Der Beitrag PHOTOKINA 2018 mit Laura Zalenga, Shawn Bu & Co. erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Ein paar Eindrücke wohlgemerkt, die ich aus der Not heraus mit dem Smartphone festgehalten habe… apropos:
Eine andere Revolution war es rückblickend, gegen den jener Komet im Jahr 2008 wie ein Hagelkorn wirkt. Pünktlich zur Jahrtausendwende kam das erste Handy mit integrierter Kamera auf den Markt. Diese Innovation entfaltet ihre volle Wucht erst seit einigen Jahren – nicht nur unter Menschen mit Film und Fotografie als Hobby, sondern sämtliche Smartphone-Nutzer*innen betreffend (= ziemlich viele). Das hat einen massiven Rückgang im Verkauf digitaler Kameras zur Folge und sorgt für Druck auf die Herstellerfirmen. Sie müssen abliefern, beeindrucken, Aufmerksamkeit heischen. 2018 soll vorerst das letzte Mal gewesen sein, in dem die photokina im 2-Jahres-Turnus die Fachwelt auf einem Fleck versammelt. Denn schon 2019 findet sie wieder statt – und fortan jährlich, so der Plan.
In der Anfangszeit wurde die photokina noch unregelmäßig abgehalten – zum ersten Mal im Jahr 1950. Ursprünglich initiiert von Bruno Uhl, dem Präsidenten des Fotoverbandes, im Rahmen der »Bilderschauen«. So der Titel einer Foto-Ausstellung, die der Sammler und Publizist Leo Fritz Gruber viele Jahre lang kuratierte.
Neben den technischen Innovationen der Photoindustrie wurden in den Bilderschauen die kulturellen und gesellschaftlichen Leistungen des Bildmediums herausgestellt.
Deutsche Gesellschaft für Photographie e.V., in: Photokina – The Early Years 1950-1956
Diese Bilderschau erreichte zwischenzeitlich Rekordgröße, oder vielmehr: Rekordlänge. Vom Messegelände aus erstreckte sich die Bilderschau im Jahr 1988 über 1.300 Meter bis hin zum Museum Ludwig in Köln. Das reichte fürs Guinness-Buch der Rekorde. Um die Kölner Bevölkerung dann 20 Jahre später fotografisch verstärkt zu mobilisieren, ließ sich die Stadt Köln einiges einfallen.
Im September 2008 waren alle Besucher der Stadt eingeladen, sich mit dem Thema Bild zu beschäftigen oder selbst fotografisch aktiv zu werden. Der Erfolg gab den Veranstaltern recht: Nahezu alle in Kooperation mit Kölner Unternehmen und Institutionen durchgeführten Workshops, Foto-Shootings, Foto-Stadtführungen waren ausgebucht, die vielen Fotoausstellungen sehr gut besucht.
Photoindustrie-Verband, via Prophoto: 175 Jahre Fotografie – Geschichte der photokina
Hinweis: Eine ausführliche Chronik zur photokina in Köln findet sich auf der Website der Prophoto GmbH.
2008 war zufällig auch das Jahr, seit dem ich erstmals zur Kölner Bevölkerung zählte. In den ersten Monaten meines Köln-Kapitels schrieb ich eine Kolumne für die Tageszeitung meiner Heimatstadt, nach dem Motto »Landei trifft Großstadt«. Im Rahmen dieser Kolumne besuchte ich 2008 zum ersten Mal die photokina.
Zu der Zeit war ich schon angefixt in Sachen Filmemachen und besonders beeindruckt von den fetten DV-Camcordern, die Canon und Co vorstellten. High Definition Video war da gerade im Kommen, 4K noch ganz fern (möchte sagen: unscharf) am Horizont. Von besagter Revolution, der ersten video-fähigen DSLR-Kamera Nikon D90, bekam ich leider nix mit. Stattdessen knipste ich noch fröhlich mit meiner Nikon D50 herum und probierte erstmals eine Hasselblad aus dem H-System aus.
Impression von der photokina 2008:
Nach einem morgendlichen Filmemacher-Plausch im Kaffeesapiens marschierte ich am Freitag also bis Oberkante Unterlippe voll mit Koffein vom Charles-de-Gaulle-Platz rüber zum Haupteingang des Kölner Messegeländes. Lange nicht mehr dort gewesen, war mein erster Eindruck: Köln, ey, geht’s noch? Von dem gigantischen Bauprojekt MesseCity hatte ich bis dato nichts mitgekriegt. Soll mal richtig schön werden. Irgendwann. Gegenwärtig schlängelt man sich an einem Bauzaun entlang aufs Messegelände.
Auf Einladung von Canon überhaupt zur photokina 2018 gekommen, steuerte ich erst einmal pflichtbewusst deren Stand an – und landete mitten im Vortrag von Nicolai Brix, der seinen Weg von der Fotografie zur Filmerei schilderte. Damit sprach der Kameramann quasi zur direkten Zielgruppe, die Canon für sein neues spiegelloses Vollformat-System begeistern möchte, Canon EOS R. Auf der photokina konnte man die neue Kamera erstmals unter die Lupe nehmen. Doch in mir pumpt zu wenig Early-Adopter-Blut, als dass ich da hinterher war. Interessanter schien mir die Ausstellung zur abgerockten Canon-Ausrüstung gestandener Fotograf*innen in verschiedensten Gefilden. Von Vogelfotografie in der tiefsten Wildnis bis zur Sportfotografie am Spielfeldrand.
Einziger fester »Termin« der photokina 2018 war für mich der Vortrag von Shawn Bu auf der Motion Stage. Den wollte ich gezielt sehen. Gerichtet an »die nächste Generation von Filmemachern«, tatsächlich aber vor einem erstaunlich grauhaarigen Publikum. (Und ja, ich hab selbst erste graue Härchen, aber ich zählte trotzdem zu den Jüngeren dort.) Shawn gab Einblicke in den Produktionsprozess einiger Projekte, die er in vergangenen Jahren mit verschiedenen Teams so umgesetzt hat. Am bekanntesten ist davon wohl Darth Maul: Apprentice (2016), mit inzwischen über 17,5 Millionen Views auf YouTube.
Während ich immer gerne predige, man solle sich Grenzen abstecken und innerhalb dieser (finanziellen oder sonstigen) Grenzen die eigene Kreativität austoben, war Shawns erste Ansage:
Massiv inspiriert vom George-Lucas-Universum hat der 32-jährige Filmemacher den eigentlichen Reiz am Medium voll verinnerlicht: Man kann eben alles möglich machen. Mit mehr oder weniger Aufwand. Genau wie die kreativen Köpfe hinter der Webserie Wishlist (2016-2018) ist Shawn durch die »Autodidakten-Schule« gegangen und hat das DVD-Bonusmaterial unzähliger Filme studiert.
Wichtigste Lektion an sein Publikum auf der photokina 2018: Vorbereitung ist alles. Er zeigte Moodboards und Planskizzen aus verschiedenen Vorproduktions-Stufen seiner Projekte und pochte auf reaktionsfreudige Gemüter. »Filmemachen besteht zu 90 Prozent aus dem Lösen von Problemen«, so Shawn. Sympathisch. Hier geht’s zur Website seiner neuen Produktionsfirma RAW MIND Pictures.
Aus Rückfragen aus dem Publikum, wie er sein Team und die Drehgenehmigungen bei vergleichsweise kleinem Budget zusammenbekomme, war die Antwort bestechend simpel: Einfach fragen, schlimmstenfalls ein »Nein« kassieren und woanders nochmals fragen. Es helfe ungemein, schon Visuelles zum Projekt vorzeigen zu können – und seien es nur erste Skizzen. Shawn nutzte dazu Kontakte zu künstlerisch begabten Kommilitoninnen aus seinem Kommunikationsdesign-Studium an der FH Aachen.
Überraschendes Highlight war für mich ein Vortrag des eingangs erwähnten Philip Bloom, dem Digital-Video-Trainer, den wohl jede*r Vimeo-User*in mit ein wenig filmischen Ambitionen kennen dürfte – von den Philip Bloom Reviews & Tutorials. Gerade noch hatte ich auf dem Messestand der Fotografin Laura Zalenga bei der Arbeit zugesehen (hier geht’s zu ihrem beeindruckenden Portfolio), dann wurde der Filmemacher Philip Bloom plötzlich angekündigt.
Die Umbaupause zu seinem Vortrag überbrückte eine Schwertkampf-Choreographie mit dem Samurai-Künstler Tetsuro Shimaguchi (bekannt als »Miki« aus Quentin Tarantinos Kill Bill: Volume 1). Philip Bloom ließ schließlich die digitale Revolution in Sachen Video-DSLR seit 2008 Revue passieren und schilderte seine Arbeitsweise, stets mit konkretem Equipment-Bezug. So dankbar ich Canon für den kostenlosen Eintritt zur photokina 2018 bin – am Ende hat mich der Messestand von Sony doch am meisten beeindruckt. Seit 5 Jahren bin ich zufrieden mit meinen Canon-Kameras unterwegs, überwiegend im Filmbereich. Nach diesem Messebesuch allerdings möchte ich jedoch gerne mal ein wenig Erfahrung mit Sonys Alpha-Reihe sammeln.
Aber was soll der Nerdkram hier? Technik ist schließlich nur das Mittel zum Zweck. Was vor der Linse steht, das zählt. Zwischen den Messehallen landete ich in einer Ausstellung zu dem Projekt Atlas of Humanity – eine Reihe von Porträts aus aller Welt, die mich ziemlich gefesselt haben. Wie wundersam Gesichter doch sind, dachte ich mal wieder, und wie sehr so ein fremdes Augenpaar einen in seinen Bann ziehen kann.
Am Abend und zum Ausklang meines Besuchs der photokina 2018 wohnte ich noch der Preisverleihung des Deutschen Jugendfotopreis bei – veranstaltet vom Deutsches Kinder- und Jugendfilmzentrum, als Pendant zum Deutschen Jugendfilmpreis, der dieses Jahr in Hildesheim verliehen wurde. Hier geht’s zu den Preisträger*innen des Jugendfotopreises samt ihrer Arbeiten, die auf der photokina ausgezeichnet wurden. Vorweg betonte die Staatssekretärin Juliane Seifert in ihrer Ansprache die Begabung, die darin liege, besondere Blickwinkel einzunehmen oder Momente einzufangen. Ein schönes Schlusswort, eigentlich, für diese bildgewaltige Messe.
Auf der photokina verschmelzen Mensch und Technik miteinander. Es ist faszinierend, wie urtümlichste Gesichter dieselben staunenden Blicke auf sich ziehen, wie der modernste Kamerakram. Natur und Kultur in perfekter Symbiose. Wie schade wäre es um all die Schönheit, ließe sie sich nicht festhalten, wie schauerhaft der Schrecken, wenn er völlig im Dunkeln läge? Bilder sind wichtig. Die photokina 2018 hat einmal mehr neue Möglichkeiten aufgezeigt, solche Bilder aufzuzeichnen – von kleinsten Action-Cams bis hin zu wuchtigen Kinokameras.
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]]>Der Beitrag COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.
Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.
Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:
Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)
Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.
Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.
Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.
Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.
Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.
Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.
Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.
Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.
Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:
Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. | Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)
Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.
Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.
Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)
Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:
Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.
Der Beitrag COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag AM STRAND über Sex in den Sixties | Buch 2007, Film 2018 | Kritik, Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Novelle lebt von prägnanten Sprachbildern und dem gelungenen Wahrnehmungswechsel, dem Sprung von seiner in ihre Gedankenwelt und zurück. Ein Großteil der Handlung dreht sich um eine bestimmte Szene, in der weniger gehandelt als gegrübelt und gezweifelt und gefürchtet wird. Wie setzt man so etwas als Film um? »Ich habe keine Problem damit, Änderungen einzubauen, die cineastisch interessant sind«, sagt Ian McEwan im Interview mit Andrew Collins (RadioTimes). Doch bevor wir einen Blick auf die Änderungen werfen, worum geht’s überhaupt?
Inhalt: Florence und Edward haben geheiratet. Alles lief gut soweit. Erst als die frisch Vermählten im Hotel am Chesil Beach ihre Hochzeitssuite betreten, schnürt sich ihnen je die Kehle zu… der erste Satz der Novelle beschreibt es so: Sie waren jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräch über sexuelle Probleme unmöglich waren. Am Strand spielt in Südengland, 1962.
Hinweis: Liebe Leser*innen, im folgenden Text werden einige Szenen aus Buch und Film besprochen, ohne jedoch wichtige Wendungen und etwaige Geheimnisse der Figuren preiszugeben. Allein der Absatz »Gedanken zum Ende« enthält, na ja, Gedanken zum Ende, inklusive Spoiler.
Am 1. Januar 1900 trat der sogenannte Kranzgeld-Paragraph in Kraft. Er besagte, dass eine »unbescholtene Verlobte« (eine Jungfrau), wenn sie aufgrund eines Eheversprechens »die Beiwohnung gestattet« (erstmals Sex hat) im Nachhinein eine finanzielle Entschädigung für den ideellen Schaden an ihrer Person verlangen konnte, sollte der Mann das Verlöbnis nach dem Sex noch lösen. Denn mit der ersten Liebesnacht hatte die Frau als Braut an Wert verloren, für zukünftige Anwärter.
Anfang der 60er Jahre wurde »vorehelicher Sex« schon lockerer gesehen. Man hatte bereits Kondome im Gepäck und von sowas wie der »Pille« gab es selbst in der Provinz schon Gerüchte. Dass Geschlechtsverkehr kein Hexenwerk ist, vor der Ehe, das weiß auch Florence, die weibliche Hauptfigur des 1962 in England spielenden Am Strand (im Buch »kräftig gebaut«, im Film Saoirse Ronan). Doch die junge Frau will den Moment der Beiwohnung so lange wie möglich hinauszögern. Sie sitzt schon auf der Bettkante, da verrät der Roman:
Einige ihrer Freundinnen […] wären schon seit Stunden nackt im Bett und hätten die Ehe lang vor der Hochzeit lautstark und mit Freuden vollzogen. Wohlmeinend und großzügig, wie sie waren, glaubten sie, Florence habe genau dies ebenfalls längst getan. | Ian McEwan, Am Strand, S. 103 (hier geht’s zur Leseprobe)
Doch die 22-jährige Florence ist nicht nur unerfahren. Ihre Not mit dem Sex ist anderer Natur. Im Buch wird diese Not schon früh beim Namen genannt und ausführlich beschrieben. Im Film gibt Florences Verhalten den Zuschauer*innen Rätsel auf. Edward indes mag wenig Erfahrung mit Mädchen haben. Der körperliche Akt, so an sich, seinerseits, der ist ihm wohlvertraut.
Wie die meisten jungen Männer seiner Zeit – aber auch aller anderen Zeiten, denen es an Toleranz oder sexueller Freizügigkeit mangelte – gab er sich immer wieder dem hin, was von fortschrittlicher Seite als »Selbstverwöhnung« bezeichnet worden war. Edward hatte sich gefreut, als er auf diesen Ausdruck stieß. | S. 28
Ich hab mal kurz ein Online-Wörterbuch für Jugendsprache konsultiert. Inzwischen sagt man »pellewemsen«, »nudelwürgen«, oder ganz fesch: »fappieren« (das hätte sogar der Engländer verstanden). Im Film indes erfahren wir nichts über die Masturbationsgewohnheiten unserer Hauptfiguren. Was okay ist.
Wie das Leben so spielt: Sonia und ich gingen am Sonntag ins Apollo Kino in Aachen, mit einer Freundin. Letztere suchte den Film aus, Am Strand. Ich wusste nichts darüber, sah mir keinen Trailer an. Überrascht wurde ich dann von einem faszinierenden Filmpaar in einem Szenen-Arrangement, das aus jedem Winkel: Literaturverfilmuuung! schrie. Montag saß ich am Laptop und dachte: Puuuh, wie willste darüber schreiben? War tatsächlich ne Literaturverfilmung, basierend auf einer dünnen Novelle. Also klick, Novelle bestellt. Kam Dienstag an. Hab sie Mittwoch und Donnerstag gelesen. Jetzt sitze ich hier, am Freitagmorgen, und schreibe endlich über dieses Werk, das von einer völlig verkorksten Hochzeitsnacht handelt. Und morgen, am Samstag, da heiraten Sonia und ich. Die schönen kleinen Truman-Show-Momente des Lebens.
Während das Buch damit beginnt, dass das Paar bereits am Tisch Platz nimmt und zu Abend isst, entführt uns der Film in seinen ersten Einstellungen an den Strand. Das fiktive Hotel aus dem Buch liegt direkt am Chesil Beach in Südengland, On Chesil Beach lautet der Originaltitel des literarischen und cineastischen Werks. Obwohl der Schriftsteller Ian McEwan gerade am Beginn und Ende seiner Geschichte signifikante Änderungen vorgenommen hat, bleibt er der gekonnt heraufbeschworenen Atmosphäre treu. Denn die ist ziemlich angepasst, zuweilen unangenehm. In die Stille hinein dringen die leisesten Geräusche wie Baustellenkrach.
[…] Edward und Florence waren Gefangene ihrer Zeit. Selbst unter vier Augen galten tausend unausgesprochene Regeln. Und gerade weil sie nun erwachsen waren, taten sie nichts so Kindischen wie von einem Mahl aufzustehen, das man mit viel Mühe eigens für sie angerichtet hatte. Schließlich war Abendessenszeit. | S. 26
Schon im Filmauftakt im Kino nahm ich das markante Sounddesign wahr, angefangen mit den Kieseln am Strand. Im Hotel knarzen die Dielen, klappert das Besteck… und siehe da: Schon in der literarischen Vorlage drängen sich immer wieder Geräusche in die Zeilen. Von Eichendielen, die »komisch knarrten« ist da die Rede, und Löffel, die »über Platten schaben«. Manche Details hat der Autor sorgfältig bewahrt und ins neue Format übertragen. Doch ausgerechnet die besten Bilder sind es, die sich nicht übertragen lassen. Bilder, die sich ins Hirn brennen. Bilder, in denen Bedeutungen mitschwingen, die sich später erst entschlüsseln. Florence Furcht etwa, ein »hilfloser Widerwille so heftig wie die Seekrankheit.«
Ein Danny Boyle (127 Hours) oder Jaco van Dormael (Mr. Nobody) hätte sich vielleicht um visuelle Entsprechungen für die Sprachbilder bemüht. Vielleicht auch (wobei es schon weniger seinem Stil entspräche) Sam Mendes, der zunächst als Regisseur im Gespräch war. Nicht jedoch der Debütant Dominic Cooke, der mit Am Strand seinen ersten Spielfilm inszeniert hat. Seine langjährige Erfahrung im Erzählen von Geschichten bezieht sich auf das Theater. Und so ist auch sein first feature film in Sachen Kamera und Schnitt, beides sehr konventionell, beinahe ein Bühnenstück. Das ist in Ordnung, etwas Eigenes, etwas Anderes. Es lohnt sich, zunächst den Film zu sehen und dann das Buch zu lesen, um diese Hochzeitsnacht noch einmal mit der Gedankenebene zu durchleben. Sie gibt den Figuren (trotz der hervorragenden Schauspieler) einen Mehrwert.
Florence spürte seine Berührung so deutlich, wie Wärme und den Druck seiner verschwitzten Hand auf ihrer Haut, daß sie sich den langen, gekrümmten Daumen im bläulichen Dämmer unter ihrem Kleid vorstellen, daß sie ihn sehen konnte, wie er da lag, geduldig wie ein Rammbock vor den Stadtmauern […]
Das Buch ist, im Übrigen, stellenweise so explizit bezüglich des Sexuellen, dass Ian McEwan Sorge, eine Verfilmung könne quasi-pornografisch geraten, nicht aus der Luft gegriffen ist. Überhaupt besteht die größte Kunst des Films Am Strand darin, dass die filmische Umsetzung der intimsten Szenen zwischen den beiden Verliebten nicht unfreiwillig komisch geraten sind.
Mich persönlich hat tatsächlich die letzte Einstellung sehr gestört: Edward steht am Strand, abgewendet, Florence geht fort. Die Kamera fährt dabei den Hang hinab, immer auf die beiden Schauspieler gerichtet, zwischen denen die Distanz größer wird. Bis sie aus dem Bild ist und er allein am Strand steht. Die Kamera nun von so tief unterhalb des kiesigen Hangs zu ihm hinaufschauend, das wir vom Hintergrund nichts mehr sehen. Nur noch Himmel, Strand und der junge Mann am rechten Bildrand. Ein schönes Bild, eigentlich.
Doch auf dem Weg dorthin, auf der sanften Kamerafahrt während der bedeutsamen Trennung der beiden Protagonisten, schneidet die Kadrage, der Bildausschnitt den Schauspieler Billy Howle immer wieder am rechten Bildrand an. Vielleicht war es der Projektion im Kino geschuldet, dass das Bild dort unschön abgeschnitten schien. In einer letzten Einstellung ist so ein Detail, wem es ins Auge sticht, ein ziemlicher Abtörner. Zieht just dann raus aus der Handlung, wenn man am tiefsten drinstecken sollte.
Hinzu kommen die letzten Szenen des Films, der gen Ende von 1962 ins Jahr 1975 und dann ins Jahr 2007 springt. Im Gegensatz zu allen Rückblenden sind diese »Zukunftsblenden« mit Jahreszahlen versehen. Für mich, der ich nichts über Buch und Film wusste und ohne Zeitgefühl im Kino saß, ergab sich der Eindruck, jetzt folge der dritte Akt. Das konkrete Datieren der Szenen verleiht ihnen ein Gewicht, das sie schließlich nicht auf die Waage bringen. Zu kurz, zu ausschnitthaft bleiben sie. Angesichts des liebevoll gestalteten Drumherums – Make-up, Mode, Kulisse – hätte man getrost auf die Einblendung der Jahreszahlen verzichten können. Ich denke, dass hätte die Schlussszenen angemessener ins Gesamtwerk eingefügt.
Was es auch nicht gebraucht hätte, meinethalben, war das tränenreich pathetische Filmfinale. Es ist völlig anders als im Buch und wohl das, was Ian McEwan offenbar »cineastisch interessant« findet. Im Buch hingegen bleibt der Epilog extrem schlicht und viel kühler. Cooler. Florence und Edward sehen sich nach der Trennung am Strand einfach nie wieder. Eiskalt.
Randnotiz: Ein paar Wochen nach unserem Kinobesuch – im Juli 2018 – sind wir übrigens am Chesil Beach gewesen. Sonia und ich haben auf unserer Hochzeitsreise nach Cornwall einen kleinen Zwischenstopp eingelegt, um die Sonne einmal an dieser schönen Kieselbank untergehen zu sehen.
Während der Abspann lief, im Kinosaal, da war ich enttäuscht. Zu abrupt und zugleich ausschweifend erschien mir das Ende, ganz komisch. Ich hätte es mir anders oder einfach nur weggewünscht. Doch lässt man den Film sacken, enthält er viele starke Szenen, die sich im Gedächtnis wieder an die Oberfläche spielen. Nachdem ich mich nun eine Woche lang intensiv mit dem Werk beschäftigt habe, muss ich sagen:
Am Strand gewährt einen seltenen und relevanten Einblick in die Lebenswelten zweier Kinder einer anderen Zeit, von deren Sorgen und Ängsten trotzdem noch vieles in Köpfen unserer Zeit verborgen liegen mag. Ein Film der dafür sensibilisiert, dass Sex nie nur im Kontext einer mehr oder weniger sexuell freizügigen Gesellschaft lebt. Am Ende kommt es immer auf ein paar einfache Individueen und ihre ganz persönlichen Erfahrungen an.
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]]>Der Beitrag STRICTLY BALLROOM mit Tara Morice | Film 1992 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Inhalt: Strictly Ballroom erzählt die Geschichte von Scott Hastings (Paul Mercurio), einem australischen Turniertänzer auf Erfolgskurs. Als er eines Tages seine eigenen Schritte aufs Parkett bringen will, läuft ihm die Partnerin davon. Die Führungsriege der Tanzvereinigung und seine eigene, ehrgeizige Mutter sind empört. Während Letztere händeringend nach einer neuen Partnerin für ihren Sohn sucht, bändelt dieser mit einer jungen Frau namens Fran (Tara Morice) an, dem anfangs unauffälligen Mauerblümchen…
Hinweis: Liebe Leser*innen, liest man Filmkritiken zu Strictly Ballroom, muss man sich doch wundern. Immer wieder wird betont, wie konventionell und vorhersehbar der Plot des Films sei. Und im gleichen Atemzug wird er gefeiert, nicht zuletzt eben dafür. In der Überhöhung von Klischees und dem Charme der Umsetzung liegt die besondere Güte von Strictly Ballroom, insofern enthält der folgende Text keine Spoiler. Da gibt’s nichts zu verraten, was die Zuschauer*innen nicht ohnehin erahnen würden.
Der Film ist in voller Länge online verfügbar, siehe unten.
1984 pitchte die Drehbuchautorin Eleanor Bergstein einem Filmstudio erstmals die Idee, aus der später Dirty Dancing hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Amerika, der zum internationalen Hit avancieren würde. Im selben Jahr, 1984, präsentierten Studenten des National Institute of Dramatic Art in Sydney ein Bühnenstück über die Welt des Ballroom Dancing, aus dem später der Film Strictly Ballroom hervorgehen sollte. Ein romantischer Low-Budget-Paartanzfilm aus Australien, der zum internationalen Hit avancieren würde. Allerdings erst 5 Jahre nach Dirty Dancing, dem Überraschungserfolg von 1987.
Der Gedanke, Strictly Ballroom reite auf der Erfolgswelle von Dirty Dancing oder sei gar ein Abklatsch dessen, ist also daneben. Baz Luhrmann, der schon damals in das Studenten-Stück involviert war und später die Regie für die Verfilmung von Strictly Ballroom übernahm, ging es darum, dem Skript den Naturalismus auszutreiben. Die Produzenten wollten, dass der damals erst 28-jährige Schauspielstudent mit einem professionellen Drehbuchautor zusammenarbeitete. Luhrmann aber setzte sich letztlich durch, einen theatralischen Ton beizubehalten und die ganze Turniertanz-Welt bewusst zu überzeichnen.
Vergleiche zu Dirty Dancing begrüße ich nicht. Unser Film ist eine Allegorie, eine Art Fantasie, Dirty Dancing ist es nicht. | Baz Luhrmann im Hollywood Reporter, 14.10.1992
…verglichen werden die Filme natürlich trotzdem. Dabei hat es Andrew Price (Commentarama) wohl am besten zusammengefasst, auch wenn sein Diss gegen Dirty Dancing etwas hart ausfällt:
Während Dirty Dancing durchweg ernst ist, ist Strictly Ballroom sehr augenzwinkernd. Auch die Choreographien sind überlegen. Dirty Dancing ist da typisch Hollywood. Der Film zielt darauf ab, flashy zu sein – und wenn er stellenweise auf sexy macht, ist es offensichtlich und überzogen. Das Tanzen in Strictly Ballroom hingegen zeugt von enormen technischen Skills. Es fühlt sich an, als lünkere man in die Übungsstunden echter Tänzer*innen, die im Privaten ihre Limits testen wollen. Dirty Dancing wirkt dagegen gestellt. | Hier geht es zur ausführlichen Filmkritik (auf Englisch)
Tatsächlich handelt es sich bei Hauptdarsteller Paul Mercurio nicht um einen Schauspieler, sondern einen professionellen Tänzer, der in Strictly Ballroom zum ersten Mal für einen Film vor der Kamera stand.
In der 9. Klasse damals, ich muss etwa 13 Jahre alt gewesen sein, da wurden wir Schüler*innen liebevoll dazu gedrängt, die Freitagnachmittage doch mal in der Tanzschule zu verbringen. Klassischer Paartanz, Standard und Latein, erst für Anfänger, dann Kurs Nummer 2… 3 Jahre blieb ich dabei. Ein paar Turniertänze, ein paar Dramen hinter den Kulissen, ohne Bühne großes Theater, typisches Tanzschul-Gezeter. Zwischen Abendtrainings und Abschlussbällen hab ich meine Pubertät ausgelebt, mit peinlichen Spitzen.
Dirty Dancing 2 und Darf ich bitten? (beide 2004) haben wir damals mit versammelter Tanztruppe im Kino gesehen. Dirty Dancing, das Original, das stand als bester Tanzfilm aller Zeiten quasi nicht zur Diskussion. Zu der Zeit entdeckte ich auch Moulin Rouge (2001), nahm ihn begeistert in meine junge DVD-Sammlung auf und hielt mich für einen großen Filmkenner. Ach, wie klein doch diese Bubble war, in der ich damals vor mich hin blubberte. Nicht einmal das Spielfilm-Debüt des Moulin-Rouge-Regisseurs nahm ich zur Kenntnis. Obwohl es doch ein Tanzfilm über eben die Tänze war, die wir Woche um Woche lernten, Walzer, Cha Cha, Paso Doble…
Umfangreiche PDF-Broschüre zu Strictly Ballroom vom Film Institute of Ireland.
Strictly Ballroom beginnt mit einem roten Vorhang. Diese Einstellung mag Namensgeber für die spätere Vermarktung dieses Films als Teil der Roter-Vorhang-Trilogie (Red Curtain Trilogy) sein, zusammen mit Baz Luhrmanns Romeo + Juliet (1996) und besagtem Moulin Rouge (2001). Als erster und am geringsten budgetierter Film dieser thematisch und stilistisch verbundenen Reihe kommt Strictly Ballroom insgesamt jedoch deutlich weniger pompös daher. Die erste Szene zeigt die Silhouetten von Tänzern im Gegenlicht, Bewegungen in Zeitlupe zum Donauwalzer von Johann Strauss.
Der Walzer geht weiter, während wir den Silhouetten aufs Parkett folgen. Als völlig überkandidelt gestylte und gekleidete Tanzpaare paradieren sie vor Jury und Publikum und tanzen los, angefeuert von begeisterten Fans – und aufgedrehten Müttern. Das Bild gefriert auf einer Einstellung eines der Tänzer. Texteinblendung: Scott Hastings, Ballroom Champion. Aus dem Off kommt seine Mutter (Pat Thomson) zu Wort. Sie reflektiert die Erfolgsgeschichte ihres Sohnes, wird prompt eingeblendet. Als nicht minder aufgetakelte Frau sitzt sie neben ihrem selig grinsenden Ehemann auf einem rosa Sofa und spricht in die Kamera. Texteinblendung: Doug and Shirley Hastings, Scott’s Eltern.
Ja, der Tanzfilm Strictly Ballroom beginnt als Mockumentary! Und der Übergang von diesem Genre in das des klassischen Tanzfilms mit konventionellem Handlungsbogen gelingt so galant, wie Scott von seinen einstudierten Schritten in frei improvisierte übergeht.
Bisschen Hintergrundwissen zum Angeben, gefällig? Hier geht’s zu 20 Dingen, die du nicht über Strictly Ballroom wusstest | von der Herald Sun (auf Englisch)
Baz Luhrmann, der keinen naturalistisch anmutenden Film à la Dirty Dancing machen wollte, etabliert in Strictly Ballroom einen Inszenierungsstil, der »too much« als genau richtige Dosis ans Publikum bringt. Ein Konzept, dass Luhrmann bis The Great Gatsby immer exzessiver verwirklicht hat. Seit dem ersten Film arbeitet Lurhmann eng mit seiner Ehefrau, der Szenen- und Kostümbildnerin Catherine Martin, zusammen. Die wilden Kameraflüge und opulenten Kulissen, die wir von den beiden Filmschaffenden gewohnt sind, fallen in Strictly Ballroom ob des geringen Budgets weg. Die finale Szene wurde gar während eines echten Tanzturniers gedreht, vor echten Zuschauer*innen, die in der Pause kurzerhand zum Mitmachen gegeben wurden.
Wir konnten nur zwei Takes drehen, wegen dem kleinen Zeitfenster. In einem der Takes stürzte einer der Tänzer, weshalb wir nur ein Take verwenden konnten. | John O’Connell, Choreograph von Strictly Ballroom
Strictly Ballroom ist insofern übrigens ziemlich up to date, als der Antagonist des Films, der konservative, schmierige Chef der Tanzvereinigung namens Barry Fife (Bill Hunter), eine geradezu erschreckende Ähnlichkeit zu Donald Trump hat. Dem pöbelnden Clown, der aktuell das Weiße Haus okkupiert.
Oh, und apropos Trump: Um spanisch sprechende Immigranten geht es auch in Strictly Ballroom. Und zwar stammt die weibliche Hauptfigur Fran (mitreißend gespielt von Tara Morice) von spanischen Einwanderern ab. Dieser familiäre Background führt den Film zu seinen vielleicht schönen Szenen, die sich nicht im Rampenlicht, sondern im Hinterhof abspielen. Dort, wo sich Generationen und Kulturen begegnen – und Paso Doble tanzen.
Witzige Sache zu Strictly Ballroom: Man sieht jede Wendung kommen und muss doch lachen. | Peter Travers für Rolling Stone, 12.02.1993
Es hätte eine weitere, abgelutschte 08/15-Neuauflage vom hässlichen Entlein werden können. Doch mit starken Dialogen, charmanten Schauspieler*innen und einer ordentlichen Portion Humor, gut über den Film verteilt, gelingt Strictly Ballroom ein bemerkenswerter Film nach bekanntem Muster. Wer Dirty Dancing liebt, wird Strictly Ballroom mindestens sehr mögen – und vielleicht ernsthafte Schwierigkeiten im Ranking der persönlichen Lieblingsfilme kriegen. Für mich schubst Strictly Ballroom den Kultfilm mit Jennifer Grey tatsächlich vom Thron. Da kann Baby noch so viele Melonen heranschleppen…
Hier nun Strictly Ballroom (im englischen Original), viel Vergnügen!
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]]>Der Beitrag FEMALE TROUBLE mit Divine | Film 1974 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Ein irrer Film. Verbrochen hat ihn der berüchtigte John Waters, Ikone des Untergrund-Kinos. Diesen Ruf verdankt er seinem Durchbruch mit Pink Flamingos (1972), aber eben auch Female Trouble. Wer John Waters über die muntere Mainstream-Komödie Hairspray (1988) kennengelernt hat, mag es kaum glauben: Dieser Typ hat insbesondere in den 70er Jahren einige Meilensteine des schlechten Geschmacks gedreht, die bei vielen Menschen den Magen umdreht. Allein, dass diese Meilensteine die meisten Menschen ohnehin nicht erreichen – man muss schon gezielt nach diesen Filmen suchen. Im Internet ist das nicht schwer, dort tummeln sich John Waters‘ Werke dicht unter der Oberfläche. Denn wie bei allen extremen Auswüchsen des Kinos gibt es auch genug Menschen, die diese als Kultfilme feiern.
Inhalt: Female Trouble handelt von dem Teenager-Mädchen Dawn Davenport (Divine). In der Schule und daheim macht sie Probleme. Zu Weihnachten zerstreitet sie sich so sehr mit ihren Eltern, dass Dawn von zu Hause weg will. Ein Verbrechen, dass ihr daraufhin beim Trampen widerfährt, wird den Verlauf ihres Lebens bestimmen. Dawn gerät auf die schiefe Bahn und macht eine Karriere als Kriminelle.
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text enthält Spoiler. Es werden einige Einzelheiten zum Handlungsverlauf sowie das Ende besprochen. Wer zunächst den Film sehen möchte, findet diesen ganz unten verlinkt. Doch Achtung, Female Trouble ist eine trashige Tabu-Orgie und Perversionen-Parade, die Gewalt verherrlicht. Wird den wenigsten Menschen ehrlichen Herzens gefallen. Hoffe ich, irgendwie.
Female Trouble ist der zweite Teil einer losen Trilogie, die Regisseur John Waters selbst als »Trash Trilogy« bezeichnet. Dazu zählen des Weiteren Pink Flamingos (1972) und Desperate Living (1977). Ersterer ist Waters‘ berühmtester, explizitester und extremster Spielfilm, dessen finale Szene wohl nur von Hundeschiss-Fetischisten mit Genuss gesehen werden kann. Letzterer ist Waters‘ einziger Spielfilm ohne Ausnahme-Schauspieler und Drag-Queen Divine vor dessen Tod im Jahr 1988 und auch sein erster Film ohne David Lochary, der wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Desperate Living unter bis heute ungeklärten Umständen starb. Im Drogenrausch versehentlich verblutet, ist eine gängige Vermutung.
In Female Trouble stehen Divine und David Lochary noch in tragenden Rollen vor der Kamera. Divine spielt die Hauptfigur Dawn Davenport sowie (als Doppelrolle) den Mann, der dieses Mädchen am Straßenrand vergewaltigt. David Lochary spielt den Inhaber eines Schönheitssalons, der Dawn gemeinsam mit seiner Frau später zu übelsten Verbrechen anstiftet, um diese in Bildern festzuhalten.
»Crime is beauty«, so die Idee.
John Waters selbst nennt Female Trouble »ein fiktives Biopic über eine Frau, die einer Gehirnwäsche unterzogen wird und daran glaubt, dass Verbrechen gleich Schönheit sei.« Hinsichtlich der Widmung im Vorspann, an den Mörder Charles Watson, schreibt Waters später in einem Text über Leslie Van Houten, ebenfalls Mitglied der Manson-Familie und verurteilte Mörderin, die John Watson als »wirklich gute Freundin« bezeichnet:
Ich bin auch schuldig. Schuldig, die Manson-Morde auf eine spaßige Klugscheißer-Weise in meine früheren Filme eingebaut zu haben. Ohne die geringste Empathie für die Familien der Opfer oder die Leben der gehirngewaschenen Manson-Killer-Kids, die ebenso Opfer waren, in diesem traurigen und schrecklichen Fall.
Inspiriert von Mordtaten, aber frei von Empathie für die Opfer. Das ist Female Trouble. Genug, um den Film als verachtenswertes Projekt unreflektierter Gewalt-Enthusiasten abzutun. Mir selbst indes ist dieser Streifen in einem ganz anderen Zusammenhang begegnet.
Für mein Studium der Philosophie darf ich mich aktuell mit Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble (1990) beschäftigen. Bis dato kann ich nicht viel mehr dazu sagen, als dass es kompliziert geschrieben ist. 1998 bekam Butler einmal den Ersten Preis in einer Bad Writing Competition. Mal abgesehen davon, dass solch Negativpreise schlicht gemein sind und mehr über das Wesen der Verleiher*innen solcher Trophäen aussagen, als irgendetwas anderes, hat Butler mit einem Kommentar in The New York Times schlagfertig darauf reagiert:
Wenn das Alltagsdenken [die Umgangssprache] manchmal einen bestimmten gesellschaftlichen Status Quo konserviert, und dieser Status Quo manchmal ungerechte soziale Verhältnisse als natürlich behandelt, dann macht es Sinn, in solchen Fällen das Alltagsdenken [und damit die Umgangssprache] herauszufordern. Eine Sprache, die diese Herausforderung annimmt, kann helfen, den Weg zu einer sozial gerechteren Welt zu weisen.
Die ungerechten sozialen Verhältnisse, um die es Judith Butler geht, sind in Das Unbehagen der Geschlechter inbesondere die zwischen Frauen und Männern. Die Philosophin beschäftigt sich mit der Frage, ob es beim Frau-sein und Mann-sein nicht weniger um natürliche Unterschiede geht, als vielmehr um unterschiedliche Rollenbilder, die wir performen?
In diesem Zusammenhang kommt Butler im Vorwort zu Das Unbehagen der Geschlechter auf den Female Trouble zu sprechen, dessen Hauptdarsteller*in, jene berühmte Drag-Queen Divine auch als Heldin Hairspray (1988) auftritt. Divine wurde 1945 als Harris Glenn Milstead geboren, ein Junge, der schon früh Gefallen daran fand, in Frauenrollen zu schlüpfen – so auch in den Filmen seines Jugendfreundes John Waters.
Divines Darstellung von Frauen weist implizit darauf hin, daß die Geschlechtsidentität eine Art ständiger Nachahmung ist, die als das Reale gilt. Sein/Ihr Auftritt destabilisiert gerade die Unterscheidungen zwischen natürlich und künstlich, Tiefe und Oberfläche, Innen und Außen, durch die der Diskurs über die Geschlechtsidentitäten fast immer funktioniert.
Judith Butler wirft Fragen auf:
Ist die Travestie (also die Darstellung einer Bühne- oder Filmrolle durch Personen des anderen Geschlechts) eine Imitation der Geschlechtsidentität (also der inneren Gewissheit, einem bestimmten Geschlecht anzugehören)? Oder bringt sie die charakteristischen Gesten auf die Bühne, durch die die Geschlechtsidentität selbst gestiftet wird? Ist »weiblich sein« eine »natürliche Tatsache« oder eine kulturelle Performanz?
Antworten auf diese Fragen sucht man statt in Waters‘ Werk wohl lieber in Butlers Buch, dessen Originaltitel Gender Trouble, so legen es Judith Butler Ausführungen nahe, aber immerhin an den Film Female Trouble angelehnt ist.
Hey, spar dir deine Moral.
Schau, jede*r stirbt einmal.
Das, was ich gerne mag,
sind Mord und Totschlag.
Das ist eine Strophe aus dem Song Female Trouble. Gesungen von Divine, geschrieben von John Waters, begleitet dieses Lied den Vorspann des gleichnamigen Films und nimmt ein wenig seiner Haltung und Handlung vorweg.
Der Film beginnt mit einem Text-Insert: »Dawn Davenport *Youth* 1960«. In verspielter blaue Schrift auf violettem Hintergrund schließt sich diese Einblendung nahtlos an den schrillen Vorspann an. Immer wieder wird es solche Text-Inserts geben, die den Film in Kapitel unterteilen, nach den Lebensabschnitten der rastlosen Heldin.
Die erste Szene auf einem Schulkorridor führt Dawn Davenport als Schülerin ein, die ob ihres Haar- und Körpervolumen ins Auge sticht. Sie spricht mit einer Mitschülerin über das Weihnachtsgeschenk, das sie sich von ihren Eltern erhofft: irgendwelche hochhackigen Schuhe namens Cha Cha Heels. Dass sie diese später nicht bekommt, ist das Auslösende Ereignis der Films, das die Handlung ins Rollen bringt.
Hier ist dieser selige Moment bei der Bescherung, als Dawn Davenport nicht kriegt, was sie sich wünscht:
Wer diesen Auftakt für schräg hält: Es ist das normalste Weihnachten der Welt, im Vergleich zu den folgenden Abenteuern der streit- und geltungssüchtigen Heldin.
In einer Szene sagt Tante Ida (gespielt von Edith Massey, die später im Film minus einer abgehackten Hand im Vogelkäfig landet und dort als Haustier gehalten wird) zu ihrem Sohn Gater, von dem sie sich so sehr wünscht, dass er schwul wäre:
Ich mache mir Sorgen, dass du in einem Büro arbeiten und Kinder haben und Hochzeitsjahrestage feiern wirst. Die Welt der Heterosexuellen ist ein krankes und langweiliges Leben.
Krank ja, langweilig nein, so würde ich den weiteren Verlauf des Films in aller Kürze kommentieren. Völlig entkoppelt von etwaiger sexueller Orientierung, die vor der Kamera ausgelebt wird.
Aus der Sicht eines (im Vergleich zu John Waters, seiner Entourage und seinen Protagonisten) ziemlichen Otto-Normalos sage ich mal: Man muss diesen Film nicht gesehen haben, fällt nicht in den Kanon von Filmen für lockere Tischgespräche zwischen gelegentlichen Kinogänger*innen. Und man sollte bei diesem Film auch nicht unbedingt etwas essen (mein Fehler). Aber tut man sich Female Trouble trotzdem an, gewährt das Werk einen Blick in eine Parallelwelt, in der all unsere gesellschaftlichen Ideale auf den Kopf gestellt werden. Was ist schön, was ist richtig, falsch, anständig, abartig? Da diese gesellschaftlichen Ideale aber ohnehin nur der hauchdünne Vorhang auf einer Bühne voller verlogener Irrer ist, mag der schonungslose Schandtaten-Schaukasten Female Trouble gar sowas wie ein Kino der Katharsis sein. So weh es auch tut, dieser Film ist vermutlich näher dran am wirklichen Wesen der Menschen, als so bezaubernde Werke wie La La Land (2014) oder Tatsächlich… Liebe (2003).
Genug der Worte, hier gibt es den Film zu sehen: Female Trouble, 97 Minuten, viel Spaß!
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Braunhemd – die Begegnung | In diesem Film begegnen 3 Kinder aus dem Dritten Reich durch eine magische Tür in der Jugendherberge Sachsenhausen einigen Schüler*innen (12-13 Jahre alt) der Gegenwart, die sich dort mit den NS-Verbrechen auseinandersetzen sollen. Eine Zeitreise mit Folgen, lernen doch alle Beteiligten intensiver denn je über die entsetzlichen Taten der 1930/40er Jahre und die gesellschaftlichen Dynamiken, die sie hervorbrachten. Gleichzeitig hält der Film einen Finger in die Wunden unserer Zeit, in der Smartphones die Kommunikation verstümmeln und Cybermobbing Tür und Tor öffnen. | 57.47 Minuten, von Gerd Manzke (58) aus Linden, Schleswig-Holstein. Der Focus widmete dem beeindruckenden Projekt einen ausführlichen Artikel.
[Ksjucha] | Wieder geht’s um Vergangenheitsbewältigung, doch dieses Mal in einem viel kleineren Rahmen: Eine junge Frau namens Ksenia (vom Griechischen Xenia – die Fremde) reist mit dem Zug nach Omsk, um gegen den Willen ihrer Mutter ihren Vater in dessen Heimat näher kennenzulernen. Begleitet wird sie dabei von einer Freundin, die diese Begegnung mit der Kamera dokumentiert. Ein intimer, kleiner, schöner Film. Ein wenig entzaubert wurde [Ksjucha], als die Filmemacher*innen beim Bühnengespräch im Anschluss offenlegten, dass die Montage (der Schnitt und die Ausschnitte) nicht ganz die tatsächlichen Familien- und Reiseumstände wiedergeben. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deshalb sehenswert: Ein Film von der Kunst des suggestiven Erzählens. | 6.02 Minuten, von Eva Hoffmann (25, @iwyiwi) aus Berlin.
Ab zum Mond | Der jüngste Regisseur des Festivals hat die Kamera seines Vaters mal auf seine Geschwister gehalten. Es geht darum, wie sein kleiner Bruder seine noch kleinere Schwester zum Mond schießen will. Ein charmantes Projekt, sowohl die Mond-Aktion als auch der Film selbst. | 2.54 Minuten, von Gaetano Romagnoli (8) aus Köln, Nordrhein-Westfalen. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Der Name Romagnoli hat mich schon in der Jurysitzung im März hellhörig werden lassen. Aus Köln, auch das noch! Da ist doch Marco Romagnoli aktiv, der berüchtigte Filmemacher mit dem markanten Schnitt und Look und Sound, Musikvideos für die deutsche Rap-Szene, Kurzfilmfutter für Festivals, fleißiger Mann (siehe: sein Vimeo-Profil). Tatsächlich ist Gaetano sein ältester Sohnemann, der sich wohl anschickt, in Papas kreative Fußstapfen zu treten. In der Jurysitzung für den Deutschen Jugendfilmpreis haben wir immer mal wieder darüber diskutiert, wie groß bei etwaigen Projekt von besonders jungen Einreicher*innen der Einfluss von Erwachsenen gewesen sein mochte. So auch bei Ab zum Mond, der gerade im gekonnten Musikeinsatz zumindest den Einfluss des väterlichen Mentors vermuten lässt.
Doch wie soll ein achtjähriger Junge zum Filmschaffen kommen, wenn ihm gar niemand aushilft? Film ist Teamwork, ist doch klar. Wenn ein Kind Musik macht, stören wir uns auch nicht daran, dass es sich das Instrument von Erwachsenen beibringen lässt und fremde Noten spielt. Wenn es später mal ganz Eigenes komponiert, wunderbar, aber das Handwerk will erstmal gelernt sein. Und so ist es auch beim Film von Kindern und Jugendlichen: Manchmal ist es für die Jury ein schmaler Grat, zu entscheiden, ab wann der Fremdeinfluss zu groß ist und die kreative Leistung dominiert. Bei Ab zum Mond von Gaetano Romagnoli kamen wir zu dem Schluss, dass der Junge die Zügel zur Genüge selbst in der Hand hatte. Der Film ist visuell, thematisch und sprachlich aus Kinderperspektive erzählt.
Und alles wird wie früher… | In Sachen Kadrage und Farben spricht dieser schöne, subtile Film schon eine richtig cineastische Sprache. Es geht um ein Mädchen (gespielt von Kristin Braun), das nach langer Zeit ein Freundin aus Kindheitstagen wieder trifft. Und es ist eben nicht, »alles wie früher« … der Film hat den Nachwuchspreis beim Christian-Tasche-Filmpreis gewonnen und ist hier in voller Länge zu sehen. Für mein Gefühl hätte der Film (konkreter: die Tanzszenen) deutlich kürzer geschnitten werden können, ohne etwas von der intensiven Gesamtwirkung einzubüßen, doch Bildsprache und Erzählweise des jungen Regisseurs lassen ein Faible für Langfilme vermuten – da macht es absolut Sinn, sich im gemächlichen Erzählen zu üben. Ich bin gespannt, mehr zu sehen! | 15 Minuten, von Victor Gütay (17) aus Gifhorn, Niedersachsen.
Der Törtchendieb | Eine rasante Verfolgungsjagd von Knetfiguren durch eine liebevolle Pappstadtkulisse. Dieser Film stach allein ob seines Produktionsaufwandes und Charme des Handgemachten aus dem bunten Kurzfilm-Reigen am Wochenende des Bundes.Festival.Film. hervor. Eine großartige Geschwisterleistung, von der amüsanten Stop-Motion-Animation bis hin zur gekonnten Dramaturgie. | 2.42 Minuten, von Ferdinand Maurer und seiner Schwester Fanny (13-14) aus Frankfurt am Main, Hessen.
Spiel-Film | Ein Computerspiel in der Entwicklungsphase – mit Menschen, die ins Spiel reingesogen werden, und Monstern, die aus dem Spiel herausklettern. Was für ein Spaß! Bei der kleinen Referenz an Pulp Fiction (der goldene Schein aus dem geöffneten Koffer) frage ich mich, ob man da wirklich erwachsenen Einfluss vermuten muss, oder diese Referenz so sehr in unsere Popkultur übergegangen ist, dass die Kinder sie selbst einbringen. Denn sie wissen nicht, was sie tun… | 6.30 Minuten, von den Kindern der Trickfilm-AG aus Bochum, Nordrhein-Westfalen.
OSTKAKTUS | Eine Punkband redet über das Wesen des Punk. Erst werden die jungen Musiker*innen interviewt, dann verhört – alles in der detailverliebt heraufbeschworenen DDR. Der Film gipfelt in einem Konzert, das in geschickter Parallelmontage zum Geschehen am Grenzübergang Gänsehaut hervorruft. Für mich einer der besten Beiträge zum 31. Bundes.Festival.Film.; bin immer noch schwer beeindruckt davon, dass die Filmemacher*innen sogar den Song fürs Finale selbst geschrieben und so großartig »geil scheiße« in Szene gesetzt haben: »Ohne Stacheln woll’n sie ihn, doch der Kaktus mag das nicht!«. Inspiriert wurde der Film von Gilbert Furians Buch Auch im Osten trägt man Westen. | 16.01 Minuten, von Johanna Ziemer, David Vagt (21, 19) aus Potsdam, Brandenburg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Handprints | Als hoffnungslos verlorener Rezipient im Angesicht von abstrakter Kunst, hatte ich es auch bei diesem Experimentalfilm schwer. In krassen, gesättigten, flackernden Bildern beschwört Handprints eine alptraumhafte Atmosphäre herauf, die an David Lynch denken lässt. Bloß, dass es sich bei dem Kopf dahinter um einen erst 15 Jahre alten, kreativen Filmemacher handelt. Dieser Umstand, dass ein so junger Typ ein so vielschichtiges, undurchsichtiges Werk hervorbringt, hat mich am meisten fasziniert. Den Film konnte ich in seinen Bedeutungsschichten leider nicht entzwiebeln. | 6.05 Minuten, von Janis Kraffzik (15) aus Tostedt, Niedersachsen. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Insgesamt gab es beim 31. Bundes.Festival.Film. nur wenige solcher außergewöhnlicher Experimentalfilme – und auch Dokumentarfilme waren vergleichsweise rar gesät. Als einen Trend nahmen wir seitens der Jury des Deutschen Jugendfilmpreises vielmehr das fiktionale Erzählen wahr, das sich dramaturgisch und visuell oft an den großen Vorbildern orientierte. Gekonnte Nachahmung der Technik und Soft Skills etablierter Kino-Größen wie David Fincher oder Xavier Dolan, weniger der Bruch mit Konventionen des Erzählens. Doch Ausnahmen gibt es immer wieder, und Handprints würde ich dazu zählen. Spannender Beitrag!
Immer Beste Freunde | Eine liebevolle Collage von besten Freund*innen (9-12 Jahre alt), die einander ihre Freundschaft erklären. Dabei kommen Dialoge zustande, die mit zu den witzigsten den Bundes.Festival.Film. zählen. Bezaubernder, kleiner Film! | 14.46 Minuten, vom Filmclub Gera-Pforten e.V. / Stefan Gabel (58) aus Gera, Thüringen. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Advents-Überraschung | Ein Stop-Motion-Film von drei Jungs, die eine Kriminalgeschichte rund um den Weihnachtsmann erzählen. Mit ideenreichen Bildern und unterhaltsamen Wendungen. | 3.12 Minuten, von Eric Hendrich, Anton und Julius Kleinhanß (7-8) aus Alsheim, Rheinland-Pfalz. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Reni | Das Porträt einer Frau, die mit einer durch das Schlafmittel Contergan verursachten Behinderung ihr Leben bestreitet. Als Künstlerin und Schauspielerin weiß sie dabei ein ums andere Mal, das Publikum dieses interessanten Dokumentarfilms zu überraschen. | 18.10 Minuten, von Josef Pettinger (70) aus Göppingen, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Ninja Motherfucking Destruction | Hinter dem Titel hab ich erstmal ein Trash-Fest vermutet. Stattdessen: Ausschnitte aus dem Leben dreier Freundinnen, unaufgeregt arrangiert, lebensnah inszeniert, ein Film wie eine Kapsel. Konserviert werden darin kleine Momente, Gesten, Blicke zwischen den Protagonistinnen, über deren Gedanken und Beziehungen zueinander wir nur rätseln dürfen. | 11.22 Minuten, von Lotta Schwerk (20, auch: Was wir wissen, Okay.) aus Berlin. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Aye, Aye! | Eine komische Bohne gerät in hohen Regalschluchten plötzlich in Seenot. Eine Animation als Verbildlichung dessen, wie es im Kopf eines an Demenz erkrankten, pensionierten Seemannes zugeht. Ein berührender Film! | 4.57 Minuten, von Aruna Gallas, Julia Maier, Majda Sehovic (21) aus Ravensburg, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
punktpunktkommastrich | In mancherlei Hinsicht der heftigste Beitrag zum 31. Bundes.Festival.Film.: Die schwangere Tilda soll sich im Rahmen eines Schulprojektes um einen Babysimulator kümmern. Dieser Film hat wie kein Anderer ob kontroverser und interessanter Einzelszenen und Bilder zu Diskussionen in der Jury geführt. Die Filmemacherinnen arbeiten bereits an ihrem nächsten Projekt. Man darf auf deren weiteres Schaffen gespannt sein. | 14.52 Minuten, von Georgia Bauer und Rahel Jung (18-19) aus Stuttgart, Baden-Württemberg. Hier geht es zum YouTube-Kanal der beiden, auf denen auch punktpunktkommastrich in voller Länge zu sehen ist.
Waldstück | Zwischendurch mal eine kleine musikalische Einlage, zum Besten gegeben von einem witzig animierten Pilz-Orchester, das Vater und Tochter bei Waldspaziergängen in Bildern eingefangen und am Computer zum Leben erweckt haben. | 2.06 Minuten, von Stella Raith (21) aus Ditzingen, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Die Schatten auf meinem Gesicht | Ein Mann erzählt offen von seinen Depressionen. Ein junge Frau findet dazu bedrückend schöne, schlichte Bilder. Dieser kurze Dokumentarfilm gehörte zu den relevantesten Beiträgen, insbesondere durch das Gespräch der Beteiligten im Anschluss an die Filmvorführung beim Bundes.Festival.Film. Eine lobenswerter Umgang mit einem Tabuthema, ein Film, der als Türöffner dienen kann. | 4.32 Minuten, von Ann-Kathrin Jahn (22) aus Winnenden, Baden-Württemberg. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Wunderland | Im blauen Wald erwacht ein gelb gekleidetes Mädchen. Um sie herum: verwirrende, exzentrische Figuren, die eine auf den Kopf gestellte Sprache sprechen. Was ist da los? Eine hintersinnige Hommage an jene Alice von Lewis Carroll. | 11.55 Minuten, von Tanja Hurrle (19, auf Vimeo aktiv) aus Dieburg, Hessen. Die Filmemacherin stand auch stellvertretend für Joschua Keßler (Detailverliebt) auf der Bühne und hat die Gesprächsrunden nach den Filmen um zahlreiche Fragen bereichert. Eine aufgeweckte Kreative, die uns sicher noch weitere spannende Projekt bescheren wird.
CHRIST/EL | Alte Super8-Aufnahmen, arrangiert zu einem Familienporträt. Ein Sohn erzählt in einiger zeitlicher und scheinbar auch persönlicher Distanz von seiner Heimat, seinen Eltern, seiner Jugendzeit. Doch immer wieder wartet er mit intimen Einsichten und Momenten auf – ein bemerkenswertes Werk! | 8.58 Minuten, von Andreas Grützner (54) aus Hamburg. Hier geht’s zu seiner Website.
Der Zombiehausstein | DAAA HABEN WIR DAS TRASH-FEST! Auf die Idee muss man erstmal kommen. Ein Stein wird als Hausstein in die Familie aufgenommen, bis er stirbt und beerdigt wird (so richtig mit Grabstein, wie es sich gehört). Eines Nachts aber erwacht er wieder, der blutrünstige Stein, und geht auf Menschenjagd. Das ganze Ding ist in Rückblenden erzählt, aus einer schwarzweißen, bierernsten Polizei-Verhör-Rahmenhandlung heraus. Großartig: Im Anschluss stellte doch tatsächlich ein Zuschauer die Logik des Films in Frage. Müsse ein Zombiestein nicht eher Jagd auf andere Steine machen, statt auf Menschen? Ja, stimmt. Ansonsten ist Der Zombiehausstein in Sachen Logik aber wasserdicht. Ein weiteres irrationales Verhalten seitens des domestizierten Steines. | 5.27 Minuten, von Fynn Boitin, Sophia Heldt und Leon Schlemminger (15) aus Düsseldorf, Wismar, Mecklenburg-Vorpommern. Weitere Infos + Filmausschnitt.
Sardinien | Ein junges Paar verbringt ein paar letzte gemeinsame Stunden, bevor er Richtung Sardinien abdüst. Hätte ein ach so entspannter Abend werden können, wenn da nicht die Kondome im Kulturbeutel wären. Grandios inszenierte Komödie, auf den Punkt gespielt von Marie Mayer und Konstantin Gerlach. Was haben wir gelacht, bei der Jurysitzung im März und jetzt im Thega Filmpalast, beim Bundes.Festival.Film. Dieser Streifen ist für ein großes Publikum gemacht. Obwohl ein gekonnt in sich geschlossener, schöner, kleiner Film, hätte Sardinien auch getrost als Szene einem Kinofilm entnommen sein können. So professionell ist der Film gemacht, so ausgearbeitet kommen die Figuren daher. Mehr davon! | 10 Minuten, von Alexander Conrads (25) aus Bad Vilbel, Hessen.
Hier geht’s zu einem Rückblick zu Tag 1 des 31. Bundes.Festival.Film. in Hildesheim.
Der Beitrag 31. Bundes.Festival.Film. in Hildesheim | Rückblick, Tag 2 erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag FORREST GUMP aus Jennys Perspektive | Film 1994 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Bei manchen Filmen ist die Sympathie-Lage nicht so ganz klar: In Karate Kid (1984) fiebert man eigentlich für, na ja, das Karate Kid mit. Allein How-I-met-your-mother-Legende Barney Stinson feierte seiner Auslegung des Filmklassikers nach Karate Kids Widersacher, den bösen Johnny. Bei Harry Potter (Bücher: 1997-2007, Filme: 2001-2011) sollte man meinen, alle Herzen flögen Harry und seinen Freunden zu. Doch erst gestern noch sah ich den Kurzfilm The Interviewer über ein Vorstellungsgespräch, das von einem jungen Mann mit Downsyndrom geführt wird – und eben dieser junge Mann begeisterte sich für Voldemort. Doch bis dato habe ich noch keinen Menschen über Forrest Gump sagen hören: Also ich bin im Team Jenny.
Gerade im Kontrast zu dem ultimativen Gutmensch Forrest zieht eine Frau wie Jenny, die ihn scheinbar nur ablehnt und ausnutzt und ablehnt und ausnutzt, einige Antipathien auf sich. Zu recht? Betrachten wir Forrest Gump mal durch Jennys Brille (ja, sie trägt keine, aber sinnbildlich, IN-SO-DUMM, verdammte Hacke!).
Hinweis: Liebe Leser*innen, hier fliegen euch mehr Spoiler um die Ohren, als Bubba Shrimps-Sorten aufzählen kann. Also lieber erst den Film schauen, dann nochmal vorbeikommen. Hier geht’s zu legalen Streaming-Angeboten von Forrest Gump.
Forrest Gump erzählt nicht nur die Geschichte seiner Hauptfigur (gespielt von Haley Joel Osmet und Tom Hanks), sondern auch die Zeitgeschichte, mit der diese Hauptfigur immer wieder interagiert. Forrest lernt Elvis Presley, John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon kennen. Er leistet seinen Beitrag zur Watergate-Affäre und brachte John Lennon auf die Idee für den Song Imagine. All das und mehr, worüber etliches geschrieben worden ist.
Bemerkenswert wäre noch, wie sehr Forrest Gump die Zeit- und Kinogeschichte noch über Kinostart und Filmende hinaus beeinflusst, bis heute. Zwei Jahre, nachdem Forrest Gump in die Lichtspielhäuser kam, wurde in Kalifornien die Restaurantkette Bubba Gump Shrimp Company gegründet. Sie trägt nicht nur den Namen sondern auch das Logo des Unternehmens aus dem Film und operiert inzwischen weltweit, mit 44 Niederlassungen. In einer davon arbeitete im Jahr 2000 ein junger Mann als Kellner, der von seiner Kundin – der kanadischen Schauspielerin Rae Dawn Chong – eine Rolle in deren Regie-Debüt bekam. So wurde der Schauspieler Chris Pratt entdeckt, der aktuell als Leinwandheld gegen Dinos kämpft, in Jurassic World: Das gefallene Königreich.
Und vergangenen Monat erst, da hat der britische Marathon-Läufer Rob Pope einen Weltrekord aufgestellt, in dem er die berühmte Joggingstrecke aus dem dritten Akt von Forrest Gump ablief: 422 Tage lang, 24.140 Kilometer, rund 24 Millionen Schritte. Dabei sammelte er Spenden in Höhe von knapp 37.000 Euro für wohltätige Zwecke ein. Frei nach Forrest Gump: Gut ist nur, wer Gutes tut.
Forrest Gump flog als VHS-Kassette bei uns rum, als aus dem Free-TV aufgenommene, illegale Raubkopie der 90er Jahre und zog schon früh meine Aufmerksamkeit auf sich. Meine Mama hat immer gesagt, die Kassette ist wie eine Schachtel Streichhölzer. Man weiß nicht, ob sie funktioniert. Tatsächlich kann ich mich nicht an das erste Mal erinnern, bei dem ich Forrest Gump in einem Rutsch ohne Störung und Unterbrechung durchgeguckt habe. Ich war jedenfalls noch zu jung, um die meisten der Anspielungen, Referenzen und zeitgeschichtlichen Ereignisse zu verstehen. Inzwischen habe ich den Film zig Mal gesehen und entdecke immer noch neue Details darin. Eine seltene Schönheit: Forrest Gump ist absolut gefälliges Mainstream-Kino und Crowdpleaser und trotzdem ein vielschichtiger, durchdachter, detailverliebter Film – ähnlich wie Titanic (1997).
Kurz vor Filmbeginn, nehme ich an, ist ein Vogel in eine Flugzeugturbine geraten. So oder ähnlich kommt es, dass eine Feder von hoch oben im Himmel auf die Erde niedersegelt. Begleitet wird sie von der Kamera und einer Klaviermelodie, von der ich öfter einen Ohrwurm habe, als von Kanye Wests Gold Digger (von dem es als white dude wirklich nicht cool ist, mitzusingen, weshalb ich tatsächlich lieber das Forrest Gump Theme von Alan Silvestri vor mir herpfeife…). Reinhören? Hier:
Die Feder landet vor den Füßen eines geistig beschränkten Mannes auf einer Parkbank. Einer dieser Typen, die wenn man sich zufällig neben sie setzt, prompt und ungefragt ihr ganzes Leben erzählen:
Hallo. Mein Name ist Forrest, Forrest Gump.
Der spektakuläre Werdegang des guten alten Forrest Gump ist ja hinlänglich bekannt. Springen wir direkt zu Jenny, Jenny Gump geb. Curran (gespielt von Hanna R. Hall und später von Robin Wright). Der junge Forrest lernt sie in einer Rückblende im Schulbus kennen, in Filmminute 13 (von 135), als »die süßeste Stimme der ganzen Welt« sagt:
Wenn du willst, kannst du hier sitzen.
Es braucht nicht viel kindlichen Smalltalk, ehe Jenny ihren Sitznachbarn fragt, ober er dumm sei oder sowas? Jenny ist es offenbar nicht. Aber Jenny ist ein Kind. Sie sieht Forrest nicht mit den Augen der Erwachsenen, die direkt die ganze Chancenlosigkeit im Leben des dummen Jungen antizipieren und ihn deshalb abschreiben oder umso hartnäckiger voranbringen wollen (wie seine Mutter). Jenny lebt im Hier und Jetzt und da hat sie eben diesen einen Schulfreund, der ein bisschen dumm ist und gehänselt wird, aber schnell laufen kann.
Im Hier und Jetzt ist es auch, da Jenny misshandelt wird, von ihrem alkoholkranken Vater. Ein »sehr liebevoller Mann«, wie der naive Forrest es aus dem Off beschreibt. Dauernd habe der Vater Jenny und ihre Schwestern gestreichelt und geküsst. Mehr erfahren wir nicht, können aber unsererseits, als erwachsene Menschen, direkt antizipieren, welche Tragweite solch ein Kindesmissbrauch für Jennys ganzes Leben haben mag.
Doch für uns Außenstehende, die vielmehr Forrests Leben mitverfolgen, gerät das erstmal in Vergessenheit. Forrest rennt sich an die Spitze des College-Footballteams, neuer Lebensabschnitt. Jenny sehen wir erst als Studentin wieder, die im Auto mit ihrem Freund anbändelt, bis Forrest interveniert. Er attackiert den Freund, verscheucht ihn dadurch, bleibt mit Jenny allein zurück. Im Zimmer ihres Mädchen-Colleges sitzen sie gemeinsam auf der Bettkante und Jenny zieht vor Forrest ihren BH aus. Sie legt seine Hand auf ihre Brust. Jenny meint es nur gut, will ihrem Freund eine Erfahrung geben, die er noch nicht machen konnte. Forrest scheint es arg unangenehm zu sein – und dann wirkt es, als sei er gerade gekommen (in den Bademantel von Jennys Zimmergenossin, wie wir in der Pointe dieser Szene erfahren).
Der kurze, seltsame Moment ist verstrichen und Jenny zieht den BH wieder an, während Forrest um Fassung ringt. Forrest, der junge Mann auf dem geistigen Niveau eines Kindes. Dass diese Szene auch als Missbrauch gesehen werden kann, wird umso deutlicher, wenn man sich die Situation mit umgekehrten Geschlechterverhältnissen vorstellt: Mit einem halbnackten Studenten, der die Hand seiner geistig beschränkten, verunsicherten Kommilitonin in seinen Schritt legt.
In der Szene umarmt und küsst Jenny ihren debilen Freund noch, ist heiter und scheint ihr Verhalten nicht als möglicherweise missbräuchlich zu deuten. Doch klug, wie Jenny eben ist, dürfen wir davon ausgehen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt darüber nachgedacht haben muss. Auch, dass sie sich durch ein solches Verhalten natürlich zum Gegenstand einer Obsession dieses jungen Mannes machen kann. Jenny aber, selbst Missbrauchsopfer, wird ihrerseits Schwierigkeiten damit haben, mit anderen Männern Nähe und mehr zu erleben (wie Jenny es, so die Vermutung, als Kind durch ihren Vater erfahren hat). Wir wissen wenig darüber, was in der jungen Frau vorgeht, welche inneren Kämpfe sie austrägt und sie schließlich auf die schiefe Bahn geraten lassen.
Forrest liebt Jenny. Das ist eine einfache Formel, die sich durch den Film zieht. Man mag sich darüber ärgern, weil Jenny ihm gegenüber doch so oft so abweisend ist. Doch was hat Forrest denn für Mädchen/Frauen in seinem Leben, von denen wir wüssten? Was wir wissen, ist das Jenny als Mädchen manchmal heimlich bei ihm übernachtete und ihn später als Studentin seine erste quasi-sexuelle Erfahrung hat machen lassen. Ihre langjährige Freundschaft hinzugenommen ist das mehr als genug, um seine hoffnungslose Liebe zu rechtfertigen. Danach landet Forrest in der Army, wo treudoofe Gefolgsamkeit das Leben leichter macht. Von Vietnam aus schreibt er Jenny unentwegt Briefe, ohne je eine Antwort zu bekommen.
Wen liebt Jenny? Die Männer, mit denen wir sie erleben, sind allesamt ziemlich ätzende Menschen. Als Zuschauer*in kommt man da schnell in die Versuchung, ihr zurufen zu wollen: Nimm Forrest, verdammt, entscheid dich für den herzensguten Gump!
Ich könnte mir vorstellen, dass Jenny als erwachsene Frau ihre Bedenken damit hätte, eine Liebesbeziehung mit einem Mann einzugehen, der im Geiste ein Kind ist und bleiben wird. Ein liebenswerter Junge, den emotional abhängig zu machen, ein Leichtes ist. Würde man es Jenny nicht als Missbrauch oder wenigstens Ausnutzen vorwerfen, wenn sie sich mit Forrest einlassen würde?
Als sie es später tut, folgt der Vorwurf des Ausnutzens auf dem Fuße – weil Forrest inzwischen reich und Jenny krank ist und es ja inzwischen das Kind gibt, das Jenny jahrelang vor Forrest geheim gehalten hat. Aber wieder aus Jennys Perspektive gedacht: Wird sie nicht, selbst nach Forrests wiederholter Liebeserklärung und ihrem ersten gemeinsamen Mal, gedacht haben: Wie solle das gehen?
Ob sie sich nun Sorgen über »die Leute« machte, die sich ihr Urteil über die Frau und ihren beschränkten Mann machen würden. Oder ob sie bei ihrem Verschwinden nach der Liebesnacht an Forrest gedacht hat, den sie nicht überfordern wollte, als Vater für ein Kind sorgen zu müssen, wo er doch selbst ein Kind ist. Oder ob Jenny eben durchweg nur an sich selbst gedacht hat und sich schlichtweg nicht abhängig machen wollte, auch nicht von ihrem nun millionenschweren, alten Schulfreund – wäre ihr das vorzuwerfen? Man steckt nicht in der Haut anderer Menschen, man kennt nicht deren ganzes Leben. In diesem Sinne, lasst Jenny in Ruhe.
Sophie Wing (One Room With A View) formuliert es am Ende einer lesenswerten Filmanalyse von Forrest Gump sehr treffend. Sie schreibt (übersetzt aus dem Englischen):
Die Dunkelheit wird uns nur angedeutet – Jennys sexueller Missbrauch als Kind, ihr Drogenkonsum, eine Reihe ausfälliger Freunde – aber obwohl das Publikum diese Dinge weiß, reflektiert der Film stets Forrests eigene Naivität. Sie liegt wie ein Schleier über dem Film. Obwohl das Wissen über die Dunkelheit da ist, lindert der optimistische Schleier all diese Fakten über Jenny und lassen sie weniger real erscheinen, als Jennys direkte und unmittelbare Interaktionen mit Forrest. Das Publikum adaptiert eine kindsgleiche Sichtweise von Schwarz und Weiß – Forrest ist gut, Jenny ist schlecht. Selbst diejenigen Zuschauer*innen, die eigentlich mit ihr sympathisieren würden, werden so hineingestrickst in die standfeste Meinung, dass Jenny ein Miststück aus der Hölle ist.
Viele interessante Figuren begleiten Forrest Gump durch den Film, von der Mutter und Bubba über Lt. Dan und eben Jenny. Wer Forrest Gump schon einige Male gesehen hat, mag es interessant finden, mal den Perspektivwechsel zu wagen. Wie erleben diese Randfiguren, gedanklich in den Mittelpunkt gestellt, den etwas einfältigen Forrest Gump als Mitmenschen, Wegbegleiter, Lebensabschnittspartner? Dadurch bekommt man ein Gefühl dafür, dass nicht nur die zeitgeschichtlichen Ereignisse im Laufe des Films von großer (historischer) Bedeutung sind, sondern auch die menschlichen Begegnungen, hinter denen jeweils ganzheitliche Individuen stehen. Eine kleine Filmübung, die man aufs eigene Leben übertragen kann, in dem man sich jeden Tag, jede Stunde selbst als Hauptfigur erlebt. Was ist mit den anderen Figuren, ringsum, welche Pralinen hat ihnen das Leben gegeben? Wie könnten sie schmecken? Süß, zartbitter oder mit einer harten Nuss in der Mitte?
Ein Film, den ich so oft gesehen habe und wiedersehen möchte, weil er mich mal in diese, mal jene Richtung zum Grübeln einlädt, ein solcher Film mag mir mal mehr, mal weniger gefallen. Aber es ist ohne Frage ein großartiger Film, der mehr als nur eine Geschichte erzählt, die man auf mehr als nur eine Art auslegen kann.
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Am Dienstag, 5. Juni trat die israelische Band theAngelcy um 20.30 Uhr im zakk – Zentrum für Kultur und Kommunikation – in Düsseldorf auf. Erst fünf Tage vorher hat Sonia via Facebook Wind davon bekommen. Und das, obwohl die Band schon Mitte Mai ihre aktuelle kleine Deutschland-Tour via Post angekündigt hat. Mit einem Bild von fünf der sechs Musiker*innen beim Fotoshooting mit Selfie-Stick, dazu kurz und knackig die Ansage: »Wir herüberkommen!« Gebrochenes Deutsch, das könnte Frontsänger Rotem Bar Or selbst geschrieben haben. Vor über zehn Jahren reiste er als Straßenmusiker durch Europa, lebte monatelang obdachlos in Frankreich und Deutschland, übernachtete in Parks, nur er und seine Gitarre im Schlafsack.
Von Mai bis November war das. Im November wurde es zu kalt. Also fand ich eine Freundin in Hamburg und blieb erstmal bei ihr. | Rotem Bar Or im Gespräch mit Jule Seibel, David Zimmermann (Philipp, aus dem Englischen übersetzt)
Von der Freundin in Hamburg lernte Rotem – das erzählte er beim Konzert in Düsseldorf – deutsche Wörter wie »Penner« oder »Saftsack« (»sack of juice«, übersetzte er für seinen Drummer Udi Naor, »sack of jews!?«, »no!«). Später am Abend fragte Flötist, Klarinettist (und so viel mehr) Uri Marom das Publikum, ob man noch »vielen Dank« sage, oder das altmodisch sei? Oder »Dankeschön« vielleicht? Es werde schon keine »Danke-Polizei« geben, meinte Udi, seinerseits im gebrochenen Deutsch. Die Band hat schon viele Abende hierzulande verbracht. Gesehen habe ich sie zum ersten Mal vor zwei Jahren, im Druckluft in Oberhausen. Damals standen wir, das Publikum, in einem überschaubaren Halbkreis um die Bühne verteilt und erlebten ein wundervoll intimes Konzert, erst von dem belgischen Indie-Pop-Duo Douglas Firs als Vorband, dann von dem erstklassigen Ensemble, das sich theAngelcy nennt. Schon damals mit heiterem Smalltalk und ruppigen Humor zwischen den Liedern.
Hier mein Konzertbericht vom 5. März 2016: Sechs Engel in Oberhausen
Dieses Mal kam theAngelcy ohne Vorband auf die Bühne, und in etwas anderer Besetzung: Den Kontrabass spielte, statt wie bei meinen bisherigen theAngelcy-Konzerterlebnissen (neben Oberhausen sah ich die Band am 21. April 2017 im Treibsand, Lübeck) nicht die Musikerin Gal Maestro, sondern der Mann, der hier kurz dem Konzert rechts neben Drummer Udi in die Kamera lächelt. Nicht.
Übrigens: Udi Naor ist auch als Fotograf unterwegs, hier geht es zu seiner Foto-Website.
Zum Auftakt an diesem Abend im gut besuchten zakk spielte die Band den Song Rebel Angel, der vermutlich speziell als Auftakt-Song für Live-Auftritte geschrieben wurde. Rotem Bar Or singt in seiner unverkennbaren Stimme:
I work for the angelcy,
can’t you see how sweet I can be?
I’m a killer,
I kill with words […]
Der selbsternannte Killer ist tatsächlich ein eher pazifistisch anmutender Poet, der in Texten von bemerkenswerter Klarheit seiner Traurigkeit kundtut. Sei es über die Politik des Staates Israel, sei es über den Krieg oder die menschliche Dummheit im Allgemeinen. Neben Liedern ihres Albums Exit Inside (2016) – etwa meinem Lieblingssong Secret Room oder auch People of the Heavens, das mit an Klapperschlangen in Wüsten erinnert – gaben theAngelcy viele neue Stücke zum Besten. Das zweite Album ist in Arbeit, »im Januar kommen wir wieder«, versprach Rotem. In einem der neuen Lieder sang er (sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiert):
We don’t need no holy land
We just need a home
Und dass, wenn Menschen ein Land wären, er selbst ein Fluss sein wolle. Zeilen und Bilder wie diese sind es, die dem instrumentalen Feuerwerk, das die sechs großartigen Musiker*innen auf der Bühne abliefern, das Krönchen aufsetzen. Neben Rotem, Udi, Uri und dem Mann am Kontrabass singen und spielen noch Maya Lee Roman als tanzlustige Streicherin und Mayaan Zimry mit. Letztere steht die meiste Zeit mit Udi hinterm Drumset. Wenn sie nach vorne kommt und an Rotems Seite tritt, dann für ein wundervolles Duett: Giant Heart. Die Band kommt als derart eingespieltes, kongeniales Team daher, dass man kaum glauben mag, dass sich diese Konstellation erst vor ein paar Jahren so gefunden hat.
2010, als Rotem Bar Or nach seinen vier Lehr- und Wanderjahren als Straßenmusiker in Europa (und Asien, laut Deutschlandfunk Kultur) in die Heimat Tel Aviv zurückkehrte, nahm sein Schaffensdrang eine Richtung an. Mithilfe von Freunden und seines damaligen Managers Yaron Gan machte er sich an die Zusammenstellung einer Band. Wer theAngelcy live erlebt, merkt ziemlich deutlich, dass die Ansprüche an die Mitglieder dieser Band-to-be nicht eben niedrig waren. Im Jahr 2011 gab es sie dann endlich, die Band theAngelcy (so übrigens auch die seitens der Künstler*innen gewünschte Schreibweise).
Der Begriff stand lange davor für einen Song-Zyklus, für ein lyrisches und musikalisches Universum des noch obdachlosen und unbekannten Rotem Bar On, ehe daraus der Name seiner Band werden würde. Zwei der sechs Musiker*innen verließen über die vergangenen sieben Jahre das Ensemble und wurden ersetzt, doch im Kern und Klang blieb theAngelcy sich bis heute treu, was auch immer das heißt. Die Musikvideos der Band zum Beispiel könnten stilistisch unterschiedlicher kaum sein. Besonders aus dem Rahmen fällt das Video zum neusten Lied I worry. Es sorgen sich: Ein Mädchen und ein Kampffisch. Oder ein Mädchen über den Kampffisch? Oder nur das Mädchen und der Kampffisch ist ein Symbol für… ach, schaut doch selbst.
Im Interview mit Noemi Schneider (Deutschlandfunk Kultur) gab Rotem Bar On einen für seine Musik bezeichnenden Kommentar ab:
Die Leute haben gesagt: Ich sei talentiert aber, ehrlich gesagt, wenn du jemandem einen Song vorspielst und der sagt dann: »Wow du hast Talent, dass muss im Radio laufen«, dann ist das genau die falsche Reaktion, die richtige Reaktion wäre, wenn die Person weint.
Bevor Sonia und ich gemeinsame Wege gingen, pflegten wir eine Brieffreundschaft und eine Spotify-Playlist. Darüber führten wir einen Gedankenaustausch, der sich mal im Prosa der Briefe, mal in den Lyrics der Lieder ausdrückte. Für Letzteres stöberten wir nach Songtexten und Stimmungen, um die Zeilen und Rhythmen der oder des Anderen aufzugreifen…
We don’t have to talk, let’s dance | aus: Edward Sharpe’s Better Days, hinzugefügt von mir, eines Tages
Give me touch, cause I’ve been missing it | aus: Daughter’s Touch, hinzugefügt von ihr, am darauffolgenden Tage
Und so weiter. Man muss es sich wie ein musikalisches Ballspiel vorstellen, hin und her und hinhören, welche Botschaft wohl im neuen Lied mitschwingt. Schrecklich romantischer-kitschiger Kram natürlich, aber so stolpert man eben über ein Kollektiv von Musiker*innen, die sich Agentur der Engel nennen. Sonia hat mir ihren Spotify-Fund über das Lied Secret Room näher gebracht, vor ein paar Jahren. Seitdem feiern wir diese Perle von einer Band – und freuen uns auf das nächste Album!
If you want my future, take my painful memories,
if you want my beauty, take my disease,
and if you want my passion, take my violence,
if you want to be with me, take my loneliness,
take it all. | aus: Secret Room
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Vor dem Schnittbericht erst noch einmal aus dem Drehbericht vom 9. Mai kurz zusammengefasst. Also: Umgesetzt haben wir unseren Kurzfilm AMUREUS KISS in einem frisch bezogenen Aachener Apartment. In dem sollte noch ne Wand schwarz gestrichen werden. Das bauten wir kurzerhand in die Filmhandlung ein. Damit übernahm der Cast das Streichen (obwohl nach Drehschluss noch ein klitzekleines bisschen nachgestrichen werden musste, wie der fertige Kurzfilm erahnen lässt). Vor der Kamera standen neben Jesse Albert (als Alex) und Stephanie Jost (als Zoey) die Kölner Schauspieler Florian Gierlichs (Noah), Swantje Riechers (Fiona) und Juliana Wagner (Mia). Idee war, das junge, Frust schiebende Ehepaar Alex und Zoey mit ein paar Freunden zu konfrontieren. Diese fegen wie ein Wirbelsturm um sie herum und bringen neuen Schwung in festgefahrene Fronten!
Noah (Florian Gierlichs) ist dabei mehr als nur ein alter Kumpel von Alex. Der hat sich ja schon im Kurzfilm TCHINA WURM (2015) als »schwul oder bi – auf jeden Fall verwirrt« geoutet. Tatsächlich kommt es aber nicht nur zwischen den beiden Jungs im Laufe des Abends (an dem mehr getrunken als gestrichen wird) zu amourösen Annäherungen. Sondern irgendwie zwischen allen. So ein bisschen.
Gedreht haben wir den lieben langen Tag, von morgens 9 Uhr bis spätabends. Mit anschließender Drehschluss-Party, bei der die halb vollendete Wand fertig gestrichen und alle Flaschen leer gemacht wurden. Man soll einen Drehort ja ordentlich verlassen…
Das erklärte Ziel lautete, an einem Tag einen Kurzfilm zu drehen. Bloß, dass ursprünglich ein Film von 9 Minuten Spieldauer geplant war. Weil die ersten beiden Teile dieser Quasi-Kurzfilm-Trilogie (Teil 1: TCHINA WURM, Teil 2 JAW CHILLI) eben je 9 Minuten dauerten und man ja noch seine Neurosen haben dürfen wird. Na, wie dem auch sei, Pustekuchen! Das Konzept »Improvisation« hat etwaige Planungen gesprengt und aus 9 Minuten wurden rund 20 Minuten, die aus diesen 24 Stunden inklusive Aftermath, Pennen und Aufräumen hervorgehen. Wobei nur zwei Bilder im Film – gegen Ende – erst am nächsten Morgen entstanden sind: Die durchs Fenster blinzelnde Sonne und die fertig gestrichene Wand…
Kaum daheim am Schnittplatz, wollte ich mich direkt ans Sichten des Materials machen. Das gestaltete sich aufgrund der Menge an Material als knifflig. Nicht nur, dass wir am Drehtag wirklich fleißig waren und etliches Improzeugs ausprobiert haben. Gedreht wurde außerdem in 4K, einer sehr hohen Bildauflösung. Einfach nur, weil die Kamera es kann. Dabei entstehen immense Datenmengen (allein für AMUREUS KISS kam über 1 Terabyte an Rohmaterial zusammen). Dafür hat man hochwertigeres Footage, aus dem in der Nachbearbeitung mehr herauszuholen ist. Und seien es nur schöne Standbilder wie diese hier:
Weitere Standbilder in Original-Auflösung gibt es hier zu sehen.
Sind das nicht ein paar wunderhübsche Menschen, die wir da vor der Kamera versammelt haben? Und charismatisch und witzig und hach, ein Haufen zum Verlieben. JEDENFALLS: 4K heißt vier Mal so groß wie HD heißt jede Menge Gigabyte heißt Speicherplatznot. Ich möchte in diesem Schnittbericht nicht zu sehr auf langweilige technische Details eingehen. Verkürzt gesagt dauerte es nach Drehschluss noch eine Woche, ehe ich meinen heimischen Arbeitsplatz soweit aufgerüstet hatte, dass ich das Material doppelt sichern und endlich sichten konnte. Ach, darum hätte man sich ja auch vor dem Dreh mal kümmern können, meinst du!?
Kommen wir zum eigentlichen Schnittbericht… nach dem technisch kniffligen Part kam die künstlerische Herausforderung: Wie schneidet man einen Improfilm? Zunächst ist es ja kein reiner Improvisationsfilm wie der Mumblecore-Klassiker Hannah Takes the Stairs mit Greta Gerwig (2007). Einige Szenen und Übergänge basierten auf einem geskripteten Dialog, der zumindest als dramaturgische Richtschnur dienen sollte. Wie sehr sich daran gehalten wurde, mag bei Interesse jede*r für sich selbst nachlesen, hier gibt’s das Drehbuch zu AMUREUS KISS als PDF. Nun glichen unsere Dreharbeiten auch nicht denen des deutschen Mumblecore-Films Papa Gold von Tom Lass (2011), bei dem angeblich kein Take wiederholt wurde. Bei der Vorstellung schaudert’s mir regelrecht. Ich gehöre zu den Filmemachern, die lieber ein paar Takes zu viel von einer Szene machen. Man mag argumentieren, damit verbraucht sich die Frische des Spiels oder Authentizität oder sonstwas. Spätestens am Schnittplatz bin ich froh, ein wenig Auswahl zu haben.
Kurzum: Ich hatte eine Handvoll Szenen vor mir, die wir allesamt mehrmals aus verschiedenen Einstellungen gedreht haben, zum Teil lose auf einem Drehbuch basierend, zum größeren Teil frei improvisiert, zuweilen von Take zu Take unterschiedlich. Mir persönlich hat diese variationsreiche und freie Arbeitsweise sehr gefallen. Die Szenen sind in sich weniger rund, da ihre Anfänge und Enden weniger streng durchkomponiert sind. Stattdessen fühlen sie sich alltäglicher und damit echter an. Alltäglich heißt jedoch auch banal, daher kam es am Ende auf Auswahl und Blickwinkel an.
Wie soll von diesem Abend unter Freunden erzählt werden, damit sich daraus eine Geschichte ergibt, die trotz offener Szenen eine runde Sache ist?
Denn »rund« ist wichtig, denke ich. Diesen Anspruch stelle ich an einen Storyteller, dem ich meine Aufmerksamkeit schenke. Nach der Geschichte soll sich das Gefühl einstellen, ein dramaturgisch durchdachtes Werk oder (in Serien gedacht) Kapitel gesehen zu haben. Das hat nichts damit zu tun, ob der Ausgang eines Handlungsstrangs offen bleibt oder alle Fragen beantwortet werden. Letztlich ist keine Geschichte jemals zu Ende erzählt. Aber eben deshalb könnte ich eben so gut einfach aus dem Fenster sehen, das Leben betrachten, den zig Geschichten um mich herum folgen, die sich ständig und gleichzeitig abspielen, daran die schönen Momente entdecken.
Warum einen Film sehen? Weil ein Film, sofern gelungen, eben »rund« ist. Heißt: das Leben und seine Geschichtenvielfalt verdichtet und einen Fokus gelegt auf die schönen oder bemerkenswerten Momente. Na, man kann viel darüber reden und hat am Ende doch nichts gesagt. Die lieben Leser*innen mögen selbst entscheiden, ob es im Fall von AMUREUS KISS geklappt hat, diesem eigenen Anspruch gerecht zu werden.
Der fertige Film ist nun auf YouTube zu sehen. Wenn er gefällt, würdest du mir einen großen Gefallen damit tun, meinen YouTube-Kanal weiterzuempfehlen und bestenfalls selbst zu abonnieren (ein kleiner Klick für dich, ein großer Schritt auf meinem Weg in den »Selbständig von Webcontent leben können«-Modus – und ein fettes DANKE vorweg!). Hier ist er, unser Kurzfilm AMUREUS KISS:
Kein Schnittbericht ohne ein Wort zur Audiospur! Als Fan der isländischen Band Sigur Rós bin ich vor rund 10 Jahren auf ein inoffizielles Musikvideo zu dem Song Inní mér syngur vitleysingur aufmerksam geworden. Es zeigt einfach nur zwei Frauen und einen Mann im Auto, wie sie auf das Lied abgehen. Sehr sympathisch, macht gute Laune. Es hat mich auf weitere Videos des Mannes aufmerksam gemacht, der darin die Kamera »führte« (wenn man das bei dem spontanen Beifahrer-Dreh so sagen kann). Sein Name ist Pavel Ruminov, ein russischer Regisseur, der neben solch rauen Musikvideos in Homevideo-Ästhetik auch wundervolle, preisgekrönte Spielfilme dreht.
Außerdem ist der Tausendsassa als Musikproduzent unterwegs. Er arbeitet unter anderem mit der russischen Band Sherlock Blonde zusammen. Deren großartig stimmungsvoller Sound floss bereits in die Kurzfilme TCHINA WURM und JAW CHILLI mit ein. Für AMUREUS KISS habe ich nun einmal mehr auf das kongeniale Duo Pavel Ruminov und Natalya Anisimova (die Frontsängerin von Sherlock Blonde und Schauspielerin in Pavel Ruminovs Filmen) zurückgegriffen und drei Songs verwendet, die sie unter dem Bandnamen To Live And Die In Moscow herausgebracht haben. Seit fünf Jahren stehe ich mit Pavel im Mailkontakt, bin begeistert von seinem Antrieb und Schaffen und sage DANKE!, dass wir diese tolle Musik verwenden dürfen.
Doch AMUREUS KISS lebt nicht nur von den drei russischen Songs, sondern auch einem besonderen Score. Die instrumentale Untermalung diverser Szenen stammt von dem Musiker Konstantin Reinfeld. Diesen lernte Hauptdarsteller und Moderator Jesse Albert beim SpokenWordClub in Köln kennen und brachte seine Musik ins Gespräch. Als Mundharmonikaspieler und Komponist hat Konstantin Reinfeld 2015 das Album Algiedi herausgebracht, aus dem ich schließlich eine herrlich abwechslungsreiche Auswahl an Songs für AMUREUS KISS verwenden durfte. Auch dafür vielen Dank! Hier geht es zur offiziellen Website von Konstantin Reinfeld.
Ist AMUREUS KISS nun ein Mumblecore-Film geworden, wie ursprünglich geplant? Ehrlich gesagt, fürchte ich, nicht ganz. Dafür tragen Inszenierung, Tempo und Musikeinsatz zu sehr die aufdringliche Handschrift, die sich schon in TCHINA WURM und JAW CHILLI abgezeichnet hat. Der Kurzfilm erfüllt einige Mumblecore-Elemente, ist jedoch nicht rein genug, um als echter Mumblecore zu gelten. Dazu hätte es mehr Mut bedurft, das Tempo weiter herausnehmen und die Zügel in Sachen Dramaturgie noch mehr aus der Hand zu geben. Schnittbericht Ende.
In jedem Fall aber war es ein spannendes Projekt! Danke an alle Beteiligten, es war mir eine Freude und Ehre, mit euch zusammenzuarbeiten! Oder mit den Worten Sherlocks:
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Während die HBO-Serie The Wire seit 2008 als »beste TV-Serie aller Zeiten« aus dem Gespräch gedrängt wurde, weil es zu viele neue »beste TV-Serie aller Zeiten« gibt, schien der Platz für »Beste Sitcom aller Zeiten« für alle Zeiten belegt: Friends for the win! Selbst die Sitcom How I Met Your Mother, die Vieles aus Friends gut kopiert und umso mehr Eigenes neu hinzugefügt hat, schubste ihr übergroßes Vorbild nicht vom Thron. Zu vermurkst war die letzte Staffel, das Serienfinale geradezu legen… warte, es kommt gleich… där daneben.
Seit Anfang 2018 ist Friends auf Netflix zu sehen, begeistert aufgenommen von etlichen Fans, die jede Folge kennen und trotzdem immer wieder reinschauen. Doch mit diesen Hardcore-Fans knüpft sich derzeit ein neues Publikum die Serie vor. Das Urteil der späten Millennials und Generation Z fällt dabei nicht gerade gnädig aus.
Hinweis: Liebe Leser*innen, hier gibt’s keine Spoiler. Aktuelle Streamingangebote der Serie Friends findet ihr bei JustWatch.
Sarah Gosling hat es für The Guardian im Januar 2018 gut auf den Punkt gebracht: Nicht viele Dinge werden mit dem Alter besser. Von Wein, Käse und George Clooney mal abgesehen. Und so hat auch die Serie Friends inzwischen ein paar Witze auf Lager, die uns so unangenehm sind, wie manch Witze von Eltern eben sind (all die Serienbabys, die die Friends geboren haben, würden heute derjenigen Generation angehören, der Friends unangenehm wird – ist das ein Friends-Problem oder ein Generationen-Problem?). Ausgestrahlt wurde Friends von 1994 bis 2004, ein Jahrzehnt, in das die Anschläge vom 11. September und die völkerrechtswidrige US-Invasion im Irak fallen.
Ein Film zum 11. September 2001 ist, wenn auch indirekt, Jennifer Morrisons Sun Dogs (2017) – hier geht’s zur Filmkritik.
Die erste Friends-Episode, die nach 9/11 ausgestrahlt wurde – Folge 1, Staffel 8, am 27. September 2001 – schließt mit einer Widmung am Ende ab, in weißer Schrift auf schwarzem Grund: »To the people of New York City«. Politischer wird’s nicht. Episode 3 derselben Staffel (The One Where Rachel Tells…) wurde extra geändert und eine ganze Szenenfolge rund um Chandler und Monica am Flughafen neu gedreht, weil etwaige Bombenwitze zu nah am tragischen Zeitgeschehen waren (für sich genommen ist die Szenenfolgen, die nachträglich veröffentlicht wurde, wohlgemerkt ziemlich witzig – überzeugt euch auf YouTube). Trotz einiger dezenter Gesten in Bezug auf das Post-9/11-New-York, etwa in Form von Aufdrucken auf den Klamotten der Serienfiguren, hat sich Friends stets bemüht, absolut unpolitisch zu bleiben. Schon in den 90er Jahren liefen weder Nachrichten im Hintergrund, noch gab es sonstige zeitgenössische Referenzen.
Doch die Zeit reißt heile Welten ein: Seit Friends in einer Gegenwart von Gedanken-Livestreams via Hashtag-Debatten online neu rezipiert wird, ist die Serie als politischer denn je im Gespräch – oder vielmