Kritik – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Kritik – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 BÖSE ZELLEN von Barbara Albert | Film 2003 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-boese-zellen-2003/ http://www.blogvombleiben.de/film-boese-zellen-2003/#respond Sun, 30 Sep 2018 07:00:00 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5611 »Deshalb, finde ich, kann man Film auch nicht nacherzählen.« Das sagt die Regisseurin Barbara Albert in…

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»Deshalb, finde ich, kann man Film auch nicht nacherzählen.« Das sagt die Regisseurin Barbara Albert in einem Interview anlässlich ihres zweiten Spielfilms, Böse Zellen. Sollen wir es trotzdem versuchen und erzählen, worüber es in Alberts mosaikartigen Episodenfilm geht? Darin passieren vielen Figuren diverse Dinge, in scheinbar lauter kleinen Lebenswelten für sich, die doch irgendwie alle im Zusammenhang stehen. Nach Nordrand (1999) hat Barbara Albert damit einmal mehr bewiesen, dass sie eine virtuose Erzählerin ist. Dabei geht es ihr persönlich gar nicht so sehr um den Plot.

Eine Windböe aus Rio

Zum Inhalt: Ein Mensch stirbt. Zurück bleibt eine Lücke im Leben anderer, die mal näher, mal ferner mit diesem Menschen verbandelt waren. Irgendwie gehen sie ihre eigenen Wege weiter, die mal zueinander hin, mal voneinander weg führen. Der Umgang mit der Traurigkeit, die Angst vor dem Tod. Um solche gewichtigen Themen geht es in Böse Zellen. Und um Unendlichkeit. »Grundsätzliche Dinge«, wie Barbara Albert sie nennt.

Hinweis: Der folgende Text enthält keine Spoiler. Aktuelle Streamingangebote finden sich, wenn vorhanden, bei JustWatch. Hier geht es zu Böse Zellen im Film Archiv Austria.

Die Schauspielerin Bellinda Akwa-Asare in Barbara Alberts Film Böse Zellen | Bild: Coop 99

Totale: Böse Zellen im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Im TV-Abendprogramm füllt der Wettermensch meistens das letzte langweilige Segment, bevor das Drama, der Krimi, die Komödie beginnt. Doch im Jahr 1972 hielt ein Wettermensch – der Meteorologe Edward N. Lorenz – (wenn auch nicht im Fernsehen, sondern vor einem Fachpublikum) einen Vortrag, dessen Grundidee seither so manch Drama, Krimi, oder Komödie inspiriert hat. Der Titel dieses Vortrags lautete: Löst der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas aus? Aus diesem Vortrag stammt der Begriff »Schmetterlings-Effekt«. Er steht für eben diesen Gedanken aus der Chaostheorie: Wie sehr setzen kleinste Begebenheiten größte Veränderungen in Gang? In der cineastischen Popkultur hat sich dieser Effekt auf Filme wie Donnie Darko (2001), Mr. Nobody (2009), oder (wenn auch falsch verstanden) Butterfly Effect (2004) ausgewirkt. Barbara Alberts Film Böse Zellen handelt ebenfalls vom Schmetterlings-Effekt.

Vom Sandkorn zum Sohn

Der Gedanke hinter diesem Effekt ist natürlich viel älter, als der fesche Begriff selbst. Schon der Philosoph Johann Gottlieb Fichte schrieb in Die Bestimmung des Menschen (1800):

In jedem Momente ihrer Dauer ist die Natur ein zusammenhängendes Ganze; in jedem Momente muss jeder einzelne Theil derselben so seyn, wie er ist, weil alle übrigen sind, wie sie sind; und du könntest kein Sandkörnchen von seiner Stelle verrücken, ohne dadurch, vielleicht unsichtbar für deine Augen, durch alle Theile des unermesslichen Ganzen hindurch etwas zu verändern.

Fichte betont, dass jeder solcher »Momente ihrer Dauer« durch alle vergangenen Momente bestimmt werden. Und sie bestimmen wiederum selbst alle voraus liegenden Momente. So könne man sich kein Sandkörnchen woanders denken, ohne die ganze Geschichte und des Sandkorns Rolle im komplexen Gebilde der Zeit zu bedenken. Der Philosoph lädt zum Selbstversuch.

Denke es [irgendein Sandkorn] dir um einige Schritte weiter landeinwärts liegend. Dann müsste der Sturmwind, der es vom Meere hertrieb, stärker gewesen seyn, als er wirklich war. Dann müsste aber auch die vorhergehende Witterung, durch welche dieser Sturmwind und der Grad desselben bestimmt wurde, anders gewesen seyn, als sie war, und die ihrvorhergehende, durch die sie bestimmt wurde; […] Wie kannst du wissen, […] ob nicht bei derjenigen Witterung des Universums, deren es bedurft hätte, um dieses Sandkörnchen weiter landeinwärts zu treiben, irgend einer deiner Vorväter vor Hunger oder Frost oder Hitze würde umgekommen seyn, ehe er den Sohn erzeugt hatte, von welchem du abstammest?

Johann Gottlieb Fichte, in: Die Bestimmung des Menschen (1800)
Das andere Geschlecht

Vorväter und Söhne im Text und männliche Leser im Sinn. Damit spiegelt dieser Auszug aus Fichtes Werk ganz nebenbei die phallogozentrische Sprache einer patriachalen Gesellschaft wider. (Fichte, anderswo: »[Das Weib] ist unterworfen durch ihren eigenen fortdauernden notwendigen und ihre Moralität bedingenden Wunsch, unterworfen zu sein.« – aus: Grundlage des Naturrechts)

Bei der Regisseurin Barbara Albert sind es die Frauen und Töchter, die im Fokus stehen (wohlgemerkt ohne dabei das andere Geschlecht per se zu verunglimpfen). Dass Albert sich weniger auf den Philosophen Fichte, als auf den Meteorologen Lorenz und seinen Vortrag bezieht, macht der Prolog des Films Böse Zellen überdeutlich. Da sehen wir einen Schmetterling in Rio de Janeiro (Brasilien), während eine Frau, die diesen Urlaubsort gerade verlassen hat, auf dem Rückflug in einen Sturm gerät – über dem Golf von Mexiko, nahe Texas.

Persönlicher Kontext

Warum schreibe ich heute über Böse Zellen? Auch wenn diese Handlung, in Wetter übersetzt, keinem Tornado gleichkommt, eher einer allmorgendlichen Böe. Der Flügelschlag welchen Schmetterlings hat diese Böe, diese Handlung in Gang gesetzt? Die ersten Filme von Barbara Albert wollte ich gezielt aufarbeiten, weil ich den Auftrag bekam, eine Rezension zu ihrem neuen Film Licht (2018) zu schreiben, für das Deutsche Kinder- und Jugendfilmzentrum. Mit diesem stehe ich, um ein paar Ecken zurückgedacht, heute noch in Kontakt, weil ich im Jahr 2012 zum ersten Mal einen Kurzfilm bei deren Festival eingereicht habe.

Dieser Kurzfilm – Käfighaltung (2011) – bezieht sich auf diverse mehr oder weniger zeitgenössische Themen (wie die damals kontroverse Todesstrafe von Trevor Davis) und beinhaltet Filmmaterial von Zoobesuchen und Ausflügen an den Strand. War es die Thematisierung der Ermordung eines schwarzen Mannes durch den amerikanischen Staat oder der Blick ins Hai-Becken, der dazu führte, dass der Kurzfilm damals ins Festivalprogramm aufgenommen wurde? Oder war es eines der Sandkörner an jenem Strand, den ich da mal gefilmt habe? Irgendwie haben all diese schweren und leichten Komponenten dazu beigetragen, dass ich hier und heute über Böse Zellen schreibe.

Wie kommt es denn, dass du diese Zeilen nun gerade liest? Wie bist du auf diesen Blog gestoßen? Und wer hat dir überhaupt Lesen beigebracht? Erwischt es dich im richtigen Moment, kann der Schmetterlings-Effekt ziemlich ins Grübeln verführen… und ebenso der Film Böse Zellen.

Close-up: Böse Zellen im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films


Das Assoziative ist mir näher als das, was durch den Dialog erzählt wird.

Barbara Albert im Interview

Das Assoziative ist es auch, dass schon im Prolog die kunstvolle Montage der Bilder anleitet. Von einem Schmetterling im Wald über eine Urlauberin auf Rückreise hin zu einem Kirchenchor bei der Probe. Im Probenraum hängt das Gemälde eines knienden Kindes, das hoch zum bewölkten Himmel zu beten scheint. Die Kamera fährt nah heran auf die gemalten grauen Wolken, die zu echten grauen Wolken werden, in einem Sturm, der das Flugzeug der Urlauberin erfasst. Todesangst steht ihr ins Gesicht geschrieben. Schnitt. Der Titel: Böse Zellen.

Hinter diesem Titel hatte ich – ohne vorher Sichtung sonst irgendetwas über den Film in Erfahrung zu bringen – ein Krebs-Drama vermutet. Weit gefehlt. Überhaupt ist der Film viel mehr als nur ein einzelnes Drama, sondern eine Komposition zahlreicher Dramen.

Sackgassen, wie es sie eben gibt

Es geht um einen Jugendlichen, der große Schuld auf sich lädt; um ein Mädchen, das seine Eltern verloren hat und Anschluss sucht; es geht um Affären in einer Discothek und Liebe in Zeiten der Trauer, um Lottogewinner und Alles-Verliererinnen… »Der Film aber ist nicht reich, sondern überladen«, lautet das Urteil von Bert Rebhandl (FAZ). Hätte man ganze Erzählstränge daraus streichen können? Gewiss. Doch das wäre Barbara Alberts Idee nicht gerecht geworden.

Was mich […] beschäftigte, war, eine Struktur zu bauen, wo es manchmal Sackgassen gibt, es manchmal nicht weiter geht und keine Lösung da ist. Einfach so, wie das Leben ist – eine vielschichtige Struktur von Figuren, Menschen und Personen. Manches führt an ein Ziel, manches nicht, aber man ist immer auf der Suche, logische Zusammenhänge zu finden, zu verknüpfen, nur manchmal funktioniert es einfach nicht.

Barbara Albert im Gespräch mit Karin Schiefer (AFC)

Wir sind dramaturgische Spannungsbögen gewohnt, die sich über jahrhundertelange Erzähl-Traditionen bewährt haben. In Geschichten von Schuld, Reue und Vergebung. In Romanzen vom einander Begegnen, Verlieben und am Ende auch Kriegen. Oft genug wird mit den Erzähl-Traditionen gebrochen – und es liegt im Geschick dieser Regelbrecher*innen, ob das Experiment gelingt.

Für Herrn Rebhandl hat es das nicht. Er bemerkt: »Die kleinen Fluchten  am Ende sind nur Aufbrüche in neue Ausweglosigkeiten.« Ja, aber ebenso spielt das Leben. Für mich ist das Experiment gelungen, ich habe Böse Zellen als grandiosen Versuch empfunden, die Vielfalt und Verbundenheit menschlichen Seins einzufangen. Gut möglich, dass wir beide – der Herr Rebhandl und ich – diesen Film in 10 Jahren noch einmal sehen werden und – nach allem, was in der Zwischenzeit geschehen mag – am Ende mit umgekehrten Eindrücken dastehen.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

In jedem Fall ist der Film Böse Zellen viel lebensnäher als zahlreiche andere Werke zum Thema Schmetterlings-Effekt, obwohl dieser Effekt an sich doch lebensnäher kaum sein könnte. Man muss wohl, vermute ich, eine gewisse Faszination für die Chaos-Theorie oder den wirren Zusammenhang aller Dinge aufbringen, um auch Böse Zellen in all seinen Facetten zu mögen. 

Eine Tanzszene aus dem Film Böse Zellen:

Bildsprachlich und atmosphärisch ist dieser zweite Film dem Debüt von Barbara Albert – Nordrand (1999) – trotz anderer Kamera-Besetzung (Martin Gschlacht statt Christine A. Maier) so ähnlich, dass ich in meiner Erinnerung zuweilen Szenen durcheinander werfe und Momente aus Nordrand schon in Böse Zellen verortet hatte. Beide Filme atmen denselben Sinn für kleine Gesten und Beobachtungen, für unscheinbare Randfiguren der Gesellschaft, die – in den Fokus gerückt – ihre Innenleben schmerzhaft offen legen. Besonders bewegt hat mich dabei die Geschichte um Belinda, die im Kirchenchor singt und Lotto spielt, Wunder-Diäten mitmacht und sich in einen Polizisten verliebt. Keine Filmfiguren sondern echte Menschen scheinen das zu sein, die Barbara Albert da näher bringt.

