seinen Eltern Hermaphroditos benannt. Dieser wurde eines Tages von einer Nymphe derart fest umarmt, dass ihre Körper miteinander verschmolzen. Fortan trug Hermaphroditos seine eigenen Geschlechtsmerkmale sowie die der Nymphe – auch, wenn er schlief, wie diese großartige Skulptur zeigt (sie geht auf eine Bronzeplastik aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurück):

Schlafender Hermaphrodit

Statue des »Schlafenden Hermaphrodit«

Intersexuell statt »unecht«

Zwar kommt es beim Menschen vor, dass ein Körper unterschiedliche Geschlechtsmerkmale (etwa einen Penis und Brüste) offensichtlich ausprägt. Nicht jedoch, dass in einem Menschen verschiedenartige Gameten (also Ei- und Samenzellen) produziert werden. Deshalb spricht man bei Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen von »Pseudohermaphroditen« oder »unechten Zwittern«. »Pseudo« respektive »unecht« sind jedoch sehr wertende Begriffe, in denen eine Vorstellung von richtig und falsch mitschwingt, die nicht von der Natur, sondern von uns Menschen kommt. Wir sind es, die diese Ausprägung eines Körpers als »Störung« klassifizieren und behandeln.

Menschen, die solch unterschiedliche Geschlechtsmerkmale haben, empfinden solche Begriffe – verständlicherweise – als diskriminierend. Viele bevorzugen die Bezeichnung intersexuell. Und ja, intersexuelle Menschen können schwanger werden (siehe: Diskussion bei Quora), je nach dem, wie die jeweiligen Geschlechtsmerkmale ausprägt sind. Das ist Tatsache. Doch von der Möglichkeit zur Fortpflanzung auf einen »erfüllten Sinn« zu schließen, der eine etwaige Störung wettmacht, das ist wieder der Mensch. Die Natur ist irgendwie und wir Menschen deuten sie. Wie ein Kunstwerk. (Wobei wir bei einem Kunstwerk gerne mal hinnehmen, dass es einfach keinen Sinn macht.)

Was mit Sicherheit behauptet werden kann, ist, daß beide Fortpflanzungsmodi [Getrenntgeschlechtlichkeit und Zwittrigkeit] in der Natur nebeneinander vorkommen, daß einer wie der andere die Arterhaltung sichert und daß die Verschiedenartigkeit der gonadentragenden Organismen [Gonaden sind die Geschlechtsorgane, in denen die Ei- oder Samenzellen gebildet werden] ebenso wie die der Gameten akzidentell [also zufällig] scheint. Die Trennung der Individuen in Männchen und Weibchen stellt sich also als eine unreduzierbare und kontingente Tatsache dar. 3

Platon, Hegel und Konsorten

Mit »kontingent« meint Simone de Beauvoir »beliebig« im Sinne einer möglichen aber nicht notwendigen Trennung. Zu Beginn ihres Buchs Das andere Geschlecht (1949) führt die Autorin beeindruckend vor Augen, wie namhafte Denker diese Trennung zwischen »männlich« und »weiblich« seit jeher entweder erklärungsfrei hingenommen oder logisch zu begründen versucht haben. Dabei schlägt sie den Bogen von der griechischen Antike (Platon, Aristoteles) vor rund 2500 Jahren über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit (Hegel) und ihre unmittelbare Gegenwart (Merleau-Ponty, Sartre).

Auch die Ansichten über die jeweiligen Rollen der Geschlechter beleuchtet Beauvoir im Wandel der Zeit. Angefangen mit frühgeschichtlichen Mythen bis hin zur ersten Beobachtung einer Samenzelle, die in die Eizelle eines Seesterns eindringt – im Jahr 1877. Damit war die Gleichwertigkeit dieser verschiedenartigen Geschlechtszellen, die zu einem Ei verschmolzen, eigentlich bewiesen. Und doch wurde das quirlige Verhalten der Spermien und die geruhsam wartende Eizelle vielfach von altklugen Köpfen interpretiert: Als Zeichen für männliche Aktivität und weibliche Passivität. Beauvoir erlaubt sich hier noch einmal einen Verweis auf die eingeschlechtliche Fortpflanzung (Parthogenese), bei der Eizellen durch bloße Einwirkung körpereigener Hormone beginnen, neues Leben hervorzubringen.

Es hat sich gezeigt, daß bei manchen Arten die Einwirkung einer Säure oder eine mechanische Reizung ausreichen kann, um die Eifurchung und die Entwicklung des Embryos auszulösen. Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes an der Fortpflanzung eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher Frauen. Nichts aber berechtigt zu einer so gewagten Vorwegnahme, denn nichts berechtigt zu einer Verallgemeinerung spezifischer Lebensprozesse. 4

Von der Eizelle zum heimischen Herd

Eine Verallgemeinerung wie die vom Verhalten unserer Geschlechtszellen auf die Verhaltensnormen unserer Geschlechtsrollen, wenn man sagt: »Eizellen sind passiv, also gehören Frauen an den Herd.« Beauvoir warnt überhaupt vor der Freude an Allegorien, während sie auf die genauen biologische Vorgänge bei der Befruchtung eingeht. (Und bevor sich jemand räuspert: ja, ich weiß, ich stelle in diesem Blog selbst eine unverhohlene Vorliebe für Allegorien zur Schau…). Im Moment der Zeugung, so die Quintessenz von Beauvoirs Ausführungen jedenfalls, stellt sich keines der Geschlechter als dem jeweils anderen überlegen dar. Aber ab wann gibt es das schwache Geschlecht denn dann?

Aus befruchteten Eiern gehen beim Menschen – wie bei den meisten Tieren – in etwa gleich viele Individuen zweier verschiedenartiger Geschlechter hervor, von uns »Männchen« und »Weibchen« genannt. Für beide vollzog sich die embryonale Entwicklung identisch, bis zu einem Reifestadium, da sich Hoden oder Eierstock zu bilden begannen. Bis zur neunten Woche hat ein Embryo einen sogenannten Genitalhöcker, aus dem sich Penis oder Vagina bilden. Was beim Penis größer wächst und zur Eichel wird, rutscht bei der Vagina weiter hoch und heißt Klitoris. Quasi das gleiche Ding, etwas anders positioniert. Etwaige Zwischenformen – wie eine zu große Klitoris oder ein zu kleiner Penis, wie sie die Natur manchmal hervorbringt – werden von uns als Störungen bezeichnet und zuweilen operativ angepasst.

Die Sexualtheorie zu Zeiten Beauvoirs ging bereits davon aus, dass das Einwirken bestimmter Hormone auf den Zellhaufen Mensch dazu führt, dass dieser Zellhaufen diese oder jene Geschlechtsmerkmale bekommt. Hormonelles Ungleichgewicht hat dabei Formen der oben beschriebenen Intersexualität zur Folge. Wie genau die Gewichtung zustande kommt? Der Titel von Beauvoirs erstem Kapitel sagt es schon: Schicksal.

»Das schwache Geschlecht« bei Tier und Mensch

Die Philosophin klettert im Folgenden die evolutionäre Stufenleiter des tierischen Lebens hinauf, mit Blick auf das schwache Geschlecht. Wir passieren Stechmücken, von denen das Männchen nach der Befruchtung stirbt, und Schmetterlinge, deren Weibchen nicht einmal Flügel haben, während Männchen mit Flügeln, Fühlern und Scheren ausgestattet sind, sowie allerlei anderes Getier.

Sehr häufig legt [das Männchen] bei der Befruchtung mehr Initiative an den Tag als das Weibchen: es sucht das Weibchen auf, greift es an, betastet es, packt es und zwingt ihm die Paarung auf; […]

Auch wenn das Weibchen provozierend oder willig ist, ist es in jedem Fall das Männchen, das es nimmt: es wird genommen. Das trifft oft buchstäblich zu: entweder weil das Männchen entsprechende Organe hat oder weil es stärker ist, packt es das Weibchen und hält es fest; ebenso vollführt es aktiv die Kopulationsbewegungen. Bei vielen Insekten, bei den Vögeln und den Säugetieren dringt es in das Weibchen ein. Dadurch erscheint das Weibchen als eine vergewaltigte Interiorität. 5

Die Fortpflanzungsfunktion

Zu dieser äußerlichen Fremdherrschaft kommt eine innere Entfremdung durch das befruchtete Ei, dass sich im Uterus festsetzt und zu einem anderen Organismus heranwächst. Simone de Beauvoir beleuchtet die vorwiegend belastenden Auswirkungen von Schwanger- und Mutterschaft, von Zyklus und Wechseljahren auf den weiblichen Körper und kommt zu dem Schluss:

[…] von allen weiblichen Säugern ist die Frau am tiefsten sich selbst entfremdet, und sie lehnt diese Entfremdung am heftigsten ab; bei keinem ist die Unterwerfung des Organismus unter die Fortpflanzungsfunktion unabwendbarer, und bei keinem wird sie mit größeren Schwierigkeiten angenommen. 6

Wir werdende Wesen

Die in Beauvoirs Buch ausführlich beschriebenen Gegebenheiten des Körpers sind deshalb so wichtig, weil der Körper als »Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« maßgeblich ist. Trotzdem lehnt Beauvoir die Vorstellung ab, dass all die Belastungen für den weiblichen Körper mit einem festgelegten Schicksal einhergingen. Das bringt uns zu unserer Ausgangsfrage:

Gibt es das schwache Geschlecht?

Diese Frage stelle sich für die Frau nicht in derselben Weise, wie für andere Weibchen irgendwelcher Tierarten, die beobachtet und einigermaßen statisch beschrieben werden könnten. Denn, so betont Beauvoir: Menschen sind stetig im Werden begriffen, niemals fertige Wesen. Beauvoir schreibt in den späten 1940er Jahren:

Die Frau ist keine feststehende Realität, sondern ein Werden, und in ihrem Werden müßte man sie dem Mann gegenüberstellen, das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen: was so viele Diskussionen verfälscht, ist, daß man die Frau, wenn man die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt, auf das beschränken will, was sie gewesen ist, was sie heute ist. Tatsache ist doch, daß Fähigkeiten nur sichtbar werden, wenn sie verwirklicht worden sind. 7

Und eben, dass eine Untersuchung der Fähigkeiten niemals abgeschlossen wäre. Fähigkeiten, die beim Mensch nicht von körperlichen Gegebenheiten abhängig sind.

Die Weltreisende und Journalistin Nellie Bly, hier im Alter von etwa 26 Jahren (1890)

Beauvoir appelliert an den Kontext:

Schwäche zeigt sich als solche nur im Licht der Ziele, die der Mensch sich setzt, der Instrumente, über die er verfügt, und der Gesetze, die er sich auferlegt. […] Wo die Sitten Gewaltanwendung verbieten, kann die Muskelkraft keine Herrschaft begründen: existentielle, ökonomische und moralische Bezüge sind nötig, damit der Begriff Schwäche konkret definiert werden kann. 8

Mit Tiefgang gegen den Mythos

Diese Bezüge stellt Simone de Beauvoir her. In ihrem 900 Seiten umfassenden Werk Das andere Geschlecht nimmt sie die Kunst- und Kulturgeschichte unter die Lupe, die kindliche Entwicklung und Erziehung. Sie untersucht etablierte Argumente und Klischees und liefert damit eine Lektüre, die über Jahrzehnte Bestand hat und noch heute Antworten auf Fragen gibt, die manchmal eben nicht in einem 30-sekündigen Facebook-Video zu beantworten sind. Es sei denn, man heißt Frauke Petry. Das schwache Geschlecht? Abgenickt.

