Der Beitrag DIE STUFEN DES ORGANISCHEN und der Mensch, Helmuth Plessner | 1928 erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Lebendige Dinge, so gelingt es Plessner zu zeigen, unterscheiden sich von unbelebten Dingen, indem sie sich selber gegenüber ihrer Umgebung abgrenzen. Die Art und Weise, wie lebendige Entitäten diese Grenzrealisierung selber vollziehen – sich aktiv auf ihre Umwelt beziehen, mit ihr im Austausch stehen und sich ihr gegenüber abgrenzen – nennt Plessner »Positionalität«.
Alexandra Manzei, in: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, S. 68
Um die hier genannten, bei Helmuth Plessner zentralen Begriffe »Leben«, »Grenze« und »Positionalität« soll es im Folgenden gehen. Doch zunächst gilt zu klären, welchem Zeitgeist die Philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner eigentlich entspringt.
Helmuth Plessner gilt zusammen mit Max Scheler und Arnold Gehlen als einer der drei Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie. Diese bildete sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als philosophische Neubegründung der Frage: »Was ist der Mensch?« Als ältester dieser Herren führt Max Scheler zu Beginn seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) »drei unter sich ganz unvereinbare Ideenkreise« auf, die seinerzeit – und damit auch zu Zeiten Plessners – herrschten. Siehe:
Jener letzte Punkt ist erst durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin in das Bewusstsein der Menschen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gerückt. Darwins Theorie hat beträchtlich zur Erschütterung des Menschenbildes beigetragen. Noch nie zuvor, so formuliert es Scheler, sei sich der Mensch je »so problematisch geworden […] wie in der Gegenwart«.
Ich habe es darum unternommen, auf breitester Grundlage einen neuen Versuch einer Philosophischen Anthropologie zu geben.
Max Scheler
So verkündet es feierlich Max Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos – im selben Jahr, in dem auch Helmuth Plessner (in kritischer Distanz zu Scheler) einen solchen Versuch unternimmt, gefolgt von Arnold Gehlen, der einen Weltkrieg später seinerseits (unter Einfluss seiner Vorgänger und doch anders als diese) versucht, eine Philosophische Anthropologie zu erarbeiten. Worin aber bestehen die wesentlichen Unterschiede zwischen den drei Denkern?
In seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) schreibt Max Scheler dem Menschen eine »Sonderstellung« über allen anderen Lebewesen zu. Als Grund sieht er des Menschen Zugang zu oder Teilhabe an einer überräumlichen und überzeitlichen Sphäre, die Scheler als den »Geist« bezeichnet. Ein solch näherhin metaphysisches Verständnis vom Menschen findet sich bei Helmuth Plessner nicht.
Arnold Gehlen wiederum unterscheidet sich von Plessner, indem er den Menschen primär als »Mängelwesen« sah. Diesen Begriff führte Gehlen mit seinem Hauptwerk Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) ein. Gemeint sind mit den »Mängeln« allerlei biologische Nachteile des Menschen in seiner natürlichen Umgebung. So besitzt er weder Angriffsorgane wie Fangzähne oder Klauen, noch eine Statur, die ihm eine rasche Flucht ermöglichen könnte. Mangels Fell ist er auch nicht vor Kälte geschützt, kurzum: Der Mensch müsste längst ausgestorben oder von anderen Raubtieren ausgerottet worden sein. Dass es anders gekommen ist, wird bei Gehlen letztlich mit einer näherhin teleologischen Struktur der Natur begründet:
[…] all das, was den Menschen zu einem Mängelwesen in biologischer Hinsicht stempelt, wird als zweckmäßig begriffen. Handlung, Sprache, die Antriebsmomente menschlicher Handlungen insgesamt bestätigen vor diesem Hintergrund die »große Teleologie« jedes Einzelaspekts der Organisationsform Mensch. […] Insbesondere der menschliche Faktor Bewusstsein liefert nach Gehlen den treffenden Beweis für die »besondere menschliche Technik, sich im Dasein zu erhalten« (Gehlen 1997, 63)
Gerald Hartung, in: Philosophische Anthropologie (2018), S. 67
»Sich im Dasein zu erhalten« gelingt dem Menschen, indem er die Natur umarbeitet zu einer zweiten Natur, jene Sphäre unserer kulturellen Errungenschaften, die uns mehr und mehr einhüllt. Auch Helmuth Plessner sieht die Kultur als Kompensation eines Mangels des Menschen – doch diesen Mangel begründet Plessner anders als Gehlen, nämlich ebenso durch einen Mangel an »Unmittelbarkeit«. Mehr dazu im Abschnitt »3 Gesetze«.
Die Fragestellungen, an denen Plessners Philosophische Anthropologie ihren Ausgang nehmen, lauten: Angesichts seiner mannigfaltigen Existenzformen – wie sind allgemeine Aussagen über den Menschen möglich? Durch welche Strukturmerkmale muss sich ein anthropologischer Erklärungsansatz auszeichnen, der philosophische, ethnologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse umfassen soll?
Die Strukturmerkmale der Philosophischen Anthropologie Plessners sind nun folgende:
Im Studium der Kulturwissenschaften an der Fernuniversität Hagen ist die Philosophische Anthropologie bereits im ersten Philosophie-Modul (P1) ein Thema. So habe ich Helmuth Plessner als einen der Hauptvertreter dieser Teildisziplin der Theoretischen Philosophie kennengelernt. In der P1-Klausur am 11. September 2017 lautete eine der Prüfungsaufgaben (so in etwa): »Skizzieren und kritisieren Sie die Anthropologie Plessners«. Ein knappes Jahr später, für die mündliche P3-Prüfung im September 2018, wählte ich Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) als eines von drei Büchern, die ich für diese Prüfung aufbereiten sollte. Erstens, weil ich die Anthropologie Plessners dank der P1-Prüfung noch ein wenig präsent hatte. Zweitens, weil sie wirklich interessant ist und in den letzten Jahrzehnten, wie oben erwähnt, sowas wie eine »Renaissance« erlebt. Der Shit ist relevant!
Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) liegt mir in der unveränderten 3. Auflage von 1975 vor. Bereits im Vorwort zur 2. Auflage rechtfertigt Plessner sich für einen unveränderten Neudruck seiner Schrift, die er – im »Beharren beim alten Text« – nicht für unantastbar erklären wolle. Aber ernsthaft kritisiert worden sei sie seither eben auch nicht. Allein, dass seit 1928 – das Jahr, in dem Die Stufen veröffentlicht wurden und der ehrwürdige Anthropologe Max Scheler starb – gemunkelt wurde, Plessners Werk sei womöglich eigentlich Schelers Vermächtnis, das fasst Helmuth Plessner ein wenig pikiert auf. So schreibt er anlässlich der Leichtgläubigkeit jener munkelnden Akademiker (und über sich selbst in der dritten Person):
Lebte der Autor [Plessner] nicht auch in Köln, und war er nicht [Schelers] Schüler? Er war es nicht, bei aller Nähe. Er hatte, was Scheler perhorreszierte [verachtete] und seiner Art zuwider war, den Versuch unternommen, die Stufung der organischen Welt unter einem Gesichtspunkt zu begreifen. | XI 1
Ein Gesichtspunkt, statt zwei. Das ist wichtig.
Doch ehe wir darauf eingehen, was Helmuth Plessner mit einem Gesichtspunkt meint, sei noch auf eine heitere Beobachtung des Autors von Die Stufen des Organischen und der Mensch hingewiesen. Nochmal in Bezug auf Originalität im weitesten Sinne. So findet Plessner bei den Philosophen Sartre und Merleau-Ponty zuweilen Übereinstimmungen mit seinen eigenen Formulierungen, die bei ihm die Frage aufkommen ließen, ob diese beiden Herren…
[…] nicht vielleicht doch die »Stufen« kannten. Aber das gleiche ist mir auch bei Hegel passiert, auf den ich mich hätte berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen. Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt. | XXIII
Nun zu dem einen Gesichtspunkt, statt zwei. Bei Max Scheler waren – wie oben beschrieben – »Natur« und »Geist« noch zwei unterschiedliche Sphären in einem dualistischen Weltbild. Doch »Natur« und »Geist« liegen innerhalb der (einen) vom Menschen erfahrbaren Welt, so argumentiert Plessner:
Will man den Menschen, so wie er lebt und sich versteht, als sinnlich-sittliches Wesen in Einer d. h. der menschlichen Existenz entsprechenden Erfahrungsstellung, welche »Natur« und »Geist« umspannt, so muß man auch die Mittel dazu schaffen. […] Das Mittel, die Phänomenologie, ist da: als Möglichkeit. Nun heißt es, das Mittel zu dem notwendigen Zweck zu gebrauchen. | S. 24
Dieser Zweck – die »Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte« – sei laut Helmuth Plesser über folgende Etappen zu erreichen:
Über diese Etappen solle man gefälligst nicht »voreilig« hinweg galoppieren, mahnt Plessner. In Die Stufen des Organischen und der Mensch lässt er ordentlich Dampf ab.
Abbreviaturen [Abkürzungen] sind heute in den Zeiten des Telegramms beliebt. Man schmökert in philosophischen Büchern […] wie Backfische [Jugendliche] Romane lesen […]. Diese Lotterigkeit des Lesens wird natürlich durch die systematisch nicht mehr geschulte Weise des Philosophierens oder durch den vorschnellen Systematismus kleiner Weltbaumeister unterstützt. Geduld, Einfühlungsfähigkeit und Achtung vor der Intention des Anderen sind offenbar Tugenden, die vergangenen Zeiten angehören. | S. 31
Ein bemerkenswertes Statement aus den 1920er Jahren – jenen »Zeiten des Telegramms«, die gegen das Zeitalter von Twitter harmlos wirken, was verkürzte Gedankengänge anbelangt. Plessner warnt in Die Stufen des Organischen und der Mensch von den unbekümmerten, fahrlässig arbeitenden Philosoph*innen einer Zeit, »die keinen Atem mehr hat«:
Was auf solche Weise an Schriftstellerei (obzwar nicht unbedingt ohne Tiefe) in die Welt gesetzt wird, mag seine Wahrheit haben […], – nur ermangelt es der echten Objektivität. Da gegenwärtig nicht bloß Zeitungsschreiber, Politiker, Literaten, sondern sogar Gelehrte dieser intuitiven Direktheit verfallen, sei mit aller erdenklichen Schärfe betont, daß nach unserer Überzeugung ein derartiges Verfahren, Philosophie en passant zu treiben, ihrem Untergang gleichkommt. | S. 71
An dieser Stelle muss ich mich wohl selbst als »kleiner Weltbaumeister« positionieren, mitschuldig in allen Punkten der Anklage. Dieses höchst subjektiv und »eher so nebenher« geschriebene WordPress-Blog ist mitnichten der richtige Ort für tiefgreifende Philosophie à la Die Stufen des Organischen und der Mensch. Dass ich mir dennoch zumute, im Folgenden Die Stufen des großen Helmuth Plessner auf Blogbeitrag-Kürze niederzubrechen, bitte ich etwaige richtigen Philosoph*innen zu entschuldigen.
[Im] Mittelpunkt steht der Mensch. Nicht als Objekt einer Wissenschaft, nicht als Subjekt seines Bewusstseins, sondern als Objekt und Subjekt seines Lebens d. h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist. | S. 31
Ein zentraler Begriff in Plessners Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch ist (neben »Mensch«, offensichtlich) das »Leben«. Es geht dem Anthropologen darum, den Unterschied von lebendigen Organismen zu unbelebten Objekten klar aufzuzeigen. So kann er das organische Leben schließlich in Stufen ordnen – von den Pflanzen über die Tiere hin zum Menschen.
Gerade die Daseinsweisen der Lebendigkeit, die den Menschen mit Tier und Pflanze verbinden und seine besondere Daseinsweise tragen, sind gegen geistige Sinngebung indifferent. […] Erst ist einmal Klarheit darüber zu gewinnen, was als lebendig bezeichnet werden darf, bevor weitere Schritte zur Theorie der Lebenserfahrung in ihrer höchsten menschlichen Schicht unternommen werden. | S. 37
So so… und der Tod? Seite 148: »Der Tod ist dem Leben unmittelbar äußerlich und unwesentlich, wird jedoch durch die lebenswesentliche Form der Entwicklung mittelbar zum unbedingten Schicksal des Lebens.« Ah, okay!
Nun gibt es viele Möglichkeiten, »Leben« zu definieren. Einige davon gibt Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch wieder. So etwa (auf Seite 112) eine funktionelle Definition des Lebens durch den Anatom und Biologen Wilhelm Roux (1850-1924).
