Der Beitrag CHIKO mit Denis Moschitto, Reyhan Şahin | Film 2008 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Inhalt: Als sei eine Sicherung durchgedreht – der junge Deutschtürke Issa (Denis Moschitto) macht in Hamburg von sich redend. Indem er kleine Dealer verprügelt und aus ihrem Revier vertreibt. »Ich bin jetzt hier«, verkündet er und stellt sich mit seinem Rufnamen vor. Den trägt er auch als Tattoo auf dem Arm: Chiko. Dass solches Auftreten ganz schnell die großen Player aufmerksam macht, ist weniger Nebeneffekt als erklärtes Ziel. Schon bald sitzt Issa alias Chiko dem Drogenboss Brownie (Moritz Bleibtreu) gegenüber – Todesurteil oder Vorstellungsgespräch?
Hinweis: Folgender Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle Stream-Angebote zu dem Film Chiko finden sich bei JustWatch.
Von 2002 bis 2004 studierte Özgür Yıldırım, Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie, an der Universität Hamburg das Fach Regie. Zu der Zeit kannte er bereits den Filmemacher Fatih Akin (Gegen die Wand). Dessen Produktionsfirma Corazón International »entdeckte« schließlich den vielversprechenden Newcomer.
Nachdem wir mit großer Begeisterung das Drehbuch von Özgür Yıldırım gelesen hatten, war sehr schnell klar, dass Chiko der erste Nicht-Fatih-Akin-Film [unserer Produktionsfirma] werden sollte.
Klaus Maeck, Filmproduzent und Mitbegründer von Corazón International
Bloß wurde die Begeisterung seitens der Produzenten nicht auf Anhieb von etwaigen Financiers geteilt…
Leider sind wir im ersten Anlauf, den Film zu finanzieren, grandios gescheitert. Denn weder die Fördergremien noch der NDR, mit dem wir bisher alle unsere Produktionen realisiert hatten, fanden das Buch so gut wie wir. Unter anderem hieß es, es sei ihnen zu brutal und es gäbe keinen Zugang zu dieser in sich geschlossenen Gruppe von Charakteren.
Klaus Maeck, Booklet der DVD-Edition »Große Kinomomente«
Kurzum: Das Drehbuch wurde angepasst – bis zu einem Kompromiss, der die Förderinstitute und den NDR zufriedenstellte und trotzdem noch Yıldırıms Vision von einem kleinen, harten Gangsterdrama bewahrten. Am 27. Februar 2007 fand der erste Drehtag zu Chiko statt – am 16. April war das Ding über Drogenkriminalität in Hamburg im Kasten.
Ich habe mir vorgenommen, das Thema nicht so eindimensional zu behandeln. Oft werden Menschen als entweder böse oder gut gezeigt – diejenigen, die nur Gutes tun, müssen auch moralisch total korrekt sein. […] Das widerspricht der Realität, jeder Mensch trägt doch sowohl etwas Gutes als auch etwas Schlechtes in sich. Wir zeigen Brownie [Bleibtreu als Drogenboss] als liebevollen Familienvater, er hat ein Zuhause, eine tolle Frau und eigentlich alles, was man sich so wünschen kann. Trotzdem ist er auch böse. […] Wichtig war mir die Vermeidung von Klischees, zumindest so gut es geht.
Özgür Yıldırım im Interview, Booklet der DVD-Edition »Große Kinomomente«
Dem Klischee »Alle Ausländer sind kriminell« – das Lena in der Serie Türkisch für Anfänger zufällig im selben Jahr wie Chiko (nämlich 2008, Staffel 3, Folge 10) unrühmlich für ein Klatschmagazin aufbereitet – diesem Klischee wird mit dem engen Fokus auf eben kriminelle Kreise jedenfalls nicht entgegengewirkt. Allein die Mutter von Chikos Bruder (gespielt von Lilay Huser, zufällig auch bekannt aus Türkisch für Anfänger) und ein paar kleinere Nebenrollen werden hier nicht als Kriminelle dargestellt. Man könnte auch Chikos Freundin (Reyhan Şahin) nennen – aber wer so offensichtlich vom Gangster-Leben seines Partners profitiert, trägt nicht nur dessen Schmuck, sondern auch die Schuld mit.
Damals habe ich den Presse-Rummel um Chiko voll mitbekommen, war durchaus gespannt auf den Film, bin aber leider dafür mitverantwortlich, dass trotz des Lobgesangs nach der Berlinale kaum Leute den Weg ins Kino fanden. Nach rund 8 Wochen in den Lichtspielhäusern zählte der Film nur etwa 80.000 Besucher*innen – das sind gerade mal so viele, wie in meiner Heimatstadt Bocholt Menschen wohnen. Für eine deutschlandweite Auswertung: ein Flop. Ich selbst wartete die DVD ab… Chiko erschien als Teil der Collection »Große Kinomomente« von Kultur Spiegel. In dieser Edition hab ich den Film damals erstanden und erstmals gesehen. Da war der Hype leider schon vorbei.
Wenn du der Beste sein willst, dann musst du Respekt kriegen. Und wenn du Respekt kriegen willst, dann darfst du keinem Anderen Respekt zeigen. Und wenn du keinem Anderen Respekt zeigst – ne? – dann denken die Leute irgendwann, Mann, du hast den Respekt erfunden, Alter! | Chiko
Eine der heiteren Szenen, on the road:
Ein Klingeln aus dem Off, aus dem Schwarz. Erstes Bild: Ein Panorama vom Morgengrauen, keine tolle Skyline, nur ein paar Strommasten. Schnitt auf die Detailaufnahme von einem Handy – ein Klapphandy. 2007, Baby! Im Hintergrund sind ein Glas und ein Aschenbecher zu sehen, und ein Tütchen Irgendwas. Schnitt auf einen jungen Mann mit freiem Oberkörper, über die Schulter gezeigt, kein Gesicht zu sehen. Doch er räkelt sich, dass die Knochen knacken – und auf seinem Unterarm lesen wir das Tattoo: CHIKO. Das dämmrige Licht ist blau und kalt. Schnitt auf die Schlafzimmer-Totale. Chiko erhebt sich seufzend aus dem Bett, dann setzt die Musik ein: erstaunlich heiterer Jazz! Die Vorspann-Titel in fetter roter Schrift. Huch.
Ey was’n das für ne scheiß Musik eigentlich? | Chikos Kumpel
Im Auto geht’s weiter, Chiko unterwegs mit seinen Kumpels unterwegs, reden über Mucke und wie man eine Gangschaltung benutzt – und dann schleifen sie einen Typen mit ihrem Auto durch die Stadt, um ihr Revier zu markieren. Dieser Kontrast zwischen dem (zuweilen eher lustigen) coolen Gehabe der Gangster und harter Gewalt, das macht Chiko aus.
Chiko, der Film, ist das, was er sein will: Eine Geschichte über Chiko, dem Typen, und seinem Aufstieg zu dem, was er sein will. Ein großer Fisch im mit Testosteron gefüllten Haifischbecken. Hier geht es nur um Jungs und Geld und Respekt und wie man sich beides verdient. Frauen existieren in dieser Welt nur in ihrer Funktion als Mutter, Tochter, Ehegattin oder love interest. Da bringt es auch nichts, wenn Letztere von dem »Alphamädchen« Reyhan Şahin (auch bekannt als die Rapperin Lady Bitch Ray) gespielt wird – kaum hat Chiko die anfangs als Prostituierte arbeitende Frau zu seiner Frau gemacht, behängt er sie wie einen Weihnachtsbaum mit Glitzer.
[…] ihre Eleganz sind ebensosehr äußere Zeichen für den Rang des Ehemannes wie die Karosserie seines Autos. Ist er reich, so behängt er sie mit Pelzen und Schmuck. […] In jedem Mann steckt ein König Kandaules: er stellt seine Frau zur Schau, weil er so seine eigenen Verdienste vorzuführen meint.
Simone de Beauvoir, in: Das andere Geschlecht (1949)
Aber apropos Lady Bitch Ray…
Kürzlich habe ich im Blogbeitrag zu Warum Krieg? (dem Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud) den neuen Kanon angesprochen, den Thomas Kerstan in DIE ZEIT (16.08.18, N° 34) vorgeschlagen hat. Im Rahmen dieses Titelthemas wurde auch Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray (38) gefragt, welche Werke sie in einen neuen Kanon aufnehmen würde. Die Rapperin ist auch promovierte Germanistin – Chiko fällt nicht in ihre Auswahl einer Must-know-Liste relevanter Kulturgüter, wohl aber:
Schwarze Haut, weiße Masken von Frantz Fanon, Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler und die Ringparabel von Lessing. Außerdem müssten die NSU-Morde in einen solchen Kanon aufgenommen werden.
Es geht darum, einen differenzierten Umgang mit Religionen, mit Fundamentalismus und Extremismus zu erlernen. Schon Teenager sollten dafür sensibilisiert werden, was es heißt, »privilegiert«, »weiß« oder eine »Person of Color« zu sein – dann würden die Kinder von AfD-Wähler*innen diese vielleicht von einer anderen Entscheidung überzeugen.
Reyhan Şahin, in: Unendlicher Spaß (DIE ZEIT)
…worum geht’s hier nochmal? Gangsterfilm, ach ja:
Chiko ist ein kurzer Spielfilm – in den 88 Minuten gibt es kaum Verschnaufpausen, die Handlung wird regelrecht vorangehämmert und steuert auf ein düsteres Ende zu. Das Milieu, das Yıldırıms heraufbeschwört, fühlt sich dabei durchgehend authentisch an (wobei ich nicht der Richtige bin, um das zu beurteilen – zu wenig eigene Erfahrungen in der Hamburger Unterwelt). Das Schauspiel ist durch die Bank glaubwürdig, zuweilen grandios – insbesondere Denis Moschitto als Chiko und Moritz Bleibtreu (Lola rennt) stechen natürlich hervor. Ihnen gehören die stärksten Szenen. Weil eben so viel Potential da ist, hätte ich mir ein wenig mehr Tiefe gewünscht, mehr Hintergrund über die Randfiguren oder wenigstens Chiko selbst. Den lernen wir erst kennen, als er durchdreht und sich nach oben prügelt – wie ein Komet aus dem Nichts, der auf seinem Höhenflug zu verglühen droht. Unterm Strich auf jeden Fall ein wirkungsvoller Gangsterfilm für Leute, die auf Gangsterfilme stehen.
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]]>Der Beitrag MOULIN ROUGE mit Nicole Kidman | Film 2001 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Inhalt: 1900, Paris. Ein englischer Schriftsteller verliebt sich in eine französische Kurtisane. Sie stellen zusammen ein spektakuläres Musical auf die Beine – und haben währenddessen eine Liebesaffäre hinter dem Rücken des Geldgebers, dem die Kurtisane versprochen wurde… Schauplatz ist das berüchtigte Varieté-Theater Moulin Rouge auf dem Montmartre, Paris.
Hinweis: Folgender Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle Streaming-Angebote zu dem Film Moulin Rouge finden sich bei JustWatch. Aktuell wird Moulin Rouge übrigens als Musical umgesetzt, hier geht’s zur offiziellen Website.
Im antiken Griechenland, lange vor Christus und unserer Zeitrechnung, erzählte man sich bereits die Geschichte von Orpheus und Eurydike. Er war ein Sohn von der Muse der epischen Dichtung und der beste Sänger seiner Zeit. Sie war eine Nymphe und starb an einem Schlangenbiss. Für seine große Liebe stieg Orpheus in den Hades hinab, das Totenreich der griechischen Mythologie. Oder auch: die Unterwelt. Dort setzte Orpheus seinen Gesang ein, um sogar den Höllenhund zum Schweigen zu bringen. Doch Eurydike sollte er nicht zurückbekommen…
Wir sind Geschöpfe der Unterwelt. Wir können uns nicht leisten zu lieben. | Monsieur Zidler in Moulin Rouge
Im modernen Frankreich, lange vor Luhrmann und seinem Musical, wurde anlässlich der Weltausstellung im Jahr 1889 das echte Moulin Rouge eröffnet – benannt nach der roten Mühle auf dem Dach dieses Etablissements. Einer der Gründer des Varieté-Theater im Pariser Stadtviertel Montmatre war Monsieur Zidler, Charles Zidler. Lange nach dessen Tod rückte er als fiktive Figur wieder ins Rampenlicht – 1952 wurde er in einem Film von einem britischen Schauspieler namens Mr. Kasket verkörpert, Harold Kasket. In Luhrmanns Moulin Rouge heißt der Betreiber des Varieté nun Harold Zidler, zusammengesetzt aus historischer Wirklichkeit und dem Einfluss der Rezeptionsgeschichte rund um das Moulin Rouge.
Ich meine, die Show wird ein formidables, opulentes und monströses, glamouröses und gigantisches Verwirrspiel – ein Hochgenuss der Sinnesfreuden! | Monsieur Zidler in Moulin Rouge
Im zeitgenössischen Indien, lange vor den Dreharbeiten und ihren Schwierigkeiten, da war der australische Regisseur Baz Luhrmann auf Recherche-Reise in Indien. In einem gewaltigen Kino sah er sich einen Bollywood-Film an – zusammen mit 2000 Inder*innen, in deren Volkssprache, Hindi.
Da gab es niedrigste Komik und dann großes Drama und Tragik und dann bricht ein Song aus. Und das über dreieinhalb Stunden lang! Wir dachten, wir hätten plötzlich Hindi gelernt, weil wir alles verstanden. Es war unglaublich. Wie involviert das Publikum war! Wie uncool – ihrer Coolness regelrecht beraubt, vereint im Teilen dieser einen Geschichte. Voller Spannung dachte ich, »Können wir so etwas im Westen machen? Können wir jemals hinter diese intellektuelle Coolness, diese vermeintliche Coolness kommen, sie überwinden?« Dazu brauchte es die Idee einer komischen Tragödie.
Baz Luhrmann im Gespräch mit Geoff Andrew (The Guardian), 07.09.2001
Im laufenden Produktionsprozess, lange vor den 8 Oscars-Nominierungen und der Aufnahme in Die 100 bedeutendsten Filme des 21. Jahrhunderts (BBC), verstrickte Luhrmann für seinen Angriff auf die westliche Coolness einige Elemente aus bekannten Opern wie La Bohème und La traviata mit Songs der jüngeren Musikgeschichte. Hunderte Titel wurden dazu durchgehört, auf der Suche nach den richtigen Zeilen, um die Geschichte von Christian (Ewan McGregor) und Satine (Nicole Kidman) zu erzählen, dem Schriftsteller und der Kurtisane. Dazu kam schließlich Musik von David Bowie, Fatboy Slim und vielen anderen zusammen. Besonders famos: Die Tanzperformance zu den Tracks Lady Marmalade und El Tango De Roxanne.
Reinhören? Her gibt’s den Soundtrack zu Moulin Rouge:
Apropos Musik: Hier geht’s zu einer Übersicht von 30 Musikvideos mit berühmten Hollywood-Schauspieler*innen.
Im provinziellen Westmünsterland, lange vor meinem Auszug in die weite Welt (Köln) und meiner eigenen Karriere als Musical-Star (Lüge), kaufte ich mir im Alter von 14 Jahren den Film Moulin Rouge als DVD. Irgendwo hatte ich darüber gelesen und ahnte ja nicht, dass dieses abgedrehte Bilderwerk meine gerade aufblühende, jugendliche Coolness wegwischen würde wie Schminke vom Gesicht. Ich habe sie seither nicht wiedergefunden. Die Coolness.
Wie schon in Luhrmanns Spielfilmdebüt Strictly Ballroom (1992) öffnet sich zu Beginn von Moulin Rouge ein roter Vorhang. Zusammen mit William Shakespeares Romeo + Julia (1997) bilden diese drei ersten Langfilme des Regisseurs dessen sogenannte Red Curtain Trilogy (Roter-Vorhang-Trilogie) – zumindest erzählt man sich das im Internet. Tatsächlich hatte Baz Luhrmann vermutlich nur Lust auf diesen und jenen und den nächsten Film, ohne rote Vorhänge im Besonderen zu berücksichtigen.
Wie sehr Luhrmann Lust auf Moulin Rouge hatte, das merkt man dem Film von der ersten Sekunde an: Hinter dem geöffneten Vorhang erscheinen (wie in Stummfilmen zu eben jener Zeit, in der Moulin Rouge spielt) die Vorspanntitel, Schwarzweiß mit leichtem Sepia-Stich, körnig und flackernd. Vor der großen Leinwand zappelt, am unteren Rand, ein Miniatur-Dirigent zur orchestralen Musik. Eine Texttafel verweist uns auf Ort und Zeit, die den Schauplatz der Geschichte markieren: Paris, 1900.
There was a boy
A very strange enchanted boy
They say he wandered very far
Very far over land and sea
Diese Zeilen aus einem Popsong von Eden Ahbez (1948), damals performt von Nat King Cole, werden hier von einem melancholisch dreinschauenden Mann aus einer Dachluke heraus in die Pariser Nacht gesungen. Diesen Mann lernen wir später als Henri de Toulouse-Lautrec kennen, ebenfalls ein historischer Charakter, ein eigensinniger, Absinth-abhängiger Künstler und mit van Gogh und Gauguin einer der bekanntesten Post-Impressionisten seiner Zeit. In Moulin Rouge wird er verkörpert von John Leguizamo, der dazu extra in besondere Fuß-Prothesen in Kniehöhe schlüpfte, um die Behinderung Toulouse-Lautrecs darzustellen.
Doch in der ersten Einstellung, singend aus dem Dachfenster, sind Absinth und Behinderung noch nicht zu sehen. Nur ein einsamer Mann, der über einen verzauberten Jungen singt. Dazu wird das Gesicht Ewan McGregors in der Rolle des Christian eingeblendet, in der rechten Bildhälfte, mit weichen Rändern. Dann folgt eine weiche Blende zu einem Panorama von Paris. Die Kamera fliegt heran, saust in die Gassen, passiert Priester und Prostiuerte, steigt hoch zu einem Fenster und rein in die Absteige unsere Helden, jenem verzauberten Junge: Christian. Retrospektiv wird er uns seine Geschichte erzählen, in einem knallbunten, schnell geschnittenen Bilderreigen.
Schon der oben geschilderte Auftakt ist in einer Mischung aus Live-Action-Aufnahmen mit echten Schauspielern, am Computer animierten Gebäuden und einem Miniatur-Modell der Kulisse entstanden. Dabei ging es nie darum, ganz Paris heraufzubeschwören. Für Baz Luhrmann und die Szenen- und Kostümbildnerin Catherine Martin (seit 1997 Luhrmanns Ehefrau, seit 2014 Oscar-Preisträgerin) stand ganz und gar das Moulin Rouge als Schauplatz im Fokus, um das herum sich die Kamera völlig frei und wild bewegen sollte. Gedreht wurde deshalb der gesamte Film im Studio, unter Einsatz verschiedenster Techniken.
Ein Blick hinter die Kulissen des Films:
Das Ergebnis ist ein zweistündiges Feuerwerk großartiger Szenen: stark gespielt und choreographiert, opulent ausgestattet, vielleicht etwas zu hektisch geschnitten. Der Film hält gekonnt die Waage zwischen Komik und Tragik und vergeht wie im Flug. Bei so viel Augenschmaus und Liebesschnulz vergisst man glatt, dass der Umgang mit Prostiuierten hier bis zur Verharmlosung romantisiert wird.
Bei mir persönlich trifft der temporeiche Stilmix einen Nerv. Auch nach dem 10. Mal sehen finde ich Moulin Rouge damals wie heute… hach… schööön… aber man kann’s natürlich – immer – auch anders sehen:
Die Bloggerin Stephanie Gallon lässt sich von den prächtigen Bildern und wuchtigen Liebesliedern nicht einlullen. Für sie ist der Schriftsteller Christian nicht wirklich in Satine verliebt, sondern – »wie so viele Künstler der Bohème« – in eine abstrakte Idee. Sie argumentiert auf ihrem Blog:
Er liebt die Liebe, und sie wird seine Leidenschaft, projiziert auf eine Frau […]
Dass Christian indes kein Stück verstanden hat, was Liebe wirklich ist, das beweist er dann im großen Finale:
Als Satine sein Herz bricht, wartet er, bis sie auf der Bühne steht. Er wartet, bis ihr großer Traum wahr wird, und dann tut er etwas so abscheuliches, dass ich es nicht aushalte, diese Szene zu schauen. Er bezahlt sie. Vor aller Augen, im vollgepackten Theater, führt er sie vor. »Ich bin gekommen, um meine Hure zu bezahlen.«
Stephanie Gallon
[Satine] opfert alless, damit Christian leben kann – und am Ende ist sie ein gebrochenes Häufchen Elend auf der Bühne. Natürlich kann ein Held das so nicht stehenlassen. Die Leute könnten denken, er sei ein schlechter Typ oder so. […] Der Film endet mit einem leidenschaftlichen Liebesduett, in dem Satine und Christian sich vertragen. […]
Und dann stirbt Satine.
Es ist traurig, es ist künstlerisch, und es ist eine Erinnerung daran, dass Liebe vergänglich ist und wir sie jeden Tag zu schätzen wissen sollten. Das Ganze bringt Christian endlich dazu, eine Geschichte zu Papier zu bringen.
Stephanie Gallon
Und ich hasse das! Ich hasse es, dass Satines Geschichte Christians Geschichte wird. Christian schaut vom Rande aus zu, als Satine Liebe für einen anderen Mann vorgaukelt, um das Theater zu retten. Satine ist die treibende Kraft hinter allem, und sie stirbt. Ein passenderes Ende wäre gewesen, wenn Christian vom Duke erschossen worden wäre. Christian stirbt im Namen der Liebe. Stattdessen haben wir eine Frau, die für die Kunst eines Mannes stirbt.
Es ist nicht romantisch. Es ist nicht gut gemacht. […] Das Schauspiel war großartig, aber die Autoren hätten mehr Zeit mit echten Menschen verbringen sollen, bevor sie versuchen, über sie zu schreiben.
Hier eine Vorschau zum Film, der auf YouTube auch in voller Länge verfügbar ist:
Gewiss, Moulin Rouge trieft vor Klischees und altbekannten Versatzstücken aus dem Romanzen-Baukasten. Im theatralischen Tamtam wirkt vieles arg dick aufgetragen und anderes flach. Absinth wird verherrlicht, Narkolepsie veräppelt, Vergewaltigung verharmlost – unterm Strich täuscht hier ein farbenfrohes Spektakel über jede Menge Missstände hinweg. Trotzdem halte ich Moulin Rouge für einen sehenswerten Film. Man kann ihn, ohne sich groß Gedanken zu machen, als beeindruckendes Seherlebnis genießen. Man kann aber auch, mit Fokus auf die Problemfelder, genauer hinsehen, drauf zeigen, diskutieren.
Der Beitrag MOULIN ROUGE mit Nicole Kidman | Film 2001 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag TRAUMNOVELLE + EYES WIDE SHUT | Buch 1926, Film 1999 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>[…] keinem von beiden entging, dass der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt. | S. 7 1
Zum Inhalt: Es geht um ein Ehepaar, das nach abendlichen Feierlichkeiten, bei denen beide Ehepartner je mit anderen Gästen geflirtet haben, heimkehren und über ihre heimlichen Gelüste sprechen.
Doch aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen, und sie redeten von den geheimen Bezirken, […] wohin der unfassbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär’s auch nur im Traum, verschlagen könnte. | S. 7
Die offenbarten Fantasien stehen zwischen ihnen, als Frau und Mann spätabends noch voneinander getrennt werden. Er – ein angesehener Arzt – muss beruflich das Haus verlassen, zu einem verstorbenen Patienten. Im Folgenden erlebt er eine Nacht voller mysteriöser und sexuell aufgeladener Zwischenfälle.
Hinweis: Der folgende Text enthält einige Zitate aus der Traumnovelle und verrät – im Abschnitt »Entsorgte Frauen« – eine größere Wendung der Geschichte. Ansonsten spoilerfreies Lesen, viel Spaß! Aktuelle Streaming-Angebote zu Eyes Wide Shut gibt’s bei JustWatch.
Es war ihm, als schwiege der Tote mit ihnen; nicht etwa weil er nun unmöglich mehr reden konnte, sondern absichtsvoll und mit Schadenfreude. | S. 19
Der Österreicher Arthur Schnitzler (1862-1931) war selber Arzt, aber auch ein Geschichten-Erzähler. Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Schriftstellers zeigen, dass er an dem Stoff, aus dem später die Traumnovelle würde, schon seit 1907 arbeitete, rund 20 Jahre vor dem fertigen Werk. Ein Werk, über das ein Kritiker später schreibt:
Einzelheiten sind entzückend. Im Ganzen ist man nicht recht von der Notwendigkeit des Buches überzeugt. | S. 115
Entzückend, wie ein Literaturkritiker über »Notwendigkeit« nachsinnt. Im Ganzen bin ich nicht recht von der Notwendigkeit dieses Blogs überzeugt. Oder dieses Zitats. Oder, klar, wenn wir schon dabei sind, auch der Traumnovelle, um die es hier geht. »Notwendigkeit« ist ein ausgesprochen seltsamer Anspruch an die Kunst. Ein anderer Kritiker schreibt:
Wir würden nicht anstehen, den künstlerischen Wert dieser epischen Dichtung anzuerkennen, wenn es uns nicht gar so verhängnisvoll vorkäme, die Verwirrung im Gefühlsleben des modernen Menschen noch zu vergrößern. Erleben wir nicht des Verwirrenden genug? Und […] ist es nicht eine Gegenwartsaufgabe unserer Epik, dem deutschen Menschen als Gegengewicht gegen den importierten Kult des Muskels und des Kraftmeiertums eine feine abgeklärte Gefühlskultur zu bieten? | S. 115
Auch der Anspruch einer irgendwie gearteten »Gegenwartsaufgabe« von Kunst scheint verfehlt. Zumal sich ihr Wirken in einer immer neuen Gegenwart entfaltet. Im Falle der Traumnovelle war die epische Dichtung die Vorlage für einen Film. Dieser wiederum wusste »die Verwirrung im Gefühlsleben des modernen Menschen noch zu vergrößern«, nur eben 70 Jahre später. Ob wir der Verwirrung nicht genug erleben? Eine Frage, die jede Generation aufs Neue stellen wird – im Angesicht ihrer beunruhigenden Träume und Triebe und Themen.
Randnotiz: Hier geht es zu einer Antwort auf die Frage: Was haben Kubricks Filme gemeinsam?
Als ich Eyes Wide Shut zum ersten Mal gesehen habe, via DVD auf einem alten PC, da war ich etwa 15 Jahre alt und voreingenommen von ein paar Standbildern des Films, die ich bei damaligen »Internet-Recherchen« entdeckt hatte. Mit viel nackter Haut und Masken, das machte mich doch neugierig. Und was soll ich sagen? Ich war enttäuscht. Mein erster Eindruck von dem Werk war wohl der, den Filmkritiker Scott Wampler 1999 erlebte, als er Eyes Wide Shut im Kino sah.
Die meisten Leute damals reagierten mit: »Das war’s? Das ist der skandalöse Film, über den wir in den vergangenen zwei Jahren so viel gehört haben?« Erstens: Wie verdammt undankbar musst du sein, um Stanley Kubricks letzten Film so niederzumachen?
Scott Wampler (Birth.Movies.Death.) in: Be Thankful For Eyes Wide Shut
Ja, okay, stimmt, sorry… Zweitens verweist Wampler darauf, dass die meisten Beschwerden über den Film – Zu lang! Für einen »Sex-Film« ziemlich kalt! Sinnlos! – den Anschein machten, als hätten die Kläger*innen nie zuvor einen Kubrick-Film gesehen. Und in meinem Fall traf das zu.
Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr, ob ich A Clockwork Orange damals vor oder nach Eyes Wide Shut gesehen habe. Es war jedenfalls etwa zur selben Zeit (Pubertät) aus etwa denselben Gründen (nackte Haut) mit etwa derselben Reaktion (»Hä?«). Rückblickend bin ich dem großen Stanley Kubrick nicht gerecht geworden, mit meinen niedrigen Motiven und noch niedriger Filmbildung (obwohl… was war mit 15 Jahren niedriger?). Es lohnt sich, das Œuvre dieses Regisseurs in chronologischer Reihenfolge zu sehen – und bloß nicht auf einem alten Computer. Auch nicht auf einem neuen Smartphone!
Apropos Smartphone… (und apropos pubertärer Lüstling):
Die wirkliche Pornografie in diesem Film besteht in seiner nachwirkenden Darstellung des schamlosen, nackten Reichtums von Manhattan um die Jahrtausendwende – und von dem obszönen Effekt dieses Wohlstandes auf unsere Gesellschaft und unseren Geist. Der kurzsichtige Fokus nationaler Kritiker*innen auf den Sex und die oberflächliche Psychologie in Bezug auf das Filmpaar […] sagen mehr über die Blindheit unserer Eliten hinsichtlich ihrer Umgebung aus, als über Kubricks Unzulänglichkeiten als Pornograf. Für diejenigen mit offen Augen sind da jede Menge »money shots« [hier: kostspielige und Wohlstand in Szene setzende Einstellungen].
Tim Kreider, in: Introducing Sociology
Damit meint Tim Kreider etwa die Referenzen des Films an den europäischen Dekadentismus rund um die letzte Jahrhundertwende. Referenzen wie den glamourösen Eröffnungswalzer und etliche europäische Charaktere. Gemeint ist ebenso das weihnachtliche Setting, das die Konsumgesellschaft in Bestform zeigt. Auch was die Hauptfigur Dr. William Harford bereit ist, in einer Nacht an Geld auszugeben, sowie nicht zuletzt das ganze mysteriöse Treiben in der Villa zeigen deutlich: Hier versinken Menschen (und menschliche Moralvorstellungen) im Geld.
Die literarische Vorlage – Schnitzlers Traumnovelle – lernte ich durch mein Studium an der Fernuniversität Hagen kennen (Studiengang: Kulturwissenschaften, Fach: Literaturwissenschaft, Modul: L1). Das wurde letztendlich auch zu meiner Neuentdeckung des Films. In Schnitzlers Novelle ist die bürgerliche Moral des 19. Jahrhunderts noch ein relevanter Maßstab. Eine Zeit, in welcher der Umgang mit Sexualität wesentlich befangener war, als in den späten 90er Jahren oder heutzutage.
Diese »gesellschaftliche Moral«, die einerseits das Vorhandensein der Sexualität und ihren natürlichen Ablauf privatim voraussetzte, anderseits öffentlich um keinen Preis anerkennen wollte, war aber sogar doppelt verlogen. Denn während sie bei jungen Männern ein Auge zukniff und sie mit dem andern sogar zwinkernd ermutigte, »sich die Hörner abzulaufen«, wie man in dem gutmütig spottenden Familienjargon jener Zeit sagte, schloss sie gegenüber der Frau ängstlich beide Augen und stellte sich blind. | S. 119
Die Augen fest verschlossen. Stefan Zweig beschreibt in Die Welt von Gestern altmodische Sichtweisen zur Sexualität, die sich zuweilen hartnäckig gehalten haben. Kubrick greift diesen Umstand auf. Durchweg glaubwürdig lässt er die vom Schauspieler Tom Cruise verkörperte Figur im Streit mit der Ehefrau Zeilen über die unterschiedlichen »Denkweisen von Männern und Frauen« aussprechen. Diese übertragen Zweigs Feststellungen zum 19. Jahrhundert bruchlos ins späte 20. Jahrhundert.
Dass ein Mann Triebe empfinde und empfinden dürfe, musste sogar die Konvention stillschweigend zugeben. Dass aber eine Frau gleichfalls ihnen unterworfen sein könnte, dass die Schöpfung zu ihren ewigen Zwecken auch einer weiblichen Polarität bedürfe, dies ehrlich zuzugeben, hätte gegen den Begriff der »Heiligkeit der Frau« verstoßen. | S. 119
Die Heiligkeit der Frau. Der Film Eyes Wide Shut beginnt mit einer Totale von einem edel anmutenden Zimmer. Mit großem Spiegel und roten Verhängen, Tennisschlägern hinter einer goldenen Stehlampe in der Ecke. Zu beiden Seiten des Raumes: Säulen, wie sie das Tempeldach des Parthenon stemmen. Dazwischen steht eine Frau (Nicole Kidman), die ihr schwarzes Kleid von den Schultern gleiten lässt. Unterwäsche sie keine und steht jetzt nackt da, mit einem Körper wie ihn die in Stein gemeißelten Göttinnen jener Griechen zur Schau stellen.
Die Eröffnungszene des Films:
Arthur Schnitzlers Traumnovelle beginnt mit einer Erzählung in der Erzählung. Die Eltern lesen dem Kinde eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Sie scheint Tausendundeine Nacht entnommen zu sein, über »vierundzwanzig braune Sklaven«, die »die prächtige Galeere« des Prinzen Amgiad ruderten. Als das Kind eingeschlafen ist, ziehen sich die Eltern in ihr Gemach zurück. Dort lassen sie den zurückliegenden, gestrigen Abend Revue passieren – ein Ballfest, an dem sie teilgenommen haben. Sie schwelen in der Vergangenheit und so führt eines zum anderen…
Albertine, ob sie nun die Ungeduldigere, die Ehrlichere oder die Gütigere von den beiden war, fand zuerst den Mut zu einer offenen Mitteilung; und mit etwas schwankender Stimme fragt sie Fridolin, ob er sich des jungen Mannes erinnere, der im letztverflossenen Sommer am dänischen Strand eines Abends mit zwei Offizieren am benachbarten Tisch gesessen [habe]. | S 7-8
In Kubricks Film heißen sie nicht mehr Albertine und Fridolin, sondern Alice und William. Während Schnitzlers Novelle ein Streifzug durch eine Wiener Nacht ist, die stellenweise an Richard Linklaters Before Sunrise (1995) denken lässt, spielt Kubricks Adaption in New York und beginnt mit jenem »Ballfest«, das in der Novelle schon in der Vergangenheit liegt. Doch es ist und bleibt ein Offizier, von dem die Frau ihrem Mann später erzählt, ein Offizier, den sie einmal im Urlaub gesehen und von dem sie fantasiert hat. Untreue in Gedanken – das setzt die Handlung in Gang, sowohl die der literarischen Vorlage als auch die der Verfilmung.
Eyes Wide Shut gibt es in voller Länge unter anderem auf Youtube zu sehen – hier mit einem Trailer zum Film verlinkt:
Vielleicht gibt es Stunden, Nächte, dachte er, in denen solch ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber von Männern ausgeht, denen unter gewöhnlichen Umständen keine sonderliche Macht über das andere Geschlecht innewohnt? | S. 54
Der Erzähler in Schnitzlers Novelle hat im Laufe der Nacht noch Begegnungen mit der Tochter eines verstorbenen Patienten, der mädchenhaften Tochter eines Kostümhändlers und einer Prostituierten, ehe eher zu der geheimen Orgie gelangt, wegen der die Traumnovelle sowie Eyes Wide Shut wohl am ehesten in Erinnerung bleibt: Was geht da vor sich, in der Villa voller maskierter »Kavaliere« und nackter Frauen? Was auch immer es ist, für die Beteiligten ist es – wie sich bald herausstellt – eine todernste Angelegenheit.
Eine der Frauen warnt unseren männlichen Helden vor den Konsequenzen seiner Anwesenheit in der Villa. Es sei ihm verboten, dieser Orgie beizuwohnen. Am nächsten Tag ist die Frau tot. Später, in der Leichenhalle, bekommt Fridolin/William sie zu sehen – ehe er sich schockiert abwendet.
[…] was da hinter ihm lag in der gewölbten Halle, […] ihm konnte es nichts anderes mehr bedeuten als, zu unwiderruflicher Verwesung bestimmt, den bleichen Leichnam der vergangenen Nacht. | S. 94
Angeblich soll diese Frau an einer Überdosis gestorben sein. William erfährt davon in einem Café, an dessen Wänden zahlreiche antike Porträts von Frauen hängen – während im Hintergrund Mozarts Requiem zu hören ist.
Das Setting und die Musik machen diesen Moment zeitlos, universell. Kubricks letzten drei Filme formen eine Art thematische Triologie über den Frauenhass unserer Kultur.
Tim Kreider, in: Introducing Sociology
In The Shining verachtet Jack Torrance seine Frau und sein Kind und versucht, sie zu ermorden, so, wie sein Vorgänger dessen Frau und Töchter ermordet hat. […] In Full Metal Jacket herrscht bei den Marines eine institutionalisierte Misogynie – und die Abwesenheit von Frauen (wir sehen lediglich zwei Prostituierte und eine Sniperin) ist so offensichtlich, dass sie zur eindringlichen Präsenz wird. Der Höhepunkt des Films ist die Hinrichtung eines 15-jährigen Mädchens. Das Requiem in dem Sonata Café [in Eyes Wide Shut] wird nicht nur für [jene gestorbene Frau] gespielt, sondern für all die anonymen, verbrauchten Frauen, die von Männern aus Williams Gesellschaftsschicht benutzt und entsorgt wurden – über alle Jahrhunderte hinweg.
Dass Stanley Kubrick – der Frauen häufig weniger als Subjekte, denn als Objekte inszeniert hat – selbst kein misogynistischer Filmemacher sei, das verteidigt die Filmkritikerin Nikki Martin in einem Videoessay, am Beispiel von Lolita (1997), Dr. Strangelove (1964) und eben Eyes Wide Shut. Hier ist Nikkis Beitrag:
Ein Werk von literarischer und cineastischer Kraft, das lange nachwirkt: Obwohl die Traumnovelle ein so dünnes Büchlein ist, dass man es fast schneller durchgelesen als den rund zweieinhalbstündigen Film gesehen hat, ist es reich an Deutungsebenen und bemerkenswerten Momenten. Kubrick ist es gelungen, die Vielschichtigkeit der Vorlage in seiner Verfilmung zu bewahren. Wenn man nur nicht in der falschen Annahme ran geht, »leichte Erotik« serviert zu bekommen, sind die Traumnovelle und Eyes Wide Shut zwei bereichernde Werke – ob »notwendig« oder ihre »Aufgabe erfüllend«, das sei dahingestellt.
(…) diese scherzhafte, fast übermütige Art, in der zugleich eine milde Warnung und die Bereitwilligkeit des Verzeihens ausgedrückt schien, gab Fridolin die sichere Hoffnung, dass sie, wohl in Erinnerung ihres eigenen Traum –, was auch geschehen sein mochte, geneigt war, es nicht allzu schwer zu nehmen. | S. 96-97
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]]>Das ist doch eine schöne Herleitung des Filmtitels. Durchdacht, auf den Punkt, kurz und gut. Nun: Wer hatte denn bitte die Idee, Shape of Water in Deutschland mit dem Untertitel Das Flüstern des Wassers in die Kinos zu bringen? Was lässt sich an dem Wort »Form« so schlecht übersetzen oder vermarkten, dass man einfach knallhart den Fehler bringt? Oder soll das Kunst sein? Oder dachte da irgendwer, The Whisper of Water wäre der bessere Titel gewesen und dieser del Toro habe doch keine Ahnung? Was muss passieren, damit Englischlehrer*innen endlich protestieren?
Zum Inhalt: In Südamerika wird eine Kreatur aus dem Amazonas gefischt und nach Amerika geschafft. Dort landet sie in einem Geheimlabor, untersucht von Wissenschaftlern, gefoltert von einem Sadisten – und geliebt von einer Putzfrau, die von Geburt an stumm ist.
Hinweis: Folgender Text enthält Spoiler – aber nur in den Absätzen »Eine geheimnisvolle Heldin« und »Die Freiheit, zu atmen«, ansonsten: Entspanntes Lesen!
Shape of Water spielt 1962 in Maryland, Baltimore. Amerika und die Sowjetunion stehen sich im Kalten Krieg gegenüber. Es ist das Jahr der Kubakrise. Innerhalb der USA stehen sich die schwarzen und weißen Bürger*innen gegenüber. Es herrschen immer noch die infamen Jim-Crow-Gesetze, Rassentrennung, Rassenhass. Und in dem alten Kino unter dem Apartment der Heldin laufen die historische Romanze The Story of Ruth (1960) und die Musical-Komödie Mardi Gras (1958).
Als Kind wuchs ich in Mexiko auf und war ein großer Verehrer ausländischer Filme. Von E.T. oder William Wyler oder Douglas Sirk oder Frank Capra; und vor wenigen Wochen, da sagte Steven Spielberg, »wenn du dich selbst dort findest, wenn du dich auf dem Podium wiederfindest, dann erinnere dich daran, dass du Teil eines Vermächtnisses bist. Dass du Teil einer Welt von Filmemacher*innen bist – und sei stolz darauf!« Ich bin sehr, sehr stolz.
Guillermo del Toro
Das waren Guillermo del Toros Worte bei der Oscarverleihung 2018 in Los Angeles, Kalifornien. Ein US-Bundesstaat, der im Süden an del Toros Heimatland grenzt – die Grenze, die der geisteskranke Clown im Weißen Haus am liebsten zumauern würde.
Ich möchte diese Auszeichnung allen jungen Filmemacher*innen widmen. Der Jugend, die uns zeigt, wie man Dinge macht. Denn das tun sie, in jedem Land dieser Welt. Als Kind war ich verliebt in Filme. Da ich in Mexiko aufwuchs, dachte ich, dass sowas hier niemals passieren könnte. Aber es ist passiert und ich will euch sagen, dass jede*r, der oder die davon träumt, das Fantasy-Genre zu nutzen, um eine Parabel über die wirklichen Dinge in der Welt zu erzählen – du kannst es tun. Das ist die Tür, trete sie ein und komm rein!
Guillermo Del Toros Ansprache bei den Oscar 2018 (aus dem Englischen)
Eine Parabel über die wirkliche Welt – wie man Shape of Water unter diesem Gesichtspunkt sehen kann, wird unter „Bleibender Eindruck“ näher besprochen.
Ich liebe Guillermo del Toro. Leider kann ich seinen Vornamen nicht aussprechen und ihm deshalb diese Liebe nie auf einem wirklich persönlichen Level, so von Fanboy zu Filmgott gestehen, aber im Geiste, denke ich, weiß er Bescheid. Von Hellboy (2004) über den fantastischen Klassiker Pans Labyrinth (2006) bis – zuletzt – Crimson Peak (2015) bewundere ich die visionäre Vorstellungskraft dieses Ausnahme-Regisseurs. In Shape Of Water nun paart sich seine typische visuelle Handschrift mit der besten Geschichte, die er je umgesetzt hat.
Die Auszeichnung mit dem Oscar für »Bester Film« war trotz starker Konkurrenz (darunter Dunkirk, Get Out und Die Schöne und das Biest) hochverdient. Shape Of Water erzählt vom Krieg, wie Dunkirk, vom Rassenhass, wie Get Out, und ist im Ganzen eine große Neuerzählung von Die Schöne und das Biest – alles in allem auf jeden Fall der bildgewaltigste, dramaturgisch gelungenste Film, den ich seit langem gesehen habe.
Zum Auftakt ein Staunen: Shape of Water beginnt mit einer märchenhaften Einstellung unter Wasser. Wie in ein versunkenes Schloss begleiten wir die schwebende Kamera über einen Korridor – in dem, trotz des Wasser noch die Lichter brennen – hinein in eine Wohnung, in der sämtliche Möbel und Gegenstände schweben. Samt dem Sofa. Samt der Frau darauf. Langsam sinkt sie herab, sinkt auf das Sofa, das ebenfalls geschmeidig auf dem Boden aufsetzt – so, wie der Wecker auf das Beistelltischchen sinkt…. und klingelt. Ganz großes Kino, das man gesehen haben muss. Deshalb, hier diese wundervolle Eröffnungssequenz:
Der Wecker reißt Elisa Esposito aus ihrem Traum – und sie beginnt ihre Morgenroutine: sich ein Bad einlassen, Eier kochen, Eieruhr stellen, baden, masturbieren, Kalenderblatt abreißen, Kalenderspruch lesen (»Time is but a river flowing from our past«) und die Schuhe polieren. Ein entspannter Start in den Tag.
Elisa arbeitet als Putzfrau in einem amerikanischen Geheimlabor, in dem sie die dort gefangen gehaltene Kreatur kennen und lieben lernt.
Denn, so war Guillermo del Toros erklärtes Ziel, er wollte mal einen Monsterfilm drehen, in dem das Monster am Ende sein love interest kriegt – und zwar in gegenseitiger Hingabe. Dabei ist dieses love interest, die Hauptfigur und Heldin des Films, nicht minder geheimnisvoll, das die Kreatur aus dem Amazonas – wie Paul Tassi für Forbes scharfsinnig zusammengefasst hat.
Was wir von Elisa im Laufe von Shape Of Water erfahren – eher nebensächlich und ohne Rückblende – ist, dass sie als Kind am Flussufer gefunden wurde. Ausgesetzt, wie es scheint. Mit Narben am Hals, die ihren Stimmverlust zur Folge hatten. Wie es scheint. Schon während des Films offenbart sich uns, den Zuschauer*innen, ihr intimer Bezug zum Wasser, in dem sie sich wohler als sonstwo zu fühlen scheint. Dass sie in der Badewanne masturbiert, mag nicht ungewöhnlich sein. Dass sie ihr Badezimmer bis zur Decke flutet, um darin mit der Kreatur Sex haben zu können, das verwundert schon eher.
Am Ende wissen wir bereits, dass die Kreatur durch Auflegen ihrer Pranken Wunden heilen kann. In der letzten Szene, als die Kreatur mit Elisa unter Wasser im Hafenbecken schwebt, legt es seine Pranken aus die Narben an Elisas Hals. Und plötzlich – funktionieren diese Narben als Kiemen! Selbst in einem Fantasy-Film wie diesem scheint es unsinnig, dass die Kreatur normal Wunden in Kiemen verwandeln kann (mit dem ganzen Atemapparats-Kladderadatsch, der subkutan dazu gehört). Sinniger scheint, dass diese Narben – diese schmalen, geradlinigen Schlitze, die schon am Hals des Findelkindes waren und niemand erklären konnte – dass diese Narben schon immer Kiemen waren.
Das Filmende deutet an, dass die Kreatur lediglich Elisas natürliches Dasein als Wesen irgendwo zwischen Fisch und Mensch wiederherstellt, indem sie ihre verschlossenen Kiemen öffnet – und sie frei atmen lässt, unter Wasser. Elisa ist nicht deshalb stumm, weil irgendetwas mit ihren Stimmbändern passiert ist – sondern weil sie nie Stimmbänder hatte.
John Richardson hat für The Conversation den »Besten Film« der Oscars 2018 in seiner allegorischen Wirkungskraft unter die Lupe genommen. Das ist es, was Richardson als Englischlehrer und Assistenzprofessor gerne macht, mit seinen Schüler*innen und Student*innen: Hinterfragen, wie aktuelle Filme kluge Antworten geben, auf die rassistische, sexistische, fremdenfeindliche Politik und Rhetorik ihrer Zeit.
So zeigte Lady Bird (2017), dass das Leben einer jungen Frau es wert ist, cineastisch erkundet zu werden. Three Billboards Outside of Ebbing, Missouri (2017) porträtierte Korruption, Gewalt und Rassenhass im Herzen des amerikanischen Traums. Und Black Panther (2018) hat triumphal bewiesen, dass schwarze Schauspieler*innen und Filmemacher*innen einen Hollywood-Film produzieren können – und dass die afroamerikanische Kultur eine spannende, mythologische Geschichte für alle möglichen Zuschauer*innen hervorbringen kann.
In Shape of Water nun sieht Richardson die detaillierteste und poetischste Kritik an Trump (und stellvertretend für diesen alternden Dudley-Dursley-Verschnitt alle, die seine »Politik« durchsetzen). Ebenso an dem hohlen Versprechen, Amerika wieder »great« zu machen. So »great«, wie in den 30er Jahren, den 40er oder 50er Jahren. Je nach dem, in welcher Stimmung man ihn erwischt, ruft Trump da eine andere Zeit aus seinem Streuhirn ab. Manchmal nennt er auch die 60er Jahre, in denen Shape of Water spielt. Die Hauptfiguren des Films (die stumme Elisa, die schwarze Zelda und der schwule Giles) erleben diese Zeit in stiller Unterdrückung.
Der Kalte Krieg läuft in dem Film gerade auf Hochtouren. Die Dichotomie zwischen den USA und Russland, zwischen »gut« und »böse«, wird sowohl angedeutet als auch untergraben. Amerika und Russland sind im Konflikt, aber es ist ein russischer Agent, der nach ethischen Maßstäben handelt.
John Richardson
Es gibt ein traditionell anmutendes Lokal an der Hauptstraße. Doch der Barkeeper entpuppt sich als Rassist und homophob. Seinen südlichen Akzent hat er aus Marketing-Gründen aufgelegt, während er eigentlich aus Ottawa (Kanada) kommt. Die servierten Kuchen sehen ansprechend aus, sind aber wenig schmackhafte Massenprodukte. Und das Lokal ist Teil eines neuen Phänomens, dem Franchise. Der Film Shape of Water balanciert an eben der Grenze, als alle Authentizität im Begriff war, an Illusion verloren zu gehen
Als Antagonisten haben wir Richard Strickland (Michael Shannon). Ein sadistischer Regierungsmitarbeiter, den ein Autoverkäufer großspurig als »Mann der Zukunft« bezeichnet. Auch Strickland selbst spricht die Zukunft an, rühmt sie als erstrebenswert, sagt zuversichtlich:
The future is bright. You gotta trust in that. This is America.
Richard Strickland (Michael Shannon)
Auch wenn es sich dabei um keine direkte Anspielung handelt: Ausgerechnet das Musikvideo This is America (2018) von Childish Gambino gibt ziemlich gut wieder, dass die Zukunft nicht so »bright« geworden ist, wie prophezeit worden ist. Und dass, andererseits, ein Typ wie Strickland tatsächlich »Mann der Zukunft« sein würde. Ein vulgärer Typ, der einen sexuellen Übergriff als Kavaliersdelikt ansieht.
Wenn die stumme Frau, die schwarze Frau und der schwule Mann gemeinsam handeln, um das schöne »unerwünschte Wesen« aus seinem Gefängnis zu befreien, suggeriert der Film, dass die Kreativität und der Humanismus von Außenseiter*innen siegen kann, gegen Grausamkeit und Korruption.
John Richardson, in: The Shape of Water: An allegorical critique of Trump (aus dem Englischen)
Ob als zeitgenössische Allegorie oder zeitloses Märchen – Shape of Water ist ein mitreißender Film. Man muss sich auf die düstere Welt del Toros einlassen, in die immer wieder – unvorhersehbar – rohe Gewalt hinein brechen kann. Doch wenn man einmal drinsteckt, in dieser Welt, dann ist man umgeben von starken und stärkeren Charakteren in einer Haken schlagenden Handlung voller Gänsehaut-Momente. Sehr zu empfehlen, dieser Shape of Water – Das Knistern des Wassers. Ach, nee: Das Flüstern des Wassers. Mein Fehler.
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]]>Vorweg: Hier werden die Filme Findet Nemo und Findet Dori als Animationsfilme aus der Erwachsenen-Perspektive besprochen. In ihrem Dasein als Kinderfilme wird Sonia die beiden Pixar-Abenteuer in Zukunft nochmal näher unter die Lupe nehmen.
Inhalt: Im ersten Film geht es darum, wie ein Familienvater erst zum Witwer wird und dann seinen Sohn verliert. Das Kind wird von einem unbekannten Mann gekidnappt und verschleppt, während sich der Vater auf der Suche nach ihm mit einer vergesslichen Freundin verirrt und in allerlei Gefahren begibt. Im zweiten Film erinnert sich diese vergessliche Freundin daran, dass sie ja auch eine Familie hat, von der sie als Kind getrennt wurde. Später findet sie heraus, dass ihre Eltern seither gefangen gehalten und zur Schau gestellt werden. Klingt gar nicht nach Kinderfilmen? ABER ES SIND DOCH NUR FISCHE! Na schau, dann ist alles nur noch halb so grausam…
Hinweis: Dieser Text enthält keine Spoiler. Bei JustWatch finden sich aktuelle Streaming-Möglichkeiten zu Findet Nemo und Findet Dorie.
Es war nach Der Herr der Ringe III – Die Rückkehr des Königs der erfolgreichste Film des Jahres 2003. Und obwohl Pixar bereits eigene und sehr gute Erfahrungen mit Sequels hatte (Toy Story 2 wurde 1999 trotz turbulenter Produktionsphase von Publikum und Kritik gefeiert), dauerte es satte 13 Jahre (!) ehe Findet Nemo mit Findet Dorie eine Fortsetzung bekam. Regisseur Andrew Stanton gestand seine große Nervosität vor einem solchen Sequel mit all den Erwartungen, die Fans des Originals daran hätten – doch er und sein Team taten, was Dorie tun würde: Sich optimistisch ins Risiko stürzen! Und vergessen, dass es sich um ein Sequel handelt.
Um eine Chance zu haben, eine anständige Fortsetzung zu drehen, muss man vergessen, dass es eine Fortsetzung ist – und versuchen, den Film so eigenständig wie möglich zu machen. Als hätte es keinen Film davor gegeben.
Andrew Stanton
Als Findet Nemo ins Kino kam, war ich 14 Jahre alt – und ich habe diesen Film vielleicht etwas öfter gesehen, als es für 14-Jährige cool ist. Ich hatte sogar eine Findet-Nemo-DVD mit virtuellem Aquarium im Bonusmaterial. Und das hab ich benutzt. Stundenlang blubberten die animierten Fische über meinen alten Computer-Monitor, der auch die Ausmaße eines Aquariums hatte – die Illusion war perfekt (man muss dazu sagen, das ich ein Fisch-Nerd war, mit über einem Dutzend echter Aquarien in der Garage).
Als Findet Dorie dann ins Kino kam, da war ich natürlich schon viel zu alt für solche Filme. Also nahm ich die einmalige Chance wahr, 4 Kinder von befreundeten Familie sozusagen als »erwachsene Begleitung« mit ins Kino zu nehmen (wie gesagt: einmal, alle 4 Kids auf einmal – ich war nicht 4 Mal im Kino… das wäre ja total verrückt…) | Kurz die eigene statistische Erhebung: Die LKW-Szene in Findet Dorie kam bei den Kindern, gemessen an der Lach-Lautstärke, definitiv am besten an.
Zu der Zeit hatte ich die Aquaristik als Hobby längst aufgegeben und der Fisch-Nerd war dem Film-Nerd gewichen. Aber so ein Herz für diese schuppigen, flossigen, quirligen Tiere, das hört wohl nie wirklich auf zu schlagen.
Vögel sind im Übrigen auch echt in Ordnung. An dem Pixar-Kurzfilm Piper (2016), der als Vorfilm zu Findet Dorie im Kino gezeigt wurde, hatte ich jedenfalls meine Freude. Hier ein kleiner Einblick in dieser beeindruckend detailliert animierte Werk:
Findet Nemo beginnt mit einem Prolog, der die »Nachbarschaft« und Lage des neuen Zuhauses am äußeren Rand des Korallenriffs behandelt. Die anfängliche Harmonie wird, ziemlich abrupt, von einem Barracuda unterbrochen. Dieser Zwischenfall hat zur Folge, dass der kleine Clownfisch Nemo ohne Mutter und 399 Geschwister aufwächst. Dafür mit einem umso besorgteren Vater namens Marlin.
Die Auftaktszene nach dem Prolog zeigt die beiden an Nemos erstem Schultag. Der kleine Fisch hat, vermutlich aufgrund der Barracuda-Attacke von damals, eine unterentwickelte Brustflosse – seine »Glücksflosse«, wie Vater Marlin sie nennt. Nemo schwirrt so aufgedreht umher, als würde er durch Kaffee statt Salzwasser schwimmen – und sein Vater ist sehr bedrückt darüber, sein einziges Kind gehen lassen zu müssen. Nemo könne mit dem Schuleinsteig doch noch warten, meint Marlin, »so 5 bis 6 Jahre…«
Findet Dorie hat eine ähnliche Ausgangssituation: Ohne düsteren Prolog geht’s direkt zur kleinen Dorie. Ein Palettendoktorfischchen, das quasi nur aus Augen besteht. Riesigen, putzigen Kulleraugen. Dahinter ist nicht mehr viel Platz für ein vollausgereiftes Gedächtnis, so scheint es. Denn Dorie leidet, zur großen Sorge ihrer Eltern, an Amnesie. Sie vergisst sehr vieles sehr schnell. Und so wie Nemo im ersten Film seinem Vater entrissen wird, kommt Dorie ihren Eltern abhanden. Die Fischkinder müssen, mit Glücksflosse und Siebgedächtnis, ohne ihre Familien klarkommen.
Filmfehler gefunden? Wäre Findet Nemo wissenschaftlich korrekt, hätte es ein ziemlich kurzer Film werden können. Erstmal leben Clownfische nicht in monogamen Beziehungen, wie sie im Film zwischen Marlin und Coral (Nemos Mutter) gezeigt wird, sondern in Polyandrie: ein Weibchen, mehrere Männchen. Wenn das Weibchen stirbt (weil es zum Beispiel von einem Barracuda gefressen wird), verwandelt sich das stärkste Männchen – innerhalb von einer Woche! – in ein Weibchen. Denn Clownfische sind Hermaphroditen (siehe Blogbeitrag: Bio mit Beauvoir). Marlin hätte sich also, noch bevor Nemo aus dem Ei schlüpft, in ein Weibchen verwandeln und eine Bande verantwortungsvoller Männchen um sich versammeln können. Bei so viel Obacht wäre Nemo bestimmt nicht verloren gegangen. Und der Film hätte geheißen: Nemo – ein Leben ohne Abenteuer.
Hier noch weitere Filmfehler oder Logiklücken in Findet Nemo, informativ zusammengefasst von CinemaSins (auf Englisch):
Findet Nemo ist ein Film, der überfürsorglichen Eltern einen Spiegel vor die Nase hält und Kinder dazu ermutigt, ihren Weg zu gehen. Vor allem aber führt der Film vor Augen, dass Behinderungen nicht gleich Einschränkungen sind.
Findet Dorie führt diese Idee noch einen Schritt weiter, mit einer ganzen Geschichte rund um das Meistern einer Benachteiligung.
Die Hauptfigur in Findet Nemo hat eine zu kleine Flosse und kann damit nicht so gut schwimmen. Doch in der Not und mit ähnlich ungleich-flossigen Vorbildern [der Halfterfisch namens Khan] findet Nemo zu Selbstbewusstsein. Findet Dorie hat eine Hauptfigur mit einem hemmenden Handicap (das schwache Gedächtnis), für das sie bestimmte Mechanismen entwickelt, die ihr in der Not helfen.
Tasha Robinson (The Verge)
Dorie kämpft sich voran, wenn keine Hilfe in Sicht ist, und hat auf ihre eigene Weise Erfolg. (…) Die meisten Zuschauer*innen werden diese besondere Message des Films nicht bemerken – wohl aber diejenigen, die sie am ehesten brauchen, und die sich am meisten mit den Charakteren identifizieren werden können.
Hier je eine kleine Vorschau zu den Filmen, via YouTube:
Den Bechdel-Test hat Findet Dorie übrigens in allen 3 Kategorien bestanden: Kommt mehr als eine Frau (hier: Charaktere mit weiblicher Geschlechterrolle) vor? Check. Haben sie Namen? Check. Sprechen die Frauen miteinander über etwas anderes als Männer? Check.
Neben Dorie kommen etwa deren Freundin Destiny oder ihre Mutter Jenny vor – und sie quatschen über Themen wie Freundschaft und Familie. Doch selbst in einem so klaren Fall lädt das Gender-Thema immer gern zu einer Diskussion ein. Hier eine kleine Perle aus der Kommentarspalte zum Bechdel-Test:
Steve: Dori ist ein Fisch, keine Frau. Ein Fisch.
Arc: Es geht um Kontext. »Frau« meint hier nicht »Frauen«, sondern schlicht weiblich. Wenn man diesen Kontext nicht berücksichtigt, würden sich die meisten Animationsfilme und die Filme, in denen Kinder die Hauptrollen spielen, nicht für diesen Test qualifizieren. […]
Jake: Es sind wortwörtlich verdammte Fische in einem verdammten Kinderfilm! Wie um alles in der Welt kann irgendwer denken, dass deren Geschlecht irgendeine Tragweite für den Film haben sollte? Man könnte sämtliche Geschlechterrollen aus diesen Charakteren streichen und es würde keinen Unterschied für die Handlung machen!
Powers: Ja, Jake, das könnte man – das ist der ganze Sinn dieser Website. Der Punkt ist, dass die Filmemacher*innen diese Rollen weiblich gemacht haben, obwohl sie hätten männlich sein können. Und damit haben sie qualitativ wertvolle, weibliche, interagierende Figuren in einen Mainstream-Film platziert.
Ein vegetarischer Hai, »Meins«-schreiende Möwen, der 7-armige Octopus und die Popcorn-liebende Becky – das Universum von Nemo und Dorie ist voll von liebenswerten Ideen und Details. Technisch für ihre jeweilige Zeit perfekt umgesetzt und dramaturgisch gekonnt zu in sich geschlossenen Abenteuern verpackt, sind Findet Nemo und Findet Dorie heute schon Klassiker, die aus dem immer größer werdenden Meer der animierten Filme herausstechen.
Und hier nochmal für alle: Ein Aquarium! Nicht mehr virtuell, von einer verpixelten DVD, sondern in 4K und direkt aus dem Netz – 3 Stunden Fische gucken! Allein dafür hat sich die Erfindung des Internets schon gelohnt.
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Gastbeitrag von Markus Hurnik
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.
Asterix im Land der Götter: Topaktuell und spannend. Er garniert die weltpolitische Lage mit einer Prise Humor, zeigt einem aber auch die aktuellen Probleme und Missstände auf. Sei es Flüchtlinge, Migration, Gentrifizierung, Integration und Widerstand.
Der Film Asterix im Land der Götter wurde bereits 2014 veröffentlicht. Er ist der erste 3D-Animationsfilm der Reihe. Viele haben vermutlich in den letzten Jahren irgendwann aufgehört zu verfolgen, wann neue Asterix-Filme veröffentlicht wurden, da die Filme mit echten Schauspieler*innen teilweise doch einigen Missmut hinterlassen haben. Sie konnten das asterix‘sche Flair nie richtig einfangen. Wer erinnert sich nicht an das Fiasko Asterix und Obelix gegen Caesar, in dem der Humor auf der Strecke blieb? Doch der neue Film der Reihe gibt einem wieder einen Grund ins Kino zu gehen bzw. die Blu-ray zu erwerben. Asterix im Land der Götter basiert auf dem 17. Comic der Reihe – der Trabantenstadt
Ansehnliche Animationen, ein schönes Farbbild und eine typische Asterix Geschichte sind zu erwarten.
Zum Inhalt: Der Film ist in Gallien angesiedelt. Caesar hegt wieder einmal Pläne, wie er das Dorf der Gallier*innen sich zu eigen machen kann. Ein kaltblütiger Plan soll her und man entscheidet sich zu dem Bau einer Trabantenstadt – dem Land der Götter (und Göttinnen). Das gallische Dorf wiederum soll dadurch in die Defensive gerückt werden und nach und nach zum unbedeutenden Vorort verkommen, welcher sich nach und nach integriert. Dabei wird die Bevölkerung des gallischen Dorfes auf eine harte Probe gestellt. Seine gesellschaftlichen Strukturen drohen zu zerfallen beziehungsweise die Dorfbewohner*innen die Feinde ihrer selbst zu werden.
Alles findet seinen Platz Asterix im Land der Götter und wird wunderbar humorvoll und amüsant in Szene gesetzt.
Dem neuen Animationsstil ist es auch zu verdanken, dass die Keilereien zwischen Römer*innen und Gallier*innen (*und eigentlich kloppen sich doch nur die Kerle) endlich wieder so sind, wie man Sie aus den alten Filmen kennt. Mal ragt eine Hand aus dem Gemenge, ein Römer fliegt über das Feld oder ein Wildschwein kommt zwischen die Fronten. Und alles wirkt schön unrealistisch und verspielt, wie es sein muss!
Man kann sagen, Asterix ist endlich im 21. Jahrhundert angekommen! Dafür ist vermutlich der zweite Regisseur Louis Clichy verantwortlich, der bereits einige Pixar-Filme prägte, wie WALL·E (2008) oder Oben (2009).
Leider gibt es aber auch unschöne Aspekte. So ist die deutsche Synchronisation zum Teil etwas gewöhnungsbedürftig. Milan Peschel gefällt mir einfach nicht als Asterix. Der Charakter kommt einem teilweise so fremd vor, als würde die eigene Stimme nicht an Ihn glauben.
Der Humor kommt dagegen überhaupt nicht zu kurz. Schöne Szenen im römischen Dampfbad und auch szenische Darstellung holen sowohl das ältere Publikum, als auch den jungen Filmfan ab. Viel Witz spielt sich auch zwischen den Zeilen ab, hier muss man vermuten, dass durch die Synchronisation eventuell noch mehr verloren gegangen ist, dies bleibt aber vorerst Spekulation. Genug Ironie und dialogischen Feinschliff hat die Übersetzung auf alle Fälle mitgebracht. Passierschein A38 lässt grüßen.
Die 3D-Umsetzung kann leider nicht weiter bewertet werden. Ich durfte den Film im heimischen Heimkino genießen und war daher auf 2D angewiesen. Jedoch ist anzunehmen, dass die 3D-Umsetzung nur für Hardcore-3D-Fans absolut notwendig ist, der durchschnittliche Zuschauer dürfte mit der 2D-Variante sehr gut versorgt sein.
Holt Euch daher Euren Lieblingszaubertrank auf die Couch und fallt zurück in Eure Kindheit. Ihr werdet es nicht bereuen und viel Spaß und Freude mit Asterix im Land der Götter haben.
Und wem das alles nicht genug ist, der kann sich auf 2019 freuen. Der Regisseur Alexandre Astier arbeitet bereits an seinem neuen Asterix – The Secret of the Magic Potion, welcher 2019 in Deutschland erscheinen wird.
Markus Hurnik (28), langjähriger Berliner und Vorortbewohner, den es beruflich inzwischen zunehmend in sächsische Gefilde verschlägt. Er hat in seinen frühen Jahren für die Verlagsgruppe Randomhouse Jugendbücher rezensiert. Anfang der 2000er kam er vermehrt ins Kino und wurde filmabhängig. Studiert hat Hurnik etwas vollkommen Kunstfernes, vis-à-vis der Filmstudios Babelsberg.
Stammkino: Cineplex Titania Palast, Berlin
Lieblingskinos: Programmkino Ost, Dresden Thalia, Potsdam
Lieblingsfilme (eine Auswahl): La Grande Bellezza, Metropolis, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, WALL·E, Train to Busan
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]]>Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.
In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.
Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.
Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.
Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.
Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.
Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«
Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.
Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?
Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.
Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13
Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center
Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.
Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.
Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:
Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)
Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.
Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.
Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):
In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.
[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70
Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.
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]]>Zum Auftakt, ein besonders starkes Stück:
Arcade Fire – We Exist (2014) mit Andrew Garfield (Boy A). | Unter der Regie von David Wilson (auch bekannt für das Video zu Passion Pit – Take a Walk) schlüpft der Schauspieler Andrew Garfield in die Rolle einer Transgender-Frau. Anfangs steht sie daheim vorm Spiegel, rasiert sich den Schädel und zieht sich an. Dann geht es in eine Bar, wo sie erst von Typen angepöbelt wird, bis die Awesomeness passiert. Teile dieses großartigen Musikvideos wurden beim Coachella-Konzert von Arcade Fire gedreht. Sehenswert! Hier geht es zum Video.
Kontroverse: Die Transgender-Musikerin Laura Jane Grace kritisierte das Musikvideo dafür, dass es Stereotypen reflektiere – und sagt, die Hauptrolle hätte eine Transgender-Schauspielerin spielen sollen, statt ein Cisgender-Mann. Der Songwriter Win Butler (nicht verwandt oder verschwägert mit der Gender-Studies-Fachfrau Judith Butler) verteidigte die Besetzung von Andrew Garfield mit den Worten »Für ein homosexuelles Kind in Jamaika ist es, meiner Meinung nach, verdammt kraftvoll, in eben dieser Rolle den Schauspieler zu sehen, der Spiderman gespielt hat.« Später lenkte Laura Jane Grace ein, dass sie ihre Meinung zum Video geändert habe.
With great power comes great great responsibility. | Spiderman
Carly Rae Jepsen – I Really Like You (2015) mit Tom Hanks (Forrest Gump) | Wer hatte bei der jungen fröhlichen Singstimme von Jepsen nicht immer eigentlich Tom Hanks vor Augen? Der Mann wird älter, aber bleibt ein Kind. Kann man nur feiern. Hier geht es zum Video.
Vampire Weekend – Giving Up The Gun (2010) mit Jake Gyllenhaal (Nightcrawler), Lil‘ Jon und RZA | Ein ziemlich witziges Tennis-Match mit einem extra-breiten Mr. Gyllenhaal. Hier geht es zum Video.
The Shoes – Time to Dance (2012) mit – schon wieder! – Jake Gyllenhaal (Donnie Darko) | Eine ziemlich düstere Mordserie mit einem extra-krassen Mr. Gyllenhaal. Vorsicht, nichts für schwache Nerven! Hier geht es zum Video.
Aerosmith – Jaded (2000) mit Mila Kunis (Die wilden Siebziger). | In der Lobby des Los Angeles Theater, diesem extravaganten Bau im französischen Rokoko-Stil, tobt ein spektakulärer Zirkus mit irren Artist*innen. In ihrer Mitte: Die abgestumpfte, ausgepowerte (engl. jaded) Frau, verkörpert von Mila Kunis. Hier geht es zum Video.
Will Smith – Miami (1998) mit Eva Mendes (Hitch). | Wenn der Prince von Bel Air ein Musikvideo gemacht hätte… dann wohl diesen tanzlustig-kultigen, preisgekrönten Clip. Mit Schauspielerin Eva Mendes in einem kleinen Auftritt vor ihrem Durchbruch. Hier geht es zum Video.
Melissa Etheridge – I Want To Come Over (1995) mit Gwyneth Paltrow (Sieben, Contagion). | Die Golden-Globe- und Oscar-Preisträgerin ist nicht nur fleißig in Kinofilmen unterwegs. Wer sie als arg deprimierte Liebeskummer-Leidende sehen mag: Hier geht es zum Video.
The Lemonheads – It’s a Shame About Ray (1992) mit Johnny Depp (Angst und Schrecken in Las Vegas). | Es geht immer noch ein bisschen älter: Anfang der 90er Jahre spielte Johnny Depp in diesem lahmen Clip einen Typen, der wütend auf ein Foto ist. Hier geht es zum Video.
Radiohead – Creep (1993) mit Johnny Depp und Charlotte Gainsbourg (Antichrist). | So viel schöner, als sein letzter Musikvideo-Auftritt. Und eigentlich, na ja, kein richtiger Musikvideo-Auftritt. Bei der Begegnung von Johnny Depp als geheimnisvoller Fremder und Charlotte Gainsbourg im Plattenladen handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Film Happy End mit Hindernissen von Yvan Attal. Hier geht es zum Video.
Brandon Flowers – Crossfire (2010) mit Charlize Theron (Mad Max: Fury Road). | Als hostage in bondage wird der amerikanische Sänger Brandon Flowers (Frontmann von The Killers) nicht einmal, nicht zweimal, sondern DREIMAL von Schauspielerin Charlize Theron aus den Händen von Ninjas befreit. Beim vierten Mal hat sie ihn den Ninjas überlassen. Schätz ich. Hier geht es zum Video.
Korn – Thoughtless (2002) mit Aaron Paul (Breaking Bad) | Jesse Pinkman before he was cool? Hier spielt Aaron Paul noch einen Schüler, der von seinen Mitschülern übel misshandelt wird, bis ihn alles ankotzt – oder andersherum? Hier geht es zum Video.
The Rolling Stones – Anybody Seen My Baby? (1997) mit Angelina Jolie (Wanted) | Noch lange vor Brangelina und ihrer ersten Regie-Arbeit trat Angelina Jolie in einem der Musikvideos der Rolling Stones auf. Als Stripperin lässt sie mitten in der Performance ihre Perücke fallen und haut ab. Mit langem Mantel und kurzgeschorenen Haaren wandelt sie durch das New York der späteren 90er Jahre. Hier geht es zum Video.
The Rolling Stones – Doom And Gloom (2012) mit Noomi Rapace (The Girl With The Dragon Tattoo) | Nochmal die alten Herren mit einem abgedrehten Video, in dem sich eine Hollywood-Schauspielerin halbnackt im Müll räkelt, ein Kopf und eine Atombombe explodiert, Zombies rumröcheln und, und, und, also viel zu sehen. Hier geht es zum Video.
Fatboy Slim – Weapon Of Choice (2006) mit Christopher Walken (Catch Me If You Can) | Hat jemand gerade »alte Herren« gesagt? Der gut gealterte Hollywood-Star Christopher Walken zeigt hier mal, was ne krasse Tanzperformance ist! Zum Video.
Islands – No You Don’t (2010) mit Michael Cera (Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt) | Genau der Richtige für den Job: Badass Michael Cera in einem Musikvideo, das den irren Humor dieses Ausnahme-Schauspielers gut treffen dürfte. Hier geht es zum Video.
Foo Fighters – Learn to Fly (1999) mit Jack Black und Kyle Gass (Tenacious D) | Gewinner der Grammy Awards im Jahr 2000 – und das zu Recht. Die Parodie zu dem an sich schon herrlich-absurden Airplane! (Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug) steckt voller Ideen und für meinen simplen Geschmack sehr witziger Szenen! Hier geht es zum Video.
One Night Only – Say You Don’t Want It (2010) mit Emma Watson (Vielleicht lieber Morgen) | 2 Jahre dran herum gefeilt, 2010 endlich herausgebracht: Das zweite Album der englischen Indie-Rockband One Night Only heißt genauso wie die Band selbst. Das Video zur Single Say You Don’t Want It wurde in New York City gedreht. Es handelt sich um eine Verneigung vor Susi und Strolch. Denn nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei da eine Jungs-Clique unterwegs, die auf Emma Watson als »leichtes Mädchen« treffen. Es sieht nicht nur komisch aus, wie sich Watson und Frontsänger George Craig beschnuppern und lecken. Am Ende macht alles einen Sinn, versprochen. Hier geht es zum Video.
Ed Sheeren – Lego House (2011) mit Rupert Grint (Harry Potter) | Yes, auch Rupert Grint hat sich in einem Musikvideo die Ehre gegeben (und damit also alle von Harrys Freunden, alle beide) – Grint spielt Sheeran, bis Sheeran selbst auftaucht, sehr witziges Ding! Hier geht es zum Video.
Ed Sheeran – Galway Girl (2017) mit Saoirse Ronan (Am Strand, Lady Bird) | Eine Nacht mit Ed Sheeran im irischen Galway um die Häuser ziehen – Saoirse Ronan spielt (in aller gegebenen Coolness) den vielleicht größten Traum vieler, vieler Fanboys und -girls… und Rupert. Hier geht es zum Video.
James Blunt – Goodbye My Lover (2005) mit Mischa Barton (Hope Lost, Painkillers) | Mr. James Blunt, bekannt für seine hohe Stimme und seine spitzzüngigen Tweets, hat sich mit Schauspielerin Mischa Barton im Bett geräkelt. Sehenswert? Naaa jaaa… ach… nö. Wer trotzdem lünkern möchte: Hier geht es zum Video.
Justin Timberlake – What Goes Around… Comes Around (2007) mit Scarlett Johansson (Don Jon, Her) | Vor und hinter der Kamera starbesetzt, sehr cineastisch inszeniert und geschrieben von Nick Cassavetes (Regisseur von The Notebook). Unter der Regie von Musikvideo-Ikone Samuel Bayer üben sich Justin und Scarlett als leidenschaftliches Liebespaar. Guess what? Funktioniert. Bis zum krachenden Finale. Hier geht es zum Video.
Eminem – Love The Way You Lie ft. Rihanna (2010) mit Megan Fox (Transformers, Jennifer’s Body) | Apropos leidenschaftliches Liebespaar… nein, nicht Eminem und Rihanna. Hier geht’s um Model und Schauspielerin Megan Fox und deren leidenschaftliche Liebe zu einem Arschloch. Zum Video. (Wie beknackt ist bitte die Songzeile: Told you this is my fault / Look me in the eyeball !?– was ein Rapper nicht alles für seinen Reim tut, nee, nee, das ist gar nicht gut.)
Ricky Martin – She Bangs (2000) mit Channing Tatum (The Hateful Eight), angeblich… | Man muss schon ziemlich genau hinschauen, in der Sekunde (ca. 01:30), in der ein Barkeeper im Hintergrund einen Cocktail-Shaker hochwirft. Nach semi-offiziellen Angaben handelt es sich bei diesem Background-Tänzer um den inzwischen berühmten, immer noch tanzenden Schauspieler Channing Tatum. Eingefleischte Fans erkennen ihn vielleicht an seinem Sixpack. Ansonsten: Ein sehr feuchter Macho-Traum, dieses Filmchen. Hier geht es zum Video.
Broken Bells – The Ghost Inside (2010) mit Christina Hendricks (Mad Men, Drive) | Science Fiction gefällig? Hatten wir bis jetzt noch nicht – bildgewaltig und ein klitzekleines bisschen trashig. Hier geht es zum Video.
…und auch wenn kein Mensch dieser Welt all die Musik aus dieser Liste mag – warum nicht ne Spotify-Playlist anlegen
Savage Garden – I Knew I Loved You (1999) mit Kirsten Dunst | Im Alter von 17 Jahren sitzt die Schauspielerin Kirsten Dunst in der New Yorker U-Bahn dem Sänger Darren Hayes (damals 27) gegenüber und wird von ihm als love interest besungen. Hier geht es zum Video.
The Offspring – She’s Got Issues (1998) mit Zooey Deschanel (New Girl, (500) Days Of Summer) | Sehr witzig, sehr weird und unglaublich 90er Jahre: Zooey Deschanel (18 Jahre alt und knallrothaarig) spielt in diesem Song eine vom Alltag abgefuckte Frau in einer Welt, die von Künstler Wayne White immer wieder ins comichafte Komische überzeichnet wird. Hier geht es zum Video. Hier geht es zum Making-of (als MTV-Episode! Oooh, so 90er!)
Stone Temple Pilots – Sour Girl (1999) mit Sarah Michelle Gellar | Heute schon ein düsteres Video mit creepy Teletubby-Bunnies gesehen? Nö? Dann ab dafür! Mit der damals noch als Vampirjägerin aktiven Sarah Michelle Gellar vor der Kamera – und dem namhaften Regisseur David Slade (30 Days of Night, Hard Candy) hinter der Kamera. Hier geht es zum Video.
Paula Abdul – Forever Your Girl (1989) mit Elijah Wood (Der Herr der Ringe) | Kurz vor seinem ersten Kurzauftritt in einem Kinofilm (Zurück in die Zukunft II) spielte Elijah Wood im Alter von 8 Jahren einen melancholischen Anzugträger in diesem Musikvideo, das von Regisseur David Fincher inszeniert wurde. Hier geht es zum Video.
Als der kleine Elijah groß geworden war und seinen Ring weggebracht hatte, da trommelte er halb Hollywood noch für das wohl größte Star-Line-Up aller Musikvideos ever zusammen:
Beastie Boys – Make Some Noise (2011) mit Seth Rogen, Danny McBride und Elijah Wood (in den Rollen der Beastie Boys). | Bei diesem Song handelt es sich um den größten Hit der Beastie Boys seit Ch-Check It Out (2004). Bei dem Musikvideo wiederum handelt es sich um ein Sequel zu deren Musikvideo (You Gotta) Fight for Your Right (To Party!) (1986), das – mit #MeToo im Hinterkopf – nicht ganz so dolle gealtert ist. Aber, aber: Bandmitglied Adam Horovitz hat im Dezember 2017 Schlagzeilen gemacht, als er sich hinter die Vorwürfe von neun Frauen stellte, die seinen Vater – den Drehbuchautor Israel Horovitz – mit Vorwürfen von ungewollten Berührungen bis hin zu Vergewaltigung konfrontierten.
Im Musikvideo zu Make Some Noise indes gibt sich halb Hollywood in Cameos die Klinke in die Hand. Mit dabei sind unter anderem Amy Poehler, Steve Buscemi, Chloë Sevigny, Kirsten Dunst, David Cross und Orlando Bloom. Ebenso Will Ferrell, John C. Reilly und Jack Black (in den Rollen der älteren Beastie Boys aus der Zukunft). Klingt nach krassem Staraufgebot? Da geht noch was: Zum dem Musikvideo in Standardlänge gibt es eine Extended Edition, die unter dem Titel Fight for Your Right Revisited (Regie: Bandmitglied Adam Yauch aka MCA) veröffentlicht wurde. Darin tauchen unter anderem auch noch Susan Sarandon, Stanley Tucci und Robert Downey Jr. auf. Hier geht es zur langen Version des Videos.
YouTube-User mastersoftoday gibt noch ein bisschen Nerd-Knowledge mit einer Auswahl an Eastereggs im Video zur Hand. Details, die nur echten Fans der Beastie Boys und ihrer Musikvideos auffallen:
Der Typ in Minute 13:00 ist MCA’s Regie führendes Alter Ego Nathaniel Hornblower (der bei den MTV Video Music Awards 1994 die Bühne enterte – in genau diesem Outfit – und behauptete, er habe das Drehbuch zu StarWars verfasst), Jason Schwartzman cosplayt Van Gogh in Anlehnung an Hey Ladies (hier geht’s entsprechenden zu den Lyrics) und Orlando Bloom spielt Johnny Ryall aus dem Song Johnny Ryall (Lyrics).
Ein Jahr nach dem spektakulären Video-Release starb Adam Yauch im Alter von 47 Jahren an Krebs. Im Juni 2014 gab Bandmitglied Mike D bekannt, dass weder er noch Horovitz je wieder als Beastie Boys auftreten würden – aus Respekt vor Yauch.
Zuletzt, als kleines Schmankerl, Nr. 31 der Musikvideos mit berühmten Schauspieler*innen: Massive Attack, Young Fathers – Voodoo In My Blood mit Rosamund Pike (Gone Girl). Ein irres, übles Meisterwerk:
…und zu aller Letzt, Nr. 32 der Musikvideos (und Nr. 16 im Sigur Rós Mystery Film Experiment): Eine poetische Reise mit der fantastischen Schauspielerin Elle Fanning in Sigur Rós – Leaning Towards Solace feat. Dauðalogn and Varúð.
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Inhalt: Strictly Ballroom erzählt die Geschichte von Scott Hastings (Paul Mercurio), einem australischen Turniertänzer auf Erfolgskurs. Als er eines Tages seine eigenen Schritte aufs Parkett bringen will, läuft ihm die Partnerin davon. Die Führungsriege der Tanzvereinigung und seine eigene, ehrgeizige Mutter sind empört. Während Letztere händeringend nach einer neuen Partnerin für ihren Sohn sucht, bändelt dieser mit einer jungen Frau namens Fran (Tara Morice) an, dem anfangs unauffälligen Mauerblümchen…
Hinweis: Liebe Leser*innen, liest man Filmkritiken zu Strictly Ballroom, muss man sich doch wundern. Immer wieder wird betont, wie konventionell und vorhersehbar der Plot des Films sei. Und im gleichen Atemzug wird er gefeiert, nicht zuletzt eben dafür. In der Überhöhung von Klischees und dem Charme der Umsetzung liegt die besondere Güte von Strictly Ballroom, insofern enthält der folgende Text keine Spoiler. Da gibt’s nichts zu verraten, was die Zuschauer*innen nicht ohnehin erahnen würden.
Der Film ist in voller Länge online verfügbar, siehe unten.
1984 pitchte die Drehbuchautorin Eleanor Bergstein einem Filmstudio erstmals die Idee, aus der später Dirty Dancing hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Amerika, der zum internationalen Hit avancieren würde. Im selben Jahr, 1984, präsentierten Studenten des National Institute of Dramatic Art in Sydney ein Bühnenstück über die Welt des Ballroom Dancing, aus dem später der Film Strictly Ballroom hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Australien, der zum internationalen Hit avancieren würde. Allerdings erst 5 Jahre nach Dirty Dancing, dem Überraschungserfolg von 1987.
Der Gedanke, Strictly Ballroom reite auf der Erfolgswelle von Dirty Dancing oder sei gar ein Abklatsch dessen, ist also daneben. Baz Luhrmann, der schon damals in das Studenten-Stück involviert war und später die Regie für die Verfilmung von Strictly Ballroom übernahm, ging es darum, dem Skript den Naturalismus auszutreiben. Die Produzenten wollten, dass der damals erst 28-jährige Schauspielstudent mit einem professionellen Drehbuchautor zusammenarbeitete. Luhrmann aber setzte sich letztlich durch, einen theatralischen Ton beizubehalten und die ganze Turniertanz-Welt bewusst zu überzeichnen.
Vergleiche zu Dirty Dancing begrüße ich nicht. Unser Film ist eine Allegorie, eine Art Fantasie, Dirty Dancing ist es nicht. | Baz Luhrmann im Hollywood Reporter, 14.10.1992
…verglichen werden die Filme natürlich trotzdem. Dabei hat es Andrew Price (Commentarama) wohl am besten zusammengefasst, auch wenn sein Diss gegen Dirty Dancing etwas hart ausfällt:
Während Dirty Dancing durchweg ernst ist, ist Strictly Ballroom sehr augenzwinkernd. Auch die Choreographien sind überlegen. Dirty Dancing ist da typisch Hollywood. Der Film zielt darauf ab, flashy zu sein – und wenn er stellenweise auf sexy macht, ist es offensichtlich und überzogen. Das Tanzen in Strictly Ballroom hingegen zeugt von enormen technischen Skills. Es fühlt sich an, als lünkere man in die Übungsstunden echter Tänzer*innen, die im Privaten ihre Limits testen wollen. Dirty Dancing wirkt dagegen gestellt. | Hier geht es zur ausführlichen Filmkritik (auf Englisch)
Tatsächlich handelt es sich bei Hauptdarsteller Paul Mercurio nicht um einen Schauspieler, sondern einen professionellen Tänzer, der in Strictly Ballroom zum ersten Mal für einen Film vor der Kamera stand.
In der 9. Klasse damals, ich muss etwa 13 Jahre alt gewesen sein, da wurden wir Schüler*innen liebevoll dazu gedrängt, die Freitagnachmittage doch mal in der Tanzschule zu verbringen. Klassischer Paartanz, Standard und Latein, erst für Anfänger, dann Kurs Nummer 2… 3 Jahre blieb ich dabei. Ein paar Turniertänze, ein paar Dramen hinter den Kulissen, ohne Bühne großes Theater, typisches Tanzschul-Gezeter. Zwischen Abendtrainings und Abschlussbällen hab ich meine Pubertät ausgelebt, mit peinlichen Spitzen.
Dirty Dancing 2 und Darf ich bitten? (beide 2004) haben wir damals mit versammelter Tanztruppe im Kino gesehen. Dirty Dancing, das Original, das stand als bester Tanzfilm aller Zeiten quasi nicht zur Diskussion. Zu der Zeit entdeckte ich auch Moulin Rouge (2001), nahm ihn begeistert in meine junge DVD-Sammlung auf und hielt mich für einen großen Filmkenner. Ach, wie klein doch diese Bubble war, in der ich damals vor mich hin blubberte. Nicht einmal das Spielfilm-Debüt des Moulin-Rouge-Regisseurs nahm ich zur Kenntnis. Obwohl es doch ein Tanzfilm über eben die Tänze war, die wir Woche um Woche lernten, Walzer, Cha Cha, Paso Doble…
Umfangreiche PDF-Broschüre zu Strictly Ballroom vom Film Institute of Ireland.
Strictly Ballroom beginnt mit einem roten Vorhang. Diese Einstellung mag Namensgeber für die spätere Vermarktung dieses Films als Teil der Roter-Vorhang-Trilogie (Red Curtain Trilogy) sein, zusammen mit Baz Luhrmanns Romeo + Juliet (1996) und besagtem Moulin Rouge (2001). Als erster und am geringsten budgetierter Film dieser thematisch und stilistisch verbundenen Reihe kommt Strictly Ballroom insgesamt jedoch deutlich weniger pompös daher. Die erste Szene zeigt die Silhouetten von Tänzern im Gegenlicht, Bewegungen in Zeitlupe zum Donauwalzer von Johann Strauss.
Der Walzer geht weiter, während wir den Silhouetten aufs Parkett folgen. Als völlig überkandidelt gestylte und gekleidete Tanzpaare paradieren sie vor Jury und Publikum und tanzen los, angefeuert von begeisterten Fans – und aufgedrehten Müttern. Das Bild gefriert auf einer Einstellung eines der Tänzer. Texteinblendung: Scott Hastings, Ballroom Champion. Aus dem Off kommt seine Mutter (Pat Thomson) zu Wort. Sie reflektiert die Erfolgsgeschichte ihres Sohnes, wird prompt eingeblendet. Als nicht minder aufgetakelte Frau sitzt sie neben ihrem selig grinsenden Ehemann auf einem rosa Sofa und spricht in die Kamera. Texteinblendung: Doug and Shirley Hastings, Scott’s Eltern.
Ja, der Tanzfilm Strictly Ballroom beginnt als Mockumentary! Und der Übergang von diesem Genre in das des klassischen Tanzfilms mit konventionellem Handlungsbogen gelingt so galant, wie Scott von seinen einstudierten Schritten in frei improvisierte übergeht.
Bisschen Hintergrundwissen zum Angeben, gefällig? Hier geht’s zu 20 Dingen, die du nicht über Strictly Ballroom wusstest | von der Herald Sun (auf Englisch)
Baz Luhrmann, der keinen naturalistisch anmutenden Film à la Dirty Dancing machen wollte, etabliert in Strictly Ballroom einen Inszenierungsstil, der »too much« als genau richtige Dosis ans Publikum bringt. Ein Konzept, dass Luhrmann bis The Great Gatsby immer exzessiver verwirklicht hat. Seit dem ersten Film arbeitet Lurhmann eng mit seiner Ehefrau, der Szenen- und Kostümbildnerin Catherine Martin, zusammen. Die wilden Kameraflüge und opulenten Kulissen, die wir von den beiden Filmschaffenden gewohnt sind, fallen in Strictly Ballroom ob des geringen Budgets weg. Die finale Szene wurde gar während eines echten Tanzturniers gedreht, vor echten Zuschauer*innen, die in der Pause kurzerhand zum Mitmachen gegeben wurden.
Wir konnten nur zwei Takes drehen, wegen dem kleinen Zeitfenster. In einem der Takes stürzte einer der Tänzer, weshalb wir nur ein Take verwenden konnten. | John O’Connell, Choreograph von Strictly Ballroom
Strictly Ballroom ist insofern übrigens ziemlich up to date, als der Antagonist des Films, der konservative, schmierige Chef der Tanzvereinigung namens Barry Fife (Bill Hunter), eine geradezu erschreckende Ähnlichkeit zu Donald Trump hat. Dem pöbelnden Clown, der aktuell das Weiße Haus okkupiert.
Oh, und apropos Trump: Um spanisch sprechende Immigranten geht es auch in Strictly Ballroom. Und zwar stammt die weibliche Hauptfigur Fran (mitreißend gespielt von Tara Morice) von spanischen Einwanderern ab. Dieser familiäre Background führt den Film zu seinen vielleicht schönen Szenen, die sich nicht im Rampenlicht, sondern im Hinterhof abspielen. Dort, wo sich Generationen und Kulturen begegnen – und Paso Doble tanzen.
Witzige Sache zu Strictly Ballroom: Man sieht jede Wendung kommen und muss doch lachen. | Peter Travers für Rolling Stone, 12.02.1993
Es hätte eine weitere, abgelutschte 08/15-Neuauflage vom hässlichen Entlein werden können. Doch mit starken Dialogen, charmanten Schauspieler*innen und einer ordentlichen Portion Humor, gut über den Film verteilt, gelingt Strictly Ballroom ein bemerkenswerter Film nach bekanntem Muster. Wer Dirty Dancing liebt, wird Strictly Ballroom mindestens sehr mögen – und vielleicht ernsthafte Schwierigkeiten im Ranking der persönlichen Lieblingsfilme kriegen. Für mich schubst Strictly Ballroom den Kultfilm mit Jennifer Grey tatsächlich vom Thron. Da kann Baby noch so viele Melonen heranschleppen…
Hier nun Strictly Ballroom (im englischen Original), viel Vergnügen!
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Nach den ersten 3 Filmen – Jurassic Park (1993), Vergessene Welt: Jurassic Park (1997) und Jurassic Park III (2001) – wurde es lange still um die Dino-Filmreihe. Ganze 7 Godzilla-Filme erblickten seit 2001 weltweit das Licht der Kinosäle (oder landeten direkt im DVD-Regal). Auch ansonsten wurden die ehrwürdigen Urtiere eher für schändliche filmische Zwecke wiedererweckt. Als da wären: Dinocroc vs. Supergator (2010) oder Age of Dinosaurs – Terror in L.A. (2013, von Joseph J. Lawson, auch bekannt für Nazi Sky – Rückkehr des Bösen!).
Nun hätte, ehrlich gesagt, ein Jurassic Park 4 (wie er lange im Gespräch war) nicht weniger trashig geklungen. Die Zahl 4 ist schlichtweg nicht sexy. Welche Filmreihe liebt man denn bitte für ihren Teil 4? Die 3 trifft bei uns Menschen einen Nerv, vom flotten Dreier bis zu allen (anderen) sprichwörtlich guten Dingen. Aber die 4 suggeriert den Abstieg in die Belanglosigkeit. Das erklärt auch die Unbeliebtheit vieler Politiker. Legislaturperioden von 4 Jahren sind einfach eines zu lang…
Schockierender Hinweis (um den Teil-4-Trash-Faktor nochmal zu unterstreichen): Für Jurassic Park 4 wurden zeitweise Mensch-Dino-Hybride in Erwägung gezogen. Wesen also, die halb Homo Sapiens, halb Tyranno Saurus Sonstwas sind. Davon haben wir doch nun wahrlich genug…
Trilogien hingegen sind sexy – und wie! Nachdem die Planung für Jurassic Park 4 nach dem Tod des Drehbuch- und Romanautors Michael Crichton im Jahr 2008 auf Eis gelegt wurden, besinnten sich auch die Jurassic-Park-Produzenten auf diese altbekannte Gewissheit. Im Januar 2010 hieß es dann, die Vorbereitungen für eine Fortsetzung sollen wieder aufgenommen werden, doch völlig anders als geplant: Teil 4 werde der Beginn einer neuen Trilogie.
Nach Jurassic World (2015) wurde das Budget für den neuen Teil 2 nochmal um über 100 Millionen Dollar aufgestockt. Damit konnte neben den CGI-Effektfeuerwerken wieder verstärkt auf state of the arts Puppenspieler und Animatroniker gesetzt werden. Es wurden extra Szenen ins Drehbuch geschrieben, die es ermöglichten, Dinos nur teilweise (siehe: das T-Rex-Weibchen im Fahrzeug-Laderaum) und/oder in langsamen Bewegungen (siehe: die gefesselte, betäubte Velociraptorin) zu zeigen. Diese wurden nicht am Computer animiert, sondern »in echt« gebaut und gesteuert. Für diese Rückbesinnung zu den Wurzeln (Animatronik sorgte schon im allerersten Jurassic Park für die denkwürdigsten Szenen) wird Jurassic World: Das gefallene Königreich gebührend gefeiert.
Auch sonst gibt es nennenswerte Reminiszenzen an die 90er-Jahre Jurassic-Park-Filme. Von verfütterten Ziegen über zerdrückte Geländewagen, fliehende Urviecherherden und Türöffno-Saurus bis hin zu Dino-OPs gibt es einige Motive, die Jurassic-Fans Krokodilstränen der Freude in die Augen treiben.
Ich hatte das Vergnügen, Jurassic World: Das gefallene Königreich im OH·KINO in Wrocław (Breslau) zu sehen. Englisches Original mit polnischen Untertiteln und Karamell-Popcorn, yay! Auf dem Roadtrip nach Polen hatten wir zuvor eine Nacht in Dresden verbracht, inklusive Besuch im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr. In der dortigen Dauerausstellung kreuzte – zu unserer Überraschung – ein imposanter Elefant unseren Weg. Lebensgroß, ausgestopft. Er führte eine Parade von Tieren an, die von Menschen über die Jahrhunderte für ihre kriegerischen Zwecke missbraucht wurden. Von Sprengstoffspürhunden und Brieftauben über Schafe, deren traurige Bestimmung es war, Minenfelder zu erschließen. Sogar ein Löwe ist in dem Museum zu sehen, mit der Info, dass sich NS-Mann Hermann Göring einen solchen gehalten hat, auf seinem feudalen Anwesen in Carinhall. Einfach nur, um seine Gäste zu beeindrucken. Da hatte wohl jemand etwas zu kompenisieren…
Dass Jurassic World: Das gefallene Königreich also von Bonzen handelt, die Dinosaurier für Millionenbeträge ersteigern möchten, erscheint absolut logisch und sinnvoll. Manche der grimmig dreinschauenden Herren im Film wollen sicher nur ein fettes Urzeit-Haustier, um ihr zartes Ego zu streicheln. Andere denken (natürlich) an Dinosaurier für militärische Einsätze. Es gibt gar einen Dialog, in dem explizit davon gesprochen wird, dass Menschen im Krieg immer Tiere eingesetzt hätten. Da werden sogar Elefanten genannt! Und das nur 2 Tage, nachdem ich erstmals über Elefanten im Krieg gelernt habe! Das ist die fiese Art des Universums, mir zu sagen: »Na, du kleiner Wurm? Genießt du die Matrix?«
Jurassic World: Das gefallene Königreich beginnt Unterwasser, mit Lichtern eines U-Boots, die sich aus der Dunkelheit abheben. Ebenso, wie die Rahmenhandlung von Titanic (1997) anfängt. Bloß, dass der Tauchgang keinem Schiffswrack gilt, sondern dem Skelett eines Dinosauriers. Doch nicht irgendein Skelett! So wie es in Titanic um das größte Schiff im Jahre 1912 geht, dreht sich die Fortsetzung von Jurassic World zunächst um den furchterregendsten Saurier, der im Jahr 2015 noch gewütet hat. Wir erinnern uns an den epischen Kampf zwischen Tyrannosaurus Rex, ein paar Raptorinnen und besagtem Superlativ-Saurier, dem aus verschiedenen Spezies gezüchteten Hybriden Indominus Rex. Der Kampf endete damit, dass das Mosasaurus-Weibchen (die gut bezahnte Unterwasser-Echse, Rex Machina) aus ihrem Becken sprang und Indominus Rex mit zu sich in die Tiefe riss.
Dort unten also sägt nun – 3 Jahre nach dem Untergang von Jurassic World – ein U-Boot mit zwielichtigen Männern an dem Indominus-Skelett herum, um einen Knochen zu bergen. Dieser Knochen ist für die Männer ungefähr so wertvoll, wie das »Herz des Ozeans« für die ihrerseits zwielichtigen Wrack-Plünderer in Titanic. Nur dass Letztere halt in Ruhe den Tresor an die Oberfläche hieven können, während Erstere im Mosasaurus-Becken die Bekanntschaft von Mosasaurus machen. Blöder Zufall, bei so einem großen Becken…
Was hat Mosasaurus die 3 Jahre seit dem letzten Film gefressen, um in ihrem Becken nicht zu verrecken? Achtung, Achtung! Wer so früh mit Logikfragen anfängt, wird in Jurassic World: Das gefallene Königreich Kopfschmerzen kriegen. Stattdessen lieber zurücklehnen, entspannen und die Dino-Action genießen. Über 2 Stunden lang gibt’s die volle Dröhnung, ab dem Vulkanausbruch sogar ziemlich pausenlos: Auf der Insel, Unterwasser, im Schiffsbauch, Keller, Kinderzimmer, auf Dächern und in Käfigen. Neben den üblichen Verdächtigen unter den Dinos natürlich auch wieder mit einem neu gezüchteten Hybrid-Horror-Viech, das die Saurier-Sause erst so richtig in Schwung bringt!
Ich hab’s genossen, keine Frage. Jurassic World: Das gefallene Königreich ist ein Action-geladenes Dino-Spektakel mit ordentlich Schauwerten. Tatsächlich hätte ich mir gar etwas weniger Action gewünscht. Nur einmal stapft ein Brachiosaurus gemächlich durchs Bild. Diesem schönen Tier und seinen herbivoren Homies ein Weilchen beim Grasen zuschauen, das wär auch schön gewesen. Stattdessen konzentriert sich Jurassic World: Das gefallene Königreich auf die Idee vom »Dino als Kriegswaffe«. Das nimmt teilweise wirklich bescheuerte Züge an.
Es gibt eine Szene, in der ein Auktionär (verkörpert von Schauspieler Toby Jones) seinem vor Geld stinkenden Publikum vorführen will, wie übelst krass der genmodifizierte Hybrid-Dino namens Indoraptor im Käfig neben ihm drauf ist. Dazu richtet der Auktionär ein Gewehr auf einen Mann im Publikum. Als der rote Laserpunkt der Zielvorrichtung auf der Brust des (jetzt nervösen) Mannes flackert, drückt der Auktionär einen bestimmten Knopf am Gewehr. Sofort rastet der Indoraptor in Richtung des nervösen Mannes aus – nur der Käfig hält den Dino davon ab, den Mann zu zerfetzen.
Das soll also effiziente Kriegsführung sein? Mit einer Waffe auf einen Mann zielen, um dann per Knopfdruck einen wütenden Dino auf diesen Mann loszulassen? Um den Mann zu töten, oder was? Und dazu hätte man nicht einfach den guten alten Abzug neben dem fancy Dino-Knopf betätigen können!? »Raptoren auf Menschen loslassen« ist Hollywoods Pendant zu »mit Kanonen auf Spatzen schießen«. Immerhin: Wesentlich bildgewaltiger, als die Spatzen-Variante.
Übrigens hat Colin Trevorrow, Drehbuchautor der beiden Jurassic-World-Filme angekündigt, im dritten Teil werde man sich wieder auf reale Dinosaurier konzentrieren, ohne die genmodifizierten Neuschöpfungen. Jurassic World 3 soll tatsächlich ein »science thriller« werden. Zur Erinnerung daran, wie weit die Dinos in Jurassic World nach heutigem Kenntnisstand von ihren urtümlichen Vorfahren entfernt sind: In Münster gibt es seit 2014 das erste befiederte Velociraptor-Modell in Deutschland zu sehen. Schaut dezent anders aus, als die coole Raptorin Blue:
Apropos Teil 3: Nach dem Abspann lieferte Jurassic World: Das gefallene Königreich noch ein Schmankerl für alle Kinobesucher*innen, die bis zum Ende sitzen geblieben sind und gewissenhaft die Namen aller Beteiligten durchgelesen haben. Fun Fact: Ich heiße David, weil meine Eltern solche Leute sind, die sich Filmcredits durchlesen. Um 1989 herum dachten sie dabei eines schönen Filmabends: »Hey, David, der Name ist gut.« Ich persönlich hoffe ja, es war David Fincher.
NACH DEM ABSPANN jedenfalls gibt es noch ein letztes Bild von ein paar Pteranodons, die um das Eiffelturm-Dublikat in Las Vegas kreisen.
Denn: Die Dinos sind am Filmende ja ausgebüxt, alle miteinander. Und jetzt streunen sie frei durch die Welt. Die Flugsaurier an Amerikas Eiffelturm zu zeigen ist eine schönes Sinnbild für diese Dino-Klone, die ja ihrerseits »nachgemacht« sind von den urzeitlichen »Originalen«. Gleichzeitig stellt der Eiffelturm ein Symbol für Europa dar und eröffnet damit neue Dimensionen. Die Dinos haben nicht nur ihre Insel verlassen, nein, sie könnten auch den Kontinent verlassen. Jurassic WORLD eben.
Sehr, sehr coole Vorstellung. Den Film möchte ich gerne sehen. Es gibt sogar schon einen Starttermin. Am 11. Juni 2021 kommt Jurassic World 3 in die Kinos. Einfach schonmal freihalten. ABER: Ich hoffe sehr, die Macher*innen finden für die weltweite Ausbreitung der Dinos eine glaubwürdige Erklärung. Denn ein paar Dutzend große Echsen einzufangen, die im weiteren Umkreis der Villa rumlaufen, aus der sie entflohen sind, das sollte mit heutigen Mitteln doch zu händeln sein? Für den glaubwürdigen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation braucht es bitteschön ein bisschen mehr, als die Szene von einer Velicoraptorin, die sich ihren Weg durch eine City beißt.
Ach, das war ein großer Spaß! Die Spannung ist natürlich mäßig, weil man nie wirklich damit rechnen muss, dass die Dinos das kleine Mädchen zerreißen. Wann immer die junge Schauspielerin Isabella Sermon um ihr Leben bangt, können sich die Zuschauer*innen entspannt zurücklehnen: Ist immer noch Jurassic World, nicht Game Of Thrones. Hier ist die Welt noch in Ordnung, Dinos hin oder her. Abgesehen davon, dass sich Jurassic World: Das gefallene Königreich im Vergleich zum ersten Teil der neuen Trilogie zwar Mühe gibt, erneuten Sexismus-Vorwürfen auszuweichen, dies aber nur bedingt gelingt. Die weibliche Hauptrolle Claire Dearing (gespielt von Bryce Dallas Howard) bleibt im Schatten von Chris Pratt und dort trotz anderen Schuhwerks (die Stöckelschuhe aus dem ersten Jurassic World sind gewichen) eher im ständigen Opfer/Beute-Modus.
Die Journalistin Anne Cohen (Refinery29) kann tatsächlich nur der Rolle von besagter Isabella Sermon etwas Positives abgewinnen. Ansonsten findet sie erschreckend viele gute Argumente dafür, dass Jurassic World bis dato sexistischer ist, als der erste Jurassic-Park-Film in den 90er Jahren. In diesem Sinne überlasse ich der fiktiven Paläontologin Dr. Ellie Sattler mal das letzte Wort:
Über Sexismus in Überlebenssituationen können wir diskutieren, wenn ich zurück bin. | Ellie Sattler, in: Jurassic Park (1997)
Der Beitrag JURASSIC WORLD: Das gefallene Königreich | Film 2018 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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