Mädchen – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Mädchen – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 SCHLAF WIE EIN TIGER von Mary Logue | Kinderbuch 2014 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-schlaf-wie-ein-tiger-2014/ http://www.blogvombleiben.de/buch-schlaf-wie-ein-tiger-2014/#respond Mon, 24 Sep 2018 06:00:20 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5522 Schlafenszeit! Aber was, wenn das Kind noch überhaupt nicht müde ist? Das Kinderbuch Schlaf wie ein…

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Schlafenszeit! Aber was, wenn das Kind noch überhaupt nicht müde ist? Das Kinderbuch Schlaf wie ein Tiger von Mary Logue gibt Eltern ein Beispiel und Kindern ein tierisches Gute-Nacht-Märchen zur Hand.

Das Kind mit der Krone

Zum Inhalt von Schlaf wie ein Tiger: Das Kind mit der Krone auf dem Kopf ist absolut noch nicht müde. Das sei nicht schlimm, meinen die Eltern und leiten es mit abendlichen Ritualen sanft in Richtung Bett. Doch selbst im kuschligen Bettchen möchte das Kind noch nicht an Schlaf denken. Denn es gibt noch eine wichtige Frage zu klären: Geht eigentlich alles auf der Welt irgendwann schlafen?

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Schlaf wie ein Tiger

Der erste Blick aufs Buchcover verrät’s: Schlaf wie ein Tiger ist eine Gute-Nacht-Geschichte der kunterbunten Art. Was uns so farbenfroh entgegen leuchtet, ist nicht nur die bunte Girlande, die an ein Fest erinnert. Auf dem Boden schläft eine Figur im musternden Pyjama, angelehnt an einen Tiger, der seine Augen ebenfalls zum Schlummern geschlossen hält – hinter blauen Lidern, was auch an ein zurückliegendes Fest erinnert. Mit Krönchen und Kuscheltier schläft es sich scheinbar schön. Die Illustratorin Pamela Zagarenski erweckt mit dem Cover jedenfalls die kindliche Neugierde.

Überhaupt nicht müde

Mary Logue rückt eine Figur in den Mittelpunkt ihrer Gute-Nacht-Geschichte, die etwas anders ist. Sie trägt weder einen Namen, noch ist sie auf den ersten Blick als Schubladen-Mädchen zu erkennen. Die Autorin verzichtet auf klimpernde Wimpern, Schleifchen und Farben, die in diesen Zeiten (immer noch) mit dem weiblichen Geschlecht konnotiert sind. Und ich muss zugeben: Beim ersten Blick aufs Cover bin ich voll darauf reingefallen. Ätsch, doch kein Junge. Allein dieser kleine Oha-Moment sei der Autorin sowie der Illustratorin Pamela Zagarenski dankend anzuerkennen. Da sieht man mal wieder, wie oberflächlich das eigene Schubladen-System ist.

Indetifikationspotenzial?

Eine Protagonistin ohne Namen? Das wirkt zunächst etwas fremd, zumindest distanziert. Vor allem für Kinder sind Namen wie Ankerpunkte ihrer Identität. Etwas in dieser komplexen Welt, dessen sie sich sicher sein können (neben dem Alter, das ebenfalls enorm an kindlicher Relevanz besitzt). Bei der Frage »Wer bist du?« ist der Name aus Kinderperspektive in der Regel ausreichend, um nicht mehr als fremd zu gelten. Also, komm mit in den Sandkasten!

Doch Mary Logue geht mit Schlaf wie ein Tiger einen anderen Weg. Das Mädchen, von dem sie schreibt, ist einfach ein Kind, welches nicht schlafen gehen will. Damit addressiert sie alle Kinder (und Eltern), die dieses Problem vertraut ist. Ungeachtet der namentlichen Anonymität der Figur, gelingt es der Kinderbuchautorin durch die aufgezeigte Abendroutine des Mädchens, eine Identifikation der kleinen Leser*innen mit der Figur herzustellen.

Kindliche Lebensnähe

In den Schlafanzug schlüpfen, die Zähne putzen und sich ins Bett einkuscheln sind abendliche Rituale, die für die meisten Kinder zum Alltag gehören. Genauso wie die Auseinandersetzung mit den Eltern über das Zubettgehen – oder Nicht-Zubettgehen. Mit diesem zentralen Handlungsstrang ist die Geschichte nah an der Lebenswelt der Kinder angesiedelt. Auf diese Weise erhält die Lesemotivation der Kinder einen ordentlichen Schubser.  

Geht eigentlich alls auf der Welt irgendwann schlafen?

In dem Kinderbuch Schlaf wie ein Tiger geht es mehr um die Schlafgewohnheiten der Tiere als um deren nächtliche Aktivitäten, wie zum Beispiel in Bitta Teckentrups Kinderbuch Mond. So nehmen die königlichen Eltern das Mädchen auf eine gedankliche Reise mit und erklären ihr, wie Hund und Katze, aber auch Wale und Fledermäuse zur Ruhe kommen. Da fällt dem Mädchen selbst ein Tier ein, das tiefen Schlaf tanken muss: der Tiger! Doch auch jetzt ist das Mädchen, wo es im Bett liegt, nicht bereit, einzuschlafen. Auch das wird von den Eltern brav abgenickt. Soll es ruhig die ganze Nacht wach bleiben…

Allein in Gedanken versunken, fühlt sich das Mädchen in all die Tiere ein, die ihren Schlafgewohnheiten nachgehen. Besonders vorlesefreundlich ist dabei die wiederaufgenommene Chronologie, bei der die Kinder die zuvor vorgestellten Tiere wiedererkennen. Das motiviert müde Augen, noch ein Stück mitzulesen. Je mehr das Mädchen in ihrer Fantasie mit den Tieren verschmilzt, desto mehr beginnt ihr innerer Tiger nach Schlaf zu schnurren.

Hinweis: Ein Kinderbuch, das ebenfalls mit der Erzähl-Chronologie und Tiergewohnheiten spielt, ist Kleiner Dreckspatz Aurelia.

Ausgezeichnetes Buch

Zur Visualität: Bunte Häuser, diverse Größen und verspielte Muster sowohl im Hintergrund als auch im vorderen Geschehen zieren die Bilder von Pamela Zagarenski, die mit dem Caldecott Honor Medal ausgezeichnet wurde. Das Zusammenspiel verschiedener Elemente und zahlreicher Details lassen erahnen, wie viel Kreativität in der Illustratorin strotzt.

Besonders deutlich wird dieses artistische Talent bei der Visualisierung der kindlichen Fantasie: Aus dem Bett wird ein Meer für Otter. Aus der Stadt eine Unterwasserwelt und aus dem Kuscheltier ein großer Tiger. Für Kinder, die noch nicht schlafen wollen, sind solch detailreiche Illustrationen ideal, um der Entdeckungswut noch einmal Raum zu geben, um anschließend der Müdigkeit das Zepter zu übergeben.

Leseprobe gefällig? Einen Blick ins Buch bietet der Knesebeckverlag an. 

Fazit zu Schlaf wie ein Tiger

Das Kinderbuch von Mary Logue mit den wunderschönen und fantasievollen Illustrationen von Pamela Zagarenski ist eine in sich harmonische, geschlossene und liebevoll erzählte Gute-Nacht-Geschichte für Kinder ab 3 Jahren. Mit der Kombination aus Alltagsnähe und Märchenwelt sowie fabelhaften Bildern stimmt die Story die Kinder auf die sensible Schlafensphase ein. Ich vergebe 10 Sterne.

Titel
Schlaf wie ein Tiger
Erscheinungsjahr2014
Autorin/IllustratorinMary Logue/ Pamela Zagarenski
Verlag
Knesebeck
Umfang
40 Seiten
Altersempfehlung
ab 3 Jahren
Thema
Schlafen, Tiere

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EIN MANIFEST FÜR CYBORGS von Donna Haraway | Essay 1985 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/essay-ein-manifest-fuer-cyborgs-1985/ http://www.blogvombleiben.de/essay-ein-manifest-fuer-cyborgs-1985/#respond Thu, 13 Sep 2018 07:00:59 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5363 »Cyborg« steht für cybernetic organism, oder: kybernetischer Organismus. Kybernetik ist die Wissenschaft der Steuerung, sei es…

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»Cyborg« steht für cybernetic organism, oder: kybernetischer Organismus. Kybernetik ist die Wissenschaft der Steuerung, sei es von Maschinen oder Organismen. Gemeint ist mit »Cyborg« ein Wesen, das teils organisch, teils technisch ist. Im engsten Sinne werden Menschen mit künstlichen Körperteilen Cyborgs genannt. Im weitesten Sinne kann man alle Menschen, die mit Technik interagieren, unter Cyborgs fassen. Demnach uns alle, die wir seit der kognitiven Revolution vor rund 70.000 Jahren die Werkzeuge nutzen, die unser Leben bequemer machen. Insofern geht es scheint uns alle etwas an, wenn Donna Haraway Ein Manifest für Cyborgs schreibt. Selbst dann, wenn das schon über 30 Jahre her ist.

Fantastischer Widerstand

Doch der Schein trügt. Donna Haraways Manifest aus dem Jahr 1985 – Untertitel: Feminismus in Zeiten der Technowissenschaften – richtet sich nicht unbedingt an uns alle. Die Ewiggestrigen dürfen wie gehabt ihren Hobbys frönen, lasst euch nicht stören. Auch nach 30 Jahren ist Haraways prophezeite Welt aus Ein Manifest für Cyborgs noch nicht eingetreten. Obwohl wir der Sache spürbar näher kommen.

Der Begriff »Cyborg« wird in Ein Manifest für Cyborgs auf zweierlei Weise verwendet. Zum Einen für die technologisch-organischen Wesen, die Wissenschaft und Technologie seit Jahrzehnten hervorbringen. Eher als ihre willenlose Objekte, denn als eigensinnige Subjekte. Zum Anderen sind Cyborgs in der Postmoderne lebende Menschen wie die feministische Erzählfigur, die Haraway in Ein Manifest für Cyborgs auftreten lässt.

Wann immer mit »Cyborg« nicht jenes Wesen, sondern diese Erzählfigur gemeint ist, heißt es in der mir vorliegenden Übersetzung1 »die Cyborg«. Eine schöne Idee, die deutsche Sprache in all ihrer Präzision zur Geltung kommen zu lassen. (Zumal eben diese Präzision in Gender-Fragen meist eher für Unbehagen sorgt, bei dem oder der Anwender*in unserer allzu phallogozentrischen Sprache.)

Ich plädiere dafür, die Cyborg als eine Fiktion anzusehen, an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen läßt. | S. 342

3 Grenzen brechen zusammen

Donna Haraways Cyborg-Mythos handelt »von überschrittenen Grenzen, machtvollen Verschmelzungen und gefährlichen Möglichkeiten, die fortschrittliche Menschen als einen Teil notwendiger politischer Arbeit erkunden sollten« (S. 39). Sie beginnt ihr Essay Ein Manifest für Cyborgs mit der Erläuterung von 3 Grenzziehungen und deren Zusammenbrüchen im 20. Jahrhundert. Es geht um die Grenzen zwischen:

  • Mensch und Tier
  • Tier-Mensch (Organismus) und Maschine
  • Physikalischem und Nicht-Physikalischem
Affinität statt Identität

Ein Manifest für Cyborgs kritisiert traditionelle Vorstellungen des Feminismus, vor allem den feministischen Fokus auf Identitätspolitik (mehr dazu im Abschnitt »Donna Haraways Kritik am Feminismus«). Stattdessen ermuntert Haraway unter der Parole »Affinität statt Identität« (S. 41) zu einer Koalition von Wesensverwandten. Affinität steht hier für eine Beziehung auf Grundlage einer Wahl, nicht etwa einer Verwandtschaft. Insofern nutzt Haraway das Bild von »einer Cyborg«, um Feministinnen über den Horizont herkömmlicher Ideen von Gender-Fragen, Feminismus und Politik schauen zu lassen.

Hinweis: Ein Manifest für Cyborgs ist hier im Original nachzulesen (A Cyborg Manifesto, PDF). Die deutsche Fassung ist – in Auszügen – hier nachzulesen.

Die Maske des Maschinenmensch, dazu der Text: Ein Manifest für Cyborgs

Das Ergebnis von Donna Haraway ist ein virtuoses Essay über die Chancen und Risiken in Zeiten des Umbruchs. Ein Manifest für Cyborgs gilt in Sachen Theorienbildung als Meilenstein des posthumanistischen Feminismus.3 Ehe wir einen näheren Blick auf das Werk werfen, erst einmal zur Person: Wer ist eigentlich Donna Haraway?

Regalfach: Das Manifest im Zusammenhang

Historischer Kontext

Fragt man Donna Haraway selbst nach ihrem historischen Kontext, verortet sie sich, pragmatisch und präzise, »in einem weißen, weiblichen, radikalen, nordamerikanischen Körper der berufstätigen Mittelschicht mittleren Alters« (S. 41).

Ich bin mir der merkwürdigen Perspektive, die sich aus meiner historischen Situation ergibt, bewußt. Die Promotion in Biologie eines irisch-katholischen Mädchens wurde durch die Auswirkungen des Sputnikschocks auf das US-amerikanische Bildungssystem ermöglicht. | S. 60

Ein Mädchen für Amerika

Der Sputnikschock, darunter fasst man die Reaktionen der überrumpelten USA und Westeuropa auf den Start von Sputnik 1. Unter diesem Namen schoss die Sowjetunion den ersten künstlichen Erdsatelliten ins All – am 4. Oktober 1957. In Folge dessen wurde ein Bewusstsein dafür wach, verborgenes Potential in der Bevölkerung besser anzuzapfen. Selbst dann, wenn es gerade nicht in weißen, männlichen Köpfen schlummerte. Da war Donna, jenes irisch-katholische Mädchen, 13 Jahre alt und entwickelte gerade ihre »verkorkste Denkweise« (»screwed up mind«). So beschreibt sie es in diesem Video sehr schön, samt Einblick in ihre – wie gehabt: pragmatische – Arbeitsweise.

Hinweis: Bei diesem Video handelt es sich um einen Ausschnitt aus der Dokumentation Donna Haraway: Story Telling for Earthly Survival (2016) von Fabrizio Terranova. Der Film läuft am 30. September 2018 auf dem LUSTSTREIFEN queer film festival in Basel (Schweiz) und am 6. November 2018 in der University of Fine Arts in Linz (Österreich). 

Mein Körper und Geist sind gleichermaßen ein Produkt des Wettrüstens nach dem Zweiten Weltkrieg, des Kalten Kriegs und der Frauenbewegung. Ich halte es allerdings für aussichtsreicher, die widersprüchlichen Effekte einer Politik zu bedenken, die zwar dazu bestimmt war, loyale, amerikanische TechnokratInnen hervorzubringen, dabei aber gleichzeitig eine große Zahl von DissidentInnen in die Welt gesetzt hat, als sich in der Betrachtung gegenwärtiger Niederlagen zu verlieren. | S. 61

Ein Manifest für Sozialist*innen

Mit dem Schreiben von Ein Manifest für Cyborgs begann Donna Haraway im Jahr 1983. Es war eine Reaktion auf einen Aufruf des Kulturmagazins Socialist Review an amerikanische Feminist*innen. Diese sollten über die Zukunft des sozialistischen Feminismus nachsinnen – im Kontext der frühen Reagan-Ära und dem Rückgang linksgerichteter Politiker*innen. Doch dem Socialist Review war das Essay von Donna Haraway – das in seiner ursprünglichen Fassung einen stärkeren sozialistischen Einschlag hatte – zunächst zu kontrovers.

Veröffentlicht wurde Ein Manifest für Cyborgs letztendlich erst im Jahr 1985. Dem Todesjahr von Orson Welles, dem Veröffentlichungsjahr von Claude Lanzmanns Shoah und dem Oscar-Jahr von Amadeus. Ach, und apropos Filme: 1985 kam auch Zurück in die Zukunft in die Kinos. Einfach mal im Hinterkopf behalten, wenn es gleich um die weitsichtigen Zukunftsgedanken von Donna Haraway geht.

Persönlicher Kontext

Für meine mündliche Prüfung in Philosophie (Modul P3) – im Rahmen meines Studiums der Kulturwissenschaften an der Fernuniversität in Hagen – durfte ich aus einer Liste diverser Fachliteratur mit thematischem Bezug zum Modul insgesamt 3 Bücher auswählen. Diese 3 Bücher sollten für die Prüfung soweit aufbereitet werden, dass man zu den Inhalten Rede und Antwort stehen kann, im Rahmen eines »philosophischen Gesprächs« (ähnlich wie die philosophischen Gespräche aus Die wilden Siebziger, wann immer bei den Teens der Joint rumgeht – nur halt ohne Gras und nicht im Keller).

Ich habe, neben Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) und Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (1990) also das Buch Die Neuerfindung der Natur (1995) von Donna Haraway ausgewählt. Darin enthalten ist eben dieses Essay, Ein Manisfest für Cyborgs. Bei der Auswahl hatte ich natürlich keine Ahnung, was ich eigentlich tat. Es war eine klassische Ene-mene-Entscheidung, wie sie sich bei wichtigen Lebensfragen bewährt hat. Und siehe da: So kommt es, dass ich Donna Haraway kennengelernt habe! Was für ein tolle Storytellerin!

Unsere besten Maschinen sind aus Sonnenschein gemacht.

Donna Haraway über Solar-Energie

Leselupe: Das Manifest im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Essays

Donna Haraways Ein Manifest für Cyborgs (1985) war der erste viel-rezipierte akademische Text, der die philosophischen und soziologischen Auswirkungen von Cyborgs erkundete. Eine Interessengruppe innerhalb der American Anthropological Association (AAA) präsentierte auf deren Jahrestreffen 1992 ein Dokument mit dem Titel Cyborg Anthropology, das auf Haraways Manifest Bezug nahm. Diese Gruppe begründete die »Cyborg Anthropologie« unter anderem als die Untersuchung der Definitionen von »Menschlichkeit« in Relation zu Maschinen.

Enzyklopädie und mehr: Über diesen Link geht es zum englischen Wikipedia-Beitrag über Cyborg Anthropology, aus dem einige der hier zusammengefassten Informationen bezogen sind. Mehr über philosophische Anthropologie und die Frage »Was ist der Mensch?« gibt es in diesem Blogbeitrag.

Cyborg-Anthropologie in Zeiten des Posthumanismus

Die grundlegendste Definition von Anthropologie an sich ist die »Lehre vom Menschen«. Cyborgs sind jedoch, per definitionem, etwas nicht komplett organisch Menschliches. Insofern könnte eine »Lehre vom Menschen«, die sich auf den organischen Menschen allein beschränkt, ins Rudern geraten, je mehr die Technologie den Menschen erlaubt, über die »normalen Bedingungen des Lebens« hinaus zu transzendieren. Die Aussicht auf wer-weiß-wie-geartete posthumane Zustände stellt die Natur und Notwendigkeit eines Feldes wie Anthropologie mit einem versteiften Fokus auf Menschen in Frage.

Wo fängt Posthumanismus an? Die Techno-Soziologin Zeynep Tufekci argumentiert, dass jegliche symbolische Ausdrucksweisen unsererseits, selbst älteste Höhlenmalereien, als »posthuman« betrachtet werden können, weil sie »außerhalb« unserer Körper existieren. Dies bedeutet, dass Anthropologie immer auch Posthumanismus war, sofern sie über die menschliche Physis hinausreichte. 

Neil L. Whitehead und Michael Wesch weisen darauf hin, dass die Sorge, der Posthumanismus könne den Menschen aus dem Fokus der Anthropologie rücken, vernachlässigt, dass in der Geschichte der anthropologischen Disziplin, nicht-Menschliches (wie Geister, an welche die Menschen glauben) immer eine Rolle spielte.4 (siehe: das Buch Humans No More?)

Ähnlich sieht es Joshua Wells, der etwa betont, dass technologisch kommunizierte Werte die conditio humana immer begleitet haben. Siehe:  Keep Calm and Remain Human: How We Have Always Been Cyborgs and Theories on the Technological Present of Anthropology.

2 Blickwinkel auf das Cyborg-Universum

In der Ausgangslage kann man dem Aufstieg der Cyborgs nun eher pessimistisch oder zuversichtlich entgegensehen – so heißt es in Ein Manifest für Cyborgs.

Blickwinkel 1: Das Cyborg-Universum könnte dem Planeten ein endgültiges Koordinatensystem der Kontrolle aufzwingen, verkörpert in der Apokalypse eines im Namen der Verteidigung geführten Kriegs der Sterne – die restlose Aneignung der Körper der Frauen in einer männlichen Orgie des Kriegs.

Blickwinkel 2: Das Cyborg-Universum könnte eine gelebte soziale und körperliche Wirklichkeit bedeuten, in der niemand mehr seine Verbundenheit und Nähe zu seiner evolutionären Herkunft zu fürchten braucht und vor dauerhaft partiellen Identitäten und widersprüchlichen Positionen zurückschrecken muß.

Beide Blickwinkel gilt es einzunehmen, um die politischen Debatten und Kämpfe zu antizipieren, die uns bevorstehen. Denn beide Blickwinkel machen »sowohl Herrschaftsverhältnisse als auch Möglichkeiten sichtbar, die aus der jeweils anderen Perspektive unvorstellbar sind. Einäugigkeit führt zu schlimmeren Täuschungen als Doppelsichtigkeit oder medusenhäuptige Monstren« (S. 40).

Donna Haraways Ein Manifest für Cyborgs will zweierlei sein:

  • ein Plädoyer dafür, die Verwischung der Grenzen zwischen Organismus und Maschine zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen
  • ein Versuch, zu einer sozialistisch-feministischen Kultur und Theorie in postmoderner, nicht-naturalistischer Weise beizutragen
Dualismen in der westlichen Welt

Haraway hebt den problematischen Status westlicher Traditionen wie etwa Patriarchalismus, Kolonialismus, Essentialismus und Szientismus hervor (»und anderen -ismen, denen wir keine Träne nachweinen«, S. 42). Solcherlei Traditionen seien unter anderem verantwortlich für das, was Haraway als »antagonistische Dualismen« bezeichnet, die den westlichen Diskurs steuern.

Diese Dualismen, stellt Haraway klar, »haben sich in der westlichen Tradition hartnäckig durchgehalten, sie waren systematischer Bestandteil der Logiken und Praktiken der Herrschaft über Frauen, farbige Menschen, Natur, Arbeiterinnen, Tiere – kurz, der Herrschaft über all jene, die als Andere konstituiert werden und deren Funktion es ist, Spiegel des Selbst zu sein.« (S. 67) Die aufkommende High-Tech-Kultur könnte derartige Dualismen nun in ihren Grundfesten erschüttern. Dualismen wie:

  • Das Selbst und das Andere
  • Geist und Körper
  • Kultur und Natur
  • Mann und Frau
  • zivilisiert und primitiv
  • aktiv und passiv
  • richtig und falsch
  • Gott und Mensch

Ich möchte zeigen, daß wir, in dem gerade im Entstehen begriffenen System einer Weltordnung – die hinsichtlich ihrer Neuheit und Reichweite dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus analog ist – darauf angewiesen sind, unsere Politik an den fundamentalen Veränderungen von Klasse, Rasse und Gender zu orientieren.  Wir leben im Übergang von einer organischen Industriegesellschaft in ein polymorphes Informationssystem […] | S. 48

Paradigmatische Verschiebungen

In einem Abschnitt führt Donna Haraway tabellarisch auf, wie sich die Gegenstände unserer Welt im Zuge dieses Übergang verschieben – hin zu einem neuen Weltbild. Dabei sind (für mich) viele Punkte nicht auf Anhieb einleuchtend und bedürfen einiges Grübelns. Man bedenke immer: Ein Manifest für Cyborgs stammt aus den 1980er Jahren. Hier eine Auswahl der paradigmatischen Verschiebungen vom War-/Ist-Zustand zum Wird-/Ist-Zustand:

RepräsentationSimulation
Bürgerlicher Roman, RealismusScience Fiction, Postmoderne
OrganismusBiotische Komponente
PerfektionierungOptimierung
EugenikGeburtenkontrolle
Dekadenz, Der ZauberbergObsoleszenz, Der Zukunftsschock
Familie / Markt / FabrikFrauen im integrierten Schaltkreis
FreudLacan
Sexualität / FortpflanzungGentechnologie
LohnarbeitRobotik
GeistKünstliche Intelligenz
Weißes kapitalistisches PatriarchatInformatik der Herrschaft

[Tabelle von S. 48-49]

Sexuelle Fortpflanzung ist nur eine Reproduktionsstrategie unter vielen, deren Kosten und Nutzen eine Funktion der Systemumwelt sind. | S. 49

Donna Haraway weist darauf hin, dass »gerade Playboyleser aus dem mittleren Management und radikalfeministische Pornographiegegnerinnen« ein eigenartiges Gespann (»strange bedfellows«) darin bilden werden, dass sie eine natürliche oder notwendige Verknüpfung von Sex und Fortpflanzung als irrational betrachten.

Vom Feind im eigenen Bett

An der »Super-Inklusivität« einer Autorin, die derartige »Bettpartner*innen« in einer amüsanten Randnotiz mit ins Boot holt, kann man sich stoßen. Das zeigt etwa die amerikanische Englisch-Professorin Christina Crosby.

Ich sehe die Logik – und die Ironie – von dieser Allianz, aber ich will eine Politik der Exklusion ebenso, wie eine der Inklusion. Eine Politik, die mich befähigt zu sagen, dass die Porno-Industrie im Allgemeinen, so wie sie aktuell besteht, und Playboy im Speziellen (wer auch immer die Leser sind) die (wie soll ich es sagen?) Feinde sind. Das ist schrecklich harsch, in diesem Fall, ich weiß, aber das Prinzip ist wichtig. Wir brauchen ein Prinzip der Exklusion, das keine nostalgische Rückkehr zu den Klarheiten vergangener Dualitäten ist – die im Übrigen immer komplizierter waren, als es scheint.

Christina Crosby, in: Coming to Term (RLE Feminist Theory): Feminism, Theory, Politics (1989), S. 208

In etwa so kompliziert, wie die Dualität von guten Absichten und schlechten Gewohnheiten. Oder um es mit Macklemore zu sagen:

I wanna be a feminist, but I’m still watchin‘ porno.

Macklemore, in: Intentions (2017)
»Wer auch immer die Leser sind« – da hätten wir diese beiden, zum Beispiel. Zeebo (Damon Wayans) und Wiploc (Jim Carrey) in dem Film Zebo, der Dritte aus der Sternenmitte (1989). Ähnlich unbekannt unter dem aus feministischer Sicht wohl eher bedenklichen Original-Titel Earth Girls Are Easy.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Essays

Haraways Theorie über Cyborgs weist die Vorstellung des Essentialismus zurück, dass bestimmte Wesenheiten notwendige Eigenschaften besitzen müssten. (Auch der Evolutionsbiologe Richard Dawkins schickt den Essentialismus in Rente, nur so am Rande.) Eine Welt voller Verschmelzungen von Tier/Mensch und Maschine ist es, für die Haraway ihre Leser*innenschaft letztlich begeistern will. In der konkreten, facettenreichen Ausgestaltung dieser Welt stecke ungeahntes Potential, altes Unrecht zu begleichen. Oder gar, wie sie schreibt: zu vergelten.

Das Gender der Cyborgs ist eine lokale Möglichkeit, die global Vergeltung üben wird. Rasse, Gender und Kapital bedürfen einer Cyborg-Theorie von Ganzheiten und Teilen. Cyborgs verspüren keinen Drang, eine umfassende Theorie zu produzieren, stattdessen verfügen sie über eine ausgeprägte Erfahrung der Begrenzung, ihrer Konstruktion und Dekonstruktion. Es gibt ein Mythensystem, das darauf wartet, eine politische Sprache zu werden, die eine andere Sichtweise auf Wissenschaft und Technologie begründet und die Informatik der Herrschaft zum Kampf herausfordert. | S. 70

Die Informatik der Herrschaft, siehe Haraways Tabelle, ist das, was nach der Verschiebung aus jenem weißen, kapitalistischen Patriarchat hervorgeht, das die Welt in starren Dualismen gefangen hält. 33 Jahre nach Haraways Essay ist der Sohn eines weißen Millionärs an der Spitze der größten Macht auf Erden – geradezu ein Sinnbild für das weiße, kapitalistische Patriarchat. Eigentlich.

Die Informatik der Herrschaft

Aber eigentlich auch nicht: Donald Trump in seiner strahlenden Inkompetenz als Präsident und als Komplettpaket der schlechtesten Eigenschaften des Menschen ist vielmehr ein Sinnbild dafür, dass der geisteskranke Raubaffe Homo sapiens ausgedient haben sollte. Zumindest als Machthaber über Millionen seiner Artgenossen. In Zeiten der Digitalisierung wird der künstlichen Intelligenz, die unser Weltwissen verknüpft und verfügbar macht, immer gerne vorgeworfen, dass  menschliche Gehirne trotzdem zu Höherem befähigt seien. Derweil twittert das Trumpeltier.

Mit diesem Tweet hat sich der amerikanische Präsident am 11. September vor wenigen Tagen an die Amerikaner*innen gewandt. Man muss dem notorischen Lügner natürlich allein dafür gratulieren, dass er sich an die Fakten hält. Aber es ist schon bemerkenswert, dass dieses Statement – statt von einem theoretisch der emotionalen Intelligenz fähigen Artgenossen – genauso gut von Siri hätte kommen können. Doch die Skepsis darüber, ob man Menschen über ihre natürliche Befähigung hinaus optimieren sollte, hält sich wacker. So las man im Dezember 2017 in DIE ZEIT, übrigens unter dem Titel Die Informatik der Herrschaft.

Heute wird der Mensch als Baukasten imaginiert, dessen Gesundheitscode man updaten und mit hochleistungsfähigen Nanobots und Computern zum Cyborg aufrüsten könne.

Adrian Lobe, in: Die Informatik der Herrschaft (DIE ZEIT), 29.12.2017

Dann wird Donna Haraway zitiert. Zwei Auszüge aus Ein Manifest für Cyborgs, insofern aus dem Kontext gerissen, als Haraways optimistische Sicht auf die Dinge dabei auf der Strecke bleibt. Der Artikel warnt vor »technodarwinistischen Herrschaftsansprüchen« und dass »der datengenerierende Körper […] im Internet der Dinge selbst zum Medium« wird. Eben Letzteres betrachtet Donna Haraway als ultimative Chance. Erst recht für die marginalisierten Minderheiten, wie sie ihrerzeit etwa die »Women of color« repräsentiert wurden. Als Cyborg-Identität, so Haraway, könnten diese »Women of color« als »machtvolle Verschmelzung aus marginalisierten Identitäten hervorgegangene Subjektivitität aufgefaßt werden«.

Moderne Mythologie

Und dann zieht Haraway die Science-Fiction-Literatur der »Women of color« heran. Sie stellt sie in Tradition mit Schriften der griechischen Mythologie wie Hesiods Theogonie.

Monster haben von jeher die Grenzen eines gemeinsamen sozialen Lebens in den Vorstellungen des Westens bestimmt. Die Zentauren und Amazonen des klassischen Griechenlands errichteten die Grenzen der auf ein Zentrum ausgerichteten Polis [Begriff für antike Stadtstaaten wie Athen] des griechischen Mannes, indem sie mit der Institution Ehe brachen und die Reinheit des Kriegers durch das Tier und die Frau befleckten. | S. 70

Spektakuläre Monstergeschichten und bildgewaltige Mythen haben sich, soweit wir es zurückverfolgen können, immer auch auf die gelebte Gegenwart ausgewirkt, in denen sie erzählt wurden. Der über Jahrhunderte tradierte Frauenhass wird begleitet von einer bruchlosen Kette literarischer Werke, die Misogynie manifestierten, rechtfertigen, weitertrugen. Geschichten sind ein starkes Machwerk des menschlichen Geistes. Sprache ist das Werkzeug, um solche Machwerke aufzubauen – und einzureißen.

Warum sollten nicht, statt griechischer Mythen über die »schadenbringende Frau« oder Hollywoodfilme über heldenhafte Männer, die Science-Fiction-Geschichten über eine weit vielgestaltigere Welt als die von »Frauen« und »Männern« einen ähnlich starken Einfluss auf die Wirklichkeit haben?

Die feministische Science Fiction ist bevölkert von Cyborgs, die den Status
von Mann oder Frau, Mensch, Artefakt, Rassenzugehörigkeit, individueller Identität oder Körper sehr fragwürdig erscheinen lassen. […] Die Cyborg-Monster der feministischen Science Fiction definieren politische Möglichkeiten und Grenzen, die sich stark von den profanen Fiktionen „Mann“ und »Frau« unterscheiden. | S. 68, 71

Feministische Science Fiction

Hier eine kleine Liste feministischer Science-Fiction-Literatur zur Bestärkung der Thesen aus Ein Manifest für Cyborgs – auf Empfehlung von Donna Haraway.

  • Octavia Butler: Mind of my Mind / Der Seelenplan (1977), Survivor / Alanna (1978), Kindred / Vom gleichen Blut (1979), Wild Seed / Wilde Saat (1980); 
  • Suzy McKee Charnaz: Motherliness / Aldera und die Amazonen (1978)
  • Samuel Delany: Tales of Nevèrÿon / Das Land Nimmerya (1979)
  • Anne McCaffrey: The Shop Who Sang (1969); Dinosaur Planet (1978, 1984)
  • Vonda McIntyre: Dreamsnake (1978), Superluminal (1983) | Haraway kommentiert: »Vonda McIntyres Superluminal [ist] besonders reich an Grenzüberschreitungen.«
  • Joanna Russ: The Female Man / Planet der Frauen (1975); Adventures of Alyx / Die Abenteuer von Alyx (1976) 
  • James Tiptree, Jr.: Star Songs of an Old Primate / Sternenlieder eines alten Primaten (1978); Up the Walls of the World (1978) | Haraway kommentiert: »Das Werk von James Tiptree Jr. galt als besonders männlich, bis das wahre Gender der Autorin bekannt wurde [hinter dem Pseudonym verbirgt sich Alice Bradley Sheldon]. Sie erzählt Geschichten über die Reproduktionsweisen von Nicht-Säugern, die auf Technologien wie Generationswechsel, Bruttaschen der Männchen und Brutpflege durch die Männchen beruhen.«
  • John Varley: Titan, Wizard, Demon (Gaea Trilogy, 1979-1984) | Haraway kommentiert: »John Varley konstruiert in seiner hyperfeministischen Auslegung des Gaia-Mythos eine überragende Cyborg. Gaia ist verrückte Göttin, Planet, Trickster, alte Frau und Großtechnologie zugleich, auf deren Oberfläche sich eine außergewöhnliche Ansammlung von Post-Cyborg-Symbiosen ausbreitet.« [Gaia ist auch in der griechischen Mythologie, wie sie Hesiod niederschrieb, als die »personifizierte Erde« eine der ersten Gottheiten]
Gegen die Neue Rechte

Die Metaphorik der Cyborgs kann uns einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weisen, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben. Dies ist kein Traum einer gemeinsamen Sprache, sondern einer mächtigen, ungläubigen Vielzüngigkeit. Es ist eine mögliche Imagination einer Feministin, die in Zungen redet und dabei scharfzüngig genug ist, den Schaltkreisen der Super-Retter der Neuen Rechten Angst einzuflößen. | S. 72

Die »Super-Retter der Neuen Rechten« waren Mitte der 1980er Jahre – gemäß der damaligen Möglichkeiten, sich mitzuteilen – so lautstark, wie sie es heute sind. Ich finde die Idee, den engstirnigen Vertreter*innen dieser Neuen Rechten ein buntes Universum an Wesenheiten entgegenzuwerfen, ziemlich großartig. Ein fantastischer Widerstand!

Donna Haraways Kritik am Feminismus

Haraway stößt sich an einigen traditionellen Feministinnen. Deren Sichtweisen operierten unter der verallgemeinernden Annahme, dass alle »Männer« auf eine Weise seien, und alle »Frauen« auf eine andere. Eine »Cyborg-Theorie von Ganzheiten und Teilen« strebe hingegen nicht danach, Dinge in einer totalen Theorie zu erklären. Haraway deutet an, dass Feministinnen über Naturalismus und Essentialismus hinausdenken sollten.

Sie kritisiert feministische Taktiken als »Identitätspolitik«, die alle Ausgeschlossenen opfert. Besser wäre es, so Haraway, Identitäten strategisch durcheinanderzubringen – und kommt damit zu demselben Schluß, den auch Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter (1990) vorschlägt, um an Gender-Stereotypen zu rütteln. 

Haraways Kritik richtet sich hauptsächlich gegen sozialistischen und radikalen Feminismus. Der sozialistischer Feminismus führe nicht zurück zu einem natürlicheren Zustand, sondern bilde eine zuvor nicht existierende Einheit, namentlich die der »Arbeiterinnen«. Der radikale Feminismus einer Catherine MacKinnon beschreibe Frauen als sozial konstruiert innerhalb der patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen – »Frauen« existierten nur, weil Männer sie existierend gemacht haben. Die Frau als »Selbst« existiere nicht. 

Da ich bereits gegen sozialistische/marxistische Standpunkte eingewendet habe, daß sie die in antikolonialen Diskursen und Praktiken sichtbar gewordene, vielstimmige, unassimilierbare, radikale Differenz ungewollt tilgen, ist MacKinnons absichtliche Tilgung jeglicher Differenz mit dem Mittel der »essentiellen« Nicht-Existenz von Frauen nicht gerade sehr beruhigend. | S. 47

Fazit zu Ein Manifest für Cyborgs

Am Ende von Ein Manifest für Cyborgs formuliert Donna Haraway zwei zentrale Thesen, in denen sie erstens dafür plädiert, dass keine universale, totalisierende Theorie der Realität in all ihrer Vielfalt gerecht werden könne. Zweitens gelte es, eine »antiwissenschaftliche Metaphysik« ebenso zurückweisen, wie eine »Dämonisierung der Technik«, um Verantwortung zu übernehmen – für die sozialen Beziehungen in einer von Wissenschaft und Technologie geprägten Gesellschaft. Die bevorstehenden Aufgaben erforderten viele Kenntnisse, aber müssten in Angriff genommen werden.

Haraways Ein Manifest für Cyborgs suggeriert – mit einem breiten Themenspektrum und fabelhafter Sprache – dass Technologien wie virtuelle Avatare, künstliche Befruchtung, geschlechtsangleichende Operationen und künstliche Intelligenz solch Dichotomien wie »Sex und Gender« irrelevant machen und die Grenzen zwischen Tier, Mensch und Maschine verwischen könnten. Einerseits eine schaurige, weil »unwirklich« anmutende Vorstellung – andererseits eine zu begrüßende Abwechslung.

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ANOUK UND HERR BÄR von Mascha Wolfram | Kinderbuch 2017 http://www.blogvombleiben.de/buch-anouk-und-herr-baer-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-anouk-und-herr-baer-2017/#comments Sun, 09 Sep 2018 07:00:59 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5100 Vorurteile sind klebrig. Haben sich einmal einige angesammelt, wird es anstrengend, sie wieder wegzubekommen. Umso wichtiger,…

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Vorurteile sind klebrig. Haben sich einmal einige angesammelt, wird es anstrengend, sie wieder wegzubekommen. Umso wichtiger, schon früh ein Gefühl für das Wesentliche zu entwickeln und manch Vorurteilen ihre Anziehung zu stehlen. Mit Anouk und Herr Bär lernen die Kleinen, dass nicht alles so düster ist, wie es zunächst scheint.  

Mascha und der Bär

Zum Inhalt: Die kleine Anouk geht mit ihren beiden großen Schwestern Pilze sammeln. Als sie sich auf einmal schwesterseelenallein im Wald wiederfindet, trifft sie auf den großen Bären, der von allen gefürchtet wird. Auch Anouk bekommt Angst, spürt aber schnell, dass der Bär anders ist, als alle glauben.

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Anouk und Herr Bär

Zur Wirkung des Buchs

Die Urangst als Leseköder

Anouk kann ihre Schwestern im Wald nicht finden und ist somit allem ausgeliefert, was im Wald ein- und ausgeht. Unter dieser Prämisse kreiert die Kinderbuch-Autorin Mascha Wolfram ein Szenario, welches an die Urangst des Verlassen-Werdens andockt und jedem Menschen – ob groß oder klein – ein vertrauter Begleiter ist. Damit bietet das Kinderbuch Anouk und Herr Bär eine gewisse Nähe zur kindlichen Lebenswelt und unterstützt die (Vor-)Lesemotivation.

Ein Motiv für gespitzte Kinderohren

Bei der Erinnerung, wie sich mein Vater einst einen Spaß daraus machte, sich während eines Waldspaziergangs heimlich zu verstecken, überkommt mich immer noch ein flaues Gefühl. Als mein Bruder und ich uns vom unbekümmerten Spiel umsahen – und niemanden erblicken konnten – rieb sich die Panik die Hände und kroch unter unsere Haut. Zwar kannten wir nicht die Geschichte des Herrn Bären, aber doch die von Hänsel und Gretel. Und abgesehen von den Süßigkeiten war die Geschichte bitterböse. Unser Vater hat seinen Streich schnell aufgelöst, uns aber seitdem wachsamer durchs Laub streunen lassen. Das literarische Motiv des Alleinsein im Wald eignet sich demnach bestens, damit Kinder mit gespitzten Ohren der Erzählung lauschen.

Kindgerechtes Storytelling

Einen großen Buckel soll er gehabt haben und Krallen so scharf wie Messerklingen. In sein gewaltiges Maul soll er sich zum Frühstück kleine Kinder mit Salz und Pfeffer gestopft haben.

Mascha Wolfram, in: Anouk und Herr Bär

Keine Angst, Ihr Kind hält das aus. Denn, was uns gegenwärtige Kindermedien mit niedlichen Figuren und Wohlfühl-Glitzer schonmal vergessen lassen, ist der oftmals brutale Kern zugrunde liegender Märchen. Der wird für heutige Zeiten von Medienproduzent*innen und Eltern großzügig übersprungen, von manchen für Erziehungszwecke aber auch gesucht. So verkauft sich der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann noch heute und gilt »als das am längsten kontinuierlich verlegte deutsche Kinderbuch« (Walter Sauer).

Im Gegensatz zu dieser schwarzen Pädagogik erwartet Kinder- und Jugendbuchautorin Sylvia Englert für die jüngsten Leser*innen auf jeden Fall ein Happy End (nachzulesen in ihrem Handbuch für Kinder- und Jugendbuchautoren) . Schließlich reagieren Kindergarten- und Vorschulkinder auf Konflikte und zu steilen Spannungsbögen empfindlich, insbesondere vor dem Schlafengehen. Doch, um die Zeilen, die ich aus einer provokanten Laune heraus als Lesepröbchen oben platziert habe, nochmals zu entschärfen: Das Bilderbuch Anouk und Herr Bär versorgt Kinder mit der richtigen Dosis an spannenden Elementen, die auch für Kleine gut bekömmlich sind.

Buchtipp: Statt ein Bär im Wald lieber eine Katze in Paris? Hier geht es zur Buchkritik von Angelika Glitz’s Mit einer Katze nach Paris (2017).

Kinderfiguren mit Charakter

Das erste, was mir bei Anouk und Herr Bär auffiel, ist die Parallele zu meiner aktuellen Lieblings-KiKA Serie: der russische YouTube-Hit Mascha und der Bär. Es handelt von einer Geschichte über die Freundschaft zwischen einem häuslichen Bären und einem kleinen, mutigen Mädchen namens Mascha. Nicht ganz so naiv und nervtötend wie Mascha ist die kleine Anouk aus dem Kinderbuch.

Durch die wenige wörtliche Rede wirkt Anouk eher zurückhaltend als zappelig. Zudem zeigt sie ein intuitives Gespür, als sie sich ihrer misslichen Lage im Angesicht des Bären bewusst wird und erst einmal in Tränen ausbricht. Das kindliche Ass im Ärmel, um vom Monster-Bären womöglich Mitleid zu erhaschen. Zum Glück ist das gar nicht nötig, wie sich schnell herausstellt – und Kinder aufatmen lässt. Durch den Kontrast zwischen der physischen Kraft des Bären und dessen piepsiger Stimme sickert in die vermeintlich bedrohliche Situation ein guter Tropfen Humor. Dieser verdunstet allerdings in dem Moment, als Anouk sieht, dass der Bär im Grunde einsam und traurig ist.

Indem Anouk dem Herrn Bär selbstverständlich vorschlägt, zu ihr zu ziehen, greift die Autorin in Anouk und Herr Bär die unbefangene Kinderperspektive auf. Logisch, dass man diese Gastfreundschaft einem neuen Freund anbietet. Auf diese Weise wäre der Einsamkeit des Bären ein Ende gesetzt und Anouk hätte einen neuen Spielpartner. So ähnlich einfach und positiv endet auch das Kinderbuch für Anouk und ihren felligen Freund. Ob der am Ende tatsächlich bei Anouk einzieht, überlässt die Kinderbuch-Autorin jedoch der kindlichen Fantasie…

Kein Wiedersehen

Zum Ende: Ein wenig schade an der Story ist, dass das Wiedersehen mit Anouks Schwestern nicht thematisiert wird und stattdessen die unbekannten Bewohner*innen des Dorfes auftreten. Durch den Begriff der »Bewohner« baut sich sprachlich eine Distanz zu den Figuren und dem Geschehen auf, so dass die innere Anteilnahme der kleinen Leser*innen nur oberflächlich erfolgt. An dieser Stelle besteht Potenzial, dem Kind die Freude über das gemeinsame Wiedersehen zwischen den Geschwistern emotional miterleben zu lassen. Somit wäre Anouk wie auch den Leser*innen geholfen, diese unangenehme Angst des Verlassen-Werdens abzuhaken und sich aufs neue Zusammensein zu freuen.

Zur Visualität: Mascha Wolfram, Grafikdesignerin und Master-Studentin der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim, verfolgt in ihrem Bilderbuch-Debüt einen minimalistischen und aufs Wesentliche fokussierten Zeichenstil. Die gradlinigen und kurvigen Formen erinnern mich an die Pariser Illustratorin und Animatorin Agathe Sorlet.

Jedenfalls enthält dieses sympathische Grafikdesign in Anouk und Herr Bär eine ideale Informationsdichte, an der auch kleine Kinder ab 3 Jahren Vergnügen haben. Ohne zu lang nach dem eigentlichen Handlungsstrang suchen zu müssen, kann sich das kindliche Auge entspannt auf die klar gezeichneten Figuren, deren eindeutige Mimik und die elterliche Stimme richten. Die kühle Farbgebung erzeugt eine winterliche Atmosphäre, die umso mehr zum Einkuscheln einlädt.

Fazit zu Anouk und Herr Bär

Wer Mascha und der Bär mag, wird auch Anouk und Herr Bär mögen. Etwas weniger actionreich, emotional und in langsameren Tempo erzählt das Bilderbuch in punktgenauen Illustrationen und einfacher Sprache eine märchenhafte und melancholisch angehauchte Geschichte über den Mut, Vorurteile abzubauen und die Chance, die daraus entsteht. Mascha Wolfram hat ein Kinderbuch geschaffen, das ermutigt, sich sein eigenes Bild über andere zu machen. Ich vergebe 8 Sterne. 

Titel
Anouk und Herr Bär
Erscheinungsjahr2017
Autorin, IllustratorinMascha Wolfram
Verlag
Edition Pastorplatz
Umfang
52 Seiten
Altersempfehlung
ab 3 Jahren
Thema
Mut, Vorurteile

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KLEINER DRECKSPATZ AURELIA über Hygiene | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-kleiner-dreckspatz-aurelia-2017/#respond Sun, 26 Aug 2018 07:00:11 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5150 Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und…

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Wie sagt man einem Kind, dass es stinkt? Auf jeden Fall nicht so. Eine Freundin und Grundschullehrerin von mir stand einmal vor dieser heiklen Aufgabe… Hier sind Fingerspitzengefühl, aber auch Deutlichkeit gefragt. Wie der Zufall es wollte, bin ich einen Tag später auf das Kinderbuch Kleiner Dreckspatz Aurelia gestoßen. Ein Buch, das ich Dreckspatz-Hütern wärmstens empfehlen kann.

Kinderbuch-Bloggerin Sonia Lensing mit dem Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia

Lieber Schlamm als Schwamm

Zum Inhalt: Die kleine Aurelia findet Baden und Duschen doof. Viel lieber spielt sie draußen im Schlamm und Dreck, so wie das Abenteurer machen. Doch bei so viel Schmutz am Leib muss sich selbst Aurelias Papa die Nase zu halten. Seine Kleine muss sich mal waschen. Denn sogar Dreckspatzen machen sich sauber. Was erzählt Papa da? Aurelia wird neugierig. Wie wäscht sich denn ein Spatz, eine Katze, ein Bär oder ein Eichelhäher? Ihr Papa kennt sie alle, die speziellen Putzrituale der Tiere. Das muss sie dringend alles selbst ausprobieren… allerdings, bei all der Putzwut im Dreck flüchtet selbst Aurelia zu einem besonderen Ort.

Dorothea Flechsig – Kinderbuchautorin, Geschichtenschreiberin für KiKAninchen und Prinzessin Lillifee und auch noch Verlegerin des Glückschuh Verlags (ich bin beeindruckt!) – gelingt mit Kleiner Dreckspatz Aurelia ein rund um kindgerechtes Lesevergnügen. Das liegt zum einen sicher am Alltagsthema. Mit dem Schwerpunkt Hygiene nähert sich die Autorin der Lebenswelt der Kleinen und der Erziehungsberechtigten an.

Zur Wirkung des Buchs

Vor allem bei den Jüngsten löst das regelmäßige Putzen eher wenig Euphorie aus. Umso höher ist das Identifikationspotenzial für die kleinen Leser mit der quirligen Hauptfigur Aurelia. Denn dass sich das Mädchen viel lieber in der Natur suhlt, als mit dem Schwamm geschrubbt zu werden, können kleine Dreckspatzen gut nachvollziehen. Diese Vertrautheit zum Geschehen und zur Kinderfigur ist für die jungen Leser von besonderer Bedeutung. Zumal Kinder bis zum 7. Lebensjahr noch nicht in der Lage sind, andere Perspektiven einzunehmen und hier dementsprechend Unterstützung brauchen (sagt Piaget). Diese Unterstützung liefert Dorothea Flechsig, indem sie die Kleinen in Kleiner Dreckspatz Aurelia mit nur reduziertem Text konfrontiert und kindgemäße Bilder von Suse Bauer einsetzt, die für sich alleine stehen und auch leseschwache Kinder abholen.

Ein weiterer Kniff von Dorothea Flechsig für ein kindgemäßes Storytelling ist das Wieder-Aufgreifen von Elementen, wie der Tierreihenfolge. So tauchen die Tiere, von denen Aurelias Papa in Kleiner Dreckspatz Aurelia erzählt, in der gleichen Reihenfolge bei Aurelias animalischer Waschaktion auf. Der rote Faden hilft den Kindern, das Mini-Universum von Aurelia abzustecken und zu einem harmonischen Abschluss zu kommen.

Zur Visualität des Buchs

Huch, das Buch ist ja dreckig! So mein erster Gedanke, als ich das Hardcover zu Kleiner Dreckspatz Aurelia in den Händen halte. Dann ein näherer Blick. Ah! Wenn der Titel mit dem Coverbild inhaltlich verschmilzt, hat die Illustratorin etwas richtig gemacht. Ich bin jedenfalls auf die Schmutzflecken reingefallen. Und das obwohl Suse Bauer in diesem Werk eher minimalistisch als realistisch zeichnet.

Dieser grobe Zeichenstil entspricht dem empfohlenen Lesealter von 3 Jahren. So besinnen sich die Bilder im Grundschulstil auf das Wesentliche. Ohne mit zu vielen Details zu überfordern, sondern mit einigen zu überraschen, bleibt somit genug Raum für die eigene Fantasie. Welche putzeifrigen Tiere könnte Aurelia noch nachmachen? Hier lädt die Geschichte zur Anschlusskommunikation mit Eltern und Kindern ein.

Buchtipp: Wer auf den groben Zeichenstil steht, dem kann ich das Bilderbuch Überraschung (2014) von Mies van Hot empfehlen.

Fazit zu Kleiner Dreckspatz Aurelia

Das Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia eignet sich hervorragend, um Kindern auf spielerische und deutliche Weise die Wichtigkeit von Hygiene zu vermitteln. Durch die ideale Kombination aus klarem Storytelling und kindlichen Illustrationen bietet das Werk Anlass, gemeinsam mit Kindern Aurelias Welt zu erkunden und sich eigene Gedanken über das Putzverhalten zu machen. Ein unterhaltsames Lesevergnügen, das ohne den pädagogischen Zeigefinger auskommt. Ich vergebe 9 Sterne.

Eckdaten im Überblick

TitelKleiner Dreckspatz Aurelia – Wasch dich doch mal
Erscheinungsjahr2017
Autor/IllustratorDorothea Flechsig (Autorin) Suse Bauer, (Illustratorin)
VerlagGlückschuh Verlag
Seiten38 Seiten
AltersempfehlungAb 3 Jahren
ThemaKörper, Tiere

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NORDRAND mit Edita Malovčić, Nina Proll | Film 1999 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-nordrand-barbara-albert-1999/ http://www.blogvombleiben.de/film-nordrand-barbara-albert-1999/#respond Fri, 17 Aug 2018 07:00:51 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4977 1999: Über ein halbes Jahrhundert lang war kein österreichischer Film mehr für den Goldenen Löwen nominiert…

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1999: Über ein halbes Jahrhundert lang war kein österreichischer Film mehr für den Goldenen Löwen nominiert gewesen, auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig. Das sollte sich in diesem Jahr ändern, mit einem Beitrag der 28-jährigen Barbara Albert aus Wien. Direkt nach dem Eröffnungsfilm  Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (!)  wurde ihr Spielfilmdebüt Nordrand gezeigt. Am Ende räumte er den Marcello-Mastroianni-Preis ab, für Nina Proll als »Beste Nachwuchsdarstellerin«. Und Barbara Albert galt als Vorreiterin, die österreichisches Filmschaffen wieder ins Rampenlicht weltweiter Festivals rückte.

Und das mitten im Frieden

Logline: Während auf dem Balkan der Bosnien-Krieg tobt, treffen am Wiener Nordrand junge Menschen aus Österreich und Osteuropa zusammen  Flüchtlinge, Träumende und zwei junge Frauen, die sich aus der Kindheit kennen und in einer Abtreibungsklinik wieder begegnen.  

Hinweis: Folgender Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle Streaming-Angebote lassen sich, wenn vorhanden, bei JustWatch finden. Diese Filmkritik basiert auf der der DVD-Edition von Der Standard.

Die Schauspielerinnen Edita Malovčić und Nina Proll in dem Film Nordrand

Totale: Nordrand im Zusammenhang

Historischer Kontext

Als der Bosnien-Krieg zu Ende war, begann eine junge Filmschaffende zu schreiben  im Jahr 1995. In Paris unterzeichneten die Vertreter der Kriegsparteien (unter anderem der später zum Völkermord verurteilte serbische Präsident Slobodan Milošević) den Friedensvertrag, während Barbara Albert erste Notizen dessen schrieb, dass später Nordrand werden sollte  ein mit eigenen Erfahrungen angereicherter Film über junge Menschen in Wien zur Zeit des Bosnien-Krieges. 1996 fuhr Albert mit ihrer Kamerafrau Christine Maier für die Dokumentation Somewhere else (1998) nach Sarajevo, in die Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina.

Ich wollte wissen, wie die Situation dort während und nach dem Krieg war. Zur gleichen Zeit begann ich, an der Figur des Senad [für den Film Nordrand] zu arbeiten. Zu dieser Zeit war es sehr schwierig, in Sarajewo zu drehen. Manchmal schämte ich mich richtiggehend dafür, »Kriegs-Tourist« zu sein. Krieg ist etwas, das ich nie verstanden habe. 

Barbara Albert im Interview (FAMA FILM AG)

Warum Krieg? Dieser Frage widmen wir uns ein einem Beitrag über den Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud.

Auf Krieg folgt Krieg folgt…

Schon während der Entwicklungsphase zu Nordrand verschärfte sich dann der Kosovo-Konflikt. Albert überlegte, ihr Drehbuch auf die aktuellen Geschehnisse umzumünzen und aus dem bosnischen Flüchtling etwa einen Kosovo-Albaner zu machen. Sie entschied sich dagegen (im Film wir die Figur des Senad zwar von einem Kosovo-Albaner gespielt, seine Rolle blieb aber ein bosnischer Flüchtling – und der Film handelte, wie geplant, vom Bosnien-Krieg).

Als der Kosovo-Konflikt zu einem offenen Krieg wurde, war Nordrand bereits im Schnitt. Während der Postproduktionsphase flog die NATO unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr ihre Angriffe auf Jugoslawien und warf Bomben auf die Bevölkerung ab  bis in Frühjahr 1999. 

Der Beginn der Synchronisation war am ersten Tag, an dem keine Bomben mehr fielen und viele der Darsteller waren da. Tudor hat gerufen »Hey, the war is over!« aber letztlich war der Krieg noch nicht vorbei.

Barbara Albert im Interview (FAMA FILM AG)

Persönlicher Kontext

Letztlich ist der Krieg nie vorbei. Während der Kosovokrieg der erste war, den ich als Kind bewusst wahrgenommen habe, nahm ich den Syrienkrieg durch Begegnungen mit Flüchtlingen in Deutschland erstmals in einer Weise wahr, wie sie vielleicht Barbara Alberts langjährige Beschäftigung mit dem Bosnienkrieg und seinen Folgen für bestimmte Einzelschicksale in Gang setzte.

So wird jede*n von uns dieser oder jener Krieg näher beschäftigen, als andere – grauenvoll sind sie im Kern alle. Albert hat gut daran getan, ihren Film nicht an aktuelle Geschehnisse anzupassen. Man merkt Nordrand ihren persönlichen Bezug zu der konkreten Zeit und dem konkreten Ort des Films an. Der Krieg ist letztlich austauschbar, die Schicksale sind zeitlos. Doch im Einzelnen und Persönlichen entfaltet sich die ganze emotionale Wirkung, die ein Film haben kann.  

Hier ein paar Stimmungsbilder aus Nordrand:

Close-up: Nordrand im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Nordrand beginnt mit Stimmen aus dem Off. Aus dem wirren Flüstern von Kindern heben sich hörbare Sätze ab, Berufswünsche. Dazu sehen wir die ersten Bilder des Films – gemalt von Kinderhand. Berufsbilder. Ein Mädchen möchte Seiltänzerin werden. Ein Junge Astronaut. Typische Berufsbilder. 

– Wenn ich groß bin, werd‘ ich ganz viele Kinder haben. Jasmin
– Wenn ich groß bin, will ich Krankenschwester werden. Tamara

Die Flüsterstimmen gehen über in Gesang. Eine Schulklasse singt gemeinsam die Österreichische Bundeshymne:

Land der Berge, Land am Strome,
Land der Äcker, Land der Dome,
Land der Hämmer, zukunftsreich!
Heimat bist du großer Söhne! […]

…und »großer Töchter«, doch diese Ergänzung im Hymnentext wurde erst 2011 vorgenommen, in Absprache mit dem kreativen Kopf hinter der einst 1946 geschriebenen Fassung. Dieses Original österreichischen Bundeshymne stammt übrigens von der Tochter eines kroatischen Nationaldichters.

Randnotiz: Albert betont in mehreren Interviews, dass sie es nicht mag, wenn Nordrand als »Frauenfilm« bezeichnet wird, bloß weil zwei Frauen im Mittelpunkt stehen und eine im Regiestuhl sitzt. Niemand käme auf die Idee, ein Drama wie Die Truman Show (1998) von Andrew Niccol als »Männerfilm« zu bezeichnen, weil mit Jim Carrey und Ed Harris zwei Männer im Mittelpunkt stehen (weiße Männer übrigens, wie immer noch  in der großen Mehrheit aller Filme). Das stimmt. Trotzdem ist der Nordrand reich an Andeutungen und Momenten, die eine nach wie vor bestehende Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft schmerzhaft spürbar machen.

Die Außenseiterin und die Drachenführerin

Zurück in den Klassenraum: Wir sehen ein blondes Mädchen im grünen Pulli, Jasmin, die später mal »ganze viele Kinder« will. Dann ein brünettes Mädchen mit Zöpfen, das Jasmin heimlich einen Zettel reicht: »Lernst du mir der Zauberwürfel? Bittet Tamara«  das ist die zukünftige Krankenschwester, die in Serbien geboren wurde und als Kind noch kein Österreichisch spricht, so richtig. Die anderen Mädchen lachen, über sie, wie es aussieht. Dazwischen geschnitten die Hände Jasmins, die im Zeitraffer den Zauberwürfel knackt. Vom Klassenzimmer geht’s  harter Schnitt  zu einem Papierdrachen (eigentlich: Schmetterling), den die Mädchen steigen lassen. Tamara schaut nur vom Rande aus zu, Jasmin hält die Schnur  alle anderen Kinder laufen ihr nach, die den Drachen führt.

Rot flattert er am blauen Himmel, rot hebt sich auch der Titel vom Hintergrund ab: NORDRAND. Dazu setzt mit ordentlich Wums der Song Modrice (zu Deutsch etwa: Blaue Flecken) der Band Zana aus Belgrad  ein Song, der 1995 herauskam.

Das Drama, zu dem die damals knapp 30-jährige Regisseurin auch das Drehbuch verfasste, besticht durch seine präzise örtliche und zeitliche Situierung.

Nicole Hess, Filmkritikerin und -publizistin

Wenn sie groß sind…

1995, in eben diesem Jahr landen wir, nach dem Prolog mit Ausschnitten aus Kindheitstagen. Die Mädchen sind jetzt erwachsen. Tamara trägt nur noch einen Zopf und ein Baby im Arm, während sie den Krankenhaus-Korridor entlang läuft  als Krankenschwester. Wir sehen sie von vorne mit dem Kind an der linken Schulter, in genau der Ansicht und Haltung wie auf dem kindlich gekritzelten Bild aus dem Vorspann. Sie bleibt vor einem Wartezimmer stehen, schaut durch die Scheibe auf einen Fernseher in der Ecke  Aufnahmen von Panzern und Soldaten. Aufnahmen aus Tamaras Heimat, Serbien.

Schnitt zu den Fernsehbildern in Großaufnahme, mit der Stimme eines Nachrichtensprechers aus dem Off:

Der Abzug der serbischen Truppen aus Teilen von Bosnien-Herzegowina hat gestern unter Kontrolle der UNO-Friedenstruppe begonnen. Nur vereinzelt kommt es an den Fronten noch zu Schießereien. Dabei starben […]

…ich musste an ein Zeile aus Im Rausch der Stille (2002) von Albert Sánchez Piñol denken: Es heißt, dass kein Soldat der letzte Tote in einem Krieg sein will… die Nachrichten schneiden auf Bilder einer Parade, rollende Panzer zwischen feiernden Menschen:

[…] Wien. anlässlich des 40-jährigen Bestehens der 2. Republik findet heute auf der Wiener Ringstraße eine großere Militärparade statt.

Schnitt von den Nachrichten zurück ins Zeitgeschehen:

Himmel, hier und da

Wir sehen eine blonde Frau in grüner Jacke  Jasmin, das blonde Mädchen in grünem Pullover von damals. Mit einem ihrer vielen Geschwisterkinder treibt sie sich auf der Militärparade herum. Irgendwo nicht weit von dort ist auch Tamara unterwegs, am Bahnhof  doch Jasmins und Tamaras Wege überschneiden sich erst später wieder. Tamara erblickt einen Mann mit langen Haaren. Ein flüchtiger Blickwechsel zwischen Fremden. Diesen Mann lernen wir (und Tamara) auch erst später kennen. Jasmin trifft indes auf alte Bekannte, während Militärflugzeuge über sie hinwegbrausen. Sie schauen hoch  und Schnitt zu Tamara, die ebenfalls hochschaut, unter demselben Stück Himmel wie Jasmin.

Schnitt zu einem anderen Stück Himmel, von einem dichten Vogelschwarm besiedelt. Zu diesem hoch schaut ein Grenzsoldat, der an einem Lagerfeuer vor sich hinfriert. Mitten auf einer Wiese im grünen Nirgendwo. Durch ein Fernglas sucht der die Landschaft ab, sieht nichts. Die Zuschauer*innen aber schon: Schnitt zu Close-ups von Flüchtlingen, die sich im Dickicht verstecken, sich erst im Morgengrauen die Flucht über die Wiese trauen, Richtung Wien. Einen dieser Flüchtlinge, einen Bosnier, lernen wir (und Jasmin) später in der Hauptstadt kennen…

Ich könnte noch ewig so weitermachen, die vielen durchdachten Details und Übergänge zu beschreiben. Na, nicht ewig  das waren die ersten 6 von 106 Minuten eines Films, der über seine gesamte Dauer derart kunstvoll verstrickt ist. Gespickt mit kleinen Szenen aus verschiedensten Leben und zeitgenössischer Musik, gekrönt von einem Kuss, bei dem die Welt scheinbar den Atem anhält, beendet mit einer letzten Sequenz, die dem Film einen wundervollen Rahmen verleiht. 

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Am Ende haben wir einen Einblick in die Welt junger Menschen bekommen, die mit der kalten Schönheit des Seins konfrontiert werden, mit der Zerrissenheit der Dinge zwischen den Gegensätzen, die in unseren Hirnen spuken: Gut und böse. Richtig und falsch. Vergangenheit, Zukunft. Diese Generation und die nächste. Aus Kindern, die Drachen im Wind tanzen lassen, werden Erwachsene, die nach Halt im Wirbel des Lebens suchen. Das Drama beginnt immer wieder von Neuem.

Über 3 Jahre hat Barbara Albrecht an dem Drehbuch gearbeitet und ein Sammelsurium von Erinnerungen, Ideen und Notizen zu einem (teils autobiografischen, größeren teils einfach vom Leben inspirierten) Puzzle zusammengesetzt. Verschiedene Sprachen werden gesprochen, neben dem Österreichischen, und viele große Themen tangiert, von Migration und Miteinander bis hin zu Missbrauch und Abtreibung. 

Jasmin: Sing ma en Weihnachtslied.
Tamara: I kann keins.
Jasmin: Was woaiß ich, »ihr Kinderlein kommet«
Tamara: Nicht so angebracht.

Zwischen Schwere und Leichtigkeit

Die zentrale Handlung des Films umfasst einen Zeitraum von mehreren Monaten. Das Schaufenster der Bäckerei, in der Jasmin arbeitet, dekoriert sie erst weihnachtlich, später mit Oster-Gebäcken. Dazwischen wird Silvester gefeiert, voller Zuversicht: Willkommen im Jahr 1996.

Die herausragende Qualität von Nordrand zeigt sich […] vor allem in der Leichtigkeit, mit der die Regisseurin der düsteren Alltagsrealität auch lichte Momente abgewinnt.

Nicole Hess, Filmkritikerin und -publizistin

Neben einer Filmkritik von Nicole Hess enthält die DVD-Edition von Der Standard noch ein 10-minütiges, unmoderiertes Making-of mit Stimmungsbilder vom Dreh sowie deutsch- und englischsprachige Interviews von Barbara Albert.

Eine lesenswerte Filmkritik zu Nordrand hat Veronika Rall (Der Tagesspiegel) geschrieben, unter dem Titel: Zu genau, um Klischee zu sein (August 2000)

Ein ausführliches Interview mit Barbara Albert, inbesondere über ihre Erfahrungen bei der Entstehung zum Drehbuch, veröffentlichte Martin Betz unter dem Titel: Die Wirklichkeit, die glaubt dir keiner (Februar 2000)

Fazit zu Nordrand

Ein Zeitdokument, fest verankert in den 90er Jahren  wie eine Konserve im Filmregal, die auch nach dem Öffnen nie abläuft: Mit Nordrand kann man eintauchen, in diese konservierte Zeit. Um dann festzustellen, wie wenig sie doch ändert, über die Jahrzehnte. Die Menschen plagen sich immer noch mit denselben von Menschen gemachten Problemen. Nordrand ist ein wirklich sehenswerter Film über urmenschliche Themen, lebensnah erzählt, stark gespielt und grandios zu einem runden Gesamtwerk arrangiert. 

Der Beitrag NORDRAND mit Edita Malovčić, Nina Proll | Film 1999 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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COLD SKIN – INSEL DER KREATUREN | Buch 2002, Film 2017 | Vergleich http://www.blogvombleiben.de/film-cold-skin-buch-film-vergleich/ http://www.blogvombleiben.de/film-cold-skin-buch-film-vergleich/#respond Mon, 13 Aug 2018 07:00:52 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4870 Der Autor von Im Rausch der Stille, Albert Sánchez Piñol, ist Anthropologe – und das merkt man…

Der Beitrag COLD SKIN – INSEL DER KREATUREN | Buch 2002, Film 2017 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Der Autor von Im Rausch der Stille, Albert Sánchez Piñol, ist Anthropologe – und das merkt man seinem Inselabenteuer an. Der Regisseur von Cold Skin, Xavier Gens, ist Horror-Filmemacher – und auch das merkt man seiner Adaption dieses Inselabenteuers an. In beiden Werken geht es um den »schmalen Grat zwischen Mensch und Kreatur«, doch nur eines schert sich dabei spürbar um die Frage, was der Mensch eigentlich ist? Ein Vergleich zwischen Film und literarischer Vorlage.