Sobald ich meine Themen und Figuren kenne, kann ich Momente aufschreiben, in denen ich beides miteinander verknüpfe: Ich bastle sehr gern Geschichten.

Barbara Albert im Gespräch mit Dominik Kamalzadeh (2003, Viennale-Standard)

Fazit zu Böse Zellen

Die Freude am Basteln von Geschichten und der Montage von Momenten, die merkt man Barbara Alberts Filmen an. Ob man sie nun reich oder zu reich an Ideen, Figuren, Geschehen findet – arm sind sie in keiner Hinsicht. Böse Zellen verlangt den Zuschauer*innen einiges an Aufmerksamkeit ab und bietet wenig Erfüllung im klassisch-dramaturgischen Sinne als Gegenleistung. Gerade das macht den Film jedoch außergewöhnlich und für mein Empfinden auch außergewöhnlich gut.

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SHAPE OF WATER mit Sally Hawkins | Film 2017 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-shape-of-water-2017/ http://www.blogvombleiben.de/film-shape-of-water-2017/#respond Tue, 14 Aug 2018 07:00:13 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4885 Die Form des Wasser ist wandelbar. »So sanft es auch sein kann, ist es zugleich die…

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Die Form des Wasser ist wandelbar. »So sanft es auch sein kann, ist es zugleich die stärkste und verformbarste Kraft des Universums«, erklärte der Regisseur Guillermo del Toro im Gespräch mit Cicero und fügte hinzu, »Gilt das nicht ebenso für die Liebe?« Denn auch diese könne jede Form annehmen und einem Menschen oder eben einer anderen Kreatur gelten. Von einer solchen Liebe, zwischen einer Frau und einer Wasser-Kreatur, erzählt Guillermo del Toros Film Shape of Water.

Unbekannte Liebesformen

Das ist doch eine schöne Herleitung des Filmtitels. Durchdacht, auf den Punkt, kurz und gut. Nun: Wer hatte denn bitte die Idee, Shape of Water in Deutschland mit dem Untertitel Das Flüstern des Wassers in die Kinos zu bringen? Was lässt sich an dem Wort »Form« so schlecht übersetzen oder vermarkten, dass man einfach knallhart den Fehler bringt? Oder soll das Kunst sein? Oder dachte da irgendwer, The Whisper of Water wäre der bessere Titel gewesen und dieser del Toro habe doch keine Ahnung? Was muss passieren, damit Englischlehrer*innen endlich protestieren?

Zum Inhalt: In Südamerika wird eine Kreatur aus dem Amazonas gefischt und nach Amerika geschafft. Dort landet sie in einem Geheimlabor, untersucht von Wissenschaftlern, gefoltert von einem Sadisten – und geliebt von einer Putzfrau, die von Geburt an stumm ist.

Hinweis: Folgender Text enthält Spoiler – aber nur in den Absätzen »Eine geheimnisvolle Heldin« und »Die Freiheit, zu atmen«, ansonsten: Entspanntes Lesen!

Die Schauspielerinnen Sally Hawkins und Octavia Spencer im Film Shape of Water

Totale: Shape of Water im Zusammenhang

Cineastischer und historischer Kontext

Shape of Water spielt 1962 in Maryland, Baltimore. Amerika und die Sowjetunion stehen sich im Kalten Krieg gegenüber. Es ist das Jahr der Kubakrise. Innerhalb der USA stehen sich die schwarzen und weißen Bürger*innen gegenüber. Es herrschen immer noch die infamen Jim-Crow-Gesetze, Rassentrennung, Rassenhass. Und in dem alten Kino unter dem Apartment der Heldin laufen die historische Romanze The Story of Ruth (1960) und die Musical-Komödie Mardi Gras (1958).

Als Kind wuchs ich in Mexiko auf und war ein großer Verehrer ausländischer Filme. Von E.T. oder William Wyler oder Douglas Sirk oder Frank Capra; und vor wenigen Wochen, da sagte Steven Spielberg, »wenn du dich selbst dort findest, wenn du dich auf dem Podium wiederfindest, dann erinnere dich daran, dass du Teil eines Vermächtnisses bist. Dass du Teil einer Welt von Filmemacher*innen bist – und sei stolz darauf!« Ich bin sehr, sehr stolz.

Guillermo del Toro

Der Junge aus Mexiko

Das waren Guillermo del Toros Worte bei der Oscarverleihung 2018 in Los Angeles, Kalifornien. Ein US-Bundesstaat, der im Süden an del Toros Heimatland grenzt – die Grenze, die der geisteskranke Clown im Weißen Haus am liebsten zumauern würde.

Ich möchte diese Auszeichnung allen jungen Filmemacher*innen widmen. Der Jugend, die uns zeigt, wie man Dinge macht. Denn das tun sie, in jedem Land dieser Welt. Als Kind war ich verliebt in Filme. Da ich in Mexiko aufwuchs, dachte ich, dass sowas hier niemals passieren könnte. Aber es ist passiert und ich will euch sagen, dass jede*r, der oder die davon träumt, das Fantasy-Genre zu nutzen, um eine Parabel über die wirklichen Dinge in der Welt zu erzählen – du kannst es tun. Das ist die Tür, trete sie ein und komm rein!

Guillermo Del Toros Ansprache bei den Oscar 2018 (aus dem Englischen)

Eine Parabel über die wirkliche Welt – wie man Shape of Water unter diesem Gesichtspunkt sehen kann, wird unter „Bleibender Eindruck“ näher besprochen.

Persönlicher Kontext

Ich liebe Guillermo del Toro. Leider kann ich seinen Vornamen nicht aussprechen und ihm deshalb diese Liebe nie auf einem wirklich persönlichen Level, so von Fanboy zu Filmgott gestehen, aber im Geiste, denke ich, weiß er Bescheid. Von Hellboy (2004) über den fantastischen Klassiker Pans Labyrinth (2006) bis – zuletzt – Crimson Peak (2015) bewundere ich die visionäre Vorstellungskraft dieses Ausnahme-Regisseurs. In Shape Of Water nun paart sich seine typische visuelle Handschrift mit der besten Geschichte, die er je umgesetzt hat.

Die Auszeichnung mit dem Oscar für »Bester Film« war trotz starker Konkurrenz (darunter Dunkirk, Get Out und Die Schöne und das Biest) hochverdient. Shape Of Water erzählt vom Krieg, wie Dunkirk, vom Rassenhass, wie Get Out, und ist im Ganzen eine große Neuerzählung von Die Schöne und das Biest – alles in allem auf jeden Fall der bildgewaltigste, dramaturgisch gelungenste Film, den ich seit langem gesehen habe.

Close-up: Shape of Water im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Zum Auftakt ein Staunen: Shape of Water beginnt mit einer märchenhaften Einstellung unter Wasser. Wie in ein versunkenes Schloss begleiten wir die schwebende Kamera über einen Korridor – in dem, trotz des Wasser noch die Lichter brennen – hinein in eine Wohnung, in der sämtliche Möbel und Gegenstände schweben. Samt dem Sofa. Samt der Frau darauf. Langsam sinkt sie herab, sinkt auf das Sofa, das ebenfalls geschmeidig auf dem Boden aufsetzt – so, wie der Wecker auf das Beistelltischchen sinkt…. und klingelt. Ganz großes Kino, das man gesehen haben muss. Deshalb, hier diese wundervolle Eröffnungssequenz:

Der Wecker reißt Elisa Esposito aus ihrem Traum – und sie beginnt ihre Morgenroutine: sich ein Bad einlassen, Eier kochen, Eieruhr stellen, baden, masturbieren, Kalenderblatt abreißen, Kalenderspruch lesen (»Time is but a river flowing from our past«) und die Schuhe polieren. Ein entspannter Start in den Tag.

Elisa arbeitet als Putzfrau in einem amerikanischen Geheimlabor, in dem sie die dort gefangen gehaltene Kreatur kennen und lieben lernt.

Eine geheimnisvolle Heldin

Denn, so war Guillermo del Toros erklärtes Ziel, er wollte mal einen Monsterfilm drehen, in dem das Monster am Ende sein love interest kriegt – und zwar in gegenseitiger Hingabe. Dabei ist dieses love interest, die Hauptfigur und Heldin des Films, nicht minder geheimnisvoll, das die Kreatur aus dem Amazonas – wie Paul Tassi für Forbes scharfsinnig zusammengefasst hat.

Was wir von Elisa im Laufe von Shape Of Water erfahren – eher nebensächlich und ohne Rückblende – ist, dass sie als Kind am Flussufer gefunden wurde. Ausgesetzt, wie es scheint. Mit Narben am Hals, die ihren Stimmverlust zur Folge hatten. Wie es scheint. Schon während des Films offenbart sich uns, den Zuschauer*innen, ihr intimer Bezug zum Wasser, in dem sie sich wohler als sonstwo zu fühlen scheint. Dass sie in der Badewanne masturbiert, mag nicht ungewöhnlich sein. Dass sie ihr Badezimmer bis zur Decke flutet, um darin mit der Kreatur Sex haben zu können, das verwundert schon eher.

Die Freiheit, zu atmen

Am Ende wissen wir bereits, dass die Kreatur durch Auflegen ihrer Pranken Wunden heilen kann. In der letzten Szene, als die Kreatur mit Elisa unter Wasser im Hafenbecken schwebt, legt es seine Pranken aus die Narben an Elisas Hals. Und plötzlich – funktionieren diese Narben als Kiemen! Selbst in einem Fantasy-Film wie diesem scheint es unsinnig, dass die Kreatur normal Wunden in Kiemen verwandeln kann (mit dem ganzen Atemapparats-Kladderadatsch, der subkutan dazu gehört). Sinniger scheint, dass diese Narben – diese schmalen, geradlinigen Schlitze, die schon am Hals des Findelkindes waren und niemand erklären konnte – dass diese Narben schon immer Kiemen waren.

Das Filmende deutet an, dass die Kreatur lediglich Elisas natürliches Dasein als Wesen irgendwo zwischen Fisch und Mensch wiederherstellt, indem sie ihre verschlossenen Kiemen öffnet – und sie frei atmen lässt, unter Wasser. Elisa ist nicht deshalb stumm, weil irgendetwas mit ihren Stimmbändern passiert ist – sondern weil sie nie Stimmbänder hatte.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

John Richardson hat für The Conversation den »Besten Film« der Oscars 2018 in seiner allegorischen Wirkungskraft unter die Lupe genommen. Das ist es, was Richardson als Englischlehrer und Assistenzprofessor gerne macht, mit seinen Schüler*innen und Student*innen: Hinterfragen, wie aktuelle Filme kluge Antworten geben, auf die rassistische, sexistische, fremdenfeindliche Politik und Rhetorik ihrer Zeit.

So zeigte Lady Bird (2017), dass das Leben einer jungen Frau es wert ist, cineastisch erkundet zu werden. Three Billboards Outside of Ebbing, Missouri (2017) porträtierte Korruption, Gewalt und Rassenhass im Herzen des amerikanischen Traums. Und Black Panther (2018) hat triumphal bewiesen, dass schwarze Schauspieler*innen und Filmemacher*innen einen Hollywood-Film produzieren können – und dass die afroamerikanische Kultur eine spannende, mythologische Geschichte für alle möglichen Zuschauer*innen hervorbringen kann.

Oscar-reife Systemkritik

In Shape of Water nun sieht Richardson die detaillierteste und poetischste Kritik an Trump (und stellvertretend für diesen alternden Dudley-Dursley-Verschnitt alle, die seine »Politik« durchsetzen). Ebenso an dem hohlen Versprechen, Amerika wieder »great« zu machen. So »great«, wie in den 30er Jahren, den 40er oder 50er Jahren. Je nach dem, in welcher Stimmung man ihn erwischt, ruft Trump da eine andere Zeit aus seinem Streuhirn ab. Manchmal nennt er auch die 60er Jahre, in denen Shape of Water spielt. Die Hauptfiguren des Films (die stumme Elisa, die schwarze Zelda und der schwule Giles) erleben diese Zeit in stiller Unterdrückung.

Der Kalte Krieg läuft in dem Film gerade auf Hochtouren. Die Dichotomie zwischen den USA und Russland, zwischen »gut« und »böse«, wird sowohl angedeutet als auch untergraben. Amerika und Russland sind im Konflikt, aber es ist ein russischer Agent, der nach ethischen Maßstäben handelt.