Lebewesen … sind Naturkörper, welche mindestens durch eine Summe bestimmter, direkt oder indirekt der Selbsterhaltung dienender Elementarfunktionen … sowie durch Selbstregulation … in der Ausübung aller dieser Funktionen vor den anorganischen Naturkörpern sich auszeichnen und dadurch trotz der Selbstveränderung und durch dieselbe sowie trotz der zu alledem nötigen komplizierten und weichen Struktur sehr dauerfähig werden. | W. Roux
Von dem Philosophen Adolf Meyer-Abich führt Plessner (ebenfalls auf Seite 112) nur eine Liste angenommener Lebenskennzeichen auf. Darunter fallen:
Ernährung (Stoffwechsel), Vermehrung, Entwickung, Vererbung, Wachstum, Reizbarkeit, Regulation, Bewegung (Energiewechsel), Struktur | A. Meyer
Helmuth Plessner selbst macht das »Leben« hingegen in Die Stufen des Organischen und der Mensch vor allem an einem, wie er glaubt, »fundamentalen Merkmal« fest, durch welches die belebte von unbelebten Naturgebilden unterscheiden. Dabei handelt es sich um die Positionalität (Selbstgrenzsetzung).
Der Charakter der Positionalität ist bei aller Anschaulichkeit weit genug, um die Daseinsweisen des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens als Variable darzustellen, ohne auf psychologische Kategorien zurückzugreifen. | XIX
Es gibt also verschiedene Arten von Positionalität. Je nach Lebensform, beziehungsweise Organisationsform. Während unbelebte Naturgebilde nur sind, soweit sie reichen (ganz plastisch verstanden, von ihren körperlichen Dimensionen her), zeichnen sich belebte Naturgebilde durch ein Verhältnis zu ihrer eigenen Grenze aus.
Der gewöhnliche Sprachgebrauch unterscheidet […] nicht scharf zwischen Dingen, welche die und die Grenzen haben oder mit den und den Grenzen sind. Er stützt sich ganz ausschließlich auf die sinnliche Anschauung, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, daß das betreffende Ding seine Grenze, Gestalt, Form nicht als etwas noch für sich Bestehendes hat, sondern daß es mit und in ihr, als sie ist, sie, die ja sein Anfangen oder Aufhören, gegen ein anderes außer ihm Seiendes gehalten, darstellt. | S. 101
Das ist kompliziert formuliert. Plessner meint, dass ein lebendiger Körper nicht nur eine Grenze »hat«. So, wie man sich die Schale einer Orange (oder eben die Haut des Menschen) vorstellen mag. Sondern, dass ein lebendiger Körper diese Grenze auch selbst »ist«. Die Orange ist auch ihre Schale, der Mensch ist auch seine Haut.
Diese Grenze muß sowohl Raumgrenze oder Kontur sein, weil sie ja gegenständlich in der Erscheinung auftreten soll, als auch Aspektgrenze, in welcher der Umschlag zweier wesensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt. | S. 102
Helmuth Plessner betrachtet Lebewesen als Körperdinge in einem sogenannten »Doppelaspekt« stehend. Dieser Doppelaspekt bezeichnet zwei gegensätzliche Richtungen. Einmal das »nach Innen gerichtete« (zum substantiellen Kern des Lebewesens) und das »nach Aussen gerichtete« (zur Grenze der eigenschaftstragenden Seiten des Lebewesens). Diese Richtungen sind nicht ineinander überführbar. Ein Lebewesen zeichnet sich als Körperding einerseits durch diesen Doppelaspekt aus. Andererseits tritt es mit diesem Doppelaspekt als Eigenschaft auf. Der Doppelaspekt des immerzu »nach Innen und Aussen« gerichteten Seins macht den positionalen Charakter eines organischen Körpers aus. Ein solcher kann nur sein, indem er wird. Das Sein eines solchen organischen Körpers ist also kein Zustand, sondern ein immerzu währender Prozess.
Auf unterster Stufe stehen im plessnerschen Modell die Pflanzen. Ihnen kommt eine offene Positionalität zu. Sie sind azentrisch – das heißt, Pflanzen sind unmittelbar und funktional in ihre Umgebung eingepasst. Sie verfügen über keine Zentralorgane, von denen etwa Bewegungsimpulse ausgehen könnten.
Tiere haben nach Plessner eine geschlossene Positionalität. Denn Tiere sind selbständig gegenüber ihrer Umwelt. Sie sind nicht an einen festen Ort gebunden. Vielmehr verfügen Tiere über spezialisierte innere und äußere Organe. Auf sensorische Reize (aus der Merkwelt), können sie mit motorischen Reaktionen (aus der Wirkwelt) reagieren.
Weitere Unterscheidung: Bei dezentralistischen Tiere (Seeigel zum Beispiel) findet die Umweltrepräsentation nicht über ein einzelnes, sondern viele Organe statt. Zentralistische Tiere (Affen zum Beispiel) haben ein zentrales Nervensystem als einheitliche Wahrnehmungs- und Steuerungszentrale.
Menschen zeichnen sich durch exzentrische Positionalität aus. Ein Mensch steht nicht mehr nur im erlebten Mittelpunkt seines Umfeldes. Stattdessen steht ein Mensch auch außerhalb dieses (und jedes!) Zentrums. So kann ein Mensch aus der eigenen Mitte heraustreten, auf sich selbst Bezug nehmen und zu sich selbst Distanz herstellen. Menschen besitzen die Fähigkeit zur Selbstreflexion.
Durch seine exzentrische Positionalität eröffnen sich dem Menschen 3 Welten.
Aus seiner Philosophie leitet Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch drei anthropologische Grundgesetze ab.
In der Konsequenz kommt es zu einer paradoxen Situation. Religion und dergleichen verlangen einerseits nach Beharrung und Stabilität. Kultur hingegen braucht ständigen Fortschritt.
Schon das »ex« der »exzentrischen Positionalität« kann Verwirrung stiften. Ist mit dem Begriff eine räumliche Dimension gemeint, oder darf man ihn als Metapher verstehen? Die These der exzentrischen Positionalität kann auch insofern missverstanden werden, dass sie den Menschen in einem Stufen ständiger Selbstvergegenständlichung beschriebe – gefangen in andauernden Reflexion seiner selbst. Zudem geht aus Die Stufen des Organischen und der Mensch nicht ganz hervor, ob die exzentrische Positionalität ein Produkt der Biologie oder der Kultur ist.
Hinter seinem Anspruch, eine transkulturell gültige Anthropologie zu begründen, bleibt Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch zurück. Das von ihm entworfene Menschenbild scheint doch eher dem überreflektierten Großstadtmenschen zu gelten, als einem »durchschnittlichen Exemplar« der Spezies Homo sapiens. Nichtsdestotrotz ist für uns überreflektierten Exemplare, die wir im Internet als digitale Bühne unserer »zweiten Natur« herumlungern, die Philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner durchaus lesenswert.
Während ein Max Scheler noch bemüht war, Menschen und Welt von Gott her zu begreifen, geht Plessner den umgekehrten Weg – ganz ohne die Annahme, man könne den Menschen und seine Sonderstellung irgendwie »von außen betrachten«, ohne selbst einen geschichtlich bedingten Blickwinkel einzunehmen. Eben diesen berücksichtigt Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch und bereichert die Philosophie Anthropologie damit um ein reflexive Methode.
Manch Philosoph*in geht so weit, in der Reflexivität Helmuth Plessners das entscheidende Merkmal seines Werks zu sehen:
Plessners Philosophie bezieht sich auch auf sich selbst. Erst dadurch und genau dadurch gebärdet sie sich nicht als alternativlos, sondern verortet sich selbst in einem Feld von Möglichkeiten. Ich halte das für eine sachliche und normative Überlegenheit.
Volker Schürmann, in: Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert (2006), S. 84
Wenn Plessner in Macht und menschliche Natur (1931) etwa schreibe »Wir müssen [den Menschen] nicht [als exzentrisches Wesen] begreifen, aber wir können es« – dann definiere diese bescheidene Grundhaltung dessen Philosophie. Als aktuelles Beispiel für eine ähnliche Reflexivität nennt Volker Schürmann das Konzept der »situierten Ontologie« von Jutta Weber (im Anschluss an Donna Haraway, 1995) gegeben.
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]]>Der Beitrag DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE von Krzysztof Kieślowski | Film 1987 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Mit Der Zufall möglicherweise hat Krzysztof Kieślowski nicht nur möglicherweise, sondern ganz gewiss einige spätere Filme inspiriert. Bekanntestes Beispiel dürfte für das deutsche Publikum Lola rennt (1998) sein. Mit der Kamerafahrt in den Mund, zu Beginn von Lola rennt, spielt der Regisseur Tom Tykwer – der mit Heaven (2002) inzwischen ein Kieślowski-Drehbuch verfilmt hat – inszenatorisch elegant auf das Vorbild an. Ebenso mit dem Anrempeln einer prompt pöbelnden Passantin durch die rennende Lola (Franka Potente). Nehmen wir im Folgenden das Original unter die Lupe – Witek statt Lola.
Info: Zu der Zeit, da ich diesen Film suchte [Juli 2018], war Der Zufall möglicherweise (Original: Przypadek, Englisch: Blind Chance) im polnischen Original mit englischen Untertiteln in der Mediathek von Eastern European Movies verfügbar – eine empfehlenswerte Website für alle, die Interesse am osteuropäischen Kino haben. Allerdings wurde Der Zufall möglicherweise im Jahr 2017 vom Studio Filmowe TOR auch auf YouTube hochgeladen und ist dort in voller Länge zu sehen. (siehe unten)
Was den Film für ein internationales Publikum schwer zugänglich macht, ist seine Verankerung in der polnischen Geschichte vom Ende des 2. Weltkriegs bis Anfang der 80er Jahre. Der Zufall möglicherweise spielt vor dem Hintergrund des kommunistischen Polens, das scheinbar in zwei Lager zerfallen ist: Man ist entweder für oder gegen die Partei. Der Werdegang des fiktiven Studenten Witek Długosz dient als Beispiel, an dem gezeigt wird, wie ein Leben in diesem Polen laufen kann. Mal ist er als kommunistischer Funktionär in die Geschichte gestrickt, mal als Oppositioneller – und mal versucht er sich ganz aus dem Politischen rauszuhalten.
Obwohl der Film bereits 1981 gedreht wurde, lief er auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und in den polnischen Kinos erst 1987. Anfang der 80er Jahre war Der Zufall möglicherweise – in einer Zeit, da in Polen aufgrund der Solidarność-Unruhen Kriegszustand herrschte – von der Zensur zunächst verboten worden. Zu unbequem war dem Regime der Inhalt dieses Films.
Möglicherweise war’s der Zufall, der dafür sorgte, dass ich durchaus filmbegeisterter Mensch bis vor kurzem den Namen Krzysztof Kieślowski nicht kannte. Möglicherweise war’s aber auch blöde Ignoranz, weil mein Hirn den Namen nichtmal in Gedanken auszusprechen wusste. Inzwischen lerne ich – durch Zufall, möglicherweise – seit ein paar Jahren polnisch und möchte die Annäherung all denjenigen erleichtern: Man spricht ihn Kschischtof Kschlowski aus (hier sagt’s ein Muttersprachler: ).
Ein stimmungsvoller, wenn auch nur visueller Teaser zum Lebenswerk dieses großen Filmemachers vermittelt ein Bilderreigen, den das Museum of the Moving Image im Jahr 2016 veröffentlicht hat:
Wer Lola rennt kennt und mag, möchte vielleicht sehen, welchem Film Tom Tykwer die Kernidee entnommen hat. Mir jedenfalls ging es so.
»This is the 1981 version of the film, with censored fragments restored.«
Mit dieser Texttafel begann die Version, die ich gesehen habe. Dabei stimmt der Hinweis nicht ganz. Es gab noch immer eine Stelle im Film, in der das Bild schwarz wurde und nur die Tonspur weiterlief. In dieser zensierten Szene ging es um Polizeigewalt. Fast entschuldigend wies hier eine erneute Texteinblendung darauf hin, dass dieses Fragment das einzige gewesen sei, dass sich nicht habe restaurieren lassen.
Der Film beginnt mit einer Großaufnahme des Helden, Witek Długosz, der nervös dasitzt, den Mund aufreißt und »Nieee!« ruft. Die Kamera ist zu nah dran, als dass wir zuordnen könnten, wo er da sitzt. Und sie fährt noch näher heran, diese Kamera, fährt in den aufgerissenen Mund, ins Schwarz. In gelben Großbuchstaben erscheint der Name des Hauptdarstellers, der diesen Film über seine gesamte Laufzeit trägt: Bogusław Linda.
Nach den Vorspanntiteln folgt eine Kollage an Bildern, deren Sinn sich auf die Schnelle nicht erschließt: Ein blutiges Bein in einem Korridor, durch den eine Leiche geschleift wird. Ein dumm dreinschauendes Kind, das sich erst im Spiegel betrachtet, dann den Blick zu den Mathe-Hausaufgaben senkt. Neben dem Jungen sitzt der Vater, sieht ihm in die Augen?. Schnitt. Ein grüner Hang, auf dem ein Auto steht. Ein anderer Junge, der sich verabschiedet. Schnitt. Der voyeuristische Blick ins Lehrerzimmer, durchs Fenster. All diese Ausschnitte aus Kindheitstagen sind aus der Subjektiven gefilmt, Point of View ist jenes Kind, das sich im Spiegel betrachtet hat.
Aus der Kindheit geht’s in die späte Jugend oder das frühe Erwachsenenalter, auf jeden Fall raus aus der Subjektiven: Witek turtelt mit einer kurzhaarigen Frau an einem Gleis. Ein paar Typen rufen Obszönes, Witek rennt ihnen nach. Schnitt zu einem nackten, grauen Leichnam, der aufgeschnitten wird. Von der gelben Fettschicht schwenkt die Kamera hoch zu den herabschauenden Medizinstudent*innen. Eine von ihnen sticht hervor, durch ihren angewiderten Blick. Witek erzählt sie, die Tote sei ihre Lehrerin gewesen. Es folgt ein Schnitt zum gealterten Vater, der Witek erzählt, wie froh er war, als der Junge damals seinen Lehrer geschlagen habe. Denn Streber möge er nicht.
So geht es eine Weile. Kurze Szenen, chronologisch zwar und auf einen Helden fokussiert, doch durch die unüberschaubar großen Zeitsprünge unterbrochen. In diesem Prolog geht es Kieślowski nur um eine Art Quintessenz dessen, was aus dem Vorleben Witek erinnert werden soll. Bis zur schicksalhaften Szene am Bahnhof. Diese sehen wir zum ersten Mal nach 7 Minuten. So gerade eben erwischt Witek den Zug und der Film beginnt, endlich in gemäßigtem Tempo, mit verfolgbarer Handlung.
Wir werden zu jenem Bahnhof zurückkehren, ähnlich wie Mr. Nobody (2009) des Regisseurs Jaco van Dormael immer wieder zum Bahnhof zurückkehrt. Der Ort, an dem die Zeitstränge wie sich trennende Waggons auf unterschiedlichen Gleisen weiterfahren… Auf die Frage, ob er Der Zufall möglicherweise von Kieślowski gesehen habe, antwortet Jaco van Dormael in einem polnischen Interview:
Selbstverständlich. Unsere Filme entstanden zur selben Zeit [hier bezieht sich van Dormael auf seinen Kurzfilm È pericoloso sporgersi (1984), der wie ein früher Rohentwurf zu Mr. Nobody wirkt]. Offenbar waren wir von denselben Dilemmata beunruhigt. Und die Vorstellung verleiht mir heute noch eine gewisse Unruhe: Wir sitzen hier zusammen und reden, doch wie wenig muss man nur tun, damit Ihr oder mein Leben in völlig neuen, anderen Bahnen verläuft. Jede unserer Entscheidungen determiniert die nächste […]
Jaco van Dormael im Gespräch mit Barbara Hollender (aus dem Polnischen)
Bei Jaco van Dormael artet diese Idee wohlgemerkt in ein fantastisches Multiversum aus. Bei ihm eröffnet jede kleine Geste einen völlig neuen Zeitstrang. Bei Kieślowski ist der deterministische Gedanke von einer unausweichlichen Vorbestimmung hingegen wesentlich präsenter – und der Weg zum vorgezeichneten Schicksal bleibt in jedem Fall realistischer und näher an der Lebenswelt seines Protagonisten und der politischen Situation seiner Zeit.
Eine gewisse Faszination für die Zeit und den rätselhaft verstrickten Gang der Dinge ist wichtig. Zumindest, um als deutsche*r Zuschauer*in unter (grob über den Daumen gepeilt) 50 Jahren einen Zugang zu dem Film zu finden. Der Zufall möglicherweise bedient nicht unsere mit aufpolierten Bildern konditionierten Sehgewohnheiten. Er nimmt uns im Storytelling nicht bei der Hand (wie wir es vom Hollwood-Mainstream-Kino kennen, damit auch ja jede*r alles versteht) und setzt historisches Wissen voraus, das man ohne Bezug zu Polen kaum mitbringen wird.
Ich persönlich habe beschämend wenig Ahnung von der polnischen Geschichte. Dafür ist meine Faszination für die Zeit-Thematik im Film umso größer. Unabhängig von beidem ist das Schauspiel des Ensembles in Der Zufall möglicherweise wirklich stark. Und das Drehbuch ist so gut, dass es einen Sog entwickelt. Auch wenn man nicht alles verstehen mag, was in diesem Film vor sich geht, erlaubt er bestimmte Einblicke doch sehr klar und deutlich: Einblicke in die Zerrissenheit des Helden im Strudel des Zeitgeschehens. Egal, für welches politische Lager oder um welche Liebe Witek kämpft, man fiebert mit, wenn Witek rennt.
Hier gibt es den Film Der Zufall möglicherweise in voller Länge zu sehen (im polnischen Original mit englischen Untertiteln):
Übrigens: Der Zufall möglicherweise ist Teil der Criterion Collection. Hier gibt es weitere Informationen.
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]]>Der Beitrag Märchenoma Ursula Enders aus Bocholt-Suderwick | 1926-2018 | Nachruf erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Als die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit anfingen, im Volksmund verbreitete Märchen und Sagen zu sammeln, da stießen sie auf Menschen wie Dorothea Viehmann. Eine rüstige Frau jenseits der Fünfzig, die nach dem Tod ihres Mannes für sich und ihre sieben Kinder zu sorgen hatte. Wilhelm Grimm schrieb über Dorothea:
Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß […]. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte.
Wilhelm Grimm, in: Kinder- und Hausmärchen, Band 1 (1819)
Eben diese Worte kann man heute, knapp 200 Jahre später, auf Ursula Enders anwenden. Wenn sie sich hinsetzte, um ihrer Hörerschaft von Rotkäppchen und Co zu erzählen, dann konnte man sehen, wie die Geschichten vor ihrem inneren Auge lebendig wurden. Doch die Märchenoma war nicht nur eine tolle Erzählerin. Sie war ein Energiebündel, eine Macherin – und eine unglaublich warmherzige Persönlichkeit. Dabei war ihr Lebensweg wahrlich kein leichter.
In dem Jahr, in dem Gertrude Ederle als erste Frau den Ärmelkanal durchschwamm, da kam in Thüringen, nicht weit von der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei, das Mädchen Ursula zur Welt. 1926. Dort geboren und bis in die 90er Jahre nie weit fortgezogen, hat Ursula Enders ihre Kindheit in der Weimarer Republik gelebt, ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus, ihr Erwachsenenalter in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der kommunistischen DDR, noch später in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Fünf verschiedene, politische Systeme vor der immer gleichen Kulisse des thüringischen Waldes.
Eine ihrer frühesten Erinnerungen, würde jenes Mädchen viele Jahrzehnte später als Bocholter Märchenoma erzählen, waren die Spaziergänge mit der Großmutter, die ihre Enkelin auch mit den vielen Märchen bekannt machte, die sie später auswendig erzählen konnte. Als Kind begleitete Ursula ihre Oma oft in das Waldgebiet neben dem Friedhof. Dort pflückten sie Schlüsselblumen und Leberblümchen, aus denen das geschickte Mädchen Sträuße band, für die es pro Strauß 2 Pfennig bekam.
Da hab ich mich so drüber gefreut – wenn ich heimkam und der Mutter 20 Pfennig geben konnt‘, die ich verdient hab. Dann war sie glücklich.
Ursula Enders im Juli 2015
Doch die heile Welt währte nicht lange. Ursula hatte 9 Geschwister, der Vater war »im Krieg geblieben«. Der Mutter standen im Monat gerade mal 80 Mark zur Verfügung. Sie konnte sich bald nicht mehr um alle Kinder kümmern, nicht mehr alle ordentlich ernähren, drum gab sie einige weg.
Neben 2 Brüdern wurde auch Ursula im Alter von 9 Jahren in eine andere Obhut überlassen, nach Gera. »Bei fremde Leute«, wie sie später zu sagen pflegte. Fremde Leute, bei denen sie kein Glück erfahren sollte. Im Gegenteil: Viel Arbeit, keine Liebe. »Nicht mal einen winzigen Pfefferkuchen gab’s zu Weihnachten«, erinnerte sich Ursula, die in diesen Jahren viel geweint habe. So etwas erzählte sie nicht, um Mitleid zu erregen, sondern auf die Frage, wie aus Ursula Enders denn die »Märchenoma« geworden ist, die immer Süßigkeiten im Haus hat, wenn Kinder zu Besuch kommen – oder Lämmchen (kein Scherz).
Damals nämlich, in den bitterarmen, tränenreichen Mädchentagen, schon da habe sie sich gesagt: »Wenn ich mal groß bin, und alt, dann geb ich den Kinder das zurück, was ich selbst nie hatte.« Um 1940, im Jugendalter von gerade einmal 14 Jahren, begann Ursula Enders zu arbeiten.
Nach dem 2. Weltkrieg nahm das Stahlwerk Thüringen die Produktion im Hochofen II auf. Es ist der einzige, noch erhaltene Hochofen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, der in der DDR weiter betrieben wurde. An diesem Hochofen arbeitete Ursula Enders jahrzehntelang. Selbst als sie Kinder bekam – nachdem sie 1950 geheiratet hatte – dauerten die Auszeiten nie lange. »Nach 4 Wochen gab man das Kind in die Krippe und die Arbeit ging weiter.«
Ihr Mann schuftete in einem Uranbergwerk, unter Tage und unter schwersten Bedingungen. Schon im Alter von 50 Jahren starb er an einer Staublunge und Ursula Enders stand mit ihren Kindern allein da. In einem Schuppen, den ihr 1966 die Gemeinde zur Verfügung stellte, richtete die Mutter es ihren Kindern und sich wohnlich ein – und bekam selbst eine Stelle im Uranbergwerk zugewiesen.
Anfang der 90er Jahre war dann auch Ursula Enders von der schweren Plackerei mit Presslufthammer und Steinbrocken im Bergwerk so geschunden und lungenkrank, dass sie von der Krankenkasse nach Düsseldorf geschickt wurde. Dort hatte man Erfahrung mit der Behandlung von Staublunge. Doch diese Behandlung sei intensiv, hieß es, und man riet Ursula einen Umzug in den Westen des vor kurzem wiedervereinigten Deutschlands. So mietete sie sich eine ehemalige Bauernkate in Bocholt-Suderwick, wo sie bis zu ihrem Tod am 3. August 2018 wohnen bleiben würde.
Obwohl diese Bauernkate nur ein paar Minuten, Wiesen und Felder entfernt liegt von meinem Elternhaus, dauerte es bis vor rund 5 Jahren, ehe ich Ursula Enders kennenlernen sollte.
Ich kann mich an eine Fahrradtour im Sommer 2013 erinnern, da kamen wir in der Keminksweide in Bocholt-Suderwick vorbei. Es war ein heißer Tag, pralle Sonne, keine Wolke am Himmel, keine anderen Radler oder Autos unterwegs. Ein sehr stiller Sonntag im Hinterland. Vor diesem seltsamen Bauernhaus, das von bunten Hütten umgeben war, machten wir Halt. Man muss sagen: An dieser Anlage gibt es kein großes Schild, das auf die Märchenwelt der Ursula Enders hinweist. Und so erschließt sich zufälligen Besucher*innen die Kulisse ohne Kontext nicht sofort.
Weit und breit kein Mensch zu sehen, schlenderten wir von Hütte zu Hütte und betrachteten die Märchen darin – bis ins hinterste Häuschen, das man gar betreten konnte. Auch darin, bis hoch unter die Decke arrangiert: Märchenhafte Figuren und Requisiten, die in ihrem stillen Dasein altbekannte Geschichten bewahrten. Ich muss zugeben, wie wir damals so zum ersten Mal in dieser an jenem Tag menschenleeren Märchen-Ausstellung waren, fand ich’s ein bisschen schaurig. (Das kommt davon, wenn man zu viele Gruselfilme sieht, in denen Puppen zum Leben erwachen.)
Im selben Sommer begann ich als Redakteur und rasender Reporter für den Stadtkurier in Bocholt zu arbeiten. Und es sollte nicht lange dauern, bis ich gen Ende 2013 in dieser Funktion nochmals in die Keminksweide kam. Mit Stift und Zettel und lauter Fragen rund um einen bevorstehenden Weihnachtsmarkt, auf dem Ursula Enders einige ihrer Märchenhäuser ausstellte.
Ich staunte nicht schlecht über diese Frau: Hinter dem unscheinbaren, harmlosen Titel der »Märchenoma« steckte ein Mensch von unglaublicher Schaffenskraft. Zunächst saßen wir noch bei Kaffee und Kuchen (selbstgemacht, natürlich) in ihrer kleinen Küche, die selbst wie einer Märchenwelt entsprungen schien. Ringsum türmten sich Puppen und Fabelgestalten. Wenig später bekam ich dann ihre Werkstätte zu sehen, im Wesentlichen:
Eine Nähmaschine zwischen Badewanne und Fenster zum Garten. An diesem bescheidenen Plätzchen entstanden, in stunden- und tagelanger Arbeit, die Kleider für die unzähligen Figuren draußen in der Ausstellung.
Info: Ursula Enders hat nicht erst in Bocholt-Suderwick damit angefangen, Märchen in Szene zu setzen. Schon in ihrer Heimat baute sie erste Märchen auf, die später von ihrer Tochter zum Märchenwald Saalburg ausgebaut wurden.
Zu Ostern kam ich wieder, als die Märchenoma diese Ausstellung anlässlich der Feiertage um diverse Hasen und Ostereier bereicherte. Während ich im Winter mein Kopfhaar noch lang getragen hatte, kam ich nun kurz geschnitten daher und durfte mir erstmal anhören, dass »beim letzten Mal eine sehr nette Kollegin von Ihnen da war« – »Ehm… nee, das war auch ich.«
Seitdem kam ich auch mal zwischen den Presseterminen vorbei, einfach nur, damit sich das Gesicht einprägen möge. Und wegen den Süßigkeiten, klar. Und den Märchen, sowieso. Aber eigentlich, das werden sich andere Besucher*innen sicher ebenso eingestehen, kam man vor allem wegen dieser herzensguten Seele gerne dorthin, ins Märchenland.
Wenn man so mit Ursula Enders in der Küche saß, dann konnte es passieren, dass ein kleines Schaf hereinspazierte. Dieses Lämmchen lag auch gerne am Fußende auf Ursulas Bett, während von draußen durchs Fenster die großen Schafe hineinspähten. Nach getaner Arbeit (jeden Morgen um 6.30 Uhr aufstehen, jeden Tag 5-6 Stunden nähen) lag die Märchenoma selbst erschöpft in diesem Bett – doch auch von dort hatte sie immer etwas Süßes in Greifweite, wenn man zu Besuch kam.
Ihr Lebensgefährte Dieter saß dann abends neben dem Bett. In der Ecke lief der Fernseher, die Nachrichten, auf stumm geschaltet. Und Dieter erzählte aus diesem oder jenem Kapitel der deutschen Geschichte, bemerkenswert kenntnisreich.
Im Sommer 2015 durften wir bei der Märchenoma einige Aufnahmen für unser Langzeit-Filmprojekt Es wird einmal… drehen, das jedes Jahr um ein paar Szenen weiter wächst. Dafür trat Ursula Enders selbst in ihrer Lebensrolle als Märchenoma in Erscheinung. Rückblickend wünschte ich mir, wir hätten damals einfach einen Kurzfilm gedreht. Irgendwas kleines, geschlossenes, damit wir Ursula Enders das Ergebnis noch hätten zeigen können. Denn ihre Gastfreundschaft unserem Filmteam gegenüber war unglaublich.
Ein kurzer Ausschnitt aus dem Projekt, das die Märchenoma mit ihrer Präsenz und ihrem Lebenswerk bereichert hat:
Ich bin der Märchenoma so dankbar für all die Inspiration und Mut, den sie den Menschen mit auf den Weg gegeben hat – und ich bereue es sehr, sie im vergangenen Jahr nicht mehr besucht zu haben. Man redet sich ein, »ja, ja, der Umzug, die Arbeit«, viel zu tun und was weiß ich. In Wahrheit habe ich einfach nur meine Prioritäten falsch gesetzt. Was kann denn besser warten, irgendein x-beliebiges Projekt oder ein über 90-jährige Frau, die trotz ihrem Frohsinn schwerkrank war?
Ursula Enders hat sich nicht in ihrer Märchenwelt versteckt, als wolle sie der Wirklichkeit entfliehen. Im Gegenteil: Sie hat sich sehr um ihre Nachwelt gesorgt. So sehr, dass sie auch mal vom »Grimmschen Original« abwich und ein Märchen nach eigenen Gutdünken umdichtete. Das Ergebnis war eine Art »Bocholter Version« des Rotkäppchens. Während der Drehtage im Spätsommer 2015 hat die Märchenoma uns diese Geschichte erzählt. Hier ist sie nochmal, ganz in ihrem Element:
Keine andere Dichtung versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge zu sagen wie das Märchen.
Johann Gottfried Herder
Mit diesem Zitat hat der Landrat Dr. Kai Zwicker den Hauptteil seiner Rede eingeleitet, im Juli 2014, als Ursula Enders die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde. Weiter sagte er:
Sehr geehrte Frau Enders, mit Ihrer Einstellung und Ihrem unermüdlichen Einsatz für Ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht nur in Bocholt, sondern in der ganzen Region – sind Sie ein Vorbild für Bürgerengagement und solidarisches Handeln. Für Sie selbst war dies immer selbstverständlich. Das ist es jedoch keineswegs. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass die Öffentlichkeit auf das Beispiel, das Sie geben, aufmerksam gemacht und zur Nachahmung aufgefordert wird.
Landrat Dr. Kai Zwicker
Info: Über die Verleihung berichtete auch der Gemeindebrief für Suderwick und Spork: Der Grenzgänger (Oktober-November 2014)
Nachahmung in Sachen Solidarität, die hat die Märchenoma seitens der Bevölkerung aus Bocholt und Umgebung erfahren, als Anfang das Sturmtief »Friederike« ihre Ausstellung zerstörte. Binnen 7 Wochen schafften es viele freiwillige Helfer*innen mithilfe von Spenden und tatkräftigen Händen, Ursula Enders Märchenwelt wieder aufzubauen. Ein beeindruckendes Beispiel für gesellschaftliches Engagement, das jetzt, da Ursulas Lebensweg zu Ende gegangen ist, als umso wichtiger in Erinnerung bleibt: Diese Helfer*innen haben einem Vorbild gezeigt, wofür es sich lohnt, ein Vorbild zu sein.
Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar andere Stimmen zu Wort kommen lassen, die sich in den letzten Tagen und Jahren über Märchenoma Ursula Enders geäußert haben. Inbesondere
Ich halte ihr Leben und ihre rastlose Tätigkeit […] für ein Vorbild für uns alle. Es zeigt uns, dass ein hartes Leben und ein schweres Schicksal nicht in Resignation und Verbitterung enden muß, sondern neue Kräfte und viel Kreativität freisetzen kann und den Wunsch, Liebe und Wärme zu geben und Freude in das Leben anderer Menschen zu bringen.
H. Lippelt | 2014
Ich denke. mit folgender Formulierung nicht zu übertreiben: Bocholt und
E. Geitel | 2014
die Umgebung verneigen sich in großem Respekt und tiefer Dankbarkeit vor dem Engagement und der enormen Leistung der – stets äußerst bescheidenen »Märchenoma«.
Ich sagte ihr zum Abschied: »Frau Enders. ich habe noch selten so über einen Menschen gestaunt.« Sie wehrte bescheiden, fast erschrocken ab: »Nein, nein, nicht staunen! Sie sollen sich freuen!«
M. Handschuh-Bauer | 2014
»Oma« Ursula zeigte schon mir, als ich noch ein kleiner »Windelscheißer« war, die Welt der Märchen. Das ist nun gut 25 Jahre her. Sie ist nicht meine leibliche Großmutter, doch im Herzen war sie es immer – jeder, der Ursula kennt, wird genau wissen, was ich meine. Und vermutlich wird fast jeder sie als »eigene Oma« ins Herz geschlossen haben. Verwandtschaftsgrad hin oder her.
Jennifer Woelk | 2018
Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, wenn sie Geschichten erzählte und dazu die passenden Figuren zeigte, welche sie stets selbst bastelte. Niemand konnte so schön die Stimme der drei kleinen Schweinchen nachäffen wie sie. Ursula hatte nie viel Geld und nutzte das bisschen, das sie hatte, um anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Bis heute – ja, sogar im Zeitalter der Medien, wo Märchen leider in den Hintergrund rücken, ist sie mit ihren Geschichten unglaublich beliebt. Sie war ein Herzmensch durch und durch. Ohne sie wird hier etwas fehlen… mach’s gut, Oma.
Oh, und bevor es in Vergessenheit gerät: Im Jahr 2010 hat die niederländische Sendung Joris‘ Showroom ein wirklich tolles, stimmungsvolles Porträt der Märchenoma – oder eben: »Sprookjes Oma« – produziert. Alle Rechte dieses Films liegen bei der Nederlandse Christelijke Radio Vereniging, doch ehe das schöne Filmdokument in der Versenkung verschwindet (online konnte ich es leider nicht mehr finden), möchte ich es hier abschließend für Interessierte zur Verfügung stellen:
Der Beitrag Märchenoma Ursula Enders aus Bocholt-Suderwick | 1926-2018 | Nachruf erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.
Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.
Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:
Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)
Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.
Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.
Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.
Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.
Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.
Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.
Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.
Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.
Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:
Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. | Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)
Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.
Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.
Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)
Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:
Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.
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]]>Der Beitrag Freie Trauung oder kirchliche Trauung? | Entscheidung, Planung, Zeremonie erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Sonia: In Polen geboren und in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen, habe ich die Etappen Taufe, Kommunion und Firmung zeremoniell und traditionell durchlaufen. Zum Stolz meiner Verwandten. Doch je älter ich wurde und je seltener wir in die Kirche gingen, in der ich Kirchenfenster wie Schäfchen zählte, desto mehr befasste ich mich mit anderen Welt- und Glaubensanschauungen: Reinkarnation, Engel und Lichtwesen. Menschen, die als Medien zwischen den Welten vermitteln. Nahtoderfahrungen verschiedenster Art.
Was am Ende blieb, war der Gedanke, dass wir unter diesem Himmel alle gleichen Ursprungs sind und mit unseren Gedanken, Worten und Taten unser Leben und das unseres Planeten gestalten. Und dass wir nicht unbedingt eine institutionalisierte Religion brauchen, um zu glauben und gut zu sein. Und geht es nicht letztendlich darum, gut zu sein, um am Ende seiner Tage zufrieden zurück und nach vorne zu blicken?
David: Was ist denn »gut«? Als im Familiengottesdienst damals vom »guten Gott« erzählt wurde, der das Meer hinter Moses schloss, damit all die bösen Ägypter im Wasser umkamen, da flüsterte mein Paps mir zu, dass er sich da auch nicht ganz sicher sei, ob das »gut« ist. Ich habe auch früh gelernt, nicht unbedingt jedes Wort des Papstes »gut« zu heißen – und das sowas wie das Zölibat nicht »gut«, sondern Tradition war. »Man kann ja nicht alles ändern.« Zumal gewisse Werte der römisch-katholischen Kirche sich ja nicht überholen oder so wichtig und sinnvoll sind, wie eh und je: Nächstenliebe, um das prominenteste Beispiel zu nennen. Immer eine gute Idee.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Das Zitat kommt aus dem Evangelium nach Markus, Neues Testament. Und es kommt aus der Tora, der hebräischen Bibel. Diese hat das Christentum auch für sich übernommen, als Altes Testament, in etwas anderer Anordnung.
Im Islam nennt man die gelebte, soziale Wohltätigkeit Zakat und im Buddhismus hat Karuna als Mitgefühl und Erbarmen eine ähnlich hohen Stellenwert, ist da jedoch nicht an eine Gottesvorstellung geknüpft. Die Verhaltensbiologie beobachtet Moral-ähnliches Verhalten im Übrigen zwar auch bei Tieren, doch in der neuzeitlichen Philosophie appelliert Immanuel Kant explizit an den menschlichen Verstand:
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.
Das finde ich »gut« – ein Maßstab, der in meinem Kopf geschlossen Sinn ergibt. Mit mir selbst als Verantwortung tragende Instanz, ohne Berufung auf ein Höheres Wesen oder etwaigem Aberglauben.
Sonia: Zugegeben, ich habe einen Hang zum Aberglauben. Auf Holz klopfen, das Brautkleid vor dem Bräutigam verstecken, oder den Rosenkranz meiner Oma bei Prüfungen in der Tasche verstauen. Mach. Ich. Alles. Doch ich mogele, wenn’s mir nicht passt, was ein wenig an meiner Seriosität kratzt. Wenn mein Glaube ein Tier wäre, dann wohl ein Vogel.
Etwas flatterhaft, aber himmelsnah. In einer Sache aber bin ich umso geerdeter: Dem Universum oder dem Höheren ist es, denke ich, ganz gleich, ob wir am Strand, in der Kirche oder sonst wo und wie heiraten. Solange man seine Liebe so bekennt und besiegelt, wie man es auch meint.
So zu heiraten, wie man es meint, das war mir wichtig. Was ist nun, wenn die eigenen Wurzeln nicht mehr ganz zu den Flügeln passen? Um unsere traditionellen Hintergründe und meine spirituellen Einflüsse mit den jeweils individuellen Überzeugungen zu verbinden, entschieden wir uns für die freie Trauung. Was ist das eigentlich?