Mehr oder weniger menschlich

Inhalt: Ein junger, desillusionierter Mann möchte Europa den Rücken kehren. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verschlägt es ihn auf eine einsame Insel nahe der Antarktis. Dort soll er als Wetterbeobachter arbeiten. Seine einzige Gesellschaft: Ein einsamer Leuchtturm-Wärter, der in Sichtweite wohnt. Doch wie sich schon bald herausstellt, sind die beiden Männer nicht alleine auf der Insel…

Hinweis: Der folgende Text enthält keine Spoiler, was das Überleben auf der Insel anbelangt. Allein in den Absätzen »Einige Unterschiede« und »Mensch und Kreatur« werden Details besprochen, die sich manch Leser*in oder Zuschauer*in vielleicht selbst entdecken möchte. Cold Skin – Insel der Kreaturen läuft ab dem 17. August im Kino. Weitere Informationen über Kinotickets und Streaming-Angebote gibt es via JustWatch.

David Oakes und Aura Garrido in dem Film Cold Skin – Insel der Kreaturen

Totale: Cold Skin im Zusammenhang

Historischer Zusammenhang

In dem Roman Im Rausch der Stille (2002) erfährt man (im Rahmen einer Rückblende, die es nicht in den Film geschafft hat) über die Hauptfigur, dass es sich um einen irischen Freiheitskämpfer handelt. Dieser ist enttäuscht von seinen eigenen Leuten: Kaum an der Macht, entpuppen sie sich nicht weniger despotisch als ihre Vorgänger.

Von da an stellte sich mir nur noch eine Frage: Wollte ich in einer von Gewaltspiralen gesteuerten Welt bleiben, die das Unglück der Menschen endlos fortsetzte? Meine Antwort lautete nein, nie mehr und nirgends, und darum entschied ich mich für die Flucht in eine Welt ohne Menschen. 1

Dass diese Geschichte ausgerechnet von einem Iren erzählt, sorgte seit Erscheinen des Buchs (2005 auch in deutscher Übersetzung) für Diskussionsstoff. Denn geschrieben wurde der Werk auf katalanisch – womit es als Vertreter der überschaubaren Sparte katalanisch-sprachiger Literatur auf den Markt kam. Doch der Debütroman des Katalanen Albert Sánchez Piñol, der mit der Wahl des irischen Helden eine nationalistische Instrumentalisierung des Buchs durch sein eigenes Heimatland Katalonien umschiffte, ging seinen Weg: Übersetzt in mehr als 30 Sprachen gilt Im Rausch der Stille inzwischen als internationaler Bestseller, der 15 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung mit Cold Skin – Insel der Kreaturen nun auch aufwändig verfilmt wurde.

Persönlicher Kontext

Mit dem Auftrag, anlässlich des Filmstarts in Deutschland eine Rezension zu Cold Skin – Insel der Kreaturen zu schreiben (zu lesen bei kinofilmwelt.de), bin ich bei den Recherchen doch neugierig geworden: Die Romanvorlage wurde von einem Anthropologen geschrieben, so, so! Davon ist dem Film nicht mehr viel anzumerken, abgesehen von einer etwas plakativen Randnotiz (wortwörtlich: »Darwin was wrong!«, heißt es als Notiz in einem Logbuch).

Die Anthropologie ist die Wissenschaft vom Menschen, die im Anschluss an die Evolutionstheorie von Charles Darwin erst so richtig ins Rollen gekommen ist – zu der Zeit, da Metaphysik und Religionen nichts Neues mehr herzugeben schienen und Naturwissenschaft noch nicht so weit war, das Wesen des Menschen mit Gewissheit zu bestimmen (ist sie heute noch nicht). Als naturwissenschaftliche Anthropologie untersucht diese Disziplin den Homo Sapiens als biologisches Wesen. Als philosophische Anthropologie – die mich im Rahmen meines Studiums an der Fernuniversität Hagen beschäftigt – geht es ihr um den Menschen als Subjekt, nicht als Objekt.

Was anthropologische Betrachtungsweisen angeht, finden sich in Im Rausch der Stille sowohl naturwissenschaftliche als auch philosophische Beobachtungen. Besonders in die Tiefe gehen sie allerdings nicht.

Close-up: Cold Skin im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt

Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als wir denken. Und deshalb glauben wir, dass wir denen, die wir lieben, nie ganz nah sind. 2

Roman und Verfilmung beginnen mit diesem Satz. Von manchen Leser*innen (siehe: Merthen Worthmann, DIE ZEIT) wird er als dick auftragende, »scheppernde Sentenz« empfunden, andere (siehe: aus.gelesen) sind davon »verzaubert«. Ich muss mich zu Letzteren zählen, die sich von großen Worten leicht beeindrucken lassen. Im Film Cold Skin – Insel der Kreaturen, wo ich diesem Satz (gesprochen aus dem Off) zum ersten Mal begegnet sind, wird er von einer beeindruckenden Eröffnungs-Einstellung begleitet: Unten im Meer sehen wir Delfine, die unter einem Schiff her schwimmen – die Kamera fliegt durch den Delfin-Schwarm hindurch, durchbricht die Meeresoberfläche und steigt hoch bis zur Schiffsreling, an der unsere Hauptfigur steht. Im Film heißt der junge Mann Friend. Im Buch ist er der namenlose Ich-Erzähler, der mal seine Gedanken sprechen lassen, mal Tagebuch führt.

Dass mich der Kapitän an Land begleitete, verstand ich als zusätzlichen Freundschaftsdienst. Nichts verpflichtete ihn dazu. […] Er behandelte mich mit der Liebenswürdigkeit eines beauftragten Henkers. 3

Blumentopfscherbe im Nirgendwo

In der Tat überlässt der Kapitän – als er später mit seiner Crew wieder in See sticht – unseren Helden dem sicheren Tod, wie es aussieht. Die Insel so winzig, dass sie auf der Karte »unter dem farbigen Schnittpunkt der Breiten- und der Längengrade verschwand«, liegt im laut jenem Kapitän »in dem am wenigsten befahrenen Ozean des Planeten, auf demselben Breitengrad wie die Einöde von Patagonien.« Eine »Blumentopfscherbe« nennt er diese Insel.

Der junge Mann soll in diesem Nirgendwo den Posten des Wetterbeobachters übernehmen. Doch sein Vorgänger ist verschollen, dessen Haus verwüstet. Als sich unsere Hauptfigur trotzdem darin einrichtet, erlebt sie dort ihr blaues Wunder, schon in der zweiten Nacht…

Wenig später vernahm ich ein entferntes, angenehmes Geräusch. Ungefähr so, wie wenn man in der Ferne das Getrappel einer kleinen Ziegenherde hört. Anfänglich verwechselte ich es mit Regen, einem Geräusch von vereinzelt fallenden, dicken Tropfen. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Es regnete nicht. 4

Angriff der Froschkerle

Bei dem Geräusch handelt es sich um »Getrappel« – allerdings nicht von Ziegen, sondern merkwürdigen, zweibeinigen Kreaturen, die aus dem Meer geklettert sind. In größter Feindseligkeit attackieren sie das Haus des Wetterbeobachters und trachten nach dessen Leben. Der Leuchtturm-Wärter indes hat sich in seinem Turm verschanzt. Denn diese Gefahr durch Horden von »Froschkerlen«, wie der forsche Kerl sie schimpft, kennt er nur zu gut – Nacht um Nacht greifen sie an.

Diese Angriffe sind spektakulär inszeniert – aufwändiger und stimmungsvoller als alles, was man bisher von Xavier Gens gesehen hat. Rund 10 Jahre nach seinem Debütfilm Frontier(s) (2007) kann man sehen, dass dieser Regisseur mehr und mehr sein Handwerk gelernt hat. Nichtsdestotrotz bleibt er seinem Fokus – Action und Gewalt – zum Nachteil der feinen Nuancen der Romanvorlage treu.

Offizieller Trailer zum Film Cold Skin:

Einige Unterschiede zwischen Buch und Film

  • Ähnlich wie in Ian McEwans Am Strand, der uns mit einer Rückblende von einem steinigen Meeresufer in die Vergangenheit seiner Protagonisten, gibt es auch in Im Rausch der Stille eine Rückblende, um den Hintergrund des Helden zu erhellen. Doch im Film fällt die Rückblende weg, die Vergangenheit des Helden bleibt dunkel.
  • In der Romanvorlage trägt der Leuchtturm-Wärter den schönen Namen Batís Caffó – im Film heißt er, warum auch immer: Gruner.
  • Gruner versteckt eine der Kreaturen bei sich im Leuchtturm. Im Film bekommen wir diese früher zu sehen, als im Roman: Als unser Held erstmals durch das Fernglas zum Leuchtturm sieht, da bewegt sich, wenn man genau hinschaut, bereits eine Silhouette in der Nähe von Gruner, die nur diese Kreatur sein kann. Schönes, kleines Detail.
  • Apropos schön: Der Film beschönigt unser Bild von der Hauptfigur sehr. Vielleicht wurde das als nötig empfunden, um mehr Identifikations-Potential zu schaffen. Eben deshalb finde ich es umso interessanter, dass der Autor Albert Sánchez Piñol gerade darauf verzichtet hat. Sein Ich-Erzähler behandelt die Kreatur, mit der Gruner lebt, ziemlich schändlich und längst nicht so liebevoll, wie der Held des Films.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werks

Der letzte Blitz jener Nacht erhellte meinen Verstand. Ich hatte tausend namenlose Ungeheuer gegen mich. Doch in Wirklichkeit waren sie nicht meine Feinde, so wie Erdbeben nicht die Feinde der Gebäude sind, sie sind einfach. 5

Auch im Film sind sie einfach. Ihre Herkunft wird nicht erklärt, ihre Motivation schon gar nicht. Das ist angenehm. Auch wenn die Verfilmung notgedrungen viele interessante Beobachtungen und Gedanken aus der literarischen Vorlage vermissen lässt, macht sie doch die wichtigste Regel ihres Fachs genau richtig: Show, don’t tell. Der Film Cold Skin – Insel der Kreaturen bietet trotz öder Kulisse seine Schauwerte und spannenden Konfrontationen, zwischen zwei Männern im Kampf ums blanke Überleben, sowie zwischen Mensch und Kreatur.

Mensch und Kreatur

Jener beschönigte Held aus dem Film bemächtigt sich im Roman der Kreatur, die bei dem Leuchtturm-Wärter wohnt. Die Art und Weise, wie er mit dieser dem Menschen nicht unähnlichen Kreatur umspringt, verrät mehr über den Mann als das Wesen in seiner Hand:

Ich packte sein linkes Fußgelenk. Ich hob den Körper hoch, als wäre es ein Baby, damit ich es besser betrachten konnte. Ja, es war ein Weibchen. Das Geschlecht war von keinerlei Schamhaar bedeckt. 6

Der Schädel hat nicht die Einbuchtungen des geborenen Verbrechers, ebenso wenig die Höcker des frühreifen Genies. […] Sein Volumen ist etwas geringer als bei den slawischen Frauen und ein Sechstel ausgedehnter als bei der bretonischen Ziege. 7

Der Körper ist wunderbar gebaut. Europäische Mädchen würden in Ohnmacht fallen, wenn sie ihre schlanke Figur sähen. 8

Ich habe einen Bleistift unter die Brüste gelegt, doch er fällt hinunter, als ob sie von einem unsichtbaren Faden nach oben gezogen würden. Mit diesen Äpfeln hätte Newton seine Theorie schwerlich aufstellen können. 9

Der Hass des Mannes, mal wieder

Nach all den sexistischen Beobachtungen empfindet der Mann schließlich doch mehr für die Kreatur, als nur forschende Neugier.

Und ich stellte fest, über mich selbst erschrocken, dass es mich gar nicht interessierte, ob sie mehr oder weniger menschlich, mehr oder weniger Frau war. Es stimmte nicht: Am siebenten Tag ruhte der liebe Gott nicht. Am siebenten Tag schuf er sie und verbarg sie vor uns unter den Wogen. 10

Doch wer eine Liebesgeschichte zwischen Mensch und Kreatur erwartet, nach dem Vorbild von Shape of Water (2017) etwa, wird enttäuscht sein: Unser »Held« behandelt die Kreatur, die bald sogar einen Namen bekommt (Aneris) mit stumpfen Hass. Davon ist im Film nichts zu finden – was nach Frontier(s) (2007) fast überrascht.

Ich packte sie an einem Fuß und zerrte sie aus ihrem Versteck hervor. Ich befahl ihr aufzustehen, um sie mit einer Ohrfeige niederzuschlagen, die so heftig war, dass meine Hand auch am nächsten Tag noch rot war. Sie rührte sich nicht vom Boden und krümmte sich weinend. 11

Fazit zu Cold Skin – Insel der Kreaturen

Eine interessante, kurzweilige Lektüre und ein beeindruckender, spannender Film. Insofern kann ich beide Formate dieser Geschichte empfehlen – und sogar beide zusammen, da sie jeweils mit formateigenen Mehrwerten auftrumpfen. Es ist, so oder so, ein kaltes Insel-Kammerspiel über zwei einsame, verbissene Männer. Insofern etwas karg und einfältig, dieses Survival-Abenteuer. 

Das bessere Ende, im Übrigen, kommt dem Film zu – mit einer gelungenen Schluss-Einstellung, die den Rahmen der Geschichte schließt.

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VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/ http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/#respond Thu, 09 Aug 2018 07:00:40 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4508 Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren…

Der Beitrag VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren einen der wohl spannendsten spanischen Horrorfilme überhaupt abgeliefert hat. Andererseits war er auch für REC 2 (»a bit of a w[rec]k«, David Edwards) und REC 3 (»the nail in the franchise’s coffin«, Ed Gonzalez) beteiligt. Die Erwartungen an Plazas neusten Streich, Verónica, waren also mittelhoch bis mäßig – und wurden mehr als erfüllt: Fans und Kritiker*innen feiern ihn als extrem atmosphärischen Horrorstreifen. Schauen wir mal genauer hin…

So wahr mir Plot helfe

Schauspielerin Sandra Escacena in dem Horrorfilm Verónica

Zum Inhalt: Im Jahr 1991 lebt die 15-jährige Verónica mit ihrer Mutter und drei kleinen Geschwistern zusammen in einem Apartment in Valleca, einem Stadtteil der Arbeiterklasse im Süden Madrids. Der Vater ist vor kurzem gestorben. Die Mutter schiebt Überstunden, um die Familie zu ernähren. Verónica trägt die Verantwortung für ihre Zwillingsschwestern sowie ihren kleinen Bruder Antoñito. Die Haupthandlung beginnt am Tag der Sonnenfinsternis. Während alle Schüler*innen mit den Lehrenden auf dem Schuldach zur Sonne starren – durch (zuweilen provisorische) Schutzbrillen – schleichen sich Verónica und zwei Freundinnen in den Keller, um mit einem Hexenbrett (Ouija) die Geister der Verstorbenen zu beschwören… mit dramatischen Folgen.

Ja, so eine Art von Film ist das: Gläserrücken und Dämonen aus dem Jenseits, Schatten und Geräusche und durchdrehende Leute – diese ganz bestimmte, überquellende Horrorfilm-Schublade, in der das Diesseits vom Jenseits terrorisiert wird. Was Verónica aus der Masse ein wenig hervorstechen lässt: Der Film »basiert auf wahren Begebenheiten«, wobei das auch jeder dritte Vertreter dieses Genres von sich behauptet. Was ist da Wahres dran?

Hinweis: Im Absatz »Historischer Kontext« werden die wahren Begebenheiten besprochen – mit Spoilern! Bis dahin, entspanntes Lesen!

Close-up: Verónica im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Verónica beginnt mit einem Notruf. Noch vor dem ersten Bild hören wir aus dem Off die Stimmen. Tipp, um den Effekt eines Horrorfilms zu verstärken: Originalsprache mit Untertitel schauen. Erst recht bei Filmen, die auf ihre »wahren Begebenheiten« pochen, bleibt damit mehr von der Authentizität bestehen.

– Hier spricht die Polizei.
– Hilfe! Bitte helfen Sie!

Mit diesen Worten beginnt der Film. Das erste Bild: zwei Streifenwagen, die mit Blaulicht, durch Gewitter, Regen, Nebel rasen. In der Bildecke tauchen die Eckdaten auf: Madrid, 15. Juni 1991, 01:35 Uhr nachts. Bis auf die Minute genau datiert, diese herannahenden Streifenwagen. Schwarzblende.

– Bitte beruhigen Sie sich. Was ist passiert?
– Bitte, Sie müssen kommen! Er ist drinnen!

Die Anruferin klingt nach einer Teenagerin, die panisch ins Telefon schreit. Im Hintergrund wimmert ein Kind. Es folgen Detailaufnahmen von den Einsatzwagen. Schwarzblende. Wieder die Stimme der Polizistin am Hörer:

– Bitte beruhigen Sie sich. Sagen Sie mir, was Sie sehen. Ist jemand in Ihrem Haus? Hallo?

Chaos in der Wohnung

Ein Schrei, ein Knacken in der Leitung. Schnitt auf einen Kommissar, der seine Zigarette weg schnippt und aus dem Auto steigt. Im strömenden Regen geht er um den Wagen rum. Im Hintergrund ist – von den Blitzen effektvoll beleuchtet – das Wohnhaus zu sehen, aus dem der Notruf kam.

Es erinnert an jenes hohe Apartmenthaus aus REC, in dem sich 2007 ein klaustrophobischer Alptraum bis ins oberste Stockwerk abgespielt hat. Doch REC war ein handfester Zombiefilm. Verónica behauptet, wahr zu sein. Wir erfahren die genaue Adresse, den genauen Namen des Kommissars. Wir begleiten ihn in eine verwüstete Wohnung. Im Chaos liegt ein Jesuskreuz, das von einem Polizisten aufgehoben wird. Blutspuren führen vom Bad in ein verschlossenes Zimmer… was die Einsatzkräfte darin erwartet, schreibt ihnen den blanken Schrecken ins Gesicht. Ein grauenhafter Schrei von irgendetwas, das nicht gezeigt wird, geht über…

…in die Großaufnahme eines Mädchens mit Zahnspange, das mit weit aufgerissenem Mund ganz genüsslich gähnt. Das Mädchen liegt im Bett, die Sonne scheint ins Zimmer. Rückblende, »Drei Tage zuvor«. Ab jetzt wird erzählt, wie es zu der Schreckensnacht kam, die der Prolog anteaserte. Jene Sonnenfinsternis im Jahr 1991, die in Wirklichkeit am 11. Juli stattfand, wurde für den Film also – ob schlecht recherchiert oder dramaturgisch bedingt – in den Juni vorgezogen.

Totale: Verónica im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am frühen Morgen des 15. Juni 1991 erhielt die Polizeiwache 02-12 in Madrid einen Notruf. Diese Geschichte basiert auf dem Polizeibericht, den der für den Fall verantwortliche Polizist einreichte.

Texttafel aus dem Prolog von Verónica

Es gibt tatsächlich einen Polizeibericht. Kopien davon finden sich – in spanischer Sprache – online und sind insbesondere zum 20. Jubiläum des Falls vielfach diskutiert worden, von spanischen Websites, die sich um Paranormalität drehen. In diesen Kreisen ist der »Valleca Fall« sehr bekannt. Der Name leitet sich von jenem Stadtteil Madrids ab, in dem eine 18-jährige Frau namens Estefania Gutiérrez Lázaro (im Film: Verónica, 15 Jahre alt) eine Séance (also eine spiritistische Sitzung, oder: Gläserrücken) in ihrer Schule durchführte. Eine Nonne zerbrach schließlich ihr Hexenbrett und beendete damit die Sitzung (im Film zerbricht es wie von Geisterhand). Während Verónica im Film während dieser Séance ihren toten Vater zu beschwören versucht, waren Estefanias Eltern beide noch wohlauf – soweit die ersten Unterschiede zwischen Fakten und Fiktion.

In der Folgezeit erlitt Estefania Gutiérrez Lázaro mehrere Krampfanfälle und hatte Halluzinationen von Schatten und Wesenheiten, die sie umgeben. Später ist sie – wie die Verónica im Film – in ihrem jungen Alter gestorben.

Tragisches und »Paranormales«

Allerdings nicht wirklich »wie im Film«. Während Verónica in einem spektakulären Finale daheim gegen einen Dämon kämpft, von diesem malträtiert wird und auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt, war Estefania zum Zeitpunkt des Todes längst im Krankenhaus. Die Umstände ihres Todes vor rund 30 Jahren sind nicht geklärt. Wenn aber eine 18-Jährige an Krampfanfällen und Halluzinationen leidet, gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, die den tragischen Tod eines so jungen Menschen verursachen können. Ohne dämonischen Einfluss.

In dem Polizeibericht, auf dem dieser Film angeblich basiert, geht es nicht wirklich um Estefania Gutiérrez Lázaro . Deren Familie hat die Polizei nach dem Tod ihrer Tochter erstmal gar nicht kontaktiert. Erst ein Jahr später waren Polizist*innen bei Estefanias Eltern daheim. In ihrem Bericht ist von Geräuschen auf einer Veranda die Rede, und der geschlossenen Tür eines Kleiderschranks, die plötzlich und in unnatürlicher Weise aufging. Außerdem fiel eine Jesus-Figur von ihrem Kreuz und ein brauner Fleck breitete sich aus.

Das ist alles. Drei durchaus ungewöhnliche Beobachtungen, die man als »paranormal« bezeichnen kann. Sie wurden auf jeden Fall als paranormal interpretiert – und die Tatsache, dass diese Beobachtungen in einem offiziellen Polizeibericht festgehalten sind, das macht den »Valleca Fall« so berühmt. Zumindest bei Menschen, die an Paranormales (im »Geister aus dem Jenseits«-Sinne) glauben.

Persönlicher Kontext

Ich persönlich glaube nicht an Paranormalität, wie sie mir in unzähligen Filmen nun schon auf verschiedenste Herangehensweisen näher gebracht wurde. Und selbst, wenn in einem Polizeibericht von paranormalen Beobachtungen die Rede ist, ist mein erster Reflex die Annahme, dass eventuell die zuständigen Polizist*innen ihrerseits an Paranormales glaubten (man »sieht, was man sehen will«). Oder, dass es doch eher natürliche Erklärungen für vermeintlich unnatürliche Beobachtungen wie eine sich öffnende Schranktür, einen vom Kreuz fallenden Jesus und einen brauen Fleck gibt.

Das »sehen, was man sehen will«, gilt selbstverständlich auch für mich. Ich mag rationale Erklärungen – und das Verhalten von Dämonen oder anderen Jenseits-Wesenheiten in Filmen erscheint mir maximal irrational. Liegt vermutlich daran, dass sie »nicht von dieser Welt« sind und ich damit ungültige Ansprüche stelle. Aber dann erstaunt mich doch die innere Logik, mit der all die irrationalen Aktionen von Dämonen ganz gezielt – wie Arsch auf Eimer – zu unseren Ängsten passen. Auf rationale »Horrorfilm bedient Furchtvorstellungen« Art und Weise.

Fakten und Fiktion

Was die Unterschiede zwischen »Fakten und Fiktion« angeht, so berufe ich mich mit der Erläuterung der »wirklichen Begebenheiten« wohlgemerkt auch nur auf Internetseiten, keine amtlichen Dokumente. Newsweek hat die Geschichte über Estefania Gutiérrez Lázaro in Gegendarstellung zu dem Film in Form gebracht, die seriöseste Aufarbeitung, die ich auf Englisch finden konnte (wobei manche Links von diesem Artikel auf wiederum gar nicht seriöse Seiten verlinkt sind). Es ist anzunehmen, dass man im spanisch-sprachigen Internet bessere, detailliertere, fundierte Auseinandersetzungen mit dem Fall finden würde.

Andererseits: Vielleicht auch nicht. Vor rund 30 Jahren ist in einem Krankenhaus eine junge Frau gestorben – und alles, was heute noch in ihrem Namen passiert, ist Kunst, Kult und Kommerz, angereichert mit all den urban legends, die in der jahrzehntelangen Rezeption des Falls hinzugedichtet wurden. Ich verstehe, dass Dämonen-Horrorfilme besser »funktionieren«, wenn man dem (wohlwollenden) Publikum glauben machen kann, die Handlung basiere auf wahren Begebenheiten. Das ist eben viel gruseliger – und der Regisseur Paco Plaza macht keine halben Sachen: Er stellt seinen Film inklusive Abspann-Fotos vom »Tatort« als geradezu dokumentarisch dar (die Fotografie mit dem ausgebrannten Gesicht Estefanias hat es beispielsweise tatsächlich gegeben). Beim Toronto International Film Festival sagte Plaza zum Wahrheitsgehalt seines Films:

Was wir erzählen, wird Geschichte

Ich denke, wenn wir etwas erzählen, dann wird daraus eine Story, selbst wenn es Nachrichten sind. Man muss nur verschiedene Zeitungen lesen, um zu wissen, wie unterschiedlich die Realität sein kann, je nach dem, wer sie erzählt. Ich wusste, dass wir die realen Begebenheiten verfälschen würden. Ich wollte es bloß zu einer in sich geschlossenen Vision machen […] Also die ganze Geschichte von Veronica und ihren Schwestern und Antoñito, diesem kleinen Marlon Brando mit Brille, das ist alles eine Vision.

Paco Plaza, Regisseur von Verónica

Kurzum: Mit dezenter Anlehnung an den gefallenen Jesus aus dem Polizeibericht, hat man einen mit christlicher Symbolik und dämonischem Schauer aufgeladenen Plot gebastelt, der nicht auf diesem Bericht »basiert«, sondern von ihm inspiriert ist – das wäre die ehrlichere Wortwahl gewesen. Mal wieder. Wie immer.

Ein Teil in mir findet es immer etwas respektlos, wenn sich Horrorfilme nur um des Grusel-Effekts willen auf echte Menschen (mit echten Familien und Angehörigen) beziehen. Aber was weiß ich, wie die Betroffenen dazu stehen? Einen Kommentar etwaiger Familienmitglieder zu dem Film Verónica konnte ich nicht finden.

Traumatische Erfahrungen?

In dem Q&A auf besagtem Festival beantwortet Paco Plaza übrigens auch eine Frage dazu, wie man die Kinder am Set betreut hat – angesichts doch recht krasser Szenen, in denen sie von einer gruseligen Gestalt bedroht werden oder Fleisch aus dem Körper ihrer Schwester beißen. Plaza beantwortet diese Frage ab Minute 00:50 (auf Englisch):

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Ich stolperte über diesen Film, als ich zu Pascal Laugiers Ghostland (2018) recherchierte, einem anderen aktuellen Horrorfilm, der zuweilen mit Verónica verglichen wurde (obwohl die Filme unterschiedlicher kaum sein könnten). Über Verónica – der am 26. Februar 2018 erstmal bei Netflix veröffentlicht wurde – las ich dann immer häufiger die Phrase »scariest movie ever«, was mich leicht zum ködernden Filmfisch gemacht hat. Zack, Netflix aufgemacht, her mit dem Bissen!

Also, ist Verónica »der gruseligste Film aller Zeiten«? Also aus inzwischen über 120-jähriger Filmgeschichte, die Werke wie William Friedkins Der Exorzist (1973) und Werner Herzogs Nosferatu (1979) hervorgebracht hat? (Um nur zwei von unzähligen Klassikern zu nennen.) Natürlich absolut nicht. Verónica ist nicht einmal der gruseligste Film von Paco Plaza (wie gesagt: REC!).

Läuft bei Netflix

Heißt, ich bin wiedermal auf etwas reingefallen, was entweder eine gelungene PR-Kampagne oder ein glücklicher Selbstläufer war: Ein paar Internet-User, die ihr Grauen über Verónica bei Twitter dokumentiert haben. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich, der ich so gerne Bill Maher zitiere, aus: New Rule: That’s Not News. In diesem YouTube-Video beschreibt der amerikanische Late-Night-Moderator zur Bauchbinde »charlatan’s web« das Phänomen, das Medienportale irgendwelche Stimmen aus dem Internet aufgreifen und ihnen Relevanz andichten, selbst wenn sie es mit gegebener Vorsicht tun. Beispiel:

Das Netz streitet über Verónica – laut Netflix „der gruseligste Horrorfilm aller Zeiten“, den angeblich kaum ein Zuschauer bis zum Ende durchhält. 

Britta Bauchmüller (Kölnische Rundschau), 19.03.18

»Das Netz« = ein paar Twitter-User
»laut Netflix« = PR-Texter*in
»kaum ein Zuschauer« = noch ein paar Twitter-User

Unterm Strich beruft sich dieser Satz auf vielleicht 2 Dutzend Tweets von Netflix-Usern (stellvertretend für »das Netz«) und eine Person, die dafür bezahlt wird, Netflix-Filme ins Gespräch zu bringen. Das Ganze verpackt unter der Schlagzeile »Verónica und Co. Diese Horrorfilme auf Netflix hält kaum jemand bis zum Ende aus«. Werbung vom Feinsten. Läuft bei Netflix.

Fazit zu Verónica

Wer auf Dämonen-Filme steht, wird an Verónica seine Freude haben. Der Film ist handwerklich gut gemacht, wenn auch (von ein paar visuellen Ideen mal abgesehen) sehr konventionell. Er fügt dem Genre nichts Neues hinzu, bedient sich an dessen Zutaten aber sehr geschickt – und Sandra Escacena trägt die Zuschauer*innen als Heldin, der man nichts Böses wünscht, gut durch die Handlung. Grusel-Atmosphäre kommt auf, selbst wenn man Gläserrücken und Dämonen für Hokus Pokus hält, deshalb: ja, okay, guter Film…

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GOOD NIGHT STORIES FOR REBEL GIRLS | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-good-night-stories-for-rebel-girls-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-good-night-stories-for-rebel-girls-2017/#respond Wed, 08 Aug 2018 06:00:57 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4548 Weibliche Errungenschaften scheinen in der Menschheitsgeschichte eher rar. Haben denn nur Männer die Welt verändert? Das…

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Weibliche Errungenschaften scheinen in der Menschheitsgeschichte eher rar. Haben denn nur Männer die Welt verändert? Das Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls von Elena Favilli und Francesca Cavallo räumt mit dem antiquierten Geschlechter-Verständnis auf. Es zeigt großen und kleinen Leser*innen, dass Heldentaten und Vision von Persönlichkeiten und nicht von Geschlechtern realisiert werden.

Prinzessin? Mach die Augen auf!

Blicke ich auf meine Kindheit zurück, muss ich zugeben: meine Emanzipation ging recht schleppend vonstatten. Neben Einflussfaktoren wie familiäres und soziales Umfeld lag das am Einfluss und der Rezeption von Kindermedien. Allen voran meiner geliebte Walt Disney Classic Collection. Die dort dargestellten Geschlechterrollen prägten mich maßgeblich mit. Dornröschen als in Not geratene Schönheit, Schneewittchen als gutgläubige, in Not geratene Schönheit oder Belle als in Gefangenschaft genommene Schönheit.

Dieses Jungfrau in Nöten-Bild zieht sich durch die so oft zugrunde liegenden Grimmschen Märchen. So dass Mädchen vor dem Zubettgehen eingetrichtert wurde, das weibliche Geschlecht sei zwar schön, aber nun mal schwach. Und deshalb angewiesen auf den starken Prinzen. Doch um Disney gegenüber fair zu bleiben: Mit den späteren Frauenfiguren Mulan, Pocahontas und (meiner Favoritin) Meg in Hercules flimmerten auch Persönlichkeiten auf dem Bildschirm, die durchsetzungsstärker waren. Oder eben: rebellisch! (Ach, und wer Rotkäppchen als Aktivistin erleben will, kann sich die Rotkäppchen-Version der Bocholter Märchenoma Ursula Enders anschauen.)

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Es waren einmal… 100 starke Frauen

Zum Inhalt: In 100 Kurzgeschichten und künstlerischen Illustrationen präsentieren Elena Favilli und Francesca Cavallo 100 Mädchen und Frauen, die unsere Gesellschaft zu Höherem verholfen haben. Ob Rennfahrerin Lella Lombardi, Modeschöpferin Coco Chanel (hier geht’s zur Filmkritik über das Biopic zu Coco) oder Aktivistin Malala Youzafzai. Die Protagonistinnen in diesem Buch sind Vorbilder. Nicht nur für Mädchen, sondern natürlich auch für Jungen. Schließlich geht es um Geschichten, die Geschichte geschrieben haben. Um starke Menschen, die mutig waren, zu scheitern, aufzustehen und weiter nach ihren Zielen zu greifen.

Ein Crowdfunding-Projekt gegen Geschlechter-Klischees

Das geplante Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls der beiden italienischen Autorinnen Elena Favilli, Journalistin, und Theaterregisseurin und Schriftstellerin Francesca Cavallo traf einen internationalen Nerv. Als Reaktion auf das Video If you have a daughter, you need to see this (siehe unten) beteiligten sich Menschen aus über 70 Ländern mit mehr als 1 Million Euro bei der Crowdfunding-Kampagne. Sie halfen dabei, dass die Geschichten von 100 beeindruckenden Frauen in die Buchläden, die Kinderzimmer und in die Köpfe der Menschen einziehen konnten. Dank ihres Erfolgs gilt Good Night Stories for Rebel Girls als erfolgreichstes Kinderbuch im Bereich Crowdfunding.

Auch die Pressestimmen unterstreichen die Relevanz und den Erfolg dieses feministischen Kinderbuchs. Hier eine Auswahl:

Entgegen dem Titel sind die pointierten, auf je eine Doppelseite verdichteten Kurzporträts zu jeder Tageszeit ein Genuss. So viel geballte Girlpower ist eine Ermunterung und Bestätigung für jede Heranwachsende, große Träume und hohe Ziele zu haben. 

Verena Hoenig (Neue Zürcher Zeitung), 11.12.17

Bei Good Night Stories for Rebel Girls ließe sich die Botschaft so zusammenfassen: Wie ein Leben sich gestaltet, kann man nicht wissen; aber wer für seine Träume und Ideen einsteht, integer lebt und aufbegehrt, der trägt zu seinem eigenen Glück und meistens auch zum Wohlergehen anderer bei.

Yalda Franzen (SPIEGEL Online), 29.10.17

Elena Favilli und Francesca Cavallo liefern mit heroischen, die Selbstermächtigung in sämtlichen Spielarten feiernden Kurzbiografien ein Prägungsmodell für Heldinnen der Zukunft.

Jamal Tuschick (Der Freitag)

Frage: Gibt es das schwache Geschlecht? Einer Antwort darauf sind wir in diesem Blogbeitrag auf den Grund gegangen: Bio mit Beauvoir.

Zur Wirkung des Buchs

Mit ihrem feministischen Kinderbuch haben die Autorinnen einen wertvollen Sammelband diverser Frauen- und Mädchengeschichten aus dem echten Leben kreiert. Das gehört in jedes Kinderzimmer. In knappen Texten, die fast alle klassisch mit »Es war einmal…« eröffnen, werden statt Klischee-Märchen Lebensgeschichten erzählt. Diese dürften sowohl Kindern auch als Erwachsenen Inspiration und Mut einflößen. Hierzu gehören besagte Coco Chanel, Schriftstellerin Astrid Lindgren, Michelle Obama und 97 mehr. Jede*s der Mädchen und Frauen wird sowohl textlich als auch künstlerisch porträtiert und so zu einer Gute-Nacht-Heldin. So facettenreich die Protagonistinnen selbst erscheinen, so imponieren auch die mitwirkenden 60 Künstlerinnen aus aller Welt mit ihrem eigenem Stil.

Ein schöner Bonus: Das Kinderbuch wurde 2018 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Wien als Sieger in der Kategorie Junior-Wissensbücher ausgezeichnet.

Einen Einblick ins Kinderbuch gibt’s hier:

Blick ins Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Fazit zu Good Night Stories for Rebel Girls

Ein Hoch auf die mutigen und unerschrockenen Frauen und Mädchen in diesem Kinderbuch (und in der Welt)! Und ein Hoch auf die beiden Autorinnen und die 60 Künstlerinnen. Mit den wahren Geschichten motivieren sie Mädchen, aktiv zu werden und für ihre Werte einzustehen. Dieses Verständnis muss gefördert werden. Denn immer noch herrscht ein veraltetes Rollenbild, das Medien wie Menschen reproduzieren und an den Nachwuchs weitertragen. Die immense Teilnahme an diesem Crowdfunding-Projekt macht deutlich, wie relevant und dringend das Thema Geschlechter-Verständnis ist. Mit ihren echten Märchen vermittelt das Kinderbuch Good Night Stories For Rebel Girls auf kindgemäße Weise ein differenzierteres Bild vom weiblichen Geschlecht. Ich vergebe 10 Sterne.

TitelGood Night Stories for Rebel Girls 
Erscheinungsjahr2017
Autor*in, Illustrator*inElena Favilli (Autorin) 
Francesca Cavallo (Autorin)
VerlagHanser Verlag
Umfang224 Seiten
Altersempfehlungab 12 Jahren
ThemaMut, Gender, Frauenbild

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Märchenoma Ursula Enders aus Bocholt-Suderwick | 1926-2018 | Nachruf http://www.blogvombleiben.de/nachruf-maerchenoma-ursula-enders/ http://www.blogvombleiben.de/nachruf-maerchenoma-ursula-enders/#respond Mon, 06 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4663 Am vergangenen Freitag, 3. August ist Ursula Enders gestorben. Daheim, in der Wohnstube des ehemaligen Bauernhaus…

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Am vergangenen Freitag, 3. August ist Ursula Enders gestorben. Daheim, in der Wohnstube des ehemaligen Bauernhaus an der Keminksweide. Wer je an diesem Haus im grünen, grenznahen Hinterland vorbeigefahren ist, wird es schon von weitem gesehen haben: Dort wohnt jemand Besonderes. Den Menschen aus Suderwick, Bocholt und Umgebung, bis in die Niederlande, war Ursula Enders vor allem als die »Märchenoma« oder »Sprookjes Oma« bekannt. Ihrer Leidenschaft, Geschichten zum Leben zu erwecken, frönte sie bis ins hohe Alter. Ursula Enders wurde 92 Jahre alt.

Die lebendige Erzählerin

Als die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit anfingen, im Volksmund verbreitete Märchen und Sagen zu sammeln, da stießen sie auf Menschen wie Dorothea Viehmann. Eine rüstige Frau jenseits der Fünfzig, die nach dem Tod ihres Mannes für sich und ihre sieben Kinder zu sorgen hatte. Wilhelm Grimm schrieb über Dorothea:

Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß […]. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. 

Wilhelm Grimm, in: Kinder- und Hausmärchen, Band 1 (1819)

Eben diese Worte kann man heute, knapp 200 Jahre später, auf Ursula Enders anwenden. Wenn sie sich hinsetzte, um ihrer Hörerschaft von Rotkäppchen und Co zu erzählen, dann konnte man sehen, wie die Geschichten vor ihrem inneren Auge lebendig wurden. Doch die Märchenoma war nicht nur eine tolle Erzählerin. Sie war ein Energiebündel, eine Macherin – und eine unglaublich warmherzige Persönlichkeit. Dabei war ihr Lebensweg wahrlich kein leichter.

Die Schauspielerin Anni C. Salander mit Märchenoma Ursula Enders.

Das Mädchen mit den Schlüsselblumen

In dem Jahr, in dem Gertrude Ederle als erste Frau den Ärmelkanal durchschwamm, da kam in Thüringen, nicht weit von der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei, das Mädchen Ursula zur Welt. 1926. Dort geboren und bis in die 90er Jahre nie weit fortgezogen, hat Ursula Enders ihre Kindheit in der Weimarer Republik gelebt, ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus, ihr Erwachsenenalter in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der kommunistischen DDR, noch später in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Fünf verschiedene, politische Systeme vor der immer gleichen Kulisse des thüringischen Waldes.

Eine ihrer frühesten Erinnerungen, würde jenes Mädchen viele Jahrzehnte später als Bocholter Märchenoma erzählen, waren die Spaziergänge mit der Großmutter, die ihre Enkelin auch mit den vielen Märchen bekannt machte, die sie später auswendig erzählen konnte. Als Kind begleitete Ursula ihre Oma oft in das Waldgebiet neben dem Friedhof. Dort pflückten sie Schlüsselblumen und Leberblümchen, aus denen das geschickte Mädchen Sträuße band, für die es pro Strauß 2 Pfennig bekam.

Da hab ich mich so drüber gefreut – wenn ich heimkam und der Mutter 20 Pfennig geben konnt‘,  die ich verdient hab. Dann war sie glücklich. 

Ursula Enders im Juli 2015

Doch die heile Welt währte nicht lange. Ursula hatte 9 Geschwister, der Vater war »im Krieg geblieben«. Der Mutter standen im Monat gerade mal 80 Mark zur Verfügung. Sie konnte sich bald nicht mehr um alle Kinder kümmern, nicht mehr alle ordentlich ernähren, drum gab sie einige weg.

Fester Vorsatz in jungen Jahren

Neben 2 Brüdern wurde auch Ursula im Alter von 9 Jahren in eine andere Obhut überlassen, nach Gera. »Bei fremde Leute«, wie sie später zu sagen pflegte. Fremde Leute, bei denen sie kein Glück erfahren sollte. Im Gegenteil: Viel Arbeit, keine Liebe. »Nicht mal einen winzigen Pfefferkuchen gab’s zu Weihnachten«, erinnerte sich Ursula, die in diesen Jahren viel geweint habe. So etwas erzählte sie nicht, um Mitleid zu erregen, sondern auf die Frage, wie aus Ursula Enders denn die »Märchenoma« geworden ist, die immer Süßigkeiten im Haus hat, wenn Kinder zu Besuch kommen – oder Lämmchen (kein Scherz).

Damals nämlich, in den bitterarmen, tränenreichen Mädchentagen, schon da habe sie sich gesagt: »Wenn ich mal groß bin, und alt, dann geb ich den Kinder das zurück, was ich selbst nie hatte.« Um 1940, im Jugendalter von gerade einmal 14 Jahren, begann Ursula Enders zu arbeiten.

Jahrzehntelange Plackerei

Nach dem 2. Weltkrieg nahm das Stahlwerk Thüringen die Produktion im Hochofen II auf. Es ist der einzige, noch erhaltene Hochofen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, der in der DDR weiter betrieben wurde. An diesem Hochofen arbeitete Ursula Enders jahrzehntelang. Selbst als sie Kinder bekam – nachdem sie 1950 geheiratet hatte – dauerten die Auszeiten nie lange. »Nach 4 Wochen gab man das Kind in die Krippe und die Arbeit ging weiter.«

Ihr Mann schuftete in einem Uranbergwerk, unter Tage und unter schwersten Bedingungen. Schon im Alter von 50 Jahren starb er an einer Staublunge und Ursula Enders stand mit ihren Kindern allein da. In einem Schuppen, den ihr 1966 die Gemeinde zur Verfügung stellte, richtete die Mutter es ihren Kindern und sich wohnlich ein – und bekam selbst eine Stelle im Uranbergwerk zugewiesen.

Zur Genesung fort aus der Heimat

Anfang der 90er Jahre war dann auch Ursula Enders von der schweren Plackerei mit Presslufthammer und Steinbrocken im Bergwerk so geschunden und lungenkrank, dass sie von der Krankenkasse nach Düsseldorf geschickt wurde. Dort hatte man Erfahrung mit der Behandlung von Staublunge. Doch diese Behandlung sei intensiv, hieß es, und man riet Ursula einen Umzug in den Westen des vor kurzem wiedervereinigten Deutschlands. So mietete sie sich eine ehemalige Bauernkate in Bocholt-Suderwick, wo sie bis zu ihrem Tod am 3. August 2018 wohnen bleiben würde.

Obwohl diese Bauernkate nur ein paar Minuten, Wiesen und Felder entfernt liegt von meinem Elternhaus, dauerte es bis vor rund 5 Jahren, ehe ich Ursula Enders kennenlernen sollte.

Gestatten, die Märchenoma

Ich kann mich an eine Fahrradtour im Sommer 2013 erinnern, da kamen wir in der Keminksweide in Bocholt-Suderwick vorbei. Es war ein heißer Tag, pralle Sonne, keine Wolke am Himmel, keine anderen Radler oder Autos unterwegs. Ein sehr stiller Sonntag im Hinterland. Vor diesem seltsamen Bauernhaus, das von bunten Hütten umgeben war, machten wir Halt. Man muss sagen: An dieser Anlage gibt es kein großes Schild, das auf die Märchenwelt der Ursula Enders hinweist. Und so erschließt sich zufälligen Besucher*innen die Kulisse ohne Kontext nicht sofort.

Weit und breit kein Mensch zu sehen, schlenderten wir von Hütte zu Hütte und betrachteten die Märchen darin – bis ins hinterste Häuschen, das man gar betreten konnte. Auch darin, bis hoch unter die Decke arrangiert: Märchenhafte Figuren und Requisiten, die in ihrem stillen Dasein altbekannte Geschichten bewahrten. Ich muss zugeben, wie wir damals so zum ersten Mal in dieser an jenem Tag menschenleeren Märchen-Ausstellung waren, fand ich’s ein bisschen schaurig. (Das kommt davon, wenn man zu viele Gruselfilme sieht, in denen Puppen zum Leben erwachen.)

Kaffee und Kuchen für Karl(a) Kolumna

Im selben Sommer begann ich als Redakteur und rasender Reporter für den Stadtkurier in Bocholt zu arbeiten. Und es sollte nicht lange dauern, bis ich gen Ende 2013 in dieser Funktion nochmals in die Keminksweide kam. Mit Stift und Zettel und lauter Fragen rund um einen bevorstehenden Weihnachtsmarkt, auf dem Ursula Enders einige ihrer Märchenhäuser ausstellte.

Ich staunte nicht schlecht über diese Frau: Hinter dem unscheinbaren, harmlosen Titel der »Märchenoma« steckte ein Mensch von unglaublicher Schaffenskraft. Zunächst saßen wir noch bei Kaffee und Kuchen (selbstgemacht, natürlich) in ihrer kleinen Küche, die selbst wie einer Märchenwelt entsprungen schien. Ringsum türmten sich Puppen und Fabelgestalten. Wenig später bekam ich dann ihre Werkstätte zu sehen, im Wesentlichen:

Eine Nähmaschine zwischen Badewanne und Fenster zum Garten. An diesem bescheidenen Plätzchen entstanden, in stunden- und tagelanger Arbeit, die Kleider für die unzähligen Figuren draußen in der Ausstellung.

Die Ausstellung der Märchenoma in Bocholt-Suderwick

Info: Ursula Enders hat nicht erst in Bocholt-Suderwick damit angefangen, Märchen in Szene zu setzen. Schon in ihrer Heimat baute sie erste Märchen auf, die später von ihrer Tochter zum Märchenwald Saalburg ausgebaut wurden.

Zu Ostern kam ich wieder, als die Märchenoma diese Ausstellung anlässlich der Feiertage um diverse Hasen und Ostereier bereicherte. Während ich im Winter mein Kopfhaar noch lang getragen hatte, kam ich nun kurz geschnitten daher und durfte mir erstmal anhören, dass »beim letzten Mal eine sehr nette Kollegin von Ihnen da war« – »Ehm… nee, das war auch ich.«

Herzensgute Seele

Seitdem kam ich auch mal zwischen den Presseterminen vorbei, einfach nur, damit sich das Gesicht einprägen möge. Und wegen den Süßigkeiten, klar. Und den Märchen, sowieso. Aber eigentlich, das werden sich andere Besucher*innen sicher ebenso eingestehen, kam man vor allem wegen dieser herzensguten Seele gerne dorthin, ins Märchenland. 

Wenn man so mit Ursula Enders in der Küche saß, dann konnte es passieren, dass ein kleines Schaf hereinspazierte. Dieses Lämmchen lag auch gerne am Fußende auf Ursulas Bett, während von draußen durchs Fenster die großen Schafe hineinspähten. Nach getaner Arbeit (jeden Morgen um 6.30 Uhr aufstehen, jeden Tag 5-6 Stunden nähen) lag die Märchenoma selbst erschöpft in diesem Bett – doch auch von dort hatte sie immer etwas Süßes in Greifweite, wenn man zu Besuch kam.

Ihr Lebensgefährte Dieter saß dann abends neben dem Bett. In der Ecke lief der Fernseher, die Nachrichten, auf stumm geschaltet. Und Dieter erzählte aus diesem oder jenem Kapitel der deutschen Geschichte, bemerkenswert kenntnisreich.

Es wird einmal…

Im Sommer 2015 durften wir bei der Märchenoma einige Aufnahmen für unser Langzeit-Filmprojekt Es wird einmal… drehen, das jedes Jahr um ein paar Szenen weiter wächst. Dafür trat Ursula Enders selbst in ihrer Lebensrolle als Märchenoma in Erscheinung. Rückblickend wünschte ich mir, wir hätten damals einfach einen Kurzfilm gedreht. Irgendwas kleines, geschlossenes, damit wir Ursula Enders das Ergebnis noch hätten zeigen können. Denn ihre Gastfreundschaft unserem Filmteam gegenüber war unglaublich.

Ein kurzer Ausschnitt aus dem Projekt, das die Märchenoma mit ihrer Präsenz und ihrem Lebenswerk bereichert hat:

Ich bin der Märchenoma so dankbar für all die Inspiration und Mut, den sie den Menschen mit auf den Weg gegeben hat – und ich bereue es sehr, sie im vergangenen Jahr nicht mehr besucht zu haben. Man redet sich ein, »ja, ja, der Umzug, die Arbeit«, viel zu tun und was weiß ich. In Wahrheit habe ich einfach nur meine Prioritäten falsch gesetzt. Was kann denn besser warten, irgendein x-beliebiges Projekt oder ein über 90-jährige Frau, die trotz ihrem Frohsinn schwerkrank war?

Eine Botschaft der Märchenoma

Ursula Enders hat sich nicht in ihrer Märchenwelt versteckt, als wolle sie der Wirklichkeit entfliehen. Im Gegenteil: Sie hat sich sehr um ihre Nachwelt gesorgt. So sehr, dass sie auch mal vom »Grimmschen Original« abwich und ein Märchen nach eigenen Gutdünken umdichtete. Das Ergebnis war eine Art »Bocholter Version« des Rotkäppchens. Während der Drehtage im Spätsommer 2015 hat die Märchenoma uns diese Geschichte erzählt. Hier ist sie nochmal, ganz in ihrem Element:

Keine andere Dichtung versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge zu sagen wie das Märchen.

Johann Gottfried Herder

Ausgezeichnetes Engagement

Mit diesem Zitat hat der Landrat Dr. Kai Zwicker den Hauptteil seiner Rede eingeleitet, im Juli 2014, als Ursula Enders die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde. Weiter sagte er:

Sehr geehrte Frau Enders, mit Ihrer Einstellung und Ihrem unermüdlichen Einsatz für Ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht nur in Bocholt, sondern in der ganzen Region – sind Sie ein Vorbild für Bürgerengagement und solidarisches Handeln. Für Sie selbst war dies immer selbstverständlich. Das ist es jedoch keineswegs. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass die Öffentlichkeit auf das Beispiel, das Sie geben, aufmerksam gemacht und zur Nachahmung aufgefordert wird.

Landrat Dr. Kai Zwicker

Info: Über die Verleihung berichtete auch der Gemeindebrief für Suderwick und Spork: Der Grenzgänger (Oktober-November 2014)

Nachahmung in Sachen Solidarität, die hat die Märchenoma seitens der Bevölkerung aus Bocholt und Umgebung erfahren, als Anfang das Sturmtief »Friederike« ihre Ausstellung zerstörte. Binnen 7 Wochen schafften es viele freiwillige Helfer*innen mithilfe von Spenden und tatkräftigen Händen, Ursula Enders Märchenwelt wieder aufzubauen. Ein beeindruckendes Beispiel für gesellschaftliches Engagement, das jetzt, da Ursulas Lebensweg zu Ende gegangen ist, als umso wichtiger in Erinnerung bleibt: Diese Helfer*innen haben einem Vorbild gezeigt, wofür es sich lohnt, ein Vorbild zu sein.

In Respekt und Dankbarkeit

Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar andere Stimmen zu Wort kommen lassen, die sich in den letzten Tagen und Jahren über Märchenoma Ursula Enders geäußert haben. Inbesondere

Ich halte ihr Leben und ihre rastlose Tätigkeit […] für ein Vorbild für uns alle. Es zeigt uns, dass ein hartes Leben und ein schweres Schicksal nicht in Resignation und Verbitterung enden muß, sondern neue Kräfte und viel Kreativität freisetzen kann und den Wunsch, Liebe und Wärme zu geben und Freude in das Leben anderer Menschen zu bringen.

H. Lippelt | 2014

Ich denke. mit folgender Formulierung nicht zu übertreiben: Bocholt und
die Umgebung verneigen sich in großem Respekt und tiefer Dankbarkeit vor dem Engagement und der enormen Leistung der – stets äußerst bescheidenen »Märchenoma«.

E. Geitel | 2014

Ich sagte ihr zum Abschied: »Frau Enders. ich habe noch selten so über einen Menschen gestaunt.« Sie wehrte bescheiden, fast erschrocken ab: »Nein, nein, nicht staunen! Sie sollen sich freuen!«

M. Handschuh-Bauer | 2014

Herzmensch durch und durch

»Oma« Ursula zeigte schon mir, als ich noch ein kleiner »Windelscheißer« war, die Welt der Märchen. Das ist nun gut 25 Jahre her. Sie ist nicht meine leibliche Großmutter, doch im Herzen war sie es immer – jeder, der Ursula kennt, wird genau wissen, was ich meine. Und vermutlich wird fast jeder sie als »eigene Oma« ins Herz geschlossen haben. Verwandtschaftsgrad hin oder her.

Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, wenn sie Geschichten erzählte und dazu die passenden Figuren zeigte, welche sie stets selbst bastelte. Niemand konnte so schön die Stimme der drei kleinen Schweinchen nachäffen wie sie. Ursula hatte nie viel Geld und nutzte das bisschen, das sie hatte, um anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Bis heute – ja, sogar im Zeitalter der Medien, wo Märchen leider in den Hintergrund rücken, ist sie mit ihren Geschichten unglaublich beliebt. Sie war ein Herzmensch durch und durch. Ohne sie wird hier etwas fehlen… mach’s gut, Oma.

Jennifer Woelk | 2018

Märchenoma im Fernsehen

Oh, und bevor es in Vergessenheit gerät: Im Jahr 2010 hat die niederländische Sendung Joris‘ Showroom ein wirklich tolles, stimmungsvolles Porträt der Märchenoma – oder eben: »Sprookjes Oma« – produziert. Alle Rechte dieses Films liegen bei der Nederlandse Christelijke Radio Vereniging, doch ehe das schöne Filmdokument in der Versenkung verschwindet (online konnte ich es leider nicht mehr finden), möchte ich es hier abschließend für Interessierte zur Verfügung stellen:

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THEOGONIE von Hesiod, Musenfreund & Frauenfeind | Griechische Mythologie http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/ http://www.blogvombleiben.de/buch-hesiod-theogonie/#respond Sat, 04 Aug 2018 07:00:12 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4626 Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen?…

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Eine Schöpfungsgeschichte ohne Adam und Eva, dafür mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen? Wenn Hesiod von der Entstehung der Welt erzählt – lange bevor die Bibel geschrieben wurde – dann geht’s zur Sache. Die Theogonie wimmelt vor Göttern, die einander lieben, betrügen, bekriegen, und wilden Fabelwesen, die wie aus einem tierischen Baukasten zusammengesteckt daherfliegen. Manches wirkt geradezu abstrus, anderes kommt uns doch allzu bekannt vor. Ein Blick auf eines der ersten Werke dessen, was wir »Weltliteratur« nennen.

Bericht des Bauern-Dichters

Ein Ausschnitt des Gemäldes The Birth of Venus, dazu ein Buchcover und der Text: Die Theogonie von Hesiod
The Birth of Venus (ca. 1879) von William-Adolphe Bouguereau (hier im Ausschnitt zu sehen) zeigt eine Szene aus der Theogonie von Hesiod. Venus, die Göttin der Liebe, heißt in Griechenland Aphrodite.

Totale: Theogonie im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am Anfang der Weltliteratur stehen – von einem europäischen Standpunkt aus gesehen – zwei Namen, die schon zu Platons Zeiten berühmt waren. Die Rede ist von Hesiod und Homer, zwei Dichter, die vor ungefähr 2700 Jahren lebten. Sie waren diejenigen, die den Griech*innen die Herkunft der zahlreichen Götter lehrten, diesen Namen gaben und ihre Funktionen und Erscheinungen beschrieben. So fasste die Errungenschaft der beiden Dichter bereits Herodot (2, 53) zusammen, Urvater aller Geschichtsschreiber*innen, im 5. Jahrhundert vor Christus (dem Sohn des einzigen Gottes, an den gemäß der heute am weitesten verbreiteten Religion noch zu glauben ist). Ein paar Jahrzehnte nach dem Historiker Herodot urteilte der Heerführer und spätere Herrscher Alexander der Große: Homer sei ein Dichter für Könige gewesen, Hesiod hingegen einer für Bauern. Dinge wie Ehre, Eleganz und Schönheit haben bei Letzterem nicht allzu hohen Stellenwert.

Persönlicher Kontext

Als Sohn eines Bäckers fühle ich mich da eher zu dem Bauern-Dichter hingezogen. Dessen bekannteste Schriften – die Theogonie und Werke und Tage – sind auch viel kürzer, als Homers wuchtige Epen, die Ilias und die Odyssee. Hesiods Schöpfungsgeschichte und sein Lehrgedicht lassen sich in ein paar Mußestunden lesen. Aus diesem schändlich pragmatischen Grund habe ich mich an Hesiod herangetraut. Als Student*in der Geschichte und Philosophie kommt man an diesem frühesten aller Dichter sowieso nicht wirklich vorbei.

Und als römisch-katholisch erzogener Mensch ist es auch mal erfrischend, eine andere Schöpfungsgeschichte als die Genesis der Bibel zu lesen. In Hesiods Version der Weltentstehung, so viel sei versprochen, da gibt’s mehr Action und die krasseren Held*innen. Die Theogonie ist wie ein antikes Avengers-Prequel. Aber: Die Frauenfeindlichkeit, die das Christentum später über Jahrhunderte tradiert hat, die findet sich ebenso bei Hesiod.

Hinweis: Die Theogonie in deutscher Übersetzung und voller Länge findet sich online unter anderem unter www.gottwein.de 

Close-up: Theogonie im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Werkes

Es war einmal, am grünen Hang eines Berges in Griechenland, da lag ein junger Mann im Gras. Um ihn herum weideten die Schafe, die er zu hüten hatte. Das Gebirge hieß und heißt noch heute Helikon. Dort begegneten dem dösenden Hirten die Töchter des Zeus, dem obersten der olympischen Götter und Göttinnen. Diese Töchter waren empört über die Faulheit des Mannes, der da zwischen seinen Schafen lag:

[26] Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche, vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden. 1

Im Auftrag der Musen

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?

[53] Diese gebar in Pierien, dem Kronossohn [das ist Zeus] und Vater der Musen in Liebe vereint, Mnemosyne [die Göttin des Gedächtnisses], die an den Hängen des Eleuther waltet; sie schenken Vergessen der Übel und Trost in Sorgen. Neun Nächte nämlich einte sich ihr der Rater Zeus und bestieg fern von den Göttern ihr heiliges Lager; als aber die Zeit kam […], gebar sie neun Mädchen von gleicher Art, deren Herz in der Brust am Gesang hängt und deren Sinn frei von Kummer ist […] 2 

9 Nächte miteinander verbracht, 9 Mädchen gezeugt. Diese bestechende Logik ist laut dem Altphilologen Otto Schönberger in Mythen nicht unüblich: Die Zahl der Kinder entspricht häufig der Zahl der miteinander verbrachten Nächte. Mir persönlich gefällt die Idee, dass die Göttin des Gedächtnisses die Musen hervorbringt, die Schutzgöttinnen der Künste. Denn was will Kunst schon groß anderes, als im Gedächtnis zu bleiben?

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Werkes

Doch es ist nicht die Dichtkunst, die mir im Gedächtnis bleibt. Mag daran liegen, dass ich (der ich damals im Griechisch-Unterricht eine Graupe war) Hesiod nicht im Original gelesen habe, Götter bewahret! Erst recht nicht im Gedächtnis bleibt mir, wer wen zeugte. Obwohl die Schöpfungsgeschichte der Theogonie da um einiges spannender ausfällt als in der Bibel – Hesiod unterschlägt auch nicht, dass am Zeugungsakt meist zwei beteiligt sind. Vergleich:

BIBEL, Matthäus 1,2: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte […] 

HESIOD, Theogonie 295: Noch ein unbezwingliches Scheusal gebar Keto, das weder sterblichen Menschen noch ewigen Göttern gleicht, in gewölbter Höhle, die wundersame, mutige Echidna, halb Mädchen mit lebhaften Augen und schönen Wangen, halb Untier, greuliche, riesige Schlange, schillernd und gierig nach Blut im Schoß der heiligen Erde. […] Mit Echidna, heißt es, vereinte sich liebend Typhaon, der furchtbare, ruchlose Frevler, mit dem lebhaft blickenden Mädchen, das von ihm empfing und mutige Kinder gebar. Zuerst gebar sie den Hund Orthos für Geryoneus […]

Na, welche Schöpfungsgeschichte geht mehr ab? Welche würde man eher im Kino sehen wollen? Die Antwort ist ganz klar: NEIN. Einfach nein. Denn Achtung!

Richtigstellung | Ein aufmerksamer Leser hat mich für diesen Vergleich von Schöpfungsgeschichten ob ihrer Coolness gescholten. Zu recht, muss ich kleinlaut beipflichten. Ich wurde der groben Vereinfachung überführt. Ein tückisches Mittel, um unkundige Leser*innen mit plakativen Pseudo-Beispielen ins eigene Lager zu ziehen. Dabei liegt hier wohlgemerkt keine Tücke im heimtückischen Sinne zugrunde: Ich bin schlicht selbst zu unkundig, als dass ich meine (allenfalls geahnte…) Vereinfachung in ihrem ganz Ausmaß bemerkt hätte.

Fakt ist, dass es nicht die eine biblische Schöpfungsgeschichte gibt. Ein kurzer Blick ins Stichwort-Verzeichnis von Bibelwissenschaft.de genügt, um sich der Breite des Schöpfungsthemas bewusst zu werden. Ein längerer Blick in den Artikel Schöpfung AT (von Annette Schellenberg) lässt staunen, wie sich das Thema hinsichtlich Terminologie, Auslegung und kulturellem Standpunkt in all seiner Vielschichtigkeit auffächert – was man bei der jahrhundertlangen Entstehungsgeschichte erwarten sollte. Jener aufmerksame Leser schrieb mir folgende Denkanstöße:

Das Judentum wurde sowohl von den Griechen als auch von den Römern als »Volk von Philosophen« bezeichnet, weil die – nennen wir es – »Volksbildung« recht hoch war. Fachsimpeln war scheinbar Bestandteil der Religionsausübung. Die Geschlechter-Listen (Abraham zeugte Isaak etc.) sind eigentlich gar nicht Teil der Schöpfung. Sie sind Resultat einer Redaktion (siehe Priesterschrift) in der verschiedene mündlich tradierte Erzählkreise in ein Gesamtwerk verpackt werden sollen. Diese langweiligen Verwandtschaftslisten sind also ein »Kit«, um verschiedene viel ältere Geschichten in eine Chronologie zu bringen.

Das Geile ist ja jetzt, dass dem alttestamentarischen Juden diese mesopotamischen, ägyptischen und später hellenistischen Theogonien bekannt waren. Sie waren Teil seines kulturellen Umfeldes. Die wirklich vielfältigen Schöpfungsvorstellungen in der Bibel gewinnen mit der Kenntnis anderer Mythen noch viel mehr an Aussagekraft. Es steckt viel mehr heroic epicness mit Monstern und Helden zwischen den Zeilen, als man heute auf den ersten Blick vermuten mag

Florian Sauret, Nachtwächter der Stadt Bocholt

In diesem Sinne, vielen Dank für das wertvolle Feedback und die vertiefenden Einblicke in ein doch sehr komplexes Thema! Und um auch die Komplexität der Griechischen Mythologe nochmal so übersichtlich und unterhaltsam wie möglich zu vermitteln, gibt’s hier ein wirklich großartig gemachtes Video von Maurus Amstutz, der die Theogonie als Animationsfilm adaptiert hat:

Weil der Mann das Feuer bändigte

Nun denn, wie gesagt, die ungeheuerliche Titanen-Parade aus der Theogonie von Hesiod ist es nicht, die mir in Erinnerung bleibt. Stattdessen prägt sich ins Gedächtnis, wie der antike Dichter schon inbrünstig gegen die Frau wettert. Sie kommt als Strafe des Zeus auf die Erde, dafür, dass der Mensch sich des Feuer bemächtigt hat:

[570] Sogleich schuf er den Menschen für das Feuer ein Unheil. Aus Erde nämlich formte der ruhmreiche Hinkfuß Hephaistos nach dem Plan des Kronossohnes das Bild einer züchtigen Jungfrau. […] Staunen hielt unsterbliche Götter und sterbliche Menschen gebannt, als sie die jähe List erblickten, unwiderstehlich für Menschen. Stammt doch von ihr das Geschlecht der Frauen und Weiber. 3

The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten
The Creation of Pandora (1913) von John D. Batten

Die Frau als Strafe

Diese unwiderstehliche Jungfrau, die Zeus den Menschen zur Strafe schickte, war Pandora. Jene Pandora, von der sich auch die heute noch sprichwörtliche »Büchse der Pandora« ableitet. Allein, dass die »Büchse« einem Übersetzungsfehler oder Kunstgriff aus der Renaissance zurückgeht. Bei Hesiod schickte Zeus seine tückische Kreation noch mit einem Faß los, zu den Menschen.

[591] Von ihr kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluß. […] Gerade so schuf der hochdonnernde Zeus zum Übel der sterblichen Männer die Frauen, die einig sind im Stiften von Schaden. Auch sandte er ein weiteres Übel zum Ausgleich des Vorteils: Wer die Ehe und schlimmes Schalten der Weiber flieht und nicht freien will, der kommt in ein mißliches Alter, weil es dem Greis an Pflege fehlt. 4

Hesiods Vorbilder

Soll heißen: Man könne weder mit noch ohne die Frauen gut leben. Denn obwohl sie ein beschwerliches Laster seien, bräuchte man sie doch zur Zeugung einer Nachkommenschaft, die den Vater im hohen Alter pflegen kann. Schönberger kommentiert es so: »Die Frau ist die Strafe. Hesiod war (aus Erfahrung?) ein Frauenfeind und will die schlimme, ja vernichtende Rolle der Frau im Leben der Menschen darstellen.«

Es spielt keine Rolle, welche Erfahrungen Hesiod mit einzelnen Frauen gemacht haben mag. Den allgemeinen Frauenhass jedenfalls, den hat der Dichter nicht erfunden. Ebenso wenig wie die meisten der Götter und Göttinnen und einige ihrer Abenteuer, die in der Theogonie geschildert werden. Auch wenn Hesiods Werk eines der ältesten ist, die uns erhalten geblieben sind, hat sich der Dichter im 8. Jahrhundert v. Chr. bereits von einem ganzen Kosmos an Ideen und Geschichten inspirieren lassen können. »Viele Vorbilder«, so bringt Otto Schönberger es auf den Punkt, »dürften uns unbekannt sein.«

Von der Dichtung zur Philosophie

Die Strahlkraft von Hesiods Werk lässt sich schon besser nachweisen. So schreibt man ihm einen Einfluss auf die vorsokratischen Philosophen zu. Indem Hesiod den mythischen Wesen seiner Erzählung die Bezeichnung oder Eigenschaften von Gegebenheiten der Wirklichkeit gab – so verkörpert die Göttin Gaia etwa die Erde – vollzieht Hesiod »einen Schritt von der epischen Dichtung zur Philosophie«, schreibt Schönberger und nennt Hesiod einen »Vorbote[n] spekulativen Denkens« in den »Schranken überlieferter Vorstellungen«.

Hesiod in diesem Vorboten-Sein eine besondere Leistung zuzuschreiben wäre indes, als würde man einen Frosch dafür loben, dass er als Wassertier schon Beine hat. Der Gedankengang von mythischen Wesen über Metaphysik und Erkenntnistheorie hin zur hochtechnologisierten, naturwissenschaftlichen Forschung vollzieht sich in ähnlich evolutionären, ihrem Gewicht unbewussten Einzelschritten, wie der Werdegang vom Meeresbewohner zum Menschenaffen.

Fazit zur Theogonie

Eine kurzweilige Lektüre von hohem, historischem Stellenwert, die gleichermaßen beeindruckend und beschämend ist. Darin steckt viel Wahres darüber, wie sich der Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten die Welt erklärt – zuweilen eben sehr erfindungsreich. Schon Platon kritisiert vieles von Hesiods Dichtung als »unwahre Erzählungen« (Politeia, Abschnitt 40a über Musische Bildung), die den jungen Leuten nicht unbedacht überliefert werden, »sondern am liebsten verschwiegen bleiben« sollten. Das geringschätzige Frauenbild hingegen, das Hesiod vermittelt, hatte Platon ebenso verinnerlicht, wie all die Generationen nach im, zum Teil bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

Apropos Platon: Hier geht’s zu Blogbeiträgen über Platons Ideenlehre und Platons Höhlengleichnis.

Der Beitrag THEOGONIE von Hesiod, Musenfreund & Frauenfeind | Griechische Mythologie erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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