Ich habe nichts dagegen, dass Frauen weiterhin das schwache Geschlecht sind, weil wir objektiv anders sind als Männer.

Frauke Petry (Quelle)

»Das schwache Geschlecht« ist ein Mythos. Eine polemische Formel, die helfen soll, eine Autorität zu etablieren, wo es an Rechtfertigung für diese Autorität fehlt. »Objektiv anders« ist jeder Mensch von seinem Nächsten, »anders« mit »schwach« gleichzusetzen ist irgendwie absurd, für eine Partei, die sich selbst als »Alternative« (also: anders!) bezeichnet – und in dieser Absurdität schon wieder passend. Doch bevor ich mich dazu hinreißen lasse, hier auf den letzten Zeilen das Thema zu wechseln, überlasse ich die Kommentierung von Frauke »weiterhin das schwache Geschlecht« Petry dieser YouTuberin:

Das schwache Geschlecht spricht:

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Freie Trauung oder kirchliche Trauung? | Entscheidung, Planung, Zeremonie http://www.blogvombleiben.de/freie-trauung-kirchliche-trauung/ http://www.blogvombleiben.de/freie-trauung-kirchliche-trauung/#respond Sat, 28 Jul 2018 07:00:17 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4421 Als Kinder aus römisch-katholisch geprägten Familien lernten wir die Ehe als »die normale Verbindung zwischen Frau…

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Als Kinder aus römisch-katholisch geprägten Familien lernten wir die Ehe als »die normale Verbindung zwischen Frau und Mann« kennen. Das, was man ab einem gewissen Alter so macht: Beruf suchen, Heiraten, Kinder kriegen (bestenfalls in dieser Reihenfolge). Als Heranwachsende war uns die »Kein Sex vor der Ehe«-Floskel bekannt, aber da hing nicht die Familienehre dran. Man ahnte als Teenager*in bereits, dass es dabei weniger um Gottes Zorn als einen weltlichen Grund ging. Vermutlich derselbe, aus dem man im Bio-Unterricht Gummi über Bananen zog (obwohl die Kirche was gegen die Gummidinger hat – nicht der einzige Widerspruch zwischen Glaubens- und Lebenswelt junger Menschen im Deutschland um die Jahrtausendwende). Als Erwachsene, die sich schließlich dafür entschieden hatten, Ehepartner zu werden, fragten wir uns schließlich: Kirchliche Trauung oder freie Trauung?

Gemeinsam einen Weg finden

Sonia: In Polen geboren und in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen, habe ich die Etappen Taufe, Kommunion und Firmung zeremoniell und traditionell durchlaufen. Zum Stolz meiner Verwandten. Doch je älter ich wurde und je seltener wir in die Kirche gingen, in der ich Kirchenfenster wie Schäfchen zählte, desto mehr befasste ich mich mit anderen Welt- und Glaubensanschauungen: Reinkarnation, Engel und Lichtwesen. Menschen, die als Medien zwischen den Welten vermitteln. Nahtoderfahrungen verschiedenster Art.

Was am Ende blieb, war der Gedanke, dass wir unter diesem Himmel alle gleichen Ursprungs sind und mit unseren Gedanken, Worten und Taten unser Leben und das unseres Planeten gestalten. Und dass wir nicht unbedingt eine institutionalisierte Religion brauchen, um zu glauben und gut zu sein. Und geht es nicht letztendlich darum, gut zu sein, um am Ende seiner Tage zufrieden zurück und nach vorne zu blicken?

Braut und Bräutigam im Wald, reden über das Thema Freie Trauung

Eine gute Idee, wo auch immer sie steht

David: Was ist denn »gut«? Als im Familiengottesdienst damals vom »guten Gott« erzählt wurde, der das Meer hinter Moses schloss, damit all die bösen Ägypter im Wasser umkamen, da flüsterte mein Paps mir zu, dass er sich da auch nicht ganz sicher sei, ob das »gut« ist. Ich habe auch früh gelernt, nicht unbedingt jedes Wort des Papstes »gut« zu heißen – und das sowas wie das Zölibat nicht »gut«, sondern Tradition war. »Man kann ja nicht alles ändern.« Zumal gewisse Werte der römisch-katholischen Kirche sich ja nicht überholen oder so wichtig und sinnvoll sind, wie eh und je: Nächstenliebe, um das prominenteste Beispiel zu nennen. Immer eine gute Idee.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Das Zitat kommt aus dem Evangelium nach Markus, Neues Testament. Und es kommt aus der Tora, der hebräischen Bibel. Diese hat das Christentum auch für sich übernommen, als Altes Testament, in etwas anderer Anordnung.

Im Islam nennt man die gelebte, soziale Wohltätigkeit Zakat und im Buddhismus hat Karuna als Mitgefühl und Erbarmen eine ähnlich hohen Stellenwert, ist da jedoch nicht an eine Gottesvorstellung geknüpft. Die Verhaltensbiologie beobachtet Moral-ähnliches Verhalten im Übrigen zwar auch bei Tieren, doch in der neuzeitlichen Philosophie appelliert Immanuel Kant explizit an den menschlichen Verstand:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Das finde ich »gut« – ein Maßstab, der in meinem Kopf geschlossen Sinn ergibt. Mit mir selbst als Verantwortung tragende Instanz, ohne Berufung auf ein Höheres Wesen oder etwaigem Aberglauben.

Im Glauben wankelmütig

Sonia: Zugegeben, ich habe einen Hang zum Aberglauben. Auf Holz klopfen, das Brautkleid vor dem Bräutigam verstecken, oder den Rosenkranz meiner Oma bei Prüfungen in der Tasche verstauen. Mach. Ich. Alles. Doch ich mogele, wenn’s mir nicht passt, was ein wenig an meiner Seriosität kratzt. Wenn mein Glaube ein Tier wäre, dann wohl ein Vogel.

Zwei Tauben fliegen gen Himmel

Etwas flatterhaft, aber himmelsnah. In einer Sache aber bin ich umso geerdeter: Dem Universum oder dem Höheren ist es, denke ich, ganz gleich, ob wir am Strand, in der Kirche oder sonst wo und wie heiraten. Solange man seine Liebe so bekennt und besiegelt, wie man es auch meint.

Was ist eine freie Trauung?

So zu heiraten, wie man es meint, das war mir wichtig. Was ist nun, wenn die eigenen Wurzeln nicht mehr ganz zu den Flügeln passen? Um unsere traditionellen Hintergründe und meine spirituellen Einflüsse mit den jeweils individuellen Überzeugungen zu verbinden, entschieden wir uns für die freie Trauung. Was ist das eigentlich?

…aber vorweg: Kleiner Exkurs

David: Wann immer wir in binären Gegensätzen denken, also solchen mit zwei klaren Positionen, da sollten wir hellhörig werden. Wir Menschen. Die Studien des Völker-Forschers Claude Lévi-Strauss haben das menschliche Denken schon vor Jahrzehnten als universell und uniform entlarvt. Überall auf der Welt, egal ob in New York City oder dem Amazonasgebiet, denken die Menschen in Gegensatzpaaren. Sowas wie »heiß – kalt«, »oben – unten«, »hell – dunkel«, soweit, so gut. Weiter: »Natur – Kultur«, »wild – zivilisiert«, »Frau – Mann«, und vielleicht am gewichtigsten: »schlecht – gut«. Denn beim Denken in Gegensatzpaaren geht eine Gewichtung dieser Paare in »gut« oder »schlecht« oft automatisch mit einher, bewusst oder unterbewusst.

Das Eine oder das Andere?

So haben sich Denkweisen, die »Kultur über Natur« oder »Mann über Frau« erhoben, über Jahrhunderte fortgesetzt. Wie auch immer du zur Kirche oder freien Trauung stehst: Wenn du dir das Gegensatzpaar »Kirche – freie Trauung« denkst, findest du vermutlich eines besser, eines schlechter. Ich persönlich assoziere »Kirche« etwa mit einer nicht mehr zeitgemäßen Institution mit arg verbrecherischer Historie (die nicht abgeschlossen ist). Andere assoziieren mit »freie Trauung« ein beliebiges Wunschkonzert, das sich an den schönsten Ritualen der kirchlichen Liturgie bedient und daraus ihr eigenes Ding dreht. Mal abgesehen davon, dass viele Religionen ihre Rituale auch nicht originär selbst erdacht und patentiert haben, liegt ein weiteres Problem mit dem Denken in Gegensatzpaaren darin, dass damit suggeriert wird, es gäbe nur zwei Kategorien.

Oder die Vielfalt?

Gibt es nur »männlich – weiblich« als mögliche Geschlechtsidentitäten? Nein. Es sind nur die einzigen beiden Möglichkeiten, auf die uns unser Hirn und unsere Sprache festlegt, wenn wir nicht daran rütteln. Und ebenso sollte man freie Trauung nicht als das einzig mögliche Gegenstück zur kirchlichen Trauung verstehen. Das Adjektiv »frei« macht es unserem Denken hier immerhin leichter, die eigentliche Vielfalt zu sehen: Eine freie Trauung kann alles sein, was ihr euch wünscht. Auch in Verbundenheit zu einem Gottesbild, wie es in der Bibel beschrieben wird.

Träume wahr werden lassen

Sonia: Eine freie Trauung kann frei nach den Vorstellungen des Brautpaares gestaltet werden. Dabei sind der Zeremonie keine Grenzen gesetzt (außer natürlich denen des Rechtsstaates). Die gute Nachricht an alle Pinterest-Suchtis: Ablauf und Ort der Trauung könnt ihr euch selbst überlegen – mithilfe von tausenden Inspirationen da draußen. Hier eine kleine Pinnwand zur Gestaltung unserer Hochzeit.

Blumen als Hochzeitsdekoration

Dank der freien Trauung konnten wir die standesamtliche (bürokratisch gehaltene) Eheschließung um eine Komponente ergänzen, die weit aus romantischer und feierlicher war. In der Zeremonie bekannten wir im Kreise unserer Lieben und Verwandten unsere Werte, unsere Liebe und Entscheidung füreinander, nach unseren Vorstellungen. Sogar nach meinen Mädchentraum, einmal wie Forrest und Jenny unter freiem Himmel zu heiraten, in der Geborgenheit der Bäume, wurde wahr.

Was kostet eine freie Trauung?

Der Vorteil einer kirchlichen Trauung – rein pragmatisch betrachtet – ist die per se feierliche Kulisse, der romantische Orgelmusikeinsatz, die geringeren Kosten. Für Paare, die sich jedoch weniger mit der Kirche und/oder dem Glauben identifizieren, bedeutet dies eine Trauung unter dem Mantel der Kirche und deren Vorstellungen der Ehe, Familienplanung, Kindererziehung. Hier gibt es deutliche Unterschiede in der katholischen und evangelischen Zeremonie, wobei Letzteres mehr Gestaltungsraum für das Brautpaar bietet.

Ein Wort zu Hochzeitsredner*innen

Die Kosten einer freien Trauung hängen natürlich ganz von der Trauung selbst ab. Dafür müsst ihr euch überlegen, wen und was ihr gerne integrieren möchtet. Der erste Kostenfaktor, der den Kern jeder freien Trauung darstellt, ist der oder die Zeremonienmeister*in respektive freie*r Hochzeitsredner*in. Natürlich gibt es auch die Option, freie Theolog*innen anzufragen, die unabhängig von der Kirche arbeiten und ebenfalls ein Honorar erhalten (hier eine Übersicht freier Theolog*innen).

Wie hoch die Honorare sind, hängt stark von den Redner*innen ab. Diese bieten in der Regel Vorab-Gespräche mit dem Brautpaar an, wo die persönliche Geschichte und die eigenen Vorstellungen kommuniziert werden. Mit Kosten ab 500 Euro sollte man für professionelle Hochzeitsredner*innen wohl rechnen.

Alternativ bietet sich auch die Friends-Variante an: Gibt es einen Menschen, der euch gut kennt und gerne und gut vor Publikum spricht (muss nicht in Soldatenuniform sein)? Dann ab dafür!

Wir hatten das Glück, den Theater- und Film-Schauspieler Jesse Albert in unserem Bekanntenkreis zu haben, der sich gerne bereit erklärte, uns durch die Trauung zu führen. Die Herausforderung bei semiprofessionellen Hochzeitsredner*innen: Den Text zur freien Trauung muss das Brautpaar selbst austüfteln. Wer selten schreibt und textet, kann hier ebenfalls im Bekannten- und Freundeskreis fragen, ob es helfende Hobbyschreiber*innen-Hände gibt? Denn wie gesagt, fragen schadet nicht. Und dann ladet eure Schreiberling-Freund*innen zu einem Essen ein und lasst euer Herz sprechen.

Ort und Austattung

Ein weiterer Kostenfaktor ist die Ausstattung. Je nachdem wie ihr euch trauen lasst und in welcher Location ihr dies vollzieht, könnt ihr auf Stühle, Bänke, Heuballen und vieles mehr zurückgreifen. Unsere Location (die Gaststätte Wintergarten in Bocholt) hatte zum Glück alles parat und übernahm die Aufstellung der Stuhlreihen. Für das Rednerpult stellten wir ein eigenes auf, samt selbst gehäkelter Gardine meiner Großmutter. Als kleinen Hingucker stellte uns die Blumenbinderei Flores für den Flur ein paar schöne Blumentöpfchen auf. Hier liegt es wieder ganz an euch, was ihr euch wünscht.

Freie Trauung im Garten unter freiem Himmel, mit Blumen dekoriert

Freie Trauung mit Gitarrenspiel und Blumendeko

Der musische Rahmen kann auch all denen Tränen in die Augen treiben, die sonst eher keine Miene verziehen. Nicht, dass bei einer Hochzeit geweint werden muss (muss es nicht 😊). Manche Brautpaare lassen sich professionelle Musiker*innen einfliegen, andere über die Anlage ihre Lieblingssongs abspielen, nur Sänger*innen singen oder befreundete Musiker*innen spielen. Hier müsst ihr entsprechend Angebote einholen. Da wir es irgendwie mit Friends haben, freuten wir uns riesig, dass Davids Schwester und ihre Freunde mit Engelstrompeten, Gitarre, Keyboard und Sheeran-Gesangsstimme sowohl den Einzug als auch die Zeremonie in rührende Atmosphäre tauchten.

Wie organsiert man eine freie Trauung?

Nehmt ihr Profis für die freie Trauung in Anspruch (freie Theolog*innen, Hochzeitsredner*innen), müsst ihr nichts weiter tun, als euch ein- bis zweimal mit dieser Person zu treffen und dort alles Wichtige zu besprechen (etwa Symbole, die ihr einsetzen möchtet, eure persönliche Geschichte oder Musikwünsche). Falls ihr euch zutraut, die Zeremonie aus eigener Feder zu verfassen, dann ist es hilfreich, sich zunächst eine kleine »Dramaturgie« zu überlegen. Diese könnte für eine freie Trauung so aussehen:

  • Begrüßung
  • Liebesgeschichte
  • Fürbitten/Wünsche
  • Eheversprechen
  • Ringtausch
  • Abschluss/Glückwünsche

Dann könnt ihr ein paar Kerndaten sammeln, die euch wichtig erscheinen. Bei uns waren es das erste Kennenlernen und die Meilen- und Stolpersteine unserer Freundschaft, aus der im verflixten siebten Jahr mehr wurde. Inhaltlich habt ihr also viel Spielraum, was vielleicht die Krux ist. Um es nicht steif ablesen zu lassen, ist es hilfreich, dem oder der Hochzeitsredner*in nicht Wort für Wort in den Mund zu legen und ihm oder ihr durchaus auch eigene Ideen oder Formulierungen zuzutrauen.

Zittern und Zaubern: Das Eheversprechen

Etwas, das für uns das Highlight war, und weshalb wir so derart nervös waren: unsere beiden Eheversprechen. (Wieder so ein Brauch aus Friends – ja, vielleicht sind wir dieser Sitcom ein bisschen zu sehr erlegen.) Die persönlichen Worte, aneinander gerichtet, vor den Augen und Ohren unserer Liebsten und Nächsten, waren das Herzstück unserer Trauung. Sicherlich nicht jedes Brautpaars Sache. Aber für mich war es der schönste Moment, meine Liebe so offen preiszugeben und zu bekennen.

Ihr allein entscheidet, was ihr euch sagen und versprechen wollt, so dass es auch da kein Richtig oder Falsch gibt. Um keine Peinlichkeiten entstehen zu lassen, haben wir uns abgesprochen, wie lang unsere Versprechen werden sollen. Bei Paaren mit sehr unterschiedlichem Redebedarf eine sinnvolle Angelegenheit. Mein Tipp: Setzt euch hin und schreibt einfach eine Minute darauf los, ohne eine Pause zu machen. Einfach herunterschreiben, welche Gedanken euch gerade durch den Kopf schießen, wenn ihr an euren Partner denkt.

David: Mein Tipp: Das Eheversprechen auf einem Spickzettel in der Trauung bei sich tragen. Mal drauf lünkern heißt ja nicht, dass man vergessen hat, warum man mit dieser Person da gegenüber sein Leben verbringen möchte. Nur, dass einen das Publikum arg nervös macht und die wenigsten Menschen viel Übung darin haben, ein Eheversprechen vorzutragen.

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GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/ http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/#respond Fri, 27 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4397 Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman…

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Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman Show (1998) schrieb und an einen Produzenten verkaufte. Der junge Mann bekam »extra money« dafür, dass er von seinem Wunsch, auch die Regie zu führen, zurücktrat und einen erfahreneren Regisseur walten ließ. Niccol stimmte zu, zog sich zurück und schrieb das Drehbuch zu Gattaca. Dieses Mal ließ er sich die Regie nicht nehmen und setzt sein Skript selbst um. Schließlich kam Gattaca sogar noch ein Jahr vor Die Truman Show in die amerikanischen Kinos.

Mutter Natur und ihre Beta-Babys

Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.

In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.

Die Schauspieler Uma Thurman und Ethan Hawke in dem Film Gattaca

Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.

Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert.  Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.

Totale: Gattaca im Zusammenhang

Historischer Kontext

Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.

Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.

Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«

Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.

Persönlicher Kontext

Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?

Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.

Close-up: Gattaca im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13

Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center

Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.

Die Essenz unserer Gene

Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.

Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:

Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.

Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.

Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):

Zur Position des Films

In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.

[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70

Fazit zu Gattaca

Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.


Weitere Filmkritiken:

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Land’s End, Porthcurno Beach und The Minack in Cornwall | Reise, Travel http://www.blogvombleiben.de/lands-end-porthcurno-beach-the-minack/ http://www.blogvombleiben.de/lands-end-porthcurno-beach-the-minack/#respond Mon, 23 Jul 2018 07:00:53 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4273 Wer nach Cornwall reist, wird auch Land’s End erleben wollen. Cornwall (eingedeutscht: Kornwall) ist diejenige Grafschaft,…

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Wer nach Cornwall reist, wird auch Land’s End erleben wollen. Cornwall (eingedeutscht: Kornwall) ist diejenige Grafschaft, die als südwestlichster Landteil von England den Zipfel der South West Peninsula umfasst. Zwischen dem Bristol- und dem Ärmelkanal. In der Nähe der darin gelegenen Stadt Penzance ragt eine Landzunge ins Meer, deren Spitze der westlichste Punkt der Hauptinsel Großbritanniens ist: Land’s End. Auch uns hat es auf unserer Cornwall-Reise dorthin verschlagen – der schönste Ausflug des gesamten Trips. Kleiner Reisebericht.

Zwischen Meerblickbrot und Freilichtbühne

Ausgangspunkt unseres Tagesausflugs am Montag, 16. Juli 2018 war die Hafenstadt Padstow im Norden Cornwalls. Dort durften wir ein kleines Apartment mitten im Städtchen für eine Woche unser Zuhause nennen. Von Padstow nach Penzance sind es mit dem Auto (wenn man langsam fährt, weil man nicht auf das Linksfahren und die Steigungen klarkommt) etwa anderthalb Stunden. Eine schöne Strecke, gesäumt von grünen Panoramen und hin und wieder einem Blick aufs Meer. Nahe Penzance ist das Land’s End dann schon überdeutlich ausgeschildert, so dass man sich getrost vom Navi lösen und den Schildern (oder in unserem Fall: einem Reisebus) folgen kann.

Bloggerin Sonia Lensing steht an der Küste von Land's End in Cornwall, Südengland

Erster Stop: Land’s End

Natürlich ist Land’s End touristisch erschlossen. Wo man an der Südwestspitze Portugals – Cabo de São Vicente – einen Leuchtturm besichtigen und »die letzte Bratwurst vor Amerika« futtern kann, erwartet die Reiselustigen im britischen Land’s End fast ein kleiner Freizeitpark. Schon die Durchfahrt zwischen zwei Mauern, vor denen »LAND’S« und »END« in großen, steinernen Buchstaben rechts und links der Straße stehen, erinnerte mich ein wenig an Jurassic Park. Gleich dahinter knüpfte uns ein überfreundlicher Brite 6 Pfund fürs Parken haben (»you can stay as long as you want«, na dann). Parkplätze sind reichlich vorhanden. Wir trafen in der Mittagszeit bei bestem Sonnenschein ein und hatten kein Problem, unseren VW Polo »paid and displayed« irgendwo abzustellen.

Hier geht’s zur offiziellen Website von Land’s End, samt Übernachtungs- und Erlebnismöglichkeiten für Gäste, die länger bleiben möchte – und für solche, die noch länger bleiben möchten: Jobangebote!

Dinos und domestizierte Kamele

In besagtem, einem Freizeitpark gleichendem Gebäudekomplex, gab es neben anderen Attraktionen für Familien mit Kindern tatsächlich ein 4D-Kino-Erlebnis zu dem aktuellen Dino-Sequel Jurassic World: Das gefallene Königreich. Sehr verlockend, und doch hielten wir uns in diesem (etwas überbevölkerten) Gebäudekomplex nur für unseren rituellen Mittagskaffee auf.

Den Lunch wollten wir hingegen direkt an den Kliffen genießen. Auf dem Fußweg dorthin kommt man an der Greeb Farm vorbei. Dabei handelt es sich um eine der Reklame nach 200 Jahre alte, kornische (also typisch-cornwallige) Farm, wie sie einst wohl oft an der dortigen Küste zu finden war. Ob solche Farmen schon damals neben Schafen auch Alpakas hielten, das weiß ich nicht. Jedenfalls begegneten uns dort, im Vorbeigehen, zwei dieser domestizierten Kamele aus (eigentlich) Übersee.

Butterbrot mit Blick aufs Meer

Hinter der Farm gelangt man schließlich an die Küste. Eine Absperrung zu den Klippen gibt es nicht wirklich. Insofern ist Vorsicht geboten: Da geht’s ziemlich tief hinab. »Dangerous Cliffs« liest man in roten Lettern auf einigen Steinen am Wegesrand.

Ein bemalter Stein warnt vor Dangerous Cliffs am Land's End

Bloggerin Sonia Lensing betrachtet die Klippen am Land's End

Die Aussicht auf das offene Meer war fantastisch. Beeindruckende Felsformationen ziehen sich entlang beider Richtungen, die man zu Fuß weiter erschließen kann. Dort haben wir uns einen abgelegenen Platz gesucht und unser Butterbrot gegessen. Die Möwen an der Küste sind längst nicht so frech, wie im Hafen von Padstow, wo mir eine dieser weißen Luft-Piratinnen mein Eis abgeknüpft hat, direkt aus der Hand (und genau da hört der Spaß nämlich auf!).

Vielmehr segelten die Möwen an Land End’s geradezu majestätisch neben den Felswänden her, wie sie es schon seit Jahrtausenden tun. Ich muss bei dem Anblick solch großer Vögel an der See immer an Flugsaurier denken (ja, Jurassic Park nimmt in meinem Kopf sehr viel Raum ein).

Eine Möwe fliegt entlang der Klippen

Nächster Stop: Porthcurno Beach

Am Nachmittag sind wir schließlich weiter zur Küstensiedlung Porthcurno gefahren – nur 10 Autominuten vom Land’s End entfernt. Schon tags zuvor hatten wir übers Internet Tickets für das Minack Theatre (oder einfach: The Minack) bestellt, die 20-Uhr-Vorstellung des Stücks Candide. Dazu waren wir satte vier Stunden zu früh vor Ort, aber in Porthcurno kriegt man diese Zeit bei gutem Wetter wunderbar um. (Bei schlechtem Wetter übrigens auch, etwa mit einem Besuch im unterirdischen Porthcurno Telegraph Museum – vorausgesetzt, man interessiert sich für Telegrafie und so ’n Zeugs.)

Bei unserer Ankunft in Porthcurno schien die Sonne, keine Wolke am Himmel, und schon am Parkplatz kamen uns Menschen in Badekluft entgegen. Yeah! Wo kamen diese Beachboys and -girls bloß her!?

Kleiner Exkurs zum Parken in Porthcurno: Man wird, wenn man in den Mini-Ort fährt, wie automatisch auf einen größeren Parkplatz gelotst. Von dem aus sind Strand, Museum und Beach Café fußläufig erreichbar. (Ebenso, etwas bergauf, das Minack Theatre. Das hat aber nochmal einen eigenen, großen, kostenlosen Parkplatz, wie wir etwas zu spät gelernt haben.) Die Kosten fürs Parken belaufen sich von 2 Pfund (für 2 Stunden) bis maximal rund 6 Pfund (für den ganzen Tag). Hier geht’s zum Euro-Pfund-Umrechner.

Sprung ins Blaue

Von einem Strand in Porthcurno hatten wir zuvor gar nichts gehört, gelesen, gesehen, somit auch keine Badesachen mitgebracht. Zu dumm, dachten wir, als wir über bewaldete Wege in die Bucht von Porthcurno schlenderten und diesen großartigen Strand vor uns sahen. Heller, feiner Stand, strahlend blaues Wasser, ein bisschen Wellengang und nur wenige Menschen. Das alles vor traumhafter Kulisse, eingerahmt in grün umsäumte Klippen, dazwischen wie gemalt der Horizont: Wow!

Panorama-Bild vom Porthcurno Beach

Und mal ehrlich, wer braucht schon Badesachen? Wir haben uns kurzerhand in Unterwäsche ins Wasser gestürzt und das kalte Nass genossen. (Mit rund 16 Grad nicht sooo kalt wie erwartet. Überhaupt haben wir an diesem sonnigen Juli-Tag am Strand kaum glauben können, in Groß-Britannien zu sein. Erinnerte zuweilen eher ans Mittelmeer.)

Am Ende des Tages sind wir, getrocknet (sowie etwas verbrannt) von der Sonne und mit Meersalz in den Haaren hoch zum Minack gelatscht. Oben haben wir am Holzhäuschen unsere hinterlegten Tickets abgeholt. Nach wie vor zu früh, konnten wir auch dort einmal mehr die Klippen erkunden und tolle Aussichten genießen – plus leckeres Essen! Denn anders als andere, geregeltere Theaterbesucher*innen hatten wir kein Picknick mitgebracht. (Es gibt neben dem Parkplatz einen Garten mit Holztischen und -bänken. Auf denen kann man sich auch prima mit eigenem Proviant ausbreiten.) Unser Abendessen haben wir an dem Stand von Katie’s Cornish Hot Pots geholt: ne ordentliche Portion veganer Kichererbsen-Eintopf mit Reis und Tortilla-Brot im Takeaway-Pappkarton, perfekt!

100 Jahre Bernstein

Zum krönenden Abschluss dann die Aufführung im Freilichttheater. Das Stück unserer Wahl: Candide oder der Optimismus, von (ursprünglich) dem großen Philosophen Voltaire. Der Komponist Leonard Bernstein hat’s in den 50er und nochmal in den 70er Jahren zu einem Musical adaptiert. Und weil dieser gute Mann diesen Sommer 100 Jahre alt geworden wäre, wurde ihm zu Ehren eben dieses Bühnenstück zum Besten gegeben.

David und Sonia Lensing im Minack Theatre, Cornwall

Bühne des Minack Theatre, Cornwall

Naturgewaltige Kulisse

Das Minack Theatre befindet sich an einem Felshang. Aufgebaut und über Jahrzehnte gepflegt wurde es von der Britin Rowena Cade. Das ist die Schwester der visionären, feministischen Schriftstellerin Katharine Burdekin (Nacht der braunen Schatten). Die Tribünen dieses Ausnahme-Theaters sind in die Klippen eingearbeitet und der Blick der Zuschauer*innen geht, über die Bühne hinaus, aufs freie Meer. Samt der Wolkenformationen, die darüber von Wind und Wetter in Szene gesetzt werden. Eine krasse Kulisse, vor der man tatsächlich vermutlich jedes noch so miese Musical irgendwie dramatisch finden muss. Stattdessen aber erweckten das Ensemble, begleitet von einem Live-Orchester, die Geschichte um den optimistischen Herrn Candide und seiner nicht ganz optimalen Reise um die Welt auf beeindruckende Art und Weise zum Leben. Doch davon ein andermal mehr.

Steine bilden das Wort END an Land's End in Cornwall, England

Weitere Reiseberichte:

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HAIRSPRAY mit Ricki Lake, Nikki Blonsky | Filme 1988, 2007 | Kritik, Vergleich http://www.blogvombleiben.de/film-hairspray-1988-2007/ http://www.blogvombleiben.de/film-hairspray-1988-2007/#respond Sat, 30 Jun 2018 09:03:03 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4097 Selbst homophobe Menschen würden zum Finale mit den Füßen zum Beat tapsen, denn: »Es ist schwer,…

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Selbst homophobe Menschen würden zum Finale mit den Füßen zum Beat tapsen, denn: »Es ist schwer, der Überschwänglichkeit dieses Films zu widerstehen!« Das schreibt der Rolling Stone im Jahr 2007 über das Remake von Hairspray. Zum Original im Jahr 1988 verfasste David Edelstein für den Rolling Stone ein Review mit der Formel: »Ein Familienfilm, für den sowohl die Bradys als auch die Mansons geschwärmt hätten.« Diese Filmkritik nannte der Regisseur John Waters seine liebste. Das überrascht kaum und verstört sehr.

Außenseiter im Rampenlicht

Mit den »Bradys« sind Ian Brady und Myra gemeint, seine Lebensgefährtin oder vielmehr: Komplizin. Die beiden haben in den 60er Jahren mehrere Kinder und Jugendliche gefoltert und grausam ermordet. »Die Mansons« sind jenes kriminelle Kollektiv um den Rassisten Charles Manson, der seine Anhänger*innen ebenfalls zu Morden aufrief. Die Faszination des Filmemachers John Waters für die Manson-Familie, deren Mitglieder*innen er gar im Gefängnis besuchte, geht soweit, dass er seinen Film Female Trouble (1974) einem Manson-Mitglied widmete: Charles Watson. Dieser war unter anderem an der Ermordung der Schauspielerin Sharon Tate beteiligt. Mit der Aufsehen erregenden Bluttat sollte – so die Idee des fanatischen Charles Manson – ein Rassenkrieg zwischen Schwarzen und Weißen ausgelöst werden.

Wie passt die Faszination für derart menschenverachtende, rassistisch motivierte Taten mit einem Film wie Hairspray zusammen, der wie kaum ein anderer für Nächstenliebe und Toleranz wirbt, Menschen zusammenbringen will und Anstand statt Ausschluss fordert? Diese Frage stellt sich nur dann, wenn wir unser logisches Denkvermögen auf einen Gegenstand anwenden, der von Natur keiner inneren Logik folgt: Homo Sapiens.

[andere Frage: Wie kommt David Edelstein zu einer solch grauenvollen, unnötigen Floskel? Als Familienmitglied eines der Mordopfer liest sich ein solcher Humor sicher als blanker Hohn.]

Die Schauspielerinnen Ricki Lake und Amanda Bynes aus dem Film Hairspray (1988, 2007)

Der integrative Exhibitionist

Jener John Waters, Regisseur des Hairspray-Originals, hat im Hairspray-Remake einen kleinen Gastauftritt. Die Hauptfigur Tracy (Nikki Blonsky) begegnet ihm, während sie singend den Bürgersteig entlangmarschiert. Waters, mit seinem markanten Bleistift-Schnurrbart und einem langen Mantel, grüßt das Mädchen freundlich. Dann wendet er sich ab und reißt den nächsten Passantinnen gegenüber seinen Mantel auf, darunter offenbar nackt, der alte Perversling.

Diese Szene, in der zwischen nettem Gruß und obszöner Geste nur Sekunden liegen, ist beispielhaft für John Waters. Dessen zotiger Flausenkopf ist es, der das Original-Drehbuch zu Hairspray hervorgebracht hat, einem integrativen Feel-Good-Familienfilm vom Feinsten, sowohl in alter als auch in neuer Version.

Inhalt: Hairspray handelt von der Teenagerin Tracy Turnblad (1988: Ricki Lake, 2007: Nikki Blonsky). Sie und ihre Freundin Penny sind große Fans der Corny Collins Show. In dieser TV-Show, die von ihrer Heimatstadt Baltimore ausgestrahlt wird, tanzen weiße Teens zu hipper Musik (für die schwarzen Teens gibt es einen »Negro Day«, einmal im Monat). Die jungen Tänzer*innen der Show werden vom Publikum als Stars gefeiert – und Tracy träumt davon, selbst einmal in dieser Show aufzutreten… der Traum wird wahr, dank ihrer Tanzbegabung und trotz ihres Übergewichts. Die Berufung des fröhlichen, fülligen Mädchens in die Show löst einen ungeahnten Wandel in Baltimore aus.

Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text nimmt (im Absatz »Bleibender Eindruck«) nur ein paar Pointen vorweg, verrät aber nichts über den durchaus spannenden Handlungsverlauf. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.

Totale: Hairspray im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Dass ausgerechnet John Waters einen Film über die Integration von Außenseitern in die öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung macht, hat einen autobiografischen Touch. So integrierte sich der Untergrund-Filmemacher mit einem Faible für Fetische und gesellschaftliche Außenseiter mit seinem ersten Mainstream-Film Hairspray doch selbst in die öffentliche Wahrnehmung.

Während sein wohl berüchtigtes Werk, Pink Flamingos (1972) nur von einem vergleichsweise kleinen Personenkreis als Kultfilm und »Meilenstein des schlechten Geschmacks« gefeiert wird, hat Hairspray seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1988 eine breite Rezeption erfahren. Von einer Adaption als Broadway-Musical im Jahr 2002 bis zum Kino-Remake im Jahr 2007, das Film und Musical auf virtuose Weise miteinander verbindet.

Persönlicher Kontext

Durch die Lektüre von Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter bin ich auf Hairspray aufmerksam geworden. Butler führt diesen Film aufgrund des Schauspielers Harris Glenn Milstead alias Divine an, der – als vermutlich berühmteste Drag-Queen seiner Zeit – in Hairspray eine Doppelrolle spielt. Er tritt als rassistischer Fernsehstudio-Boss sowie als Mutter der Hauptfigur auf. Letztere Rolle fällt deutlich größer aus.

Divine hat bis Hairspray in jedem Film, den er mit seinem Jugendfreund John Waters zusammen gemacht hat, die weibliche Hauptrolle gespielt und (darum geht es Butler bei besagter Referenz) den Eindruck geprägt, dass »weiblich sein« vielmehr ein Akt der Nachahmung als eine »natürliche Tatsache« ist.

Eine Hommage an Divine

Wenige Wochen nach dem Kinostart von Hairspray (1988) starb Divine im Alter von 42 Jahren an einem Herzstillstand. Er hatte Zeit seines Lebens mit seinem Übergewicht zu kämpfen und wog zum Zeitpunkt seines Todes etwa 170 Kilo.

Im Remake von Hairspray (2007) wurde die Rolle der Mutter Edna Turnblad, gewiss als Hommage an Divines Darstellung, an einen Mann vergeben: John Travolta. Diese Besetzung der Mutterrolle mit einem Mann hatte auch schon eine gewisse Tradition, wurde so doch bereits bei der Musical-Adaption vorgegangen. Aufgrund meiner closure issues habe ich Original und Remake von Hairspray kurz hintereinander gesehen.

Close-up: Hairspray im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt der Filme

Hairspray (1988) beginnt mit dem gleichnamigen Song von Rachel Sweet (mit Deborah Harry). Dazu sehen wir, in der ersten Einstellung, den Haupteingang zu einer TV-Station, an deren Fassade die Buchstaben WZZT prangen. Drinnen sind Vorbereitungen in Gange. Junge Damen und Herren machen sich fit für den Beginn einer neuen Folge von The Corny Collins Show. Tanzende Teens im TV, die hunderttausende Teens vor Amerikas Fernsehgeräten in Euphorie versetzen.

Diese Show hat es wirklich gegeben. Und tatsächlich basiert der Handlungsstrang über die Integration schwarzer Jugendlicher in das weiße Show-Format in gröbsten Zügen auf wahren Tatsachen. Die echte Show (The Buddy Deane Show) wurde 1964 abgesetzt, weil die echte TV-Station (WJZ-TV) unfähig war, die Diskriminierung von Afroamerikanern zu unterlassen. Dieses Kapitel aus einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels hat sich John Waters in Hairspray zum Thema gemacht. Neben Schön- und Schlankheitswahn, Bodyshaming, Generationenkonflikten und der Verlogenheit des Showgeschäfts. Eine Menge Stoff für einen knapp 90-minütigen Film.

In die Länge gesungen

Ob das Remake, Hairspray (2007), deshalb eine satte halbe Stunde länger ist, als das Original? Nein, thematisch geht die Neuauflage nicht mehr in die Tiefe. Wohl aber in Sachen Genre. Durch die Integration der Musical-Nummern bekommt das Remake eine neue Facette. Diese macht es zu etwas Eigenständigem, das sich inszenatorisch vom Original emanzipiert. Schon die erste Szene wird zwar auch mit einem Song eröffnet, doch diesen singt – aus vollem Leibe und Herzenslust – die »neue Tracy Turnbled« auf ihrem Weg zur Schule.

Immer wieder wird die Handlung, die sich am Original orientiert, allerdings dramaturgische Änderungen vornimmt, von Gesangseinlagen der Schauspieler*innen übernommen. Denn siehe da: Sie können alle fantastisch singen! Außer John Travolta, aber ok.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung der Filme

Man hat es hier zweifelsfrei mit zwei Herzensprojekten zu tun. Jedes für sich begeistert durch eine leidenschaftliche Umsetzung aller Beteiligten. Und auch die Brücke zwischen den Filmen steckt voller schöner Details. Schubst die Tracy im Original noch eine Ratte weg, um in Ruhe einen romantischen Moment auskosten zu können, füttert die Tracy im Remake ein paar Ratten am Straßenrand, wie zur Wiedergutmachung. Jerry Stiller, der im Original Tracys Vater spielt (und in dieser Rolle ein 90er-Kind wie mich sehr an Arthur aus King of Queens erinnert), tritt im Remake als Inhaber eines Schönheitssalons auf.

Neben derlei kleinen Verbindung stechen Kenner*innen beider Filme natürlich umso mehr die Unterschiede ins Auge. Wie sehr diese nun als Mehrwert oder Missetat empfunden werden, ist Geschmackssache. Mir persönlich gefällt das Erzähltempo des Originals besser (auch wenn dadurch die Musical-Nummern wegfallen). Das Drehbuch des Remakes lässt sich bedachtsam Zeit, jede Wendung und Gefühlsregung so im Dialog zu klären, dass auch wirklich jede*r checkt, was abgeht. Muss nicht sein. Im Original passieren Dinge einfach. Manchmal auch überrumpelnd schnell, das atmet den Charme eines impulsiveren Projekts. (Hängt gewiss mit dem markanten Budget-Unterschieden zusammen.)

Das gewisse Etwas namens Waters

So gelungen ich Waters Cameo im Remake finde, ist seine Rolle als sadistischer Psychiater im Original umso grandioser. Und die Rolle der Penny Pingleton, die im Original noch mit einem »P« für »Punished« herumlaufen muss, bleibt im Remake (trotz der tollen Schauspielerin Amanda Bynes) meinem Empfinden nach vergleichsweise blass. Insgesamt fehlt es dem Remake an dem absurden John-Waters-typischen Humor. Wenn etwa (im Original) der Mädchenschwarm in einem »police riot« von Handtaschen niederknüppelt wird und mega die Show draus macht.

Auch die »Special Education Class«, im Remake ganz offensichtlich die Klassse mit den cooleren Kids, ist im Original noch ne urkomische Rasselbande, die selbst von Sportlehrerin (die Dogdeball-Trainerin, grandiooos lustig!) hart gedisst wird.

Fazit zu Hairspray (1988, 2007)

Beide Filme sind sehr lustig und versprühen ansteckend gute Laune. Während im Original der Humor mehr Raum einnimmt, sind es im Remake die Musik- und Tanzeinlagen, dann auch mit Gesang. Das Original ist kurzweiliger, das Remake opulenter, das Original flotter, das Remake bunter. Man kann getrost beide Filme schauen und sich auf zwei tolle Umsetzungen der gleichen Geschichte freuen. Die Hauptdarstellerinnen Ricki Lake und Nikki Blonsky sind übrigens gleichermaßen großartig charismatisch und liebenswert, die Highlights dieser Filme!

Weitere Filmkritiken:

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FEMALE TROUBLE mit Divine | Film 1974 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-female-trouble-1974/ http://www.blogvombleiben.de/film-female-trouble-1974/#respond Thu, 28 Jun 2018 07:00:24 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3972 »Für CHARLES WATSON«  lautet die Widmung im Vorspann des Films Female Trouble. Dazu das Bild von…

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»Für CHARLES WATSON«  lautet die Widmung im Vorspann des Films Female Trouble. Dazu das Bild von einem bunten Holz-Hubschrauber mit der Aufschrift »game is blame«. Dieses Kinderspielzeug wurde von besagtem Watson selbst gebaut, während seiner Zeit im Bau. Dort sitzt er heute immer noch ein, im völlig überbelegten Mule Creek State Prison in Kalifornien – für seine Beteiligung an den grausamen Taten der Manson Familie. Was muss das für ein Film sein, der einem mehrfachen Mörder im Gefängnis gewidmet ist?

Den Fuß in die Wunde halten

Ein irrer Film. Verbrochen hat ihn der berüchtigte John Waters, Ikone des Untergrund-Kinos. Diesen Ruf verdankt er seinem Durchbruch mit Pink Flamingos (1972), aber eben auch Female Trouble. Wer John Waters über die muntere Mainstream-Komödie Hairspray (1988) kennengelernt hat, mag es kaum glauben: Dieser Typ hat insbesondere in den 70er Jahren einige Meilensteine des schlechten Geschmacks gedreht, die bei vielen Menschen den Magen umdreht. Allein, dass diese Meilensteine die meisten Menschen ohnehin nicht erreichen – man muss schon gezielt nach diesen Filmen suchen. Im Internet ist das nicht schwer, dort tummeln sich John Waters‘ Werke dicht unter der Oberfläche. Denn wie bei allen extremen Auswüchsen des Kinos gibt es auch genug Menschen, die diese als Kultfilme feiern.

Harris Glenn Milstead alias Divine in dem Film Female Trouble

Inhalt: Female Trouble handelt von dem Teenager-Mädchen Dawn Davenport (Divine). In der Schule und daheim macht sie Probleme. Zu Weihnachten zerstreitet sie sich so sehr mit ihren Eltern, dass Dawn von zu Hause weg will. Ein Verbrechen, dass ihr daraufhin beim Trampen widerfährt, wird den Verlauf ihres Lebens bestimmen. Dawn gerät auf die schiefe Bahn und macht eine Karriere als Kriminelle.

Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text enthält Spoiler. Es werden einige Einzelheiten zum Handlungsverlauf sowie das Ende besprochen. Wer zunächst den Film sehen möchte, findet diesen ganz unten verlinkt. Doch Achtung, Female Trouble ist eine trashige Tabu-Orgie und Perversionen-Parade, die Gewalt verherrlicht. Wird den wenigsten Menschen ehrlichen Herzens gefallen. Hoffe ich, irgendwie.

Totale: Female Trouble im Zusammenhang

Historischer Kontext

Female Trouble ist der zweite Teil einer losen Trilogie, die Regisseur John Waters selbst als »Trash Trilogy« bezeichnet. Dazu zählen des Weiteren Pink Flamingos (1972) und Desperate Living (1977). Ersterer ist Waters‘ berühmtester, explizitester und extremster Spielfilm, dessen finale Szene wohl nur von Hundeschiss-Fetischisten mit Genuss gesehen werden kann. Letzterer ist Waters‘ einziger Spielfilm ohne Ausnahme-Schauspieler und Drag-Queen Divine vor dessen Tod im Jahr 1988 und auch sein erster Film ohne David Lochary, der wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Desperate Living unter bis heute ungeklärten Umständen starb. Im Drogenrausch versehentlich verblutet, ist eine gängige Vermutung.

In Female Trouble stehen Divine und David Lochary noch in tragenden Rollen vor der Kamera. Divine spielt die Hauptfigur Dawn Davenport sowie (als Doppelrolle) den Mann, der dieses Mädchen am Straßenrand vergewaltigt. David Lochary spielt den Inhaber eines Schönheitssalons, der Dawn gemeinsam mit seiner Frau später zu übelsten Verbrechen anstiftet, um diese in Bildern festzuhalten.

»Crime is beauty«, so die Idee.

Schuldbekenntnis eines Spaßmachers

John Waters selbst nennt Female Trouble »ein fiktives Biopic über eine Frau, die einer Gehirnwäsche unterzogen wird und daran glaubt, dass Verbrechen gleich Schönheit sei.« Hinsichtlich der Widmung im Vorspann, an den Mörder Charles Watson, schreibt Waters später in einem Text über Leslie Van Houten, ebenfalls Mitglied der Manson-Familie und verurteilte Mörderin, die John Watson als »wirklich gute Freundin« bezeichnet:

Ich bin auch schuldig. Schuldig, die Manson-Morde auf eine spaßige Klugscheißer-Weise in meine früheren Filme eingebaut zu haben. Ohne die geringste Empathie für die Familien der Opfer oder die Leben der gehirngewaschenen Manson-Killer-Kids, die ebenso Opfer waren, in diesem traurigen und schrecklichen Fall.

Inspiriert von Mordtaten, aber frei von Empathie für die Opfer. Das ist Female Trouble. Genug, um den Film als verachtenswertes Projekt unreflektierter Gewalt-Enthusiasten abzutun. Mir selbst indes ist dieser Streifen in einem ganz anderen Zusammenhang begegnet.

Persönlicher Kontext

Für mein Studium der Philosophie darf ich mich aktuell mit Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble (1990) beschäftigen. Bis dato kann ich nicht viel mehr dazu sagen, als dass es kompliziert geschrieben ist. 1998 bekam Butler einmal den Ersten Preis in einer Bad Writing Competition. Mal abgesehen davon, dass solch Negativpreise schlicht gemein sind und mehr über das Wesen der Verleiher*innen solcher Trophäen aussagen, als irgendetwas anderes, hat Butler mit einem Kommentar in The New York Times schlagfertig darauf reagiert:

Wenn das Alltagsdenken [die Umgangssprache] manchmal einen bestimmten gesellschaftlichen Status Quo konserviert, und dieser Status Quo manchmal ungerechte soziale Verhältnisse als natürlich behandelt, dann macht es Sinn, in solchen Fällen das Alltagsdenken [und damit die Umgangssprache] herauszufordern. Eine Sprache, die diese Herausforderung annimmt, kann helfen, den Weg zu einer sozial gerechteren Welt zu weisen.

Ich spiele den Mann

Die ungerechten sozialen Verhältnisse, um die es Judith Butler geht, sind in Das Unbehagen der Geschlechter inbesondere die zwischen Frauen und Männern. Die Philosophin beschäftigt sich mit der Frage, ob es beim Frau-sein und Mann-sein nicht weniger um natürliche Unterschiede geht, als vielmehr um unterschiedliche Rollenbilder, die wir performen?

In diesem Zusammenhang kommt Butler im Vorwort zu Das Unbehagen der Geschlechter auf den Female Trouble zu sprechen, dessen Hauptdarsteller*in, jene berühmte Drag-Queen Divine auch als Heldin Hairspray (1988) auftritt. Divine wurde 1945 als Harris Glenn Milstead geboren, ein Junge, der schon früh Gefallen daran fand, in Frauenrollen zu schlüpfen – so auch in den Filmen seines Jugendfreundes John Waters.

Divine rüttelt an unseren Schubladen

Divines Darstellung von Frauen weist implizit darauf hin, daß die Geschlechtsidentität eine Art ständiger Nachahmung ist, die als das Reale gilt. Sein/Ihr Auftritt destabilisiert gerade die Unterscheidungen zwischen natürlich und künstlich, Tiefe und Oberfläche, Innen und Außen, durch die der Diskurs über die Geschlechtsidentitäten fast immer funktioniert.

Judith Butler wirft Fragen auf:

Ist die Travestie (also die Darstellung einer Bühne- oder Filmrolle durch Personen des anderen Geschlechts) eine Imitation der Geschlechtsidentität (also der inneren Gewissheit, einem bestimmten Geschlecht anzugehören)? Oder bringt sie die charakteristischen Gesten auf die Bühne, durch die die Geschlechtsidentität selbst gestiftet wird? Ist »weiblich sein« eine »natürliche Tatsache« oder eine kulturelle Performanz?

Antworten auf diese Fragen sucht man statt in Waters‘ Werk wohl lieber in Butlers Buch, dessen Originaltitel Gender Trouble, so legen es Judith Butler Ausführungen nahe, aber immerhin an den Film Female Trouble angelehnt ist.

Close-up: Female Trouble im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Hey, spar dir deine Moral.
Schau, jede*r stirbt einmal.
Das, was ich gerne mag,
sind Mord und Totschlag.

Das ist eine Strophe aus dem Song Female Trouble. Gesungen von Divine, geschrieben von John Waters, begleitet dieses Lied den Vorspann des gleichnamigen Films und nimmt ein wenig seiner Haltung und Handlung vorweg.

Der Film beginnt mit einem Text-Insert: »Dawn Davenport *Youth* 1960«. In verspielter blaue Schrift auf violettem Hintergrund schließt sich diese Einblendung nahtlos an den schrillen Vorspann an. Immer wieder wird es solche Text-Inserts geben, die den Film in Kapitel unterteilen, nach den Lebensabschnitten der rastlosen Heldin.

Die erste Szene auf einem Schulkorridor führt Dawn Davenport als Schülerin ein, die ob ihres Haar- und Körpervolumen ins Auge sticht. Sie spricht mit einer Mitschülerin über das Weihnachtsgeschenk, das sie sich von ihren Eltern erhofft: irgendwelche hochhackigen Schuhe namens Cha Cha Heels. Dass sie diese später nicht bekommt, ist das Auslösende Ereignis der Films, das die Handlung ins Rollen bringt.

Hier ist dieser selige Moment bei der Bescherung, als Dawn Davenport nicht kriegt, was sie sich wünscht:

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Wer diesen Auftakt für schräg hält: Es ist das normalste Weihnachten der Welt, im Vergleich zu den folgenden Abenteuern der streit- und geltungssüchtigen Heldin.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

In einer Szene sagt Tante Ida (gespielt von Edith Massey, die später im Film minus einer abgehackten Hand im Vogelkäfig landet und dort als Haustier gehalten wird) zu ihrem Sohn Gater, von dem sie sich so sehr wünscht, dass er schwul wäre:

Ich mache mir Sorgen, dass du in einem Büro arbeiten und Kinder haben und Hochzeitsjahrestage feiern wirst. Die Welt der Heterosexuellen ist ein krankes und langweiliges Leben.

Krank ja, langweilig nein, so würde ich den weiteren Verlauf des Films in aller Kürze kommentieren. Völlig entkoppelt von etwaiger sexueller Orientierung, die vor der Kamera ausgelebt wird.

Fazit zu Female Trouble

Aus der Sicht eines (im Vergleich zu John Waters, seiner Entourage und seinen Protagonisten) ziemlichen Otto-Normalos sage ich mal: Man muss diesen Film nicht gesehen haben, fällt nicht in den Kanon von Filmen für lockere Tischgespräche zwischen gelegentlichen Kinogänger*innen. Und man sollte bei diesem Film auch nicht unbedingt etwas essen (mein Fehler). Aber tut man sich Female Trouble trotzdem an, gewährt das Werk einen Blick in eine Parallelwelt, in der all unsere gesellschaftlichen Ideale auf den Kopf gestellt werden. Was ist schön, was ist richtig, falsch, anständig, abartig? Da diese gesellschaftlichen Ideale aber ohnehin nur der hauchdünne Vorhang auf einer Bühne voller verlogener Irrer ist, mag der schonungslose Schandtaten-Schaukasten Female Trouble gar sowas wie ein Kino der Katharsis sein. So weh es auch tut, dieser Film ist vermutlich näher dran am wirklichen Wesen der Menschen, als so bezaubernde Werke wie La La Land (2014) oder Tatsächlich… Liebe (2003).

Genug der Worte, hier gibt es den Film zu sehen: Female Trouble, 97 Minuten, viel Spaß!

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JURASSIC WORLD: Das gefallene Königreich | Film 2018 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-jurassic-world-das-gefallene-koenigreich-2018/ http://www.blogvombleiben.de/film-jurassic-world-das-gefallene-koenigreich-2018/#respond Mon, 25 Jun 2018 05:00:58 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3947 Film-Franchises gibt es ja ungefähr seit den Dinosauriern. Oder zumindest den Riesenaffen. Mit King Kong und…

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Film-Franchises gibt es ja ungefähr seit den Dinosauriern. Oder zumindest den Riesenaffen. Mit King Kong und die weiße Frau wurde bereits 1933 der erste Film einer Reihe geschaffen, die just im vergangenen Jahr ihre x-te Fortsetzung fand. Darin tauchten auch immer mal wieder Dinosaurier auf, seit Jurassic Park III (2001) ein schwacher Trost für alle Liebhaber der ledrigen Riesenviecher. Oder waren sie gefiedert? Na, so wissenschaftlich genau muss ein Dino-Kino-Franchise nicht sein – Hauptsache, es lässt’s krachen! Und so freuen wir uns gigantisch über Jurassic World: Das gefallene Königreich, den zweiten Teil der neuen Trilogie, mit der die Urviecher 2015 endlich wieder aus der Versenkung geholt wurden.

Mit Raptoren auf Spatzen schießen

 

Die Schauspieler Ted Levine und Daniella Pineda, Standbilder aus Jurassic World: Das gefallene Königreich | Bild: Universal Pictures

 

Totale: Jurassic World: Das gefallene Königreich im Zusammenhang

Cineastischer Zusammenhang

Nach den ersten 3 Filmen – Jurassic Park (1993), Vergessene Welt: Jurassic Park (1997) und Jurassic Park III (2001) – wurde es lange still um die Dino-Filmreihe. Ganze 7 Godzilla-Filme erblickten seit 2001 weltweit das Licht der Kinosäle (oder landeten direkt im DVD-Regal). Auch ansonsten wurden die ehrwürdigen Urtiere eher für schändliche filmische Zwecke wiedererweckt. Als da wären: Dinocroc vs. Supergator (2010) oder Age of Dinosaurs – Terror in L.A. (2013, von Joseph J. Lawson, auch bekannt für Nazi Sky – Rückkehr des Bösen!).

Nun hätte, ehrlich gesagt, ein Jurassic Park 4 (wie er lange im Gespräch war) nicht weniger trashig geklungen. Die Zahl 4 ist schlichtweg nicht sexy. Welche Filmreihe liebt man denn bitte für ihren Teil 4? Die 3 trifft bei uns Menschen einen Nerv, vom flotten Dreier bis zu allen (anderen) sprichwörtlich guten Dingen. Aber die 4 suggeriert den Abstieg in die Belanglosigkeit. Das erklärt auch die Unbeliebtheit vieler Politiker. Legislaturperioden von 4 Jahren sind einfach eines zu lang…

Schockierender Hinweis (um den Teil-4-Trash-Faktor nochmal zu unterstreichen): Für Jurassic Park 4 wurden zeitweise Mensch-Dino-Hybride in Erwägung gezogen. Wesen also, die halb Homo Sapiens, halb Tyranno Saurus Sonstwas sind. Davon haben wir doch nun wahrlich genug…

Trilogien hingegen sind sexy – und wie! Nachdem die Planung für Jurassic Park 4 nach dem Tod des Drehbuch- und Romanautors Michael Crichton im Jahr 2008 auf Eis gelegt wurden, besinnten sich auch die Jurassic-Park-Produzenten auf diese altbekannte Gewissheit. Im Januar 2010 hieß es dann, die Vorbereitungen für eine Fortsetzung sollen wieder aufgenommen werden, doch völlig anders als geplant: Teil 4 werde der Beginn einer neuen Trilogie.

Die Puppen-Dinos sind zurück

Nach Jurassic World (2015) wurde das Budget für den neuen Teil 2 nochmal um über 100 Millionen Dollar aufgestockt. Damit konnte neben den CGI-Effektfeuerwerken wieder verstärkt auf state of the arts Puppenspieler und Animatroniker gesetzt werden. Es wurden extra Szenen ins Drehbuch geschrieben, die es ermöglichten, Dinos nur teilweise (siehe: das T-Rex-Weibchen im Fahrzeug-Laderaum) und/oder in langsamen Bewegungen (siehe: die gefesselte, betäubte Velociraptorin) zu zeigen. Diese wurden nicht am Computer animiert, sondern »in echt« gebaut und gesteuert. Für diese Rückbesinnung zu den Wurzeln (Animatronik sorgte schon im allerersten Jurassic Park für die denkwürdigsten Szenen) wird Jurassic World: Das gefallene Königreich gebührend gefeiert.

Auch sonst gibt es nennenswerte Reminiszenzen an die 90er-Jahre Jurassic-Park-Filme. Von verfütterten Ziegen über zerdrückte Geländewagen, fliehende Urviecherherden und Türöffno-Saurus bis hin zu Dino-OPs gibt es einige Motive, die Jurassic-Fans Krokodilstränen der Freude in die Augen treiben.

Persönlicher Zusammenhang

Ich hatte das Vergnügen, Jurassic World: Das gefallene Königreich im OH·KINO in Wrocław (Breslau) zu sehen. Englisches Original mit polnischen Untertiteln und Karamell-Popcorn, yay! Auf dem Roadtrip nach Polen hatten wir zuvor eine Nacht in Dresden verbracht, inklusive Besuch im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr. In der dortigen Dauerausstellung kreuzte – zu unserer Überraschung – ein imposanter Elefant unseren Weg. Lebensgroß, ausgestopft. Er führte eine Parade von Tieren an, die von Menschen über die Jahrhunderte für ihre kriegerischen Zwecke missbraucht wurden. Von Sprengstoffspürhunden und Brieftauben über Schafe, deren traurige Bestimmung es war, Minenfelder zu erschließen. Sogar ein Löwe ist in dem Museum zu sehen, mit der Info, dass sich NS-Mann Hermann Göring einen solchen gehalten hat, auf seinem feudalen Anwesen in Carinhall. Einfach nur, um seine Gäste zu beeindrucken. Da hatte wohl jemand etwas zu kompenisieren…

Dass Jurassic World: Das gefallene Königreich also von Bonzen handelt, die Dinosaurier für Millionenbeträge ersteigern möchten, erscheint absolut logisch und sinnvoll. Manche der grimmig dreinschauenden Herren im Film wollen sicher nur ein fettes Urzeit-Haustier, um ihr zartes Ego zu streicheln. Andere denken (natürlich) an Dinosaurier für militärische Einsätze. Es gibt gar einen Dialog, in dem explizit davon gesprochen wird, dass Menschen im Krieg immer Tiere eingesetzt hätten. Da werden sogar Elefanten genannt! Und das nur 2 Tage, nachdem ich erstmals über Elefanten im Krieg gelernt habe! Das ist die fiese Art des Universums, mir zu sagen: »Na, du kleiner Wurm? Genießt du die Matrix?«

Close-up: Jurassic World: Das gefallene Königreich im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Jurassic World: Das gefallene Königreich beginnt Unterwasser, mit Lichtern eines U-Boots, die sich aus der Dunkelheit abheben. Ebenso, wie die Rahmenhandlung von Titanic (1997) anfängt. Bloß, dass der Tauchgang keinem Schiffswrack gilt, sondern dem Skelett eines Dinosauriers. Doch nicht irgendein Skelett! So wie es in Titanic um das größte Schiff im Jahre 1912 geht, dreht sich die Fortsetzung von Jurassic World zunächst um den furchterregendsten Saurier, der im Jahr 2015 noch gewütet hat. Wir erinnern uns an den epischen Kampf zwischen Tyrannosaurus Rex, ein paar Raptorinnen und besagtem Superlativ-Saurier, dem aus verschiedenen Spezies gezüchteten Hybriden Indominus Rex. Der Kampf endete damit, dass das Mosasaurus-Weibchen (die gut bezahnte Unterwasser-Echse, Rex Machina) aus ihrem Becken sprang und Indominus Rex mit zu sich in die Tiefe riss.

Dort unten also sägt nun – 3 Jahre nach dem Untergang von Jurassic World – ein U-Boot mit zwielichtigen Männern an dem Indominus-Skelett herum, um einen Knochen zu bergen. Dieser Knochen ist für die Männer ungefähr so wertvoll, wie das »Herz des Ozeans« für die ihrerseits zwielichtigen Wrack-Plünderer in Titanic. Nur dass Letztere halt in Ruhe den Tresor an die Oberfläche hieven können, während Erstere im Mosasaurus-Becken die Bekanntschaft von Mosasaurus machen. Blöder Zufall, bei so einem großen Becken…

Was hat Mosasaurus die 3 Jahre seit dem letzten Film gefressen, um in ihrem Becken nicht zu verrecken? Achtung, Achtung! Wer so früh mit Logikfragen anfängt, wird in Jurassic World: Das gefallene Königreich Kopfschmerzen kriegen. Stattdessen lieber zurücklehnen, entspannen und die Dino-Action genießen. Über 2 Stunden lang gibt’s die volle Dröhnung, ab dem Vulkanausbruch sogar ziemlich pausenlos: Auf der Insel, Unterwasser, im Schiffsbauch, Keller, Kinderzimmer, auf Dächern und in Käfigen. Neben den üblichen Verdächtigen unter den Dinos natürlich auch wieder mit einem neu gezüchteten Hybrid-Horror-Viech, das die Saurier-Sause erst so richtig in Schwung bringt!

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Ich hab’s genossen, keine Frage. Jurassic World: Das gefallene Königreich ist ein Action-geladenes Dino-Spektakel mit ordentlich Schauwerten. Tatsächlich hätte ich mir gar etwas weniger Action gewünscht. Nur einmal stapft ein Brachiosaurus gemächlich durchs Bild. Diesem schönen Tier und seinen herbivoren Homies ein Weilchen beim Grasen zuschauen, das wär auch schön gewesen. Stattdessen konzentriert sich Jurassic World: Das gefallene Königreich auf die Idee vom »Dino als Kriegswaffe«. Das nimmt teilweise wirklich bescheuerte Züge an.

Es gibt eine Szene, in der ein Auktionär (verkörpert von Schauspieler Toby Jones) seinem vor Geld stinkenden Publikum vorführen will, wie übelst krass der genmodifizierte Hybrid-Dino namens Indoraptor im Käfig neben ihm drauf ist. Dazu richtet der Auktionär ein Gewehr auf einen Mann im Publikum. Als der rote Laserpunkt der Zielvorrichtung auf der Brust des (jetzt nervösen) Mannes flackert, drückt der Auktionär einen bestimmten Knopf am Gewehr. Sofort rastet der Indoraptor in Richtung des nervösen Mannes aus – nur der Käfig hält den Dino davon ab, den Mann zu zerfetzen.

Wann wird’s wissenschaftlicher?

Das soll also effiziente Kriegsführung sein? Mit einer Waffe auf einen Mann zielen, um dann per Knopfdruck einen wütenden Dino auf diesen Mann loszulassen? Um den Mann zu töten, oder was? Und dazu hätte man nicht einfach den guten alten Abzug neben dem fancy Dino-Knopf betätigen können!? »Raptoren auf Menschen loslassen« ist Hollywoods Pendant zu »mit Kanonen auf Spatzen schießen«. Immerhin: Wesentlich bildgewaltiger, als die Spatzen-Variante.

Übrigens hat Colin Trevorrow, Drehbuchautor der beiden Jurassic-World-Filme angekündigt, im dritten Teil werde man sich wieder auf reale Dinosaurier konzentrieren, ohne die genmodifizierten Neuschöpfungen. Jurassic World 3 soll tatsächlich ein »science thriller« werden. Zur Erinnerung daran, wie weit die Dinos in Jurassic World nach heutigem Kenntnisstand von ihren urtümlichen Vorfahren entfernt sind: In Münster gibt es seit 2014 das erste befiederte Velociraptor-Modell in Deutschland zu sehen. Schaut dezent anders aus, als die coole Raptorin Blue:

Die Post-Credit-Szene nach dem Abspann

Apropos Teil 3: Nach dem Abspann lieferte Jurassic World: Das gefallene Königreich noch ein Schmankerl für alle Kinobesucher*innen, die bis zum Ende sitzen geblieben sind und gewissenhaft die Namen aller Beteiligten durchgelesen haben. Fun Fact: Ich heiße David, weil meine Eltern solche Leute sind, die sich Filmcredits durchlesen. Um 1989 herum dachten sie dabei eines schönen Filmabends: »Hey, David, der Name ist gut.« Ich persönlich hoffe ja, es war David Fincher.

NACH DEM ABSPANN jedenfalls gibt es noch ein letztes Bild von ein paar Pteranodons, die um das Eiffelturm-Dublikat in Las Vegas kreisen.

Eine globale Plage?

Denn: Die Dinos sind am Filmende ja ausgebüxt, alle miteinander. Und jetzt streunen sie frei durch die Welt. Die Flugsaurier an Amerikas Eiffelturm zu zeigen ist eine schönes Sinnbild für diese Dino-Klone, die ja ihrerseits »nachgemacht« sind von den urzeitlichen »Originalen«. Gleichzeitig stellt der Eiffelturm ein Symbol für Europa dar und eröffnet damit neue Dimensionen. Die Dinos haben nicht nur ihre Insel verlassen, nein, sie könnten auch den Kontinent verlassen. Jurassic WORLD eben.

Sehr, sehr coole Vorstellung. Den Film möchte ich gerne sehen. Es gibt sogar schon einen Starttermin. Am 11. Juni 2021 kommt Jurassic World 3 in die Kinos. Einfach schonmal freihalten. ABER: Ich hoffe sehr, die Macher*innen finden für die weltweite Ausbreitung der Dinos eine glaubwürdige Erklärung. Denn ein paar Dutzend große Echsen einzufangen, die im weiteren Umkreis der Villa rumlaufen, aus der sie entflohen sind, das sollte mit heutigen Mitteln doch zu händeln sein? Für den glaubwürdigen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation braucht es bitteschön ein bisschen mehr, als die Szene von einer Velicoraptorin, die sich ihren Weg durch eine City beißt.

Fazit zu Jurassic World: Das gefallene Königreich

Ach, das war ein großer Spaß! Die Spannung ist natürlich mäßig, weil man nie wirklich damit rechnen muss, dass die Dinos das kleine Mädchen zerreißen. Wann immer die junge Schauspielerin Isabella Sermon um ihr Leben bangt, können sich die Zuschauer*innen entspannt zurücklehnen: Ist immer noch Jurassic World, nicht Game Of Thrones. Hier ist die Welt noch in Ordnung, Dinos hin oder her. Abgesehen davon, dass sich Jurassic World: Das gefallene Königreich im Vergleich zum ersten Teil der neuen Trilogie zwar Mühe gibt, erneuten Sexismus-Vorwürfen auszuweichen, dies aber nur bedingt gelingt. Die weibliche Hauptrolle Claire Dearing (gespielt von Bryce Dallas Howard) bleibt im Schatten von Chris Pratt und dort trotz anderen Schuhwerks (die Stöckelschuhe aus dem ersten Jurassic World sind gewichen) eher im ständigen Opfer/Beute-Modus.

Die Journalistin Anne Cohen (Refinery29) kann tatsächlich nur der Rolle von besagter Isabella Sermon etwas Positives abgewinnen. Ansonsten findet sie erschreckend viele gute Argumente dafür, dass Jurassic World bis dato sexistischer ist, als der erste Jurassic-Park-Film in den 90er Jahren. In diesem Sinne überlasse ich der fiktiven Paläontologin Dr. Ellie Sattler mal das letzte Wort:

Über Sexismus in Überlebenssituationen können wir diskutieren, wenn ich zurück bin. | Ellie Sattler, in: Jurassic Park (1997)


Weitere Filmkritiken:

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theAngelcy im zakk, Düsseldorf | Konzert 2018 | Bericht http://www.blogvombleiben.de/theangelcy-im-zakk-konzert-2018/ http://www.blogvombleiben.de/theangelcy-im-zakk-konzert-2018/#respond Wed, 06 Jun 2018 03:42:43 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3751 Als Rotem mit seiner Bande musikalischer Multitalente zurück auf die Bühne kommt, während die Zugabe-Rufe des…

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Als Rotem mit seiner Bande musikalischer Multitalente zurück auf die Bühne kommt, während die Zugabe-Rufe des Publikums im johlenden Applaus aufgehen, versammeln sie sich ganz ruhig hinter die Instrumente. Rotem schließt seine Gitarre an, ohne ein Lächeln, wirkt müde oder nachdenklich oder… man weiß es nicht. Die Band da oben kommt jedenfalls nicht in Partylaune zurück aus dem Backstage-Bereich, in den sie sich vorhin nach furiosem Ausklang zurückgezogen hat. Stattdessen tritt Rotem jetzt ans Mikrofon und sagt, in sattes, rotes Licht getaucht: »Sometimes I think about suicide.« Und singt ein Lied dazu. Shit… was für ein Bruch, denke ich. Dabei ist es schon mein drittes Konzert von theAngelcy, die mich jedes Mal aufs Neue packt, mit ihrer Mischung aus Frohsinn und Melancholie.

Die Menschen müssen weinen

Am Dienstag, 5. Juni trat die israelische Band theAngelcy um 20.30 Uhr im zakk – Zentrum für Kultur und Kommunikation – in Düsseldorf auf. Erst fünf Tage vorher hat Sonia via Facebook Wind davon bekommen. Und das, obwohl die Band schon Mitte Mai ihre aktuelle kleine Deutschland-Tour via Post angekündigt hat. Mit einem Bild von fünf der sechs Musiker*innen beim Fotoshooting mit Selfie-Stick, dazu kurz und knackig die Ansage: »Wir herüberkommen!« Gebrochenes Deutsch, das könnte Frontsänger Rotem Bar Or selbst geschrieben haben. Vor über zehn Jahren reiste er als Straßenmusiker durch Europa, lebte monatelang obdachlos in Frankreich und Deutschland, übernachtete in Parks, nur er und seine Gitarre im Schlafsack.

Von Mai bis November war das. Im November wurde es zu kalt. Also fand ich eine Freundin in Hamburg und blieb erstmal bei ihr. | Rotem Bar Or im Gespräch mit Jule Seibel, David Zimmermann (Philipp, aus dem Englischen übersetzt)

Die Band theAngelcy mit Frontsänger Rotem Bar Or. | Bild: Pierre Veillet

Ein Fall für die Danke-Polizei

Von der Freundin in Hamburg lernte Rotem – das erzählte er beim Konzert in Düsseldorf – deutsche Wörter wie »Penner« oder »Saftsack« (»sack of juice«, übersetzte er für seinen Drummer Udi Naor, »sack of jews!?«, »no!«). Später am Abend fragte Flötist, Klarinettist (und so viel mehr) Uri Marom das Publikum, ob man noch »vielen Dank« sage, oder das altmodisch sei? Oder »Dankeschön« vielleicht? Es werde schon keine »Danke-Polizei« geben, meinte Udi, seinerseits im gebrochenen Deutsch. Die Band hat schon viele Abende hierzulande verbracht. Gesehen habe ich sie zum ersten Mal vor zwei Jahren, im Druckluft in Oberhausen. Damals standen wir, das Publikum, in einem überschaubaren Halbkreis um die Bühne verteilt und erlebten ein wundervoll intimes Konzert, erst von dem belgischen Indie-Pop-Duo Douglas Firs als Vorband, dann von dem erstklassigen Ensemble, das sich theAngelcy nennt. Schon damals mit heiterem Smalltalk und ruppigen Humor zwischen den Liedern.

Hier mein Konzertbericht vom 5. März 2016: Sechs Engel in Oberhausen

Dieses Mal kam theAngelcy ohne Vorband auf die Bühne, und in etwas anderer Besetzung: Den Kontrabass spielte, statt wie bei meinen bisherigen theAngelcy-Konzerterlebnissen (neben Oberhausen sah ich die Band am 21. April 2017 im Treibsand, Lübeck) nicht die Musikerin Gal Maestro, sondern der Mann, der hier kurz dem Konzert rechts neben Drummer Udi in die Kamera lächelt. Nicht.

playing Tonight at #zakkdüsseldorf !!!

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Übrigens: Udi Naor ist auch als Fotograf unterwegs, hier geht es zu seiner Foto-Website.

Der Killer, der Kläger

Zum Auftakt an diesem Abend im gut besuchten zakk spielte die Band den Song Rebel Angel, der vermutlich speziell als Auftakt-Song für Live-Auftritte geschrieben wurde. Rotem Bar Or singt in seiner unverkennbaren Stimme:

I work for the angelcy,
can’t you see how sweet I can be?
I’m a killer,
I kill with words […]

Der selbsternannte Killer ist tatsächlich ein eher pazifistisch anmutender Poet, der in Texten von bemerkenswerter Klarheit seiner Traurigkeit kundtut. Sei es über die Politik des Staates Israel, sei es über den Krieg oder die menschliche Dummheit im Allgemeinen. Neben Liedern ihres Albums Exit Inside (2016) – etwa meinem Lieblingssong Secret Room oder auch People of the Heavens, das mit an Klapperschlangen in Wüsten erinnert – gaben theAngelcy viele neue Stücke zum Besten. Das zweite Album ist in Arbeit, »im Januar kommen wir wieder«, versprach Rotem. In einem der neuen Lieder sang er (sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiert):

We don’t need no holy land
We just need a home

Und dass, wenn Menschen ein Land wären, er selbst ein Fluss sein wolle. Zeilen und Bilder wie diese sind es, die dem instrumentalen Feuerwerk, das die sechs großartigen Musiker*innen auf der Bühne abliefern, das Krönchen aufsetzen. Neben Rotem, Udi, Uri und dem Mann am Kontrabass singen und spielen noch Maya Lee Roman als tanzlustige Streicherin und Mayaan Zimry mit. Letztere steht die meiste Zeit mit Udi hinterm Drumset. Wenn sie nach vorne kommt und an Rotems Seite tritt, dann für ein wundervolles Duett: Giant Heart. Die Band kommt als derart eingespieltes, kongeniales Team daher, dass man kaum glauben mag, dass sich diese Konstellation erst vor ein paar Jahren so gefunden hat.

Treu im Variantenreichtum

2010, als Rotem Bar Or nach seinen vier Lehr- und Wanderjahren als Straßenmusiker in Europa (und Asien, laut Deutschlandfunk Kultur) in die Heimat Tel Aviv zurückkehrte, nahm sein Schaffensdrang eine Richtung an. Mithilfe von Freunden und seines damaligen Managers Yaron Gan machte er sich an die Zusammenstellung einer Band. Wer theAngelcy live erlebt, merkt ziemlich deutlich, dass die Ansprüche an die Mitglieder dieser Band-to-be nicht eben niedrig waren. Im Jahr 2011 gab es sie dann endlich, die Band theAngelcy (so übrigens auch die seitens der Künstler*innen gewünschte Schreibweise).

Der Begriff stand lange davor für einen Song-Zyklus, für ein lyrisches und musikalisches Universum des noch obdachlosen und unbekannten Rotem Bar On, ehe daraus der Name seiner Band werden würde. Zwei der sechs Musiker*innen verließen über die vergangenen sieben Jahre das Ensemble und wurden ersetzt, doch im Kern und Klang blieb theAngelcy sich bis heute treu, was auch immer das heißt. Die Musikvideos der Band zum Beispiel könnten stilistisch unterschiedlicher kaum sein. Besonders aus dem Rahmen fällt das Video zum neusten Lied I worry. Es sorgen sich: Ein Mädchen und ein Kampffisch. Oder ein Mädchen über den Kampffisch? Oder nur das Mädchen und der Kampffisch ist ein Symbol für… ach, schaut doch selbst.

Im Interview mit Noemi Schneider (Deutschlandfunk Kultur) gab Rotem Bar On einen für seine Musik bezeichnenden Kommentar ab:

Die Leute haben gesagt: Ich sei talentiert aber, ehrlich gesagt, wenn du jemandem einen Song vorspielst und der sagt dann: »Wow du hast Talent, dass muss im Radio laufen«, dann ist das genau die falsche Reaktion, die richtige Reaktion wäre, wenn die Person weint.

Wie stößt man denn auf theAngelcy?

Bevor Sonia und ich gemeinsame Wege gingen, pflegten wir eine Brieffreundschaft und eine Spotify-Playlist. Darüber führten wir einen Gedankenaustausch, der sich mal im Prosa der Briefe, mal in den Lyrics der Lieder ausdrückte. Für Letzteres stöberten wir nach Songtexten und Stimmungen, um die Zeilen und Rhythmen der oder des Anderen aufzugreifen…

We don’t have to talk, let’s dance | aus: Edward Sharpe’s Better Days, hinzugefügt von mir, eines Tages

Give me touch, cause I’ve been missing it | aus: Daughter’s Touch, hinzugefügt von ihr, am darauffolgenden Tage

Und so weiter. Man muss es sich wie ein musikalisches Ballspiel vorstellen, hin und her und hinhören, welche Botschaft wohl im neuen Lied mitschwingt. Schrecklich romantischer-kitschiger Kram natürlich, aber so stolpert man eben über ein Kollektiv von Musiker*innen, die sich Agentur der Engel nennen. Sonia hat mir ihren Spotify-Fund über das Lied Secret Room näher gebracht, vor ein paar Jahren. Seitdem feiern wir diese Perle von einer Band – und freuen uns auf das nächste Album!

If you want my future, take my painful memories,
if you want my beauty, take my disease,
and if you want my passion, take my violence,
if you want to be with me, take my loneliness,
take it all. | aus: Secret Room


Weblinks:

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