…aber vorweg: Kleiner Exkurs
David: Wann immer wir in binären Gegensätzen denken, also solchen mit zwei klaren Positionen, da sollten wir hellhörig werden. Wir Menschen. Die Studien des Völker-Forschers Claude Lévi-Strauss haben das menschliche Denken schon vor Jahrzehnten als universell und uniform entlarvt. Überall auf der Welt, egal ob in New York City oder dem Amazonasgebiet, denken die Menschen in Gegensatzpaaren. Sowas wie »heiß – kalt«, »oben – unten«, »hell – dunkel«, soweit, so gut. Weiter: »Natur – Kultur«, »wild – zivilisiert«, »Frau – Mann«, und vielleicht am gewichtigsten: »schlecht – gut«. Denn beim Denken in Gegensatzpaaren geht eine Gewichtung dieser Paare in »gut« oder »schlecht« oft automatisch mit einher, bewusst oder unterbewusst.
So haben sich Denkweisen, die »Kultur über Natur« oder »Mann über Frau« erhoben, über Jahrhunderte fortgesetzt. Wie auch immer du zur Kirche oder freien Trauung stehst: Wenn du dir das Gegensatzpaar »Kirche – freie Trauung« denkst, findest du vermutlich eines besser, eines schlechter. Ich persönlich assoziere »Kirche« etwa mit einer nicht mehr zeitgemäßen Institution mit arg verbrecherischer Historie (die nicht abgeschlossen ist). Andere assoziieren mit »freie Trauung« ein beliebiges Wunschkonzert, das sich an den schönsten Ritualen der kirchlichen Liturgie bedient und daraus ihr eigenes Ding dreht. Mal abgesehen davon, dass viele Religionen ihre Rituale auch nicht originär selbst erdacht und patentiert haben, liegt ein weiteres Problem mit dem Denken in Gegensatzpaaren darin, dass damit suggeriert wird, es gäbe nur zwei Kategorien.
Gibt es nur »männlich – weiblich« als mögliche Geschlechtsidentitäten? Nein. Es sind nur die einzigen beiden Möglichkeiten, auf die uns unser Hirn und unsere Sprache festlegt, wenn wir nicht daran rütteln. Und ebenso sollte man freie Trauung nicht als das einzig mögliche Gegenstück zur kirchlichen Trauung verstehen. Das Adjektiv »frei« macht es unserem Denken hier immerhin leichter, die eigentliche Vielfalt zu sehen: Eine freie Trauung kann alles sein, was ihr euch wünscht. Auch in Verbundenheit zu einem Gottesbild, wie es in der Bibel beschrieben wird.
Sonia: Eine freie Trauung kann frei nach den Vorstellungen des Brautpaares gestaltet werden. Dabei sind der Zeremonie keine Grenzen gesetzt (außer natürlich denen des Rechtsstaates). Die gute Nachricht an alle Pinterest-Suchtis: Ablauf und Ort der Trauung könnt ihr euch selbst überlegen – mithilfe von tausenden Inspirationen da draußen. Hier eine kleine Pinnwand zur Gestaltung unserer Hochzeit.
Dank der freien Trauung konnten wir die standesamtliche (bürokratisch gehaltene) Eheschließung um eine Komponente ergänzen, die weit aus romantischer und feierlicher war. In der Zeremonie bekannten wir im Kreise unserer Lieben und Verwandten unsere Werte, unsere Liebe und Entscheidung füreinander, nach unseren Vorstellungen. Sogar nach meinen Mädchentraum, einmal wie Forrest und Jenny unter freiem Himmel zu heiraten, in der Geborgenheit der Bäume, wurde wahr.
Der Vorteil einer kirchlichen Trauung – rein pragmatisch betrachtet – ist die per se feierliche Kulisse, der romantische Orgelmusikeinsatz, die geringeren Kosten. Für Paare, die sich jedoch weniger mit der Kirche und/oder dem Glauben identifizieren, bedeutet dies eine Trauung unter dem Mantel der Kirche und deren Vorstellungen der Ehe, Familienplanung, Kindererziehung. Hier gibt es deutliche Unterschiede in der katholischen und evangelischen Zeremonie, wobei Letzteres mehr Gestaltungsraum für das Brautpaar bietet.
Die Kosten einer freien Trauung hängen natürlich ganz von der Trauung selbst ab. Dafür müsst ihr euch überlegen, wen und was ihr gerne integrieren möchtet. Der erste Kostenfaktor, der den Kern jeder freien Trauung darstellt, ist der oder die Zeremonienmeister*in respektive freie*r Hochzeitsredner*in. Natürlich gibt es auch die Option, freie Theolog*innen anzufragen, die unabhängig von der Kirche arbeiten und ebenfalls ein Honorar erhalten (hier eine Übersicht freier Theolog*innen).
Wie hoch die Honorare sind, hängt stark von den Redner*innen ab. Diese bieten in der Regel Vorab-Gespräche mit dem Brautpaar an, wo die persönliche Geschichte und die eigenen Vorstellungen kommuniziert werden. Mit Kosten ab 500 Euro sollte man für professionelle Hochzeitsredner*innen wohl rechnen.
Alternativ bietet sich auch die Friends-Variante an: Gibt es einen Menschen, der euch gut kennt und gerne und gut vor Publikum spricht (muss nicht in Soldatenuniform sein)? Dann ab dafür!
Wir hatten das Glück, den Theater- und Film-Schauspieler Jesse Albert in unserem Bekanntenkreis zu haben, der sich gerne bereit erklärte, uns durch die Trauung zu führen. Die Herausforderung bei semiprofessionellen Hochzeitsredner*innen: Den Text zur freien Trauung muss das Brautpaar selbst austüfteln. Wer selten schreibt und textet, kann hier ebenfalls im Bekannten- und Freundeskreis fragen, ob es helfende Hobbyschreiber*innen-Hände gibt? Denn wie gesagt, fragen schadet nicht. Und dann ladet eure Schreiberling-Freund*innen zu einem Essen ein und lasst euer Herz sprechen.
Ein weiterer Kostenfaktor ist die Ausstattung. Je nachdem wie ihr euch trauen lasst und in welcher Location ihr dies vollzieht, könnt ihr auf Stühle, Bänke, Heuballen und vieles mehr zurückgreifen. Unsere Location (die Gaststätte Wintergarten in Bocholt) hatte zum Glück alles parat und übernahm die Aufstellung der Stuhlreihen. Für das Rednerpult stellten wir ein eigenes auf, samt selbst gehäkelter Gardine meiner Großmutter. Als kleinen Hingucker stellte uns die Blumenbinderei Flores für den Flur ein paar schöne Blumentöpfchen auf. Hier liegt es wieder ganz an euch, was ihr euch wünscht.
Der musische Rahmen kann auch all denen Tränen in die Augen treiben, die sonst eher keine Miene verziehen. Nicht, dass bei einer Hochzeit geweint werden muss (muss es nicht 😊). Manche Brautpaare lassen sich professionelle Musiker*innen einfliegen, andere über die Anlage ihre Lieblingssongs abspielen, nur Sänger*innen singen oder befreundete Musiker*innen spielen. Hier müsst ihr entsprechend Angebote einholen. Da wir es irgendwie mit Friends haben, freuten wir uns riesig, dass Davids Schwester und ihre Freunde mit Engelstrompeten, Gitarre, Keyboard und Sheeran-Gesangsstimme sowohl den Einzug als auch die Zeremonie in rührende Atmosphäre tauchten.
Nehmt ihr Profis für die freie Trauung in Anspruch (freie Theolog*innen, Hochzeitsredner*innen), müsst ihr nichts weiter tun, als euch ein- bis zweimal mit dieser Person zu treffen und dort alles Wichtige zu besprechen (etwa Symbole, die ihr einsetzen möchtet, eure persönliche Geschichte oder Musikwünsche). Falls ihr euch zutraut, die Zeremonie aus eigener Feder zu verfassen, dann ist es hilfreich, sich zunächst eine kleine »Dramaturgie« zu überlegen. Diese könnte für eine freie Trauung so aussehen:
Dann könnt ihr ein paar Kerndaten sammeln, die euch wichtig erscheinen. Bei uns waren es das erste Kennenlernen und die Meilen- und Stolpersteine unserer Freundschaft, aus der im verflixten siebten Jahr mehr wurde. Inhaltlich habt ihr also viel Spielraum, was vielleicht die Krux ist. Um es nicht steif ablesen zu lassen, ist es hilfreich, dem oder der Hochzeitsredner*in nicht Wort für Wort in den Mund zu legen und ihm oder ihr durchaus auch eigene Ideen oder Formulierungen zuzutrauen.
Etwas, das für uns das Highlight war, und weshalb wir so derart nervös waren: unsere beiden Eheversprechen. (Wieder so ein Brauch aus Friends – ja, vielleicht sind wir dieser Sitcom ein bisschen zu sehr erlegen.) Die persönlichen Worte, aneinander gerichtet, vor den Augen und Ohren unserer Liebsten und Nächsten, waren das Herzstück unserer Trauung. Sicherlich nicht jedes Brautpaars Sache. Aber für mich war es der schönste Moment, meine Liebe so offen preiszugeben und zu bekennen.
Ihr allein entscheidet, was ihr euch sagen und versprechen wollt, so dass es auch da kein Richtig oder Falsch gibt. Um keine Peinlichkeiten entstehen zu lassen, haben wir uns abgesprochen, wie lang unsere Versprechen werden sollen. Bei Paaren mit sehr unterschiedlichem Redebedarf eine sinnvolle Angelegenheit. Mein Tipp: Setzt euch hin und schreibt einfach eine Minute darauf los, ohne eine Pause zu machen. Einfach herunterschreiben, welche Gedanken euch gerade durch den Kopf schießen, wenn ihr an euren Partner denkt.
David: Mein Tipp: Das Eheversprechen auf einem Spickzettel in der Trauung bei sich tragen. Mal drauf lünkern heißt ja nicht, dass man vergessen hat, warum man mit dieser Person da gegenüber sein Leben verbringen möchte. Nur, dass einen das Publikum arg nervös macht und die wenigsten Menschen viel Übung darin haben, ein Eheversprechen vorzutragen.
Der Beitrag Freie Trauung oder kirchliche Trauung? | Entscheidung, Planung, Zeremonie erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.
In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.
Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.
Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.
Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.
Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.
Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«
Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.
Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?
Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.
Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13
Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center
Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.
Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.
Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:
Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)
Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.
Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.
Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):
In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.
[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70
Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.
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]]>Deadline Hollywood spricht von der Ironie, dass das Kinoplakat zum Film Ghostland das Gesicht einer jungen Frau wie von Scherben zerschmettert zeigt. Die Anklageschrift spricht von mangelnden Industriestandards und wirft der Produktionsfirma vor, die Schauspielerin Taylor Hickson in eine absehbar gefährliche Situation gebracht hat. Regisseur Pascal Laugier wird indes in dieser Anklageschrift nicht erwähnt, obwohl er bei dem Unfall eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint. Mehr dazu im Absatz »Set-Unfall mit Taylor Hickson«.
Zum Inhalt: Eine Mutter und ihre zwei Töchter beziehen das Haus einer verstorbenen Verwandten. Doch schon in der ersten Nacht werden sie in dem düsteren Anwesen von üblen Gewaltverbrechern attackiert, die das Leben der Frauen grundlegend verändern.
Hinweis: Dieser Text enthält Spoiler zu allen Filmen von Pascal Laugier, aber nur im Absatz »Misogynistischer Folter-Porno?«, bis dahin, schönes Lesen! Eine weitere Rezension zu Ghostland, mehr auf den Inhalt als auf den Kontext bezogen, habe ich für kinofilmwelt.de geschrieben.
Pascal Laugiers erster Film (Haus der Stimmen) handelte von einer jungen Frau, die sich in ein spukendes Waisenhaus zurückzieht, um in aller Heimlichkeit ihr Kind auf die Welt zu bringen. Laugiers zweiter Film (Martyrs) erzählte die Geschichte von zwei jungen Frauen, die im Rahmen eines Racheakts eine ganze Familie hinrichten, ehe sie selbst bluten müssen. Sein dritter Film (The Tall Man) handelte von einer jungen Frau in einer Stadt, in der Kinder von einem »großen Mann« entführt werden – ein sehr (eher: zu) wendungsreicher Wannabe-Polit-Thriller mit Horrorelementen.
Im vierten Film sind nun zwei Frauen (mal als Jugendliche, mal als Erwachsene, also vier Schauspielerinnen) der rohen Brutalität zweier Gewaltverbrecher ausgesetzt. Es verwundert nicht, dass Filmkritikerin Antje Wessels den Regisseur bei einem Interview im April 2018 also auf seine Wahl immerzu weiblicher Hauptfiguren angesprochen hat. Und er so:
Für mich sind Mädchen »das große Andere«. Sie sind alles, was ich niemals sein werde. Und ein paar Wochen auf einem Set zu verbringen und Schönheiten, ich meine, Gesichter zu filmen, die mich faszinieren – auch das ist für mich ein Grund, Filme zu machen. Vielleicht war ich in der Schule einer der von den Mädchen zurückgewiesenen Jungs – und ich mache Filme, um geübt darin zu werden, ihnen zu gefallen. Um ihnen zu zeigen, dass ich selbst ein liebenswerter Typ bin.
Pascal Laugier im YouTube-Interview mit Filmkritikerin Antje Wessels
Ich persönlich finde, der heute 46-jährige Pascal Laugier hat sich nicht das beste Genre ausgesucht, um den »girls« zu gefallen. Aber hey, wo die Liebe hinfällt… und dass seine Liebe dem Horror-Genre gilt, das hat der Mann ja nun auf vierfache, sehr unterschiedliche Weise in Spielfilmlänge unter Beweis gestellt. Dabei ist sein Œuvre von solch wechselhafter Qualität, dass ich dem Herrn Laugier aktuell keine Träne nachweinen täte, wenn er sich vom Regiestuhl wieder aufs heimische Sofa begäbe.
In einem Abgesang über den »Retro-Wahn des Gegenwartskinos« schreibt Georg Sesslen (DIE ZEIT, N° 31, 26. Juli 2018) anlässlich des Remake von Papillon über ein »System der Selbstreferenz«.
Die Filme beziehen sich nicht mehr auf eine Art von äußerer Wirklichkeit, sondern auf andere Filme und andere Ereignisse innerhalb der Popkultur. Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht auf das Leben ihrer Konsumenten beziehen würden, dann das besteht ja in der Regel zur Hälfte aus Popkultur-Konsum.
Dabei habe ich (nach kurzer Empörung: Wie herablassend schreibt dieser Typ bitte über mein Leben!?) an Ghostland denken müssen. Wie viele Zeilen, Szenen, Kulissen, Ideen, ja ganze Versatzstücke dieses Films sind (bewusst oder unbewusst) nicht Referenzen an etwaige namhafte Vertreter*innen der Horror-Genres? Tobe Hooper und Rob Zombie als nur prominenteste Beispiele.
Noch vor dem ersten Bild serviert Ghostland bereits die erste Referenz in aller Deutlichkeit, eine, die sich durch den gesamten Film zieht. Der Streifen fängt mit einem Zitat an.
Zu Beginn des Films Ghostland sehen wir einen Schwarzweiß-Porträt des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft (1890-1937). Darunter – in Schreibmaschinen-Lettern getippt, erscheint die Zeile:
Freakin‘ awesome horror writer. The best. By far. | Elizabeth Keller
Wie aus der Zeit gefallen: Ein schwarz gekleideter Junge mit einem Hut rennt über einen Acker. Hin zu einer Straße, auf der gerade ein Wagen vorbeifährt. Mitten auf der Straße bleibt der Junge stehen und schaut dem Wagen nach. Aus dem Wagen, von der Rückbank aus, begegnet ein Mädchen (Taylor Hickson) seinem Blick. Ihre Schwester (Emilia Jones), auf dem Beifahrersitz, liest derweil eine selbst geschriebene Grusel-Geschichte vor. Anschließend wird sie von ihrer Mutter, am Steuer, für die Geschichte gefeiert und von ihrer Schwester beleidigt. Typisches Familiengezanke also, bis sich ein wild hupender Candy Truck von hinten nähert und den Wagen überholt.
Im Truck sieht man nur zwei dunkle Silhouetten, die den irritierten Frauen zuwinken. Spooky shit. Dann zieht der Wagen vorbei und der Titel erscheint: Incident in a Ghostland (der etwas längere, alternative Titel des Films)
An einer Tanke kauft die schriftstellerisch ambitionierte Tochter etwas zu knabbern. Draußen fährt jener Candy Truck vorbei, gruselig langsam, das Licht in der Tanke flackert, als hätte der Sicherungskasten Angst bekommen. Besagte Tochter wirft einen Blick auf die Titelseite einer Zeitung, die da rumliegt: »Familien-Killer schlagen zum fünften Mal zu!« (wenn man später erlebt, wie auffällig und unvorsichtig diese Killer unterwegs sind… dann muss man sich schon sehr wundern: Wie genau hat die Polizei denn bisher versucht, sie aufzuhalten?)
All die üblen Vorzeichen führen rascher als gedacht zur Konfrontation zwischen den Familien-Killern und der Familie. Dabei geht es brutal zur Sache. Die Gewalt-Eskalation zum Auftakt des Films ist derartig heftig in Szene gesetzt, dass sich schon hier die Spreu vom Weizen trennen wird: die Zuschauer*innen, die solche Filme lieber meiden, und diejenigen, die bleiben. Letztere bekommen einen Film zu sehen, der handwerklich sehr gut gemacht ist. Vieles, was an Pascal Laugiers vorausgegangenem Werk The Tall Man mies war (die Computer-Effekte, die unglaubwürdigen Twists, die politische Message) fallen weg. Stattdessen: Absolut solides Genre-Kino, dass zur Entspannung zwischen den Gewalt-Exzessen gekonnt Zeit- und Wirklichkeits-Ebenen wechselt. Samt Cameo-Auftritt von H. P. Lovecraft.
Die Kritik zum Film fällt sehr gemischt aus (siehe: englischer Wikipedia-Beitrag). Manch Filmrezensent*innen schlagen mit ihrem Lob ein bisschen über die Stränge. So schreibt Simon Abrams (The Village Voice):
[Ghostland] ist eine verstörende, effektvolle Kritik an misogynistischen Folter-Pornos. […] Der Film mag zuweilen daherkommen wir ein blutrünstiger Slasher-Klon, aber Laugiers gefolterte Mädchen erweisen sich immer wieder stärker als ihre brutal entstellten Körper.
In Haus der Stimmen stirbt die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen im Arm. Im Laufe von Martyrs schlitzt sich die eine Hauptfigur selbst auf, die andere wird gehäutet – und stirbt elendig. Am Ende von The Tall Man wird die weibliche Hauptfigur auf Lebenszeit weggesperrt, nachdem man ihr die Scherben aus dem Gesicht gepickt hat. In Ghostland, das stimmt, da überleben die beiden Mädchen die schier endlosen Gewalt-Attacken in den vorausgegangenen anderthalb Stunden.
Man kann nicht behaupten, ein Film sei nicht misogynistisch oder gar feministisch, nur weil die weiblichen Protagonistinnen am Ende irgendwie mit dem Leben davon kommen. Ghostland ist ein Folter-Porno, der Misogynisten gefallen wird. Ebenso, wie Der Soldat James Ryan kein Antikriegsfilm, sondern ein Kriegsfilm ist, der all denen gefällt, die Lust auf Kriegs-Action haben.
[Die Gewalt] dient als Mittel zum Zweck, um Zuschauer*innen daran zu erinnern, dass Traumata die menschliche Psyche schädigen können. Doch darüber hinaus scheint Ghostland nichts zu sagen zu haben. Der Mittel zum Zweck führt zu keinem tieferen Sinn oder einer größeren Idee, so dass die Unmenschlichkeit sich wirklich lohnt. Die Story ist zu hauchdünn, um zu rechtfertigen, was ihre Charaktere durchleben müssen. Dadurch wirkt die Gewalt als Ziel gesetzt und misogynistisch.
Day Ebaben (BloodyDisgusting), aus dem Englischen übersetzt
Pascal Laugier wurde am 16. Oktober 1971 geboren. Er begann seine Karriere als Assistent des Regisseurs und Filmproduzenten Christophe Gans (Silent Hill, Die Schöne und das Biest). So drehte Laugier zu dessen Pakt der Wölfe (2001) mit Vincent Cassel eine Making-of-Dokumentation (und er trat selbst in dem Film auf).
Später schrieb und inszenierte Pascal Laugier nach seinem Debüt Haus der Stimmen (2004) den Horror-Schocker Martyrs (2008), seit dem er dem New French Extremism zugeordnet wird. Das Gewalt-Spektakel brachte dem Regisseur einige Kontakte in Hollywood ein, wo er nach eigenen Aussagen, »drei oder vier verschiedene Projekte« unterzeichnete. Eines davon war ein Remake zu dem Horror-Klassiker Hellraiser (1987), von dem er jedoch wieder zurücktrat (oder zurückgetreten wurde). Hier ist Laugiers Sicht der Dinge:
Ich hatte das Gefühl, dass die Produzenten hinter dem neuen Hellraiser keinen wirklich seriösen Film machen wollten. Nun, für mich wäre ein neuer Hellraiser vor allem ein Film über die SadoMaso-Schwulen-Kultur, weil es von einem homosexuellen Begehren herrührt – und Hellraiser handelt von solchen Dingen. Ich wollte nicht die ursprüngliche Version von Clive Barker [Hellraiser-Schöpfer] betrügen.
Pascal Laugier im Interview mit Ambush Bug (AICN)
Die Produzenten hingegen seien eher an einem kommerziell erfolgreichen Remake für Teenager*innen als Zielgruppe interessiert gewesen. Statt eines Hellraiser-Remakes drehte Laugier stattdessen den Mystery-Thriller The Tall Man (2012). Im Jahr 2015 inszenierte außerdem er das Musikvideo zu City Of Love über gefallene (gruselig ausschauende) Engel und die Faszination für den menschlichen Körper. Die französische Popsängerin und Schauspielerin Mylène Farmer, die City Of Love sang, übernahm 6 Jahre nach Pascal Laugiers letztem Spielfilm die Rolle der Mutter in Ghostland. (Die lange Dauer zwischen seinen Projekten schreibt er Finanzierungsschwierigkeiten zu.)
Nun ist für einen Star für Mylène Farmer dieser Film nur eines von vielen Werken in einer langen Karriere. Für die meisten Cast- und Crew-Mitglieder*innen und Zuschauer*innen wird Ghostlandnur ein weiterer Horror-Film sein. Einer, der manchen mehr, manchen weniger gefällt, aber kaum das Zeug hat, lange von sich reden zu machen.
Allein für Schauspielerin Taylor Hickson stellt dieser Film eine Zäsur dar. Ein Schnitt, der ihr Leben in ein »Davor« und »Danach« unterteilt. Grund ist eine Szene, in der Hickson gegen eine Glastür hämmern sollte, härter, wie es der Regisseur Pascal Laugier wollte, so hart, bis das Glas brach und die junge Frau hindurch fiel. Dabei schlitzte eine Scherbe ihr Gesicht so sehr auf, dass Taylor Hickson mit 70 Stichen genäht werden musste. Die Narbe wird die Schauspielerin für den Rest ihres Lebens im Gesicht tragen. Zitat des Regisseurs:
Manchmal war ich der Bösewicht am Set. Die Crew verhielt sich sehr beschützend gegenüber den Schauspielerinnen und ich musste sie davon abhalten. Ich wollte, dass sich die Schauspielerinnen einsam und sozusagen miserabel fühlen – damit sie fähig waren, das darzustellen, was das Skript abverlangte. Also, yeah, hin und wieder fühlte ich mich wie der Bösewicht, aber die einzige Sache, woran ich dabei dachte, war der finale Film.
Pascal Laugier im Interview mit Darren Rae (Review Graveyard), 17. März 2009
Dieses Zitat bezieht sich gar nicht auf Ghostland. Sondern auf Martyrs, dem anderen Gewalt-Schocker, den Laugier 10 Jahre zuvor gedreht hat. Als die Schauspielerinnen aus dem Film damals, Morjana Alaoui und Mylène Jampanoï, ein Interview gaben, kam dieser Gesprächsfetzen zustande (aus dem Englischen übersetzt):
Rob Carnevale (Indie London): Pascal scheint ein wirklicher netter, sanfter Typ zu sein… wie war er als Regisseur? MJ: Das ist nicht wahr… MA: Er hat eine sehr sanfte Seite und eine sehr gewaltsame Seite. Er hätte diesen Film nicht gemacht, wenn es diese gewaltsame Seite nicht gäbe. Und ich denke, dass er eine sehr gewaltsame Haltung gegenüber der Welt hat. RC: Würdet ihr wieder mit ihm arbeiten? MJ: Niemals! [Lacht.] MA: Ich ebenfalls nicht. MJ: Kann ich noch sagen, dass wir uns zwar darüber beschwert haben, aber das wir trotzdem eine exzellente Zeit dort hatten? Und auf professioneller Ebene, als Schauspielerinnen, haben wir viel über uns gelernt.
Horrorfilme sind heute, was öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter waren: Ein Spektakel für Menschen, die von Gewalt fasziniert sieht (mich eingeschlossen). Und so wie Henker*innen damals sicher eine »gewaltsame Seite« hatten, haben sie heute Filmemacher*innen. Indem sie ihre Gewaltfantasien inszenieren und damit die Gewaltfantasien etlicher Anderer bedienen, schaffen sie ein Ventil für sadistischen Voyeurismus. Oder sie fördern ihn damit nur, so kann man es auch sehen. Ich persönliche gehöre eher der ersteren Meinung an. Doch mir graut es bei einem Regisseur, der sein filmisches Ergebnis höher wertet, als das Wohlbefinden aller Beteiligten.
Erst recht, wenn die Story derart dünn ist. Auch die Charaktere des Films bleiben substanzlos. Bloße Täter-/Opfer-Schablonen, wie man sie aus x-beliebigen Horrorfilmen kennt, die man sieht und wieder vergisst. Da warte ich doch lieber auf das nächste Werk des Meisters popkultureller Referenzen, zuweilen gar mit Wirklichkeitsbezug: Quentin Tarantino. Dessen nächster Streich soll vom mörderischen Treiben der Manson-Familie handeln.
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]]>Der Beitrag HERR ANDERS von Eva Schatz, Stefanie Reich | Kinderbuch 2011 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Wenn man sein Frühstücksbrot am liebsten mit Erdnussbutter, Marmelade, Käse und Pizzatomaten isst, dann isst man anders als das gemeine Volk. Was sich David genüsslich auf der Zunge zergehen lässt, erfreut nicht immer meine Geschmacksknospen. Allerdings bin ich mit meiner euphorischen Liebe für Bäume und meinem Hang zum Babyhumor (wo ist das Vöglein?) auch etwas eigen. Das Bilderbuch Herr Anders zeigt Klein und Groß, worauf es ankommt: Solange man gemeinsam im gleichen Schritt aus der Reihe tanzt, spielt das Anderssein keine Rolle.
Zum Inhalt: Der Protagonist der Autorin Eva Schatz, gezeichnet von Illustratorin Stefanie Reich, ist ein seltsamer Kerl. Dass er wie Spongebob mit einer Schnecke zusammenlebt, erscheint noch als normalstes. Tatsächlich erinnern mich rückblickend einige Eigenarten von Herrn Anders an den berühmten Gegenteiltag aus der Serie Spongebob Schwammkopf. So schwimmt die Hauptfigur des Bilderbuchs stets gegen den Strom, wenn sie beispielsweise bei eingetretener Müdigkeit aus dem Bett springt oder sich seine Hose über den Kopf zieht.
Er steigt in seinen Pullover, die Hose kommt über den Kopf. Nach einer heißen Himbeersirupdusche kann der Tag beginnen!
Diese alberne, unlogische Art von Witz ist der Stoff, der mein inneres Kind erheitert. Doch auch, wenn das Buch visuell wie inhaltlich humoristisch aufgezogen ist, geht es nicht immer lustig zu. Obwohl Herr Anderes ein grundsätzlich zufriedener Mensch ist, der es sich in seinem Leben schön macht, ist sein Herz ein wenig bedrückt. Was Herrn Anders fehlt, ist eine Partnerin, eine Gleichgesinnte, mit der er sein verrücktes Glück teilen und somit vergrößern möchte. Doch alle Damen, die Herr Anders kennenlernt, verstehen ihn nicht. Zum Glück stolpert er eines Tages über Frau Anders.
Das Bilderbuch von Eva Schatz erschien 2011 im Tulipan Verlag, der damit wirbt, besondere Kinderbücher zu verlegen. Mit Herr Anders bestätigt sich dieser Anspruch jedenfalls. Durch seine Originalität in der Figurencharakteristik und Visualität ist das Werk schon jetzt eines meiner diesjährigen Lieblingsbücher, die ich per Zufall in der Stadtbibliothek gefunden habe.
Obwohl es sich um ein Kinderbuch ab 4 Jahren handelt, adressiert die Geschichte mit seinem Motiv der Partnersuche auch die Erwachsenenwelt. Das entlockt den Vorleser*innen das eine oder andere Schmunzeln. Mit seinen unglücklichen Verabredungen, der aufkeimenden Hoffnung und niederschmetternden Ablehnung, die Herrn Anders abermals widerfährt, greift die Autorin ein universelles Thema auf, das sich gegenwärtig immer mehr in der virtuellen Welt abspielt. Wieso das Sujet, einen Freund fürs Leben zu finden, also nicht auch kindgerecht aufarbeiten? Dieses Vorhaben gelingt Eva Schatz mit der Leipziger Illustratorin Stefanie Reich, die für etliche Verlage tätig ist, mit Bravour.
Die fehlende Wellenlänge zu den potentiellen Herzdamen und die achterbahnmäßigen Gefühle von Herrn Anders werden kindgemäß und mit ausdrucksstarker Mimik dargestellt. Auch, wenn sich Herr Anders besonders viel Mühe für die Damen gibt, bleibt sich die Figur in ihrem Wesen treu. Ein Vorbild für die kleinen und großen Leser*innen. Die Botschaft, immer man selbst zu sein, wird den Kindern und Erwachsenen in der Person von Herrn Anders liebevoll nahegelegt. Denn dass wir uns zeitweise sogar verbiegen, nur damit wir nicht alleine sind, ist kein seltenes Phänomen unserer Gesellschaft. Umso wichtiger, dass die Kernbotschaft des Bilderbuchs so weise und spielerisch für die Kinderperspektive vermittelt wird.
Randnotiz: Hier geht’s zur Rezension von der Buchhexe zu Herr Anders.
Mit dem dritten und zuletzt veröffentlichten Kinderbuch der Autorin Eva Schatz ist ein Werk entstanden, das sich trotz kinderlebensferner Thematik als kindgemäße Story eignet. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Skurrilität der Geschichte die Fantasie der Kinder anregt und die vielen, verspielten und witzigen Illustrationen von Stefanie Reich im Comic-Stil den Text ideal ergänzen. Die Figuren sind so liebevoll und ausdrucksstark gezeichnet, dass sie bereits auf deren markanten Charakter deuten. Durch einfache Formen und farbenfrohe Panoramabilder und ganzseitige Bilder bleibt viel zu entdecken, ohne das Kind zu überfordern.
Dies gilt auch für den Textanteil in dem Buch, der reduziert und verständlich gehalten ist und ab und an mit Neuwortschöpfungen amüsiert. Vom Textumfang und Stil ist das Buch deshalb auch ideal für Leseanfänger. Zudem gelingt es der Autorin, trotz untypischem Thema, eine liebenswürdige und spannende Figur zu kreieren, die selbst noch so viel Kindliches in sich trägt, dass man Herrn Anders auf seiner Suche begleiten möchte und ihm die richtige, verrückte Partnerin wünscht, die ihn so liebt und annimmt wie er ist.
Das Bilderbuch Herr Anders von Eva Schatz und Stefanie Reich ist ein unterhaltsames, etwas durchgeknalltes, fantasievolles und weises Buch. Es macht sowohl Kindern als auch Erwachsenen Spaß. Ein Wohlfühlbuch, das Mut macht, zu sich zu stehen und auch mal rigoros anders zu sein. Dafür gibt es 9 Sterne.
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]]>Der Beitrag Wie ein Staffelfinale, nur echter | Gedanken zur Hochzeit erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>David: Bei der Serie Friends ist es ja so, dass Hochzeit als Thema zuweilen auf eine Weise behandelt wird, die man als durchaus abschreckend empfinden kann. Je nach dem, wann man sich mit wem gerade am ehesten identifiziert. Ich persönlich kriege Monicas Wedding-Ordner nie aus dem Kopf. Dieses monumentale Sammelwerk für die Planung sämtlicher Aspekte rund um »den schönsten Tag«. Ein armdicker Packen Unterlagen, mit dem man eine ganze Hochzeitsgesellschaft hätte totschlagen können. Wenn in meinen Alpträume Requisiten aus Friends auftauchten, dann nicht etwa Phoebes Gladys-Gemälde – sondern dieses Ding.
Ein winziges bisschen hatte ich ja die Befürchtung, dass auch Sonia vor der Hochzeit so einen Ordner hervorziehen würde. Tadaaa! Brautzilla! Aber allzu ernst hab ich diese Sorge nie genommen. Sonst hätt‘ ich sie ja nicht gefragt.
Sonia: Ahnte ich etwas, als wir aufs Tretboot stiegen und die Schlucht von Gorges de Verdon entlang paddelten? Ein klein wenig schon. Lag da etwas Seltenes in seinem Blick? Erst auf das türkisfarbene Wasser gerichtet (sucht er wieder Fische?), dann in meine Augen. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich. So lang hat er mich noch nie angeguckt (wie ein Fisch halt 😜). »Ja, ich bin nur ein wenig nervös, weil ich denke, dass ich dich jetzt etwas fragen möchte.« Ab da ahnte und irrte und ahnte ich wieder. Erst ein Griff in die Kameratasche – ok, Sonia, er will nur den Akku wechseln – doch dann: »Sonia Małgorzata Kansy…« – tja, ein Dreivierteljahr später, da trag ich diesen Namen nun nicht mehr. Denn ich hab »Ja« gesagt.
Und heute möchte ich »Danke« sagen. Danke an unsere Familien, die uns mit kreativer Energie und Organisationstalent tatkräftig unterstützt haben. An meine Brautjungfern und Freundinnen, die mir beim Brautkleid, den Schuhen und den letzten Minuten vor dem Einzug mit Rat und Tat, Fingerspitzengefühl und Piccolöchen zur Seite standen. An meinen Trauzeugen und großen kleinen Bruder, dessen Stimme für Gänsehaut sorgte (danke für die Rede!) und jedes Bein bewegte (danke für den Auftritt mit deiner Band!!!). Danke an alle Freunde und Verwandte, die diesen Tag so wunderschön harmonisch gemacht haben. Und danke natürlich an Jesse, unseren tollen Zeremonienmeister!
Last but not least: Danke ans Universum. An was auch immer da draußen uns so viel Glück beschert hat. Wir konnten diesen Tag gemeinsam mit all unseren Lieben in guter Gesundheit feiern – das war das größte Geschenk. Denn Bräute lasst es euch sagen: Egal, welche Deko, Blumen, Schnick und Schnack und Pinterest-Zeugs euch auf Trab halten, am Ende ist all das nicht wichtig. Dass man zusammen aufs gemeinsame Wohl anstoßen kann, das stellt alles andere einfach in den Schatten.
David: Mir war wichtig, dass wir eine freie Trauung feiern – und Sonias Traum war’s, draußen zu heiraten. Drum haben wir unsere Wünsche zusammengelegt und unsere Hochzeit als freie Trauung unter freiem Himmel gefeiert. Dass uns bei diesem Fest ein Trauredner begleitet hat, der uns auch noch persönlich kennt, dass war für mich die Kirsche auf der Sahnetorte. Sagt man das so? Na, Jesse Albert jedenfalls, mein Lieblingsschauspieler und zauberhafter Drehpausenclown, war eben diese Kirsche. Ich selbst kenne Jesse seit Frohzusein (2012), einem Kurzfilm übers Fremdgehen. Sonia hat ihn dann bei Wo wir weinen (2013) kennengelernt, einem Kurzfilm über Kriegstraumata. Fünf Jahre später haben wir uns nun endlich mal zu einem fröhlicheren Anlass zusammengefunden.
Auch wenn ich im Gegensatz zu Sonia immer eher denke: letztendlich sind wir dem Universum doch egal… – dieses eine Mal muss ich meiner lieben Schicksalsschwärmerin doch beipflichten. Dass dieser Tag so hell und leicht und schön werden würde, dass hat zwischendurch nicht immer so ausgehen. In diesem Sinne ein dickes Danke an Jenes Höhere Wesen!
PS: Danke auch an alle Leser*innen, die unseren Blog vom Bleiben verfolgen! Wir wissen noch nicht genau, wohin diese Reise wohl geht, aber wir freuen uns sooo sehr, dass ihr sie begleitet
Euer schreiblustiges Paar,
Frau & Herr vom Bleiben
Der Beitrag Wie ein Staffelfinale, nur echter | Gedanken zur Hochzeit erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Normalerweise schreibe ich zunächst eine kleine Inhaltsangabe zu der Geschichte, um die es geht, und/oder einen Hinweis, ob im nachfolgenden Text Spoiler enthalten sind. Das kann man sich bei Romeo und Julia getrost schenken, da der große Meister einem beides abnimmt: Im Prolog (der in jeder hier aufgeführten Filmadaptionen mehr oder weniger getreu zitiert wird) fasst William Shakespeare sein Stück zusammen und haut dabei selbst die dicksten Spoiler raus! Die Zeichnerin Mya L. Gosling (von Good Tickle Brain) hat diesem fragwürdigen Auftakt mal einem Comic gewidmet:
In diesem Sinne werde ich im Folgenden nicht en detail auf die Story eingehen. Die könnte ohnehin nicht besser zusammengefasst werden, als in dem Video Romeo und Julia to go (Shakespeare in 11,5 Minuten) von Michael Sommer.
William Shakespeare schrieb Romeo und Julia Ende des 16. Jahrhunderts, unter anderem unmittelbar inspiriert und beeinflusst von Arthurs Brookes Epos The Tragical History of Romeus and Juliet (1562). Ein fiktives Liebespaar mit diesen Namen geisterte längst durch die Werke europäischer Literaten – und das Motiv zweier tragisch Verliebter an sich ist natürlich noch viel, viel älter. Schon Hero und Leander, zwei Gestalten der griechischen Mythologie, mussten ihre glühende Liebe mit dem Leben bezahlen… kurzum: Bereits Shakespeare erfand das Rad nicht neu. Doch er schrieb eine sehr runde Version von Romeo und Julia, vom Arrangement der Szenen bis zur Sprache der Protagonisten, dazu starke Dialoge und nicht wenig Humor – ein Meisterwerk war geboren!
So wilde Freude nimmt ein wildes Ende,
Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu’r und Pulver
Im Kusse sich verzehrt. Die Süßigkeit
Des Honigs widert durch ihr Übermaß… | Lorenzo in Romeo und Julia (hier online zu lesen)
Apropos Übermaß: Kaum wurde rund 300 Jahre nach Shakespeares Tragödie das Kino erfunden, gaben sich Romeo und Julia als Filmpaar die Ehre. Von einem Kurzfilm im Jahr 1908 (der heute als verschollen gilt) bis in die Gegenwart zählt die Liste von Filmen basierend auf Romeo und Julia weit über 30 Werke. Hier wollen wir uns nur drei der populärsten oder jüngsten Verfilmungen annehmen:
In der Schule habe ich das Stück tatsächlich nicht gelesen. Stattdessen sah ich vor kurzem erst aus einer Laune heraus bei Netflix die Adaption von Baz Luhrmann und dachte, huch, so ein flippiges Spektakel im MTV-Look, DAS ist also Romeo und Julia, diese uralte Romanze, um die ich mich bis dato herumgedrückt habe? Mein Weltbild stand Kopf. Also las ich dann doch mal die Tragödie und sah mir zwei weitere Filme an, um wieder auf mein Leben klarzukommen. Nun haben wir schon Sommer 2018 und ich kann endlich mitreden, wenn es um das große Schmachten am Balkon geht. Jetzt, da die wohl wichtigste Verfilmung des Stoffs genau 50 Jahre her ist.
1968 wurde Romeo und Julia erstmals mit jugendlichen Schauspielern in den Hauptrollen umgesetzt. In Shakespeares Stück sind die beiden Verliebten zwischen 13 und 14 Jahren alt. Arg jung aus heutiger Sicht, wenn man an die Leben-und-Tod-Duelle und das Hals-über-Kopf-Heiraten denkt. Als der Regisseur Franco Zeffirelli im Rahmen einer weltweiten Suche nach unbekannten Jungdarsteller*innen fündig wurde, waren Leonard Whiting 17 und Olivia Hussey 15 Jahre alt. Trotz Husseys Minderjährigkeit enthält der Film eine Szene, in der das Paar nackt im Bett liegt (nicht: rummacht, wohlgemerkt!) und für einen Moment Julias Brüste zu sehen sind. »Soft Porn«, pönte darüber ein Pastor der amerikanischen Grace Christian Fellowship und forderte eine Kürzung des Films, der im Englischunterricht seiner Gemeinde behandelt wurde. Zeffirellis Reaktion darauf:
Wenn er in ein Museum kommt, dreht sich dieser Mann auch von Aktgemälden weg? […] Ich weiß nicht, wie jemand Anstoß an dieser Szene nehmen könnte! | Franco Zefferelli, in: Pitch Weekly (März 1999)
Die Kirche störte sich wohlgemerkt offenbar mehr an der Nacktheit an sich, als am Alter der Jugendlichen. Apropos: Hier ein Filmtipp zu Spotlight (2015) über den Missbrauchs-Skandal in der römisch-katholischen Kirche in Boston.
Aufgrund der amerikanischen Gesetzeslage war es Olivia Hussey wegen der Nacktszene nicht erlaubt, ihren Film in amerikanischen Kinos zu sehen. Der Jugendschutz hat sie vor dem Anblick ihrer eigenen Brüste bewahrt, well done, Amerika. Auf diesen absurden Umstand wurde die (dann 16-jährige) Hussey bei einem Interview im Veröffentlichungsjahr des Films – 1968 – angesprochen. Hier der entsprechende Ausschnitt aus dem Interview, während dem sie ganz entspannt ihre Zigarette raucht. Hach ja, andere Zeiten…
1997 nahm sich Baz Luhrmann des Stoffes an und inszenierte ihn in einer Art und Weise, die für ihn bald zum Markenzeichen werden sollte: bunt und schrill, Theater für die Leinwand. Sein Romeo + Julia gilt inzwischen als zweiter Teil seiner Roter-Vorhang-Trilogy / Red-Curtain-Trilogy, zusammen mit Strictly Ballroom (1992) und Moulin Rouge (2001).
Luhrmann behält die Sprache Shakespeare bei, verpackt dessen Stück jedoch in neuem Gewand, mit Knarren statt Schwertern in einer Mafia-Stadt der Gegenwart. Kluger Schachzug – verbietet sich damit doch jeder Vergleich mit der meisterlichen Adaption von 1968.
Was ich mit Romeo + Julia machen wollte, war einen Blick darauf zu werfen, auf welche Weise Shakespeare selbst einen Film aus einem seiner Stücke gemacht hätte, wenn er Regisseur gewesen wäre. Wie hätte er es angestellt? […] Wir wissen vom elisabethanischen Theater und dass er für 3.000 betrunkenen Zuschauer*innen gespielt hat, vom Straßenkehrer bis zur Königin von England – und seine Konkurrenz waren Bärenjagd und Prostitution. […] Er war also ein unermüdlicher Entertainer und Anwender unglaublicher Techniken und theatralischer Tricks. […] | Baz Luhrmann im Interview (19. Dezember 1996)
Der wohl interessanteste Charakter in Baz Luhrmanns Adaption ist aber weder Romeo (gespielt von Leonardo DiCaprio) noch Julia (Claire Danes), sondern Romeos Freund Mercutio (Harold Perrineau, Jr.). Der Wissenschaftler Anthony Johae schreibt:
Mercutio, die Drag-Queen, wird [während des Karnevals] »gekrönt« mit einer Frauenperücke und in ein weißes Kleid gehüllt. Außerhalb [des Karnevals] in der wirklichen Welt bacchalanischer Exzesse, da ist er ein schwarzer Mann, der weder zum hispanischen Haus der Capulets noch zum kaukasischen Haus der Montagues passt. Er wäre ein Außenseiter, wenn er nicht (platonisch oder anders) mit Romeo befreundet wäre.
Ist diese Freundschaft homoerotischer Natur? Einen Hinweis darauf bespricht Blogger*in lilymargaretjones in einem Beitrag über Mercutios Darstellung als queer in Luhrmanns Adaption. Es geht um die Szene, in der Tybalt gegenüber Romeo und Mercutio eine sexuelle Beziehung zwischen eben diesen beiden andeutet und Mercutio daraufhin erbost sein »Schwert« zieht. (Eigentlich eine Schusswaffe, doch die phallische Wortwahl bleibt bestehen).
Da das Gegenteil von Liebe nicht Hass sondern Gleichgültigkeit ist, könnte Mercutio’s empfindliche und defensive Reaktion auf den Vorwurf der Homosexualität andeuten, dass er selbst schwul ist.
Abgesehen davon: Interessant ist nicht nur Mercutios Freundschaft mit Romeo, der unberührt bleibt von Mercutios offener Darstellung von Weiblichkeit, sondern auch Mercutios Verhältnis zu Benvolio und den anderen Montague-Jungs. Niemand zeigt sich homophobisch gegenüber Mercutio. Das zeigt, dass Mercutio entweder gar nicht (in welcher Art auch immer) queer ist, oder dass es in Luhrmanns Verona-Beach-Universum schlicht »okay« ist, queer zu sein – oder beides.
Apropos queer und das Spiel mit Geschlechtsidentitäten, hier gibt’s einen Filmtipp zu Female Trouble (1974) sowie weiterführende Literatur zum Gender-Thema: Eine Einführung in Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (1990).
2013 dann das: Eine Neuverfilmung der Tragödie wieder im historischen Gewand, so wie der Klassiker von 1968 nur unendlich prunkvoller. Co-Produziert wurde Romeo und Julia (2013) von Swarovski – dem Kristallglas-Hersteller.
Von zahlreichen Kritiker*innen wurde diese Adaption regelrecht zerrissen. Zum Einen werde Shakespeares Sprache nicht angemessen vorgetragen (dazu kann ich mangels Fachkenntnis nix sagen). Zum Anderen, weil das Original-Stück in großem Maße umgeschrieben worden sei. Tatsächlich fließen in Shakespeare Tragödie plötzlich Floskeln ein, wie »mit guten Vorsätzen ist die Hölle gepflastert«. Witzig, dass nun dieser Film selbst als so ein Pflasterstein gesehen werden kann, der die Hölle dekoriert. Denn die Geschäftsfrau Nadja Swarovski meinte es nur gut:
Wir dachten, es sei sehr wichtig, Romeo und Julia auch der jüngeren Generation auf eine sehr angenehme Weise zu übermitteln.
Der Film sieht grandios aus in Sachen Kulissen, Kostümen, Lichtsetzung – und fährt prominente Schauspieler*innen auf. Etwa Natascha McElhone, Paul Giamatti oder Ed Westwick, der Zielgruppe dieses Films sicher bekannt aus der Jugendserie Gossip Girl. Nun, wenn der Film jugendlichen Zuschauer*innen gefällt und (auf neumodische Weise) an Shakespeare heranführt, dann kann’s doch herzlich egal sein, was ach so gestandene Filmkritiker*innen von der Umsetzung halten. Sie sind einfach nicht gemeint.
Kritiker wie Ty Burr (The Boston Globe) zum Beispiel, der doch ernsthaft ins Felde führt, der Film verstoße gegen die Kardinal-Regel von Romeo-und-Julia-Verfilmungen, dass der Romeo (gespielt von Douglas Booth) »niemals hübscher sein dürfe als die Julia« (Hailee Steinfeld). Das meint auch Justin Chang (Variety). Shame on you, guys. Mit solch oberflächlichen, irrelevanten Bemerkungen wollt ihr eure tiefgründige Kritik untermauern, die neumodische Verfilmung aus 2013 werde dem großen Shakespeare nicht gerecht? Pah. Über solchen Sexismus hätte Shakespeare seine verkokste Nase gerümpft.
Nun, welcher der drei Filme ist denn nun der Beste?
Wie gesagt, Baz Luhrmanns Romeo + Julia (1996) läuft außer Konkurrenz. Das Ding funktioniert als eigenwilliges Kind seiner Zeit, den videoästhetisch trashigen 90er Jahren. Romeo und Julia aus dem Jahr 2013 ist bei aller Kritik ein Augenschmaus, ein wirklich schöner Film, dessen Soundtrack mir persönlich sehr gefällt (Filmkritikerin Susan Wloszczyna hingegen gar nicht, »Fahrstuhl-Musik«). Was ich an der Tonspur auszusetzen hätte: dass Romeo in der deutschen Synchronisation wie Bart Simpson klingt. Macht das Reinfühlen in die Romanze ein kleines bisschen unmöglich. Dann doch lieber auf Englisch schauen, nix verstehen und einfach die schönen Bilder genießen.
Absoluter Favorit in Sachen großartiger Adaption ist und bleibt Romeo und Julia (1968). Der Film ist grandios gespielt von allen Beteiligten, mit jeder Menge Temperament und Humor. Das gegenseitige Anhimmeln der jungen Liebenden ist so übertrieben wie glaubwürdig. Wenn Romeo (Leonard Whiting) den Baum zu Julias Balkon hochklettert oder im nebligen Morgengrauen freudig springend durch Wald und Wiese rennt, dann strahlt die Figur ein jugendliches Verliebtsein aus, an dass Leonardo DiCaprio und Douglas Booth nicht herankommen. Auch Olivia Hussey spielt die Rolle der Julia so vielseitig, dass sie weit mehr ist, als ein begehrenswertes love interest. Hussey schmachtet und schwärmt und scherzt und schimpft und schluchzt und reißt die Zuschauer*innen in jeder ihrer Emotionen mit. Chapeau!
Besonders stark ist auch die Schwertkampf-Szene rund um Mercutio, Tybalt und Romeo auf den leergefegten, glühenden Plätzen Veronas. Voller Spannung und Witz inszeniert, wandelt sich ein anfangs harmloses Duell zu einem packenden Kampf um Leben und Tod. Mit wilden Schlägen und Wälzen im Staub, unschön, aber umso echter. Dagegen können DiCaprios tränenreicher Schuss und das bisschen Schwert-Kling-Kling der 2013er-Verfilmung einpacken. Als Erzähler in der italienischen Fassung ist übrigens Vittorio Gassman zu hören, bekannt aus: Il sorpasso / Verliebt in scharfe Kurven.
Romeo und Julia als junge Verliebte, die sich trotz ihrer verfeindeten Familien in die Arme fallen – das kann man übrigens auch in der Adaption von 1968 als Kinder ihrer Zeit beschreiben. Sie funktionierten prima als Identifikationsfiguren für die 68er-Generation, die nichts mit den Kriegen ihrer Eltern am Hut haben wollte. Make love, not war.
Der Beitrag ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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