Es gibt ein traditionell anmutendes Lokal an der Hauptstraße. Doch der Barkeeper entpuppt sich als Rassist und homophob. Seinen südlichen Akzent hat er aus Marketing-Gründen aufgelegt, während er eigentlich aus Ottawa (Kanada) kommt. Die servierten Kuchen sehen ansprechend aus, sind aber wenig schmackhafte Massenprodukte. Und das Lokal ist Teil eines neuen Phänomens, dem Franchise. Der Film Shape of Water balanciert an eben der Grenze, als alle Authentizität im Begriff war, an Illusion verloren zu gehen

John Richardson

This is America

Als Antagonisten haben wir Richard Strickland (Michael Shannon). Ein sadistischer Regierungsmitarbeiter, den ein Autoverkäufer großspurig als »Mann der Zukunft« bezeichnet. Auch Strickland selbst spricht die Zukunft an, rühmt sie als erstrebenswert, sagt zuversichtlich:

The future is bright. You gotta trust in that. This is America.

Richard Strickland (Michael Shannon)

Auch wenn es sich dabei um keine direkte Anspielung handelt: Ausgerechnet das Musikvideo This is America (2018) von Childish Gambino gibt ziemlich gut wieder, dass die Zukunft nicht so »bright« geworden ist, wie prophezeit worden ist. Und dass, andererseits, ein Typ wie Strickland tatsächlich »Mann der Zukunft« sein würde. Ein vulgärer Typ, der einen sexuellen Übergriff als Kavaliersdelikt ansieht.

Wenn die stumme Frau, die schwarze Frau und der schwule Mann gemeinsam handeln, um das schöne »unerwünschte Wesen« aus seinem Gefängnis zu befreien, suggeriert der Film, dass die Kreativität und der Humanismus von Außenseiter*innen siegen kann, gegen Grausamkeit und Korruption.

John Richardson, in: The Shape of Water: An allegorical critique of Trump (aus dem Englischen)

Fazit zu Shape of Water

Ob als zeitgenössische Allegorie oder zeitloses Märchen – Shape of Water ist ein mitreißender Film. Man muss sich auf die düstere Welt del Toros einlassen, in die immer wieder – unvorhersehbar – rohe Gewalt hinein brechen kann. Doch wenn man einmal drinsteckt, in dieser Welt, dann ist man umgeben von starken und stärkeren Charakteren in einer Haken schlagenden Handlung voller Gänsehaut-Momente. Sehr zu empfehlen, dieser Shape of Water – Das Knistern des Wassers. Ach, nee: Das Flüstern des Wassers. Mein Fehler.

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FINDET NEMO, FINDET DORIE, findet den Fehler | Filme 2003, 2016 http://www.blogvombleiben.de/film-findet-nemo-findet-dorie-2003-2016/ http://www.blogvombleiben.de/film-findet-nemo-findet-dorie-2003-2016/#respond Fri, 10 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4854 »Du hattest mich bei Fisch«, so reagierte Pixar’s Chief Creative Officer gegenüber Andrew Stanton, nachdem dieser…

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»Du hattest mich bei Fisch«, so reagierte Pixar’s Chief Creative Officer gegenüber Andrew Stanton, nachdem dieser ihm lang und breit sein Herzensprojekt gepitcht hatte: Der Fisch-Film, aus dem später Findet Nemo (2003) werden würde. Als sich Stanton sein Werk mit 7 Jahren Abstand noch einmal ansah, da machte er sich Sorgen um Dorie: Sie weiß ja immer noch nicht, wo sie herkommt! »Sie könnte Marlin und Nemo schon am nächsten Tag vergessen, während sie herumstreunt, und wäre wieder am Ausgangspunkt – das gefiel mir nicht.« So kam es, dass der Schöpfer von Dorie ihr schließlich einen eigenen Film schuf: Findet Dori (2016).

Vorweg: Hier werden die Filme Findet Nemo und Findet Dori als Animationsfilme aus der Erwachsenen-Perspektive besprochen. In ihrem Dasein als Kinderfilme wird Sonia die beiden Pixar-Abenteuer in Zukunft nochmal näher unter die Lupe nehmen.

Marlin und Dorie in Findet Nemo

Im Meer der Möglichkeiten

Inhalt: Im ersten Film geht es darum, wie ein Familienvater erst zum Witwer wird und dann seinen Sohn verliert. Das Kind wird von einem unbekannten Mann gekidnappt und verschleppt, während sich der Vater auf der Suche nach ihm mit einer vergesslichen Freundin verirrt und in allerlei Gefahren begibt. Im zweiten Film erinnert sich diese vergessliche Freundin daran, dass sie ja auch eine Familie hat, von der sie als Kind getrennt wurde. Später findet sie heraus, dass ihre Eltern seither gefangen gehalten und zur Schau gestellt werden. Klingt gar nicht nach Kinderfilmen? ABER ES SIND DOCH NUR FISCHE! Na schau, dann ist alles nur noch halb so grausam…

Hinweis: Dieser Text enthält keine Spoiler. Bei JustWatch finden sich aktuelle Streaming-Möglichkeiten zu Findet Nemo und Findet Dorie.

Totale: Nemo & Dorie im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Es war nach Der Herr der Ringe III – Die Rückkehr des Königs der erfolgreichste Film des Jahres 2003. Und obwohl Pixar bereits eigene und sehr gute Erfahrungen mit Sequels hatte (Toy Story 2 wurde 1999 trotz turbulenter Produktionsphase von Publikum und Kritik gefeiert), dauerte es satte 13 Jahre (!) ehe Findet Nemo mit Findet Dorie eine Fortsetzung bekam. Regisseur Andrew Stanton gestand seine große Nervosität vor einem solchen Sequel mit all den Erwartungen, die Fans des Originals daran hätten – doch er und sein Team taten, was Dorie tun würde: Sich optimistisch ins Risiko stürzen! Und vergessen, dass es sich um ein Sequel handelt.

Was würde Dorie tun?

Um eine Chance zu haben, eine anständige Fortsetzung zu drehen, muss man vergessen, dass es eine Fortsetzung ist – und versuchen, den Film so eigenständig wie möglich zu machen. Als hätte es keinen Film davor gegeben. 

Andrew Stanton

Persönlicher Kontext

Als Findet Nemo ins Kino kam, war ich 14 Jahre alt – und ich habe diesen Film vielleicht etwas öfter gesehen, als es für 14-Jährige cool ist. Ich hatte sogar eine Findet-Nemo-DVD mit virtuellem Aquarium im Bonusmaterial. Und das hab ich benutzt. Stundenlang blubberten die animierten Fische über meinen alten Computer-Monitor, der auch die Ausmaße eines Aquariums hatte – die Illusion war perfekt (man muss dazu sagen, das ich ein Fisch-Nerd war, mit über einem Dutzend echter Aquarien in der Garage).

Als Findet Dorie dann ins Kino kam, da war ich natürlich schon viel zu alt für solche Filme. Also nahm ich die einmalige Chance wahr, 4 Kinder von befreundeten Familie sozusagen als »erwachsene Begleitung« mit ins Kino zu nehmen (wie gesagt: einmal, alle 4 Kids auf einmal – ich war nicht 4 Mal im Kino… das wäre ja total verrückt…) | Kurz die eigene statistische Erhebung: Die LKW-Szene in Findet Dorie kam bei den Kindern, gemessen an der Lach-Lautstärke, definitiv am besten an.

Schnuppe ob geschuppt oder gefiedert

Zu der Zeit hatte ich die Aquaristik als Hobby längst aufgegeben und der Fisch-Nerd war dem Film-Nerd gewichen. Aber so ein Herz für diese schuppigen, flossigen, quirligen Tiere, das hört wohl nie wirklich auf zu schlagen. 

Vögel sind im Übrigen auch echt in Ordnung. An dem Pixar-Kurzfilm Piper (2016), der als Vorfilm zu Findet Dorie im Kino gezeigt wurde, hatte ich jedenfalls meine Freude. Hier ein kleiner Einblick in dieser beeindruckend detailliert animierte Werk:

Close-up: Nemo & Dorie im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt der Filme

Findet Nemo beginnt mit einem Prolog, der die »Nachbarschaft« und Lage des neuen Zuhauses am äußeren Rand des Korallenriffs behandelt. Die anfängliche Harmonie wird, ziemlich abrupt, von einem Barracuda unterbrochen. Dieser Zwischenfall hat zur Folge, dass der kleine Clownfisch Nemo ohne Mutter und 399 Geschwister aufwächst. Dafür mit einem umso besorgteren Vater namens Marlin.

Die Auftaktszene nach dem Prolog zeigt die beiden an Nemos erstem Schultag. Der kleine Fisch hat, vermutlich aufgrund der Barracuda-Attacke von damals, eine unterentwickelte Brustflosse – seine »Glücksflosse«, wie Vater Marlin sie nennt. Nemo schwirrt so aufgedreht umher, als würde er durch Kaffee statt Salzwasser schwimmen – und sein Vater ist sehr bedrückt darüber, sein einziges Kind gehen lassen zu müssen. Nemo könne mit dem Schuleinsteig doch noch warten, meint Marlin, »so 5 bis 6 Jahre…«

Glücksflosse und Siebgedächtnis

Findet Dorie hat eine ähnliche Ausgangssituation: Ohne düsteren Prolog geht’s direkt zur kleinen Dorie. Ein Palettendoktorfischchen, das quasi nur aus Augen besteht. Riesigen, putzigen Kulleraugen. Dahinter ist nicht mehr viel Platz für ein vollausgereiftes Gedächtnis, so scheint es. Denn Dorie leidet, zur großen Sorge ihrer Eltern, an Amnesie. Sie vergisst sehr vieles sehr schnell. Und so wie Nemo im ersten Film seinem Vater entrissen wird, kommt Dorie ihren Eltern abhanden. Die Fischkinder müssen, mit Glücksflosse und Siebgedächtnis, ohne ihre Familien klarkommen.

Filmfehler gefunden? Wäre Findet Nemo wissenschaftlich korrekt, hätte es ein ziemlich kurzer Film werden können. Erstmal leben Clownfische nicht in monogamen Beziehungen, wie sie im Film zwischen Marlin und Coral (Nemos Mutter) gezeigt wird, sondern in Polyandrie: ein Weibchen, mehrere Männchen. Wenn das Weibchen stirbt (weil es zum Beispiel von einem Barracuda gefressen wird), verwandelt sich das stärkste Männchen – innerhalb von einer Woche! – in ein Weibchen. Denn Clownfische sind Hermaphroditen (siehe Blogbeitrag: Bio mit Beauvoir). Marlin hätte sich also, noch bevor Nemo aus dem Ei schlüpft, in ein Weibchen verwandeln und eine Bande verantwortungsvoller Männchen um sich versammeln können. Bei so viel Obacht wäre Nemo bestimmt nicht verloren gegangen. Und der Film hätte geheißen: Nemo – ein Leben ohne Abenteuer.

Hier noch weitere Filmfehler oder Logiklücken in Findet Nemo, informativ zusammengefasst von CinemaSins (auf Englisch):

Bleibender Eindruck | zur Wirkung der Filme

Findet Nemo ist ein Film, der überfürsorglichen Eltern einen Spiegel vor die Nase hält und Kinder dazu ermutigt, ihren Weg zu gehen. Vor allem aber führt der Film vor Augen, dass Behinderungen nicht gleich Einschränkungen sind.

Findet Dorie führt diese Idee noch einen Schritt weiter, mit einer ganzen Geschichte rund um das Meistern einer Benachteiligung. 

Aus dem Leben mit Behinderungen

Die Hauptfigur in Findet Nemo hat eine zu kleine Flosse und kann damit nicht so gut schwimmen. Doch in der Not und mit ähnlich ungleich-flossigen Vorbildern [der Halfterfisch namens Khan] findet Nemo zu Selbstbewusstsein. Findet Dorie hat eine Hauptfigur mit einem hemmenden Handicap (das schwache Gedächtnis), für das sie bestimmte Mechanismen entwickelt, die ihr in der Not helfen.

Dorie kämpft sich voran, wenn keine Hilfe in Sicht ist, und hat auf ihre eigene Weise Erfolg. (…) Die meisten Zuschauer*innen werden diese besondere Message des Films nicht bemerken – wohl aber diejenigen, die sie am ehesten brauchen, und die sich am meisten mit den Charakteren identifizieren werden können.

Tasha Robinson (The Verge)

Hier je eine kleine Vorschau zu den Filmen, via YouTube:

Bechdel-Test bestanden

Den Bechdel-Test hat Findet Dorie übrigens in allen 3 Kategorien bestanden: Kommt mehr als eine Frau (hier: Charaktere mit weiblicher Geschlechterrolle) vor? Check. Haben sie Namen? Check. Sprechen die Frauen miteinander über etwas anderes als Männer? Check.

Neben Dorie kommen etwa deren Freundin Destiny oder ihre Mutter Jenny vor – und sie quatschen über Themen wie Freundschaft und Familie. Doch selbst in einem so klaren Fall lädt das Gender-Thema immer gern zu einer Diskussion ein. Hier eine kleine Perle aus der Kommentarspalte zum Bechdel-Test:

Gender einfach streichen

Steve: Dori ist ein Fisch, keine Frau. Ein Fisch.

Arc: Es geht um Kontext. »Frau« meint hier nicht »Frauen«, sondern schlicht weiblich. Wenn man diesen Kontext nicht berücksichtigt, würden sich die meisten Animationsfilme und die Filme, in denen Kinder die Hauptrollen spielen, nicht für diesen Test qualifizieren. […]

Jake: Es sind wortwörtlich verdammte Fische in einem verdammten Kinderfilm! Wie um alles in der Welt kann irgendwer denken, dass deren Geschlecht irgendeine Tragweite für den Film haben sollte? Man könnte sämtliche Geschlechterrollen aus diesen Charakteren streichen und es würde keinen Unterschied für die Handlung machen!

Powers: Ja, Jake, das könnte man – das ist der ganze Sinn dieser Website. Der Punkt ist, dass die Filmemacher*innen diese Rollen weiblich gemacht haben, obwohl sie hätten männlich sein können. Und damit haben sie qualitativ wertvolle, weibliche, interagierende Figuren in einen Mainstream-Film platziert.

Fazit zu Findet Nemo und Findet Dorie

Ein vegetarischer Hai, »Meins«-schreiende Möwen, der 7-armige Octopus und die Popcorn-liebende Becky – das Universum von Nemo und Dorie ist voll von liebenswerten Ideen und Details. Technisch für ihre jeweilige Zeit perfekt umgesetzt und dramaturgisch gekonnt zu in sich geschlossenen Abenteuern verpackt, sind Findet Nemo und Findet Dorie heute schon Klassiker, die aus dem immer größer werdenden Meer der animierten Filme herausstechen.

Und hier nochmal für alle: Ein Aquarium! Nicht mehr virtuell, von einer verpixelten DVD, sondern in 4K und direkt aus dem Netz – 3 Stunden Fische gucken! Allein dafür hat sich die Erfindung des Internets schon gelohnt.

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VERÓNICA mit Sandra Escacena + wahre Geschichte | Film 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/ http://www.blogvombleiben.de/film-veronica-sandra-escacena-2017/#respond Thu, 09 Aug 2018 07:00:40 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4508 Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren…

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Ein spanischer Horrorfilm von Paco Plaza, jenem Regisseur, der mit REC (2007) vor rund 10 Jahren einen der wohl spannendsten spanischen Horrorfilme überhaupt abgeliefert hat. Andererseits war er auch für REC 2 (»a bit of a w[rec]k«, David Edwards) und REC 3 (»the nail in the franchise’s coffin«, Ed Gonzalez) beteiligt. Die Erwartungen an Plazas neusten Streich, Verónica, waren also mittelhoch bis mäßig – und wurden mehr als erfüllt: Fans und Kritiker*innen feiern ihn als extrem atmosphärischen Horrorstreifen. Schauen wir mal genauer hin…

So wahr mir Plot helfe

Schauspielerin Sandra Escacena in dem Horrorfilm Verónica

Zum Inhalt: Im Jahr 1991 lebt die 15-jährige Verónica mit ihrer Mutter und drei kleinen Geschwistern zusammen in einem Apartment in Valleca, einem Stadtteil der Arbeiterklasse im Süden Madrids. Der Vater ist vor kurzem gestorben. Die Mutter schiebt Überstunden, um die Familie zu ernähren. Verónica trägt die Verantwortung für ihre Zwillingsschwestern sowie ihren kleinen Bruder Antoñito. Die Haupthandlung beginnt am Tag der Sonnenfinsternis. Während alle Schüler*innen mit den Lehrenden auf dem Schuldach zur Sonne starren – durch (zuweilen provisorische) Schutzbrillen – schleichen sich Verónica und zwei Freundinnen in den Keller, um mit einem Hexenbrett (Ouija) die Geister der Verstorbenen zu beschwören… mit dramatischen Folgen.

Ja, so eine Art von Film ist das: Gläserrücken und Dämonen aus dem Jenseits, Schatten und Geräusche und durchdrehende Leute – diese ganz bestimmte, überquellende Horrorfilm-Schublade, in der das Diesseits vom Jenseits terrorisiert wird. Was Verónica aus der Masse ein wenig hervorstechen lässt: Der Film »basiert auf wahren Begebenheiten«, wobei das auch jeder dritte Vertreter dieses Genres von sich behauptet. Was ist da Wahres dran?

Hinweis: Im Absatz »Historischer Kontext« werden die wahren Begebenheiten besprochen – mit Spoilern! Bis dahin, entspanntes Lesen!

Close-up: Verónica im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Verónica beginnt mit einem Notruf. Noch vor dem ersten Bild hören wir aus dem Off die Stimmen. Tipp, um den Effekt eines Horrorfilms zu verstärken: Originalsprache mit Untertitel schauen. Erst recht bei Filmen, die auf ihre »wahren Begebenheiten« pochen, bleibt damit mehr von der Authentizität bestehen.

– Hier spricht die Polizei.
– Hilfe! Bitte helfen Sie!

Mit diesen Worten beginnt der Film. Das erste Bild: zwei Streifenwagen, die mit Blaulicht, durch Gewitter, Regen, Nebel rasen. In der Bildecke tauchen die Eckdaten auf: Madrid, 15. Juni 1991, 01:35 Uhr nachts. Bis auf die Minute genau datiert, diese herannahenden Streifenwagen. Schwarzblende.

– Bitte beruhigen Sie sich. Was ist passiert?
– Bitte, Sie müssen kommen! Er ist drinnen!

Die Anruferin klingt nach einer Teenagerin, die panisch ins Telefon schreit. Im Hintergrund wimmert ein Kind. Es folgen Detailaufnahmen von den Einsatzwagen. Schwarzblende. Wieder die Stimme der Polizistin am Hörer:

– Bitte beruhigen Sie sich. Sagen Sie mir, was Sie sehen. Ist jemand in Ihrem Haus? Hallo?

Chaos in der Wohnung

Ein Schrei, ein Knacken in der Leitung. Schnitt auf einen Kommissar, der seine Zigarette weg schnippt und aus dem Auto steigt. Im strömenden Regen geht er um den Wagen rum. Im Hintergrund ist – von den Blitzen effektvoll beleuchtet – das Wohnhaus zu sehen, aus dem der Notruf kam.

Es erinnert an jenes hohe Apartmenthaus aus REC, in dem sich 2007 ein klaustrophobischer Alptraum bis ins oberste Stockwerk abgespielt hat. Doch REC war ein handfester Zombiefilm. Verónica behauptet, wahr zu sein. Wir erfahren die genaue Adresse, den genauen Namen des Kommissars. Wir begleiten ihn in eine verwüstete Wohnung. Im Chaos liegt ein Jesuskreuz, das von einem Polizisten aufgehoben wird. Blutspuren führen vom Bad in ein verschlossenes Zimmer… was die Einsatzkräfte darin erwartet, schreibt ihnen den blanken Schrecken ins Gesicht. Ein grauenhafter Schrei von irgendetwas, das nicht gezeigt wird, geht über…

…in die Großaufnahme eines Mädchens mit Zahnspange, das mit weit aufgerissenem Mund ganz genüsslich gähnt. Das Mädchen liegt im Bett, die Sonne scheint ins Zimmer. Rückblende, »Drei Tage zuvor«. Ab jetzt wird erzählt, wie es zu der Schreckensnacht kam, die der Prolog anteaserte. Jene Sonnenfinsternis im Jahr 1991, die in Wirklichkeit am 11. Juli stattfand, wurde für den Film also – ob schlecht recherchiert oder dramaturgisch bedingt – in den Juni vorgezogen.

Totale: Verónica im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am frühen Morgen des 15. Juni 1991 erhielt die Polizeiwache 02-12 in Madrid einen Notruf. Diese Geschichte basiert auf dem Polizeibericht, den der für den Fall verantwortliche Polizist einreichte.

Texttafel aus dem Prolog von Verónica

Es gibt tatsächlich einen Polizeibericht. Kopien davon finden sich – in spanischer Sprache – online und sind insbesondere zum 20. Jubiläum des Falls vielfach diskutiert worden, von spanischen Websites, die sich um Paranormalität drehen. In diesen Kreisen ist der »Valleca Fall« sehr bekannt. Der Name leitet sich von jenem Stadtteil Madrids ab, in dem eine 18-jährige Frau namens Estefania Gutiérrez Lázaro (im Film: Verónica, 15 Jahre alt) eine Séance (also eine spiritistische Sitzung, oder: Gläserrücken) in ihrer Schule durchführte. Eine Nonne zerbrach schließlich ihr Hexenbrett und beendete damit die Sitzung (im Film zerbricht es wie von Geisterhand). Während Verónica im Film während dieser Séance ihren toten Vater zu beschwören versucht, waren Estefanias Eltern beide noch wohlauf – soweit die ersten Unterschiede zwischen Fakten und Fiktion.

In der Folgezeit erlitt Estefania Gutiérrez Lázaro mehrere Krampfanfälle und hatte Halluzinationen von Schatten und Wesenheiten, die sie umgeben. Später ist sie – wie die Verónica im Film – in ihrem jungen Alter gestorben.

Tragisches und »Paranormales«

Allerdings nicht wirklich »wie im Film«. Während Verónica in einem spektakulären Finale daheim gegen einen Dämon kämpft, von diesem malträtiert wird und auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt, war Estefania zum Zeitpunkt des Todes längst im Krankenhaus. Die Umstände ihres Todes vor rund 30 Jahren sind nicht geklärt. Wenn aber eine 18-Jährige an Krampfanfällen und Halluzinationen leidet, gibt es eine Reihe von Krankheitsbildern, die den tragischen Tod eines so jungen Menschen verursachen können. Ohne dämonischen Einfluss.

In dem Polizeibericht, auf dem dieser Film angeblich basiert, geht es nicht wirklich um Estefania Gutiérrez Lázaro . Deren Familie hat die Polizei nach dem Tod ihrer Tochter erstmal gar nicht kontaktiert. Erst ein Jahr später waren Polizist*innen bei Estefanias Eltern daheim. In ihrem Bericht ist von Geräuschen auf einer Veranda die Rede, und der geschlossenen Tür eines Kleiderschranks, die plötzlich und in unnatürlicher Weise aufging. Außerdem fiel eine Jesus-Figur von ihrem Kreuz und ein brauner Fleck breitete sich aus.

Das ist alles. Drei durchaus ungewöhnliche Beobachtungen, die man als »paranormal« bezeichnen kann. Sie wurden auf jeden Fall als paranormal interpretiert – und die Tatsache, dass diese Beobachtungen in einem offiziellen Polizeibericht festgehalten sind, das macht den »Valleca Fall« so berühmt. Zumindest bei Menschen, die an Paranormales (im »Geister aus dem Jenseits«-Sinne) glauben.

Persönlicher Kontext

Ich persönlich glaube nicht an Paranormalität, wie sie mir in unzähligen Filmen nun schon auf verschiedenste Herangehensweisen näher gebracht wurde. Und selbst, wenn in einem Polizeibericht von paranormalen Beobachtungen die Rede ist, ist mein erster Reflex die Annahme, dass eventuell die zuständigen Polizist*innen ihrerseits an Paranormales glaubten (man »sieht, was man sehen will«). Oder, dass es doch eher natürliche Erklärungen für vermeintlich unnatürliche Beobachtungen wie eine sich öffnende Schranktür, einen vom Kreuz fallenden Jesus und einen brauen Fleck gibt.

Das »sehen, was man sehen will«, gilt selbstverständlich auch für mich. Ich mag rationale Erklärungen – und das Verhalten von Dämonen oder anderen Jenseits-Wesenheiten in Filmen erscheint mir maximal irrational. Liegt vermutlich daran, dass sie »nicht von dieser Welt« sind und ich damit ungültige Ansprüche stelle. Aber dann erstaunt mich doch die innere Logik, mit der all die irrationalen Aktionen von Dämonen ganz gezielt – wie Arsch auf Eimer – zu unseren Ängsten passen. Auf rationale »Horrorfilm bedient Furchtvorstellungen« Art und Weise.

Fakten und Fiktion

Was die Unterschiede zwischen »Fakten und Fiktion« angeht, so berufe ich mich mit der Erläuterung der »wirklichen Begebenheiten« wohlgemerkt auch nur auf Internetseiten, keine amtlichen Dokumente. Newsweek hat die Geschichte über Estefania Gutiérrez Lázaro in Gegendarstellung zu dem Film in Form gebracht, die seriöseste Aufarbeitung, die ich auf Englisch finden konnte (wobei manche Links von diesem Artikel auf wiederum gar nicht seriöse Seiten verlinkt sind). Es ist anzunehmen, dass man im spanisch-sprachigen Internet bessere, detailliertere, fundierte Auseinandersetzungen mit dem Fall finden würde.

Andererseits: Vielleicht auch nicht. Vor rund 30 Jahren ist in einem Krankenhaus eine junge Frau gestorben – und alles, was heute noch in ihrem Namen passiert, ist Kunst, Kult und Kommerz, angereichert mit all den urban legends, die in der jahrzehntelangen Rezeption des Falls hinzugedichtet wurden. Ich verstehe, dass Dämonen-Horrorfilme besser »funktionieren«, wenn man dem (wohlwollenden) Publikum glauben machen kann, die Handlung basiere auf wahren Begebenheiten. Das ist eben viel gruseliger – und der Regisseur Paco Plaza macht keine halben Sachen: Er stellt seinen Film inklusive Abspann-Fotos vom »Tatort« als geradezu dokumentarisch dar (die Fotografie mit dem ausgebrannten Gesicht Estefanias hat es beispielsweise tatsächlich gegeben). Beim Toronto International Film Festival sagte Plaza zum Wahrheitsgehalt seines Films:

Was wir erzählen, wird Geschichte

Ich denke, wenn wir etwas erzählen, dann wird daraus eine Story, selbst wenn es Nachrichten sind. Man muss nur verschiedene Zeitungen lesen, um zu wissen, wie unterschiedlich die Realität sein kann, je nach dem, wer sie erzählt. Ich wusste, dass wir die realen Begebenheiten verfälschen würden. Ich wollte es bloß zu einer in sich geschlossenen Vision machen […] Also die ganze Geschichte von Veronica und ihren Schwestern und Antoñito, diesem kleinen Marlon Brando mit Brille, das ist alles eine Vision.

Paco Plaza, Regisseur von Verónica

Kurzum: Mit dezenter Anlehnung an den gefallenen Jesus aus dem Polizeibericht, hat man einen mit christlicher Symbolik und dämonischem Schauer aufgeladenen Plot gebastelt, der nicht auf diesem Bericht »basiert«, sondern von ihm inspiriert ist – das wäre die ehrlichere Wortwahl gewesen. Mal wieder. Wie immer.

Ein Teil in mir findet es immer etwas respektlos, wenn sich Horrorfilme nur um des Grusel-Effekts willen auf echte Menschen (mit echten Familien und Angehörigen) beziehen. Aber was weiß ich, wie die Betroffenen dazu stehen? Einen Kommentar etwaiger Familienmitglieder zu dem Film Verónica konnte ich nicht finden.

Traumatische Erfahrungen?

In dem Q&A auf besagtem Festival beantwortet Paco Plaza übrigens auch eine Frage dazu, wie man die Kinder am Set betreut hat – angesichts doch recht krasser Szenen, in denen sie von einer gruseligen Gestalt bedroht werden oder Fleisch aus dem Körper ihrer Schwester beißen. Plaza beantwortet diese Frage ab Minute 00:50 (auf Englisch):

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Ich stolperte über diesen Film, als ich zu Pascal Laugiers Ghostland (2018) recherchierte, einem anderen aktuellen Horrorfilm, der zuweilen mit Verónica verglichen wurde (obwohl die Filme unterschiedlicher kaum sein könnten). Über Verónica – der am 26. Februar 2018 erstmal bei Netflix veröffentlicht wurde – las ich dann immer häufiger die Phrase »scariest movie ever«, was mich leicht zum ködernden Filmfisch gemacht hat. Zack, Netflix aufgemacht, her mit dem Bissen!

Also, ist Verónica »der gruseligste Film aller Zeiten«? Also aus inzwischen über 120-jähriger Filmgeschichte, die Werke wie William Friedkins Der Exorzist (1973) und Werner Herzogs Nosferatu (1979) hervorgebracht hat? (Um nur zwei von unzähligen Klassikern zu nennen.) Natürlich absolut nicht. Verónica ist nicht einmal der gruseligste Film von Paco Plaza (wie gesagt: REC!).

Läuft bei Netflix

Heißt, ich bin wiedermal auf etwas reingefallen, was entweder eine gelungene PR-Kampagne oder ein glücklicher Selbstläufer war: Ein paar Internet-User, die ihr Grauen über Verónica bei Twitter dokumentiert haben. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich, der ich so gerne Bill Maher zitiere, aus: New Rule: That’s Not News. In diesem YouTube-Video beschreibt der amerikanische Late-Night-Moderator zur Bauchbinde »charlatan’s web« das Phänomen, das Medienportale irgendwelche Stimmen aus dem Internet aufgreifen und ihnen Relevanz andichten, selbst wenn sie es mit gegebener Vorsicht tun. Beispiel:

Das Netz streitet über Verónica – laut Netflix „der gruseligste Horrorfilm aller Zeiten“, den angeblich kaum ein Zuschauer bis zum Ende durchhält. 

Britta Bauchmüller (Kölnische Rundschau), 19.03.18

»Das Netz« = ein paar Twitter-User
»laut Netflix« = PR-Texter*in
»kaum ein Zuschauer« = noch ein paar Twitter-User

Unterm Strich beruft sich dieser Satz auf vielleicht 2 Dutzend Tweets von Netflix-Usern (stellvertretend für »das Netz«) und eine Person, die dafür bezahlt wird, Netflix-Filme ins Gespräch zu bringen. Das Ganze verpackt unter der Schlagzeile »Verónica und Co. Diese Horrorfilme auf Netflix hält kaum jemand bis zum Ende aus«. Werbung vom Feinsten. Läuft bei Netflix.

Fazit zu Verónica

Wer auf Dämonen-Filme steht, wird an Verónica seine Freude haben. Der Film ist handwerklich gut gemacht, wenn auch (von ein paar visuellen Ideen mal abgesehen) sehr konventionell. Er fügt dem Genre nichts Neues hinzu, bedient sich an dessen Zutaten aber sehr geschickt – und Sandra Escacena trägt die Zuschauer*innen als Heldin, der man nichts Böses wünscht, gut durch die Handlung. Grusel-Atmosphäre kommt auf, selbst wenn man Gläserrücken und Dämonen für Hokus Pokus hält, deshalb: ja, okay, guter Film…

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DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE von Krzysztof Kieślowski | Film 1987 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-der-zufall-moeglicherweise-1987/ http://www.blogvombleiben.de/film-der-zufall-moeglicherweise-1987/#respond Tue, 07 Aug 2018 07:00:55 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4593 Ist unser Leben vorbestimmt oder vom Zufall beherrscht? Welche kleinen Dinge treten welche großen los? In…

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Ist unser Leben vorbestimmt oder vom Zufall beherrscht? Welche kleinen Dinge treten welche großen los? In Der Zufall möglicherweise erzählt der polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski von einem konkreten Leben in einer konkreten Zeit und doch drei ganz unterschiedliche Biografien. Wohin der Weg geht und in welche Richtung das Schicksal ausschlägt, das entscheidet sich – natürlich – am Bahnhof. 

Witek rennt

Mit Der Zufall möglicherweise hat Krzysztof Kieślowski nicht nur möglicherweise, sondern ganz gewiss einige spätere Filme inspiriert. Bekanntestes Beispiel dürfte für das deutsche Publikum Lola rennt (1998) sein. Mit der Kamerafahrt in den Mund, zu Beginn von Lola rennt, spielt der Regisseur Tom Tykwer – der mit Heaven (2002) inzwischen ein Kieślowski-Drehbuch verfilmt hat – inszenatorisch elegant auf das Vorbild an. Ebenso mit dem Anrempeln einer prompt pöbelnden Passantin durch die rennende Lola (Franka Potente). Nehmen wir im Folgenden das Original unter die Lupe – Witek statt Lola.

Die Schauspieler Bogusław Linda und Monika Goździk in einem Standbild aus Der Zufall möglicherweise

Info: Zu der Zeit, da ich diesen Film suchte [Juli 2018], war Der Zufall möglicherweise (Original: Przypadek, Englisch: Blind Chance) im polnischen Original mit englischen Untertiteln in der Mediathek von Eastern European Movies verfügbar – eine empfehlenswerte Website für alle, die Interesse am osteuropäischen Kino haben. Allerdings wurde Der Zufall möglicherweise im Jahr 2017 vom Studio Filmowe TOR auch auf YouTube hochgeladen und ist dort in voller Länge zu sehen. (siehe unten)

Totale: Der Zufall möglicherweise im Zusammenhang

Historischer Kontext

Was den Film für ein internationales Publikum schwer zugänglich macht, ist seine Verankerung in der polnischen Geschichte vom Ende des 2. Weltkriegs bis Anfang der 80er Jahre. Der Zufall möglicherweise spielt vor dem Hintergrund des kommunistischen Polens, das scheinbar in zwei Lager zerfallen ist: Man ist entweder für oder gegen die Partei. Der Werdegang des fiktiven Studenten Witek Długosz dient als Beispiel, an dem gezeigt wird, wie ein Leben in diesem Polen laufen kann. Mal ist er als kommunistischer Funktionär in die Geschichte gestrickt, mal als Oppositioneller – und mal versucht er sich ganz aus dem Politischen rauszuhalten.

Obwohl der Film bereits 1981 gedreht wurde, lief er auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und in den polnischen Kinos erst 1987. Anfang der 80er Jahre war Der Zufall möglicherweise – in einer Zeit, da in Polen aufgrund der Solidarność-Unruhen Kriegszustand herrschte – von der Zensur zunächst verboten worden. Zu unbequem war dem Regime der Inhalt dieses Films.

Persönlicher Kontext

Möglicherweise war’s der Zufall, der dafür sorgte, dass ich durchaus filmbegeisterter Mensch bis vor kurzem den Namen Krzysztof Kieślowski nicht kannte. Möglicherweise war’s aber auch blöde Ignoranz, weil mein Hirn den Namen nichtmal in Gedanken auszusprechen wusste. Inzwischen lerne ich – durch Zufall, möglicherweise – seit ein paar Jahren polnisch und möchte die Annäherung all denjenigen erleichtern: Man spricht ihn Kschischtof Kschlowski aus (hier sagt’s ein Muttersprachler: ).

Ein stimmungsvoller, wenn auch nur visueller Teaser zum Lebenswerk dieses großen Filmemachers vermittelt ein Bilderreigen, den das Museum of the Moving Image im Jahr 2016 veröffentlicht hat:

Wer Lola rennt kennt und mag, möchte vielleicht sehen, welchem Film Tom Tykwer die Kernidee entnommen hat. Mir jedenfalls ging es so.

Close-up: Der Zufall möglicherweise im Fokus

Erster Eindruck | zum Auftakt des Films

»This is the 1981 version of the film, with censored fragments restored.« 

Mit dieser Texttafel begann die Version, die ich gesehen habe. Dabei stimmt der Hinweis nicht ganz. Es gab noch immer eine Stelle im Film, in der das Bild schwarz wurde und nur die Tonspur weiterlief. In dieser zensierten Szene ging es um Polizeigewalt. Fast entschuldigend wies hier eine erneute Texteinblendung darauf hin, dass dieses Fragment das einzige gewesen sei, dass sich nicht habe restaurieren lassen.

Der Film beginnt mit einer Großaufnahme des Helden, Witek Długosz, der nervös dasitzt, den Mund aufreißt und »Nieee!« ruft. Die Kamera ist zu nah dran, als dass wir zuordnen könnten, wo er da sitzt. Und sie fährt noch näher heran, diese Kamera, fährt in den aufgerissenen Mund, ins Schwarz. In gelben Großbuchstaben erscheint der Name des Hauptdarstellers, der diesen Film über seine gesamte Laufzeit trägt: Bogusław Linda.

Kindheitserinnerungen aus der Subjektive

Nach den Vorspanntiteln folgt eine Kollage an Bildern, deren Sinn sich auf die Schnelle nicht erschließt: Ein blutiges Bein in einem Korridor, durch den eine Leiche geschleift wird. Ein dumm dreinschauendes Kind, das sich erst im Spiegel betrachtet, dann den Blick zu den Mathe-Hausaufgaben senkt. Neben dem Jungen sitzt der Vater, sieht ihm in die Augen?. Schnitt. Ein grüner Hang, auf dem ein Auto steht. Ein anderer Junge, der sich verabschiedet. Schnitt. Der voyeuristische Blick ins Lehrerzimmer, durchs Fenster. All diese Ausschnitte aus Kindheitstagen sind aus der Subjektiven gefilmt, Point of View ist jenes Kind, das sich im Spiegel betrachtet hat.

Aus der Kindheit geht’s in die späte Jugend oder das frühe Erwachsenenalter, auf jeden Fall raus aus der Subjektiven: Witek turtelt mit einer kurzhaarigen Frau an einem Gleis. Ein paar Typen rufen Obszönes, Witek rennt ihnen nach. Schnitt zu einem nackten, grauen Leichnam, der aufgeschnitten wird. Von der gelben Fettschicht schwenkt die Kamera hoch zu den herabschauenden Medizinstudent*innen. Eine von ihnen sticht hervor, durch ihren angewiderten Blick. Witek erzählt sie, die Tote sei ihre Lehrerin gewesen. Es folgt ein Schnitt zum gealterten Vater, der Witek erzählt, wie froh er war, als der Junge damals seinen Lehrer geschlagen habe. Denn Streber möge er nicht.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

So geht es eine Weile. Kurze Szenen, chronologisch zwar und auf einen Helden fokussiert, doch durch die unüberschaubar großen Zeitsprünge unterbrochen. In diesem Prolog geht es Kieślowski nur um eine Art Quintessenz dessen, was aus dem Vorleben Witek erinnert werden soll. Bis zur schicksalhaften Szene am Bahnhof. Diese sehen wir zum ersten Mal nach 7 Minuten. So gerade eben erwischt Witek den Zug und der Film beginnt, endlich in gemäßigtem Tempo, mit verfolgbarer Handlung.

Wir werden zu jenem Bahnhof zurückkehren, ähnlich wie Mr. Nobody (2009) des Regisseurs Jaco van Dormael immer wieder zum Bahnhof zurückkehrt. Der Ort, an dem die Zeitstränge wie sich trennende Waggons auf unterschiedlichen Gleisen weiterfahren… Auf die Frage, ob er Der Zufall möglicherweise von Kieślowski gesehen habe, antwortet Jaco van Dormael in einem polnischen Interview:

Dieselben Dilemmata

Selbstverständlich. Unsere Filme entstanden zur selben Zeit [hier bezieht sich van Dormael auf seinen Kurzfilm È pericoloso sporgersi (1984), der wie ein früher Rohentwurf zu Mr. Nobody wirkt]. Offenbar waren wir von denselben Dilemmata beunruhigt. Und die Vorstellung verleiht mir heute noch eine gewisse Unruhe: Wir sitzen hier zusammen und reden, doch wie wenig muss man nur tun, damit Ihr oder mein Leben in völlig neuen, anderen Bahnen verläuft. Jede unserer Entscheidungen determiniert die nächste […]

Jaco van Dormael im Gespräch mit Barbara Hollender (aus dem Polnischen)

Bei Jaco van Dormael artet diese Idee wohlgemerkt in ein fantastisches Multiversum aus. Bei ihm eröffnet jede kleine Geste einen völlig neuen Zeitstrang. Bei Kieślowski ist der deterministische Gedanke von einer unausweichlichen Vorbestimmung hingegen wesentlich präsenter – und der Weg zum vorgezeichneten Schicksal bleibt in jedem Fall realistischer und näher an der Lebenswelt seines Protagonisten und der politischen Situation seiner Zeit. 

Fazit zu Der Zufall möglicherweise

Eine gewisse Faszination für die Zeit und den rätselhaft verstrickten Gang der Dinge ist wichtig. Zumindest, um als deutsche*r Zuschauer*in unter (grob über den Daumen gepeilt) 50 Jahren einen Zugang zu dem Film zu finden. Der Zufall möglicherweise bedient nicht unsere mit aufpolierten Bildern konditionierten Sehgewohnheiten. Er nimmt uns im Storytelling nicht bei der Hand (wie wir es vom Hollwood-Mainstream-Kino kennen, damit auch ja jede*r alles versteht) und setzt historisches Wissen voraus, das man ohne Bezug zu Polen kaum mitbringen wird.

Ich persönlich habe beschämend wenig Ahnung von der polnischen Geschichte. Dafür ist meine Faszination für die Zeit-Thematik im Film umso größer. Unabhängig von beidem ist das Schauspiel des Ensembles in Der Zufall möglicherweise wirklich stark. Und das Drehbuch ist so gut, dass es einen Sog entwickelt. Auch wenn man nicht alles verstehen mag, was in diesem Film vor sich geht, erlaubt er bestimmte Einblicke doch sehr klar und deutlich: Einblicke in die Zerrissenheit des Helden im Strudel des Zeitgeschehens. Egal, für welches politische Lager oder um welche Liebe Witek kämpft, man fiebert mit, wenn Witek rennt.

Hier gibt es den Film Der Zufall möglicherweise in voller Länge zu sehen (im polnischen Original mit englischen Untertiteln):

Übrigens: Der Zufall möglicherweise ist Teil der Criterion Collection. Hier gibt es weitere Informationen.

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COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/ http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/#respond Tue, 31 Jul 2018 07:00:15 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4530 Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die…

Der Beitrag COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.

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Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die Modewelt, wobei man über beiderlei Hintergründe ähnlich wenig erfährt: Das ist Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft. Während die Kindheit und Jugend der größten Modeschöpferin des 20. Jahrhunderts in einem Dunkeln liegen, dass Coco selbst nicht aufhellen wollte, ist vieles über ihre ersten Karriere-Schritte in Paris bekannt. Da kommt es nur auf den Fokus an.

Die fabelfreie Welt der Rebellin

Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.

Audrey Tautou als Coco Chanel | Bild: Warner Bros. France

Totale: Coco im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.

Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:

Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)

Persönlicher Kontext

Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.

Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.

Fokus: Coco im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.

Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.

Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.

Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.

Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.

So läuft’s eben nicht

Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:

Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. |  Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)

Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.

Der Trailer zum Film

Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.

Dunkle Seiten

Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)

Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:

Fazit zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft

Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.


Weitere Filmkritiken:

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ASTERIX IM LAND DER GÖTTER | Film 2014 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-asterix-im-land-der-goetter-2014/ http://www.blogvombleiben.de/film-asterix-im-land-der-goetter-2014/#respond Mon, 30 Jul 2018 05:00:48 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4439 »Wer Asterix-sozialisiert ist«, schreibt Christine Paxmann im aktuellen Eselsohr (Heft 7, 2018), »wird sicher noch die ersten…

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»Wer Asterix-sozialisiert ist«, schreibt Christine Paxmann im aktuellen Eselsohr (Heft 7, 2018), »wird sicher noch die ersten Ausgaben im Schrank haben.« Band 1, Asterix der Gallier, kam 1968, passend zu Paxmanns Schulstart. »Da waren die Figuren noch nicht stromlinienförmig, auch wenn das bei den beleibten Herren der gallischen Antike eh schwierig ist.« Aber, wie die Zeit vergeht: Inzwischen werden die beleibten Herren der gallischen Antike im digitalen Animationsprogramm gestaltet. Der Blog-vom-Bleiben-Gastautor Markus Hurnik hat sich den ersten computer-animierten Asterix-Film aus 2014 nochmal angesehen.

Gastbeitrag von Markus Hurnik

Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.

Asterix im Land der Götter: Topaktuell und spannend. Er garniert die weltpolitische Lage mit einer Prise Humor, zeigt einem aber auch die aktuellen Probleme und Missstände auf. Sei es Flüchtlinge, Migration, Gentrifizierung, Integration und Widerstand.

Asterix im Land der Götter, schüttelt einem Mann die Hand. | Bild: M6 STUDIO / BELVISION / M6 FILMS / SNC / LES ÉDITIONS ALBERT RENÉ / GOSCINNY-UDERZO

Erstmals in der dritten Dimension

Der Film Asterix im Land der Götter wurde bereits 2014 veröffentlicht. Er ist der erste 3D-Animationsfilm der Reihe. Viele haben vermutlich in den letzten Jahren irgendwann aufgehört zu verfolgen, wann neue Asterix-Filme veröffentlicht wurden, da die Filme mit echten Schauspieler*innen teilweise doch einigen Missmut hinterlassen haben. Sie konnten das asterix‘sche Flair nie richtig einfangen. Wer erinnert sich nicht an das Fiasko Asterix und Obelix gegen Caesar, in dem der Humor auf der Strecke blieb? Doch der neue Film der Reihe gibt einem wieder einen Grund ins Kino zu gehen bzw. die Blu-ray zu erwerben. Asterix im Land der Götter basiert auf dem 17. Comic der Reihe – der Trabantenstadt

Ansehnliche Animationen, ein schönes Farbbild und eine typische Asterix Geschichte sind zu erwarten.

Feinde ihrer selbst

Zum Inhalt: Der Film ist in Gallien angesiedelt. Caesar hegt wieder einmal Pläne, wie er das Dorf der Gallier*innen sich zu eigen machen kann. Ein kaltblütiger Plan soll her und man entscheidet sich zu dem Bau einer Trabantenstadt – dem Land der Götter (und Göttinnen). Das gallische Dorf wiederum soll dadurch in die Defensive gerückt werden und nach und nach zum unbedeutenden Vorort verkommen, welcher sich nach und nach integriert. Dabei wird die Bevölkerung des gallischen Dorfes auf eine harte Probe gestellt. Seine gesellschaftlichen Strukturen drohen zu zerfallen beziehungsweise die Dorfbewohner*innen die Feinde ihrer selbst zu werden.

Alles findet seinen Platz Asterix im Land der Götter und wird wunderbar humorvoll und amüsant in Szene gesetzt.

Das Schwein zwischen den Fronten

Dem neuen Animationsstil ist es auch zu verdanken, dass die Keilereien zwischen Römer*innen und Gallier*innen (*und eigentlich kloppen sich doch nur die Kerle) endlich wieder so sind, wie man Sie aus den alten Filmen kennt. Mal ragt eine Hand aus dem Gemenge, ein Römer fliegt über das Feld oder ein Wildschwein kommt zwischen die Fronten. Und alles wirkt schön unrealistisch und verspielt, wie es sein muss!

Man kann sagen, Asterix ist endlich im 21. Jahrhundert angekommen! Dafür ist vermutlich der zweite Regisseur Louis Clichy verantwortlich, der bereits einige Pixar-Filme prägte, wie WALL·E (2008) oder Oben (2009).

Asterix im Land der Götter auf Deutsch

Leider gibt es aber auch unschöne Aspekte. So ist die deutsche Synchronisation zum Teil etwas gewöhnungsbedürftig. Milan Peschel gefällt mir einfach nicht als Asterix. Der Charakter kommt einem teilweise so fremd vor, als würde die eigene Stimme nicht an Ihn glauben.

Der Humor kommt dagegen überhaupt nicht zu kurz. Schöne Szenen im römischen Dampfbad und auch szenische Darstellung holen sowohl das ältere Publikum, als auch den jungen Filmfan ab. Viel Witz spielt sich auch zwischen den Zeilen ab, hier muss man vermuten, dass durch die Synchronisation eventuell noch mehr verloren gegangen ist, dies bleibt aber vorerst Spekulation. Genug Ironie und dialogischen Feinschliff hat die Übersetzung auf alle Fälle mitgebracht. Passierschein A38 lässt grüßen.

Mit dem Zaubertrank auf die Couch!

Die 3D-Umsetzung kann leider nicht weiter bewertet werden. Ich durfte den Film im heimischen Heimkino genießen und war daher auf 2D angewiesen. Jedoch ist anzunehmen, dass die 3D-Umsetzung nur für Hardcore-3D-Fans absolut notwendig ist, der durchschnittliche Zuschauer dürfte mit der 2D-Variante sehr gut versorgt sein.

Holt Euch daher Euren Lieblingszaubertrank auf die Couch und fallt zurück in Eure Kindheit. Ihr werdet es nicht bereuen und viel Spaß und Freude mit Asterix im Land der Götter haben.

Und wem das alles nicht genug ist, der kann sich auf 2019 freuen. Der Regisseur Alexandre Astier arbeitet bereits an seinem neuen Asterix – The Secret of the Magic Potion, welcher 2019 in Deutschland erscheinen wird.


Zum Autor

Markus Hurnik (28), langjähriger Berliner und Vorortbewohner, den es beruflich inzwischen zunehmend in sächsische Gefilde verschlägt. Er hat in seinen frühen Jahren für die Verlagsgruppe Randomhouse Jugendbücher rezensiert. Anfang der 2000er kam er vermehrt ins Kino und wurde filmabhängig. Studiert hat Hurnik etwas vollkommen Kunstfernes, vis-à-vis der Filmstudios Babelsberg.

Stammkino: Cineplex Titania Palast, Berlin
Lieblingskinos: Programmkino Ost, Dresden Thalia, Potsdam
Lieblingsfilme (eine Auswahl): La Grande Bellezza, Metropolis, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, WALL·E, Train to Busan

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GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/ http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/#respond Fri, 27 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4397 Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman…

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Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman Show (1998) schrieb und an einen Produzenten verkaufte. Der junge Mann bekam »extra money« dafür, dass er von seinem Wunsch, auch die Regie zu führen, zurücktrat und einen erfahreneren Regisseur walten ließ. Niccol stimmte zu, zog sich zurück und schrieb das Drehbuch zu Gattaca. Dieses Mal ließ er sich die Regie nicht nehmen und setzt sein Skript selbst um. Schließlich kam Gattaca sogar noch ein Jahr vor Die Truman Show in die amerikanischen Kinos.

Mutter Natur und ihre Beta-Babys

Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.

In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.

Die Schauspieler Uma Thurman und Ethan Hawke in dem Film Gattaca

Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.

Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert.  Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.

Totale: Gattaca im Zusammenhang

Historischer Kontext

Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.

Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.

Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«

Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.

Persönlicher Kontext

Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?

Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.

Close-up: Gattaca im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13

Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center

Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.

Die Essenz unserer Gene

Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.

Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:

Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.

Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.

Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):

Zur Position des Films

In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.

[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70

Fazit zu Gattaca

Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.


Weitere Filmkritiken:

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GHOSTLAND, Horror von Pascal Laugier, Set-Unfall | Film 2018 | Kritik, Spoiler http://www.blogvombleiben.de/film-ghostland-2018/ http://www.blogvombleiben.de/film-ghostland-2018/#respond Mon, 09 Jul 2018 07:00:21 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4241 Er hat es wieder getan. Der Franzose Pascal Laugier lebt seit nunmehr 15 Jahren sein Faible…

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Er hat es wieder getan. Der Franzose Pascal Laugier lebt seit nunmehr 15 Jahren sein Faible für Horrorfilme in schöpferischer Funktion aus – als Drehbuchautor und Regisseur. Mit Ghostland findet er beinahe zu der Härte zurück, die ihn mit Martyrs (2008) bekannt gemacht hat. Überschattet wird Laugiers neuer Film allerdings von einem Unfall, der sich beim Dreh ereignete und Schauspielerin Taylor Hickson mit einer Narbe im Gesicht zurücklässt.

Vorfall im Geisterland

Deadline Hollywood spricht von der Ironie, dass das Kinoplakat zum Film Ghostland das Gesicht einer jungen Frau wie von Scherben zerschmettert zeigt. Die Anklageschrift spricht von mangelnden Industriestandards und wirft der Produktionsfirma vor, die Schauspielerin Taylor Hickson in eine absehbar gefährliche Situation gebracht hat. Regisseur Pascal Laugier wird indes in dieser Anklageschrift nicht erwähnt, obwohl er bei dem Unfall eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint. Mehr dazu im Absatz »Set-Unfall mit Taylor Hickson«.

Zum Inhalt: Eine Mutter und ihre zwei Töchter beziehen das Haus einer verstorbenen Verwandten. Doch schon in der ersten Nacht werden sie in dem düsteren Anwesen von üblen Gewaltverbrechern attackiert, die das Leben der Frauen grundlegend verändern.

Hinweis: Dieser Text enthält Spoiler zu allen Filmen von Pascal Laugier, aber nur im Absatz »Misogynistischer Folter-Porno?«, bis dahin, schönes Lesen! Eine weitere Rezension zu Ghostland, mehr auf den Inhalt als auf den Kontext bezogen, habe ich für kinofilmwelt.de geschrieben.

Zwei Mädchen flüchten Hand in Hand in einen Wald, Standbild aus dem Film Ghostland | Bild: Mars Films

Totale: Ghostland im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Pascal Laugiers erster Film (Haus der Stimmen) handelte von einer jungen Frau, die sich in ein spukendes Waisenhaus zurückzieht, um in aller Heimlichkeit ihr Kind auf die Welt zu bringen. Laugiers zweiter Film (Martyrs) erzählte die Geschichte von zwei jungen Frauen, die im Rahmen eines Racheakts eine ganze Familie hinrichten, ehe sie selbst bluten müssen. Sein dritter Film (The Tall Man) handelte von einer jungen Frau in einer Stadt, in der Kinder von einem »großen Mann« entführt werden – ein sehr (eher: zu) wendungsreicher Wannabe-Polit-Thriller mit Horrorelementen.

Im vierten Film sind nun zwei Frauen (mal als Jugendliche, mal als Erwachsene, also vier Schauspielerinnen) der rohen Brutalität zweier Gewaltverbrecher ausgesetzt. Es verwundert nicht, dass Filmkritikerin Antje Wessels den Regisseur bei einem Interview im April 2018 also auf seine Wahl immerzu weiblicher Hauptfiguren angesprochen hat. Und er so:

Für mich sind Mädchen »das große Andere«. Sie sind alles, was ich niemals sein werde. Und ein paar Wochen auf einem Set zu verbringen und Schönheiten, ich meine, Gesichter zu filmen, die mich faszinieren – auch das ist für mich ein Grund, Filme zu machen. Vielleicht war ich in der Schule einer der von den Mädchen zurückgewiesenen Jungs – und ich mache Filme, um geübt darin zu werden, ihnen zu gefallen. Um ihnen zu zeigen, dass ich selbst ein liebenswerter Typ bin.

Pascal Laugier im YouTube-Interview mit Filmkritikerin Antje Wessels

Ich persönlich finde, der heute 46-jährige Pascal Laugier hat sich nicht das beste Genre ausgesucht, um den »girls« zu gefallen. Aber hey, wo die Liebe hinfällt… und dass seine Liebe dem Horror-Genre gilt, das hat der Mann ja nun auf vierfache, sehr unterschiedliche Weise in Spielfilmlänge unter Beweis gestellt. Dabei ist sein Œu­v­re von solch wechselhafter Qualität, dass ich dem Herrn Laugier aktuell keine Träne nachweinen täte, wenn er sich vom Regiestuhl wieder aufs heimische Sofa begäbe.

In einem Abgesang über den »Retro-Wahn des Gegenwartskinos« schreibt Georg Sesslen (DIE ZEIT, N° 31, 26. Juli 2018) anlässlich des Remake von Papillon über ein »System der Selbstreferenz«.

Die Filme beziehen sich nicht mehr auf eine Art von äußerer Wirklichkeit, sondern auf andere Filme und andere Ereignisse innerhalb der Popkultur. Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht auf das Leben ihrer Konsumenten beziehen würden, dann das besteht ja in der Regel zur Hälfte aus Popkultur-Konsum.

Dabei habe ich (nach kurzer Empörung: Wie herablassend schreibt dieser Typ bitte über mein Leben!?) an Ghostland denken müssen. Wie viele Zeilen, Szenen, Kulissen, Ideen, ja ganze Versatzstücke dieses Films sind (bewusst oder unbewusst) nicht Referenzen an etwaige namhafte Vertreter*innen der Horror-Genres? Tobe Hooper und Rob Zombie als nur prominenteste Beispiele.

Noch vor dem ersten Bild serviert Ghostland bereits die erste Referenz in aller Deutlichkeit, eine, die sich durch den gesamten Film zieht. Der Streifen fängt mit einem Zitat an.

Close-up: Ghostland im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Zu Beginn des Films Ghostland sehen wir einen Schwarzweiß-Porträt des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft (1890-1937). Darunter – in Schreibmaschinen-Lettern getippt, erscheint die Zeile:

Freakin‘ awesome horror writer. The best. By far. | Elizabeth Keller

Wie aus der Zeit gefallen: Ein schwarz gekleideter Junge mit einem Hut rennt über einen Acker. Hin zu einer Straße, auf der gerade ein Wagen vorbeifährt. Mitten auf der Straße bleibt der Junge stehen und schaut dem Wagen nach. Aus dem Wagen, von der Rückbank aus, begegnet ein Mädchen (Taylor Hickson) seinem Blick. Ihre Schwester (Emilia Jones), auf dem Beifahrersitz, liest derweil eine selbst geschriebene Grusel-Geschichte vor. Anschließend wird sie von ihrer Mutter, am Steuer, für die Geschichte gefeiert und von ihrer Schwester beleidigt. Typisches Familiengezanke also, bis sich ein wild hupender Candy Truck von hinten nähert und den Wagen überholt.

Im Truck sieht man nur zwei dunkle Silhouetten, die den irritierten Frauen zuwinken. Spooky shit. Dann zieht der Wagen vorbei und der Titel erscheint: Incident in a Ghostland (der etwas längere, alternative Titel des Films)

An einer Tanke kauft die schriftstellerisch ambitionierte Tochter etwas zu knabbern. Draußen fährt jener Candy Truck vorbei, gruselig langsam, das Licht in der Tanke flackert, als hätte der Sicherungskasten Angst bekommen. Besagte Tochter wirft einen Blick auf die Titelseite einer Zeitung, die da rumliegt: »Familien-Killer schlagen zum fünften Mal zu!« (wenn man später erlebt, wie auffällig und unvorsichtig diese Killer unterwegs sind… dann muss man sich schon sehr wundern: Wie genau hat die Polizei denn bisher versucht, sie aufzuhalten?)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

All die üblen Vorzeichen führen rascher als gedacht zur Konfrontation zwischen den Familien-Killern und der Familie. Dabei geht es brutal zur Sache. Die Gewalt-Eskalation zum Auftakt des Films ist derartig heftig in Szene gesetzt, dass sich schon hier die Spreu vom Weizen trennen wird: die Zuschauer*innen, die solche Filme lieber meiden, und diejenigen, die bleiben. Letztere bekommen einen Film zu sehen, der handwerklich sehr gut gemacht ist. Vieles, was an Pascal Laugiers vorausgegangenem Werk The Tall Man mies war (die Computer-Effekte, die unglaubwürdigen Twists, die politische Message) fallen weg. Stattdessen: Absolut solides Genre-Kino, dass zur Entspannung zwischen den Gewalt-Exzessen gekonnt Zeit- und Wirklichkeits-Ebenen wechselt. Samt Cameo-Auftritt von H. P. Lovecraft.

Die Kritik zum Film fällt sehr gemischt aus (siehe: englischer Wikipedia-Beitrag). Manch Filmrezensent*innen schlagen mit ihrem Lob ein bisschen über die Stränge. So schreibt Simon Abrams (The Village Voice):

[Ghostland] ist eine verstörende, effektvolle Kritik an misogynistischen Folter-Pornos. […] Der Film mag zuweilen daherkommen wir ein blutrünstiger Slasher-Klon, aber Laugiers gefolterte Mädchen erweisen sich immer wieder stärker als ihre brutal entstellten Körper.

Misogynistischer Folter-Porno? (Achtung, Spoiler!)

In Haus der Stimmen stirbt die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen im Arm. Im Laufe von Martyrs schlitzt sich die eine Hauptfigur selbst auf, die andere wird gehäutet – und stirbt elendig. Am Ende von The Tall Man wird die weibliche Hauptfigur auf Lebenszeit weggesperrt, nachdem man ihr die Scherben aus dem Gesicht gepickt hat. In Ghostland, das stimmt, da überleben die beiden Mädchen die schier endlosen Gewalt-Attacken in den vorausgegangenen anderthalb Stunden.

Man kann nicht behaupten, ein Film sei nicht misogynistisch oder gar feministisch, nur weil die weiblichen Protagonistinnen am Ende irgendwie mit dem Leben davon kommen. Ghostland ist ein Folter-Porno, der Misogynisten gefallen wird. Ebenso, wie Der Soldat James Ryan kein Antikriegsfilm, sondern ein Kriegsfilm ist, der all denen gefällt, die Lust auf Kriegs-Action haben.

[Die Gewalt] dient als Mittel zum Zweck, um Zuschauer*innen daran zu erinnern, dass Traumata die menschliche Psyche schädigen können. Doch darüber hinaus scheint Ghostland nichts zu sagen zu haben. Der Mittel zum Zweck führt zu keinem tieferen Sinn oder einer größeren Idee, so dass die Unmenschlichkeit sich wirklich lohnt. Die Story ist zu hauchdünn, um zu rechtfertigen, was ihre Charaktere durchleben müssen. Dadurch wirkt die Gewalt als Ziel gesetzt und misogynistisch.

Day Ebaben (BloodyDisgusting), aus dem Englischen übersetzt

Das Kunstschaffen von Pascal Laugier

Pascal Laugier wurde am 16. Oktober 1971 geboren. Er begann seine Karriere als Assistent des Regisseurs und Filmproduzenten Christophe Gans (Silent Hill, Die Schöne und das Biest). So drehte Laugier zu dessen Pakt der Wölfe (2001) mit Vincent Cassel eine Making-of-Dokumentation (und er trat selbst in dem Film auf).

Später schrieb und inszenierte Pascal Laugier nach seinem Debüt Haus der Stimmen (2004) den Horror-Schocker Martyrs (2008), seit dem er dem New French Extremism zugeordnet wird. Das Gewalt-Spektakel brachte dem Regisseur einige Kontakte in Hollywood ein, wo er nach eigenen Aussagen, »drei oder vier verschiedene Projekte« unterzeichnete. Eines davon war ein Remake zu dem Horror-Klassiker Hellraiser (1987), von dem er jedoch wieder zurücktrat (oder zurückgetreten wurde). Hier ist Laugiers Sicht der Dinge:

Ich hatte das Gefühl, dass die Produzenten hinter dem neuen Hellraiser keinen wirklich seriösen Film machen wollten. Nun, für mich wäre ein neuer Hellraiser vor allem ein Film über die SadoMaso-Schwulen-Kultur, weil es von einem homosexuellen Begehren herrührt – und Hellraiser handelt von solchen Dingen. Ich wollte nicht die ursprüngliche Version von Clive Barker [Hellraiser-Schöpfer] betrügen.

Pascal Laugier im Interview mit Ambush Bug (AICN)

Die Produzenten hingegen seien eher an einem kommerziell erfolgreichen Remake für Teenager*innen als Zielgruppe interessiert gewesen. Statt eines Hellraiser-Remakes drehte Laugier stattdessen den Mystery-Thriller The Tall Man (2012). Im Jahr 2015 inszenierte außerdem er das Musikvideo zu City Of Love über gefallene (gruselig ausschauende) Engel und die Faszination für den menschlichen Körper. Die französische Popsängerin und Schauspielerin Mylène Farmer, die City Of Love sang, übernahm 6 Jahre nach Pascal Laugiers letztem Spielfilm die Rolle der Mutter in Ghostland. (Die lange Dauer zwischen seinen Projekten schreibt er Finanzierungsschwierigkeiten zu.)

Set-Unfall mit Taylor Hickson

Nun ist für einen Star für Mylène Farmer dieser Film nur eines von vielen Werken in einer langen Karriere. Für die meisten Cast- und Crew-Mitglieder*innen und Zuschauer*innen wird Ghostlandnur ein weiterer Horror-Film sein. Einer, der manchen mehr, manchen weniger gefällt, aber kaum das Zeug hat, lange von sich reden zu machen.

Allein für Schauspielerin Taylor Hickson stellt dieser Film eine Zäsur dar. Ein Schnitt, der ihr Leben in ein »Davor« und »Danach« unterteilt. Grund ist eine Szene, in der Hickson gegen eine Glastür hämmern sollte, härter, wie es der Regisseur Pascal Laugier wollte, so hart, bis das Glas brach und die junge Frau hindurch fiel. Dabei schlitzte eine Scherbe ihr Gesicht so sehr auf, dass Taylor Hickson mit 70 Stichen genäht werden musste. Die Narbe wird die Schauspielerin für den Rest ihres Lebens im Gesicht tragen. Zitat des Regisseurs:

Manchmal war ich der Bösewicht am Set. Die Crew verhielt sich sehr beschützend gegenüber den Schauspielerinnen und ich musste sie davon abhalten. Ich wollte, dass sich die Schauspielerinnen einsam und sozusagen miserabel fühlen – damit sie fähig waren, das darzustellen, was das Skript abverlangte. Also, yeah, hin und wieder fühlte ich mich wie der Bösewicht, aber die einzige Sache, woran ich dabei dachte, war der finale Film.

Pascal Laugier im Interview mit Darren Rae (Review Graveyard), 17. März 2009

Nie wieder mit Laugier

Dieses Zitat bezieht sich gar nicht auf Ghostland. Sondern auf Martyrs, dem anderen Gewalt-Schocker, den Laugier 10 Jahre zuvor gedreht hat. Als die Schauspielerinnen aus dem Film damals, Morjana Alaoui und Mylène Jampanoï, ein Interview gaben, kam dieser Gesprächsfetzen zustande (aus dem Englischen übersetzt):

Rob Carnevale (Indie London): Pascal scheint ein wirklicher netter, sanfter Typ zu sein… wie war er als Regisseur? MJ: Das ist nicht wahr… MA: Er hat eine sehr sanfte Seite und eine sehr gewaltsame Seite. Er hätte diesen Film nicht gemacht, wenn es diese gewaltsame Seite nicht gäbe. Und ich denke, dass er eine sehr gewaltsame Haltung gegenüber der Welt hat. RC: Würdet ihr wieder mit ihm arbeiten? MJ: Niemals! [Lacht.] MA: Ich ebenfalls nicht. MJ: Kann ich noch sagen, dass wir uns zwar darüber beschwert haben, aber das wir trotzdem eine exzellente Zeit dort hatten? Und auf professioneller Ebene, als Schauspielerinnen, haben wir viel über uns gelernt.

Fazit zu Ghostland

Horrorfilme sind heute, was öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter waren: Ein Spektakel für Menschen, die von Gewalt fasziniert sieht (mich eingeschlossen). Und so wie Henker*innen damals sicher eine »gewaltsame Seite« hatten, haben sie heute Filmemacher*innen. Indem sie ihre Gewaltfantasien inszenieren und damit die Gewaltfantasien etlicher Anderer bedienen, schaffen sie ein Ventil für sadistischen Voyeurismus. Oder sie fördern ihn damit nur, so kann man es auch sehen. Ich persönliche gehöre eher der ersteren Meinung an. Doch mir graut es bei einem Regisseur, der sein filmisches Ergebnis höher wertet, als das Wohlbefinden aller Beteiligten.

Erst recht, wenn die Story derart dünn ist. Auch die Charaktere des Films bleiben substanzlos. Bloße Täter-/Opfer-Schablonen, wie man sie aus x-beliebigen Horrorfilmen kennt, die man sieht und wieder vergisst. Da warte ich doch lieber auf das nächste Werk des Meisters popkultureller Referenzen, zuweilen gar mit Wirklichkeitsbezug: Quentin Tarantino. Dessen nächster Streich soll vom mörderischen Treiben der Manson-Familie handeln.

Weitere Filmtipps:

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HERR ANDERS von Eva Schatz, Stefanie Reich | Kinderbuch 2011 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-herr-anders-2011/ http://www.blogvombleiben.de/buch-herr-anders-2011/#respond Sun, 08 Jul 2018 07:00:48 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4209 Ein Kinderbuch über die Schwierigkeiten bei der Partnersuche. Ist das überhaupt kindgemäß? Was sich zunächst befremdlich…

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Ein Kinderbuch über die Schwierigkeiten bei der Partnersuche. Ist das überhaupt kindgemäß? Was sich zunächst befremdlich anhört, meistern Eva Schatz und Stefanie Reich. In ihrem Bilderbuch Herr Anders geht es vor allem ums Anderssein. 

Herr Anders sucht eine Freundin 

Bloggerin Sonia Lensing hält das Kinderbuch hoch: Herr Anders von Eva Schatz und Stefanie Reich

Wenn man sein Frühstücksbrot am liebsten mit Erdnussbutter, Marmelade, Käse und Pizzatomaten isst, dann isst man anders als das gemeine Volk. Was sich David genüsslich auf der Zunge zergehen lässt, erfreut nicht immer meine Geschmacksknospen. Allerdings bin ich mit meiner euphorischen Liebe für Bäume und meinem Hang zum Babyhumor (wo ist das Vöglein?) auch etwas eigen. Das Bilderbuch Herr Anders zeigt Klein und Groß, worauf es ankommt: Solange man gemeinsam im gleichen Schritt aus der Reihe tanzt, spielt das Anderssein keine Rolle.

Zum Inhalt: Der Protagonist der Autorin Eva Schatz, gezeichnet von Illustratorin Stefanie Reich, ist ein seltsamer Kerl. Dass er wie Spongebob mit einer Schnecke zusammenlebt, erscheint noch als normalstes. Tatsächlich erinnern mich rückblickend einige Eigenarten von Herrn Anders an den berühmten Gegenteiltag aus der Serie Spongebob Schwammkopf. So schwimmt die Hauptfigur des Bilderbuchs stets gegen den Strom, wenn sie beispielsweise bei eingetretener Müdigkeit aus dem Bett springt oder sich seine Hose über den Kopf zieht.  

Er steigt in seinen Pullover, die Hose kommt über den Kopf. Nach einer heißen Himbeersirupdusche kann der Tag beginnen!

Diese alberne, unlogische Art von Witz ist der Stoff, der mein inneres Kind erheitert. Doch auch, wenn das Buch visuell wie inhaltlich humoristisch aufgezogen ist, geht es nicht immer lustig zu. Obwohl Herr Anderes ein grundsätzlich zufriedener Mensch ist, der es sich in seinem Leben schön macht, ist sein Herz ein wenig bedrückt. Was Herrn Anders fehlt, ist eine Partnerin, eine Gleichgesinnte, mit der er sein verrücktes Glück teilen und somit vergrößern möchte. Doch alle Damen, die Herr Anders kennenlernt, verstehen ihn nicht. Zum Glück stolpert er eines Tages über Frau Anders.   

Zur Wirkung des Buches

Das Bilderbuch von Eva Schatz erschien 2011 im Tulipan Verlag, der damit wirbt, besondere Kinderbücher zu verlegen. Mit Herr Anders bestätigt sich dieser Anspruch jedenfalls. Durch seine Originalität in der Figurencharakteristik und Visualität ist das Werk schon jetzt eines meiner diesjährigen Lieblingsbücher, die ich per Zufall in der Stadtbibliothek gefunden habe.  

Ein etwas anderes Motiv in der Kinderliteratur  

Obwohl es sich um ein Kinderbuch ab 4 Jahren handelt, adressiert die Geschichte mit seinem Motiv der Partnersuche auch die Erwachsenenwelt. Das entlockt den Vorleser*innen das eine oder andere Schmunzeln. Mit seinen unglücklichen Verabredungen, der aufkeimenden Hoffnung und niederschmetternden Ablehnung, die Herrn Anders abermals widerfährt, greift die Autorin ein universelles Thema auf, das sich gegenwärtig immer mehr in der virtuellen Welt abspielt. Wieso das Sujet, einen Freund fürs Leben zu finden, also nicht auch kindgerecht aufarbeiten? Dieses Vorhaben gelingt Eva Schatz mit der Leipziger Illustratorin Stefanie Reich, die für etliche Verlage tätig ist, mit Bravour.  

Man selbst bleiben

Die fehlende Wellenlänge zu den potentiellen Herzdamen und die achterbahnmäßigen Gefühle von Herrn Anders werden kindgemäß und mit ausdrucksstarker Mimik dargestellt. Auch, wenn sich Herr Anders besonders viel Mühe für die Damen gibt, bleibt sich die Figur in ihrem Wesen treu. Ein Vorbild für die kleinen und großen Leser*innen. Die Botschaft, immer man selbst zu sein, wird den Kindern und Erwachsenen in der Person von Herrn Anders liebevoll nahegelegt. Denn dass wir uns zeitweise sogar verbiegen, nur damit wir nicht alleine sind, ist kein seltenes Phänomen unserer Gesellschaft. Umso wichtiger, dass die Kernbotschaft des Bilderbuchs so weise und spielerisch für die Kinderperspektive vermittelt wird. 

Randnotiz: Hier geht’s zur Rezension von der Buchhexe zu Herr Anders.

Mit dem dritten und zuletzt veröffentlichten Kinderbuch der Autorin Eva Schatz ist ein Werk entstanden, das sich trotz kinderlebensferner Thematik als kindgemäße Story eignet. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Skurrilität der Geschichte die Fantasie der Kinder anregt und die vielen, verspielten und witzigen Illustrationen von Stefanie Reich im Comic-Stil den Text ideal ergänzen. Die Figuren sind so liebevoll und ausdrucksstark gezeichnet, dass sie bereits auf deren markanten Charakter deuten. Durch einfache Formen und farbenfrohe Panoramabilder und ganzseitige Bilder bleibt viel zu entdecken, ohne das Kind zu überfordern.   

Dies gilt auch für den Textanteil in dem Buch, der reduziert und verständlich gehalten ist und ab und an mit Neuwortschöpfungen amüsiert. Vom Textumfang und Stil ist das Buch deshalb auch ideal für Leseanfänger. Zudem gelingt es der Autorin, trotz untypischem Thema, eine liebenswürdige und spannende Figur zu kreieren, die selbst noch so viel Kindliches in sich trägt, dass man Herrn Anders auf seiner Suche begleiten möchte und ihm die richtige, verrückte Partnerin wünscht, die ihn so liebt und annimmt wie er ist.  

Fazit zum Bilderbuch Herr Anders

Das Bilderbuch Herr Anders von Eva Schatz und Stefanie Reich ist ein unterhaltsames, etwas durchgeknalltes, fantasievolles und weises Buch. Es macht sowohl Kindern als auch Erwachsenen Spaß. Ein Wohlfühlbuch, das Mut macht, zu sich zu stehen und auch mal rigoros anders zu sein. Dafür gibt es 9 Sterne.


Weitere Kinderbuch-Kritiken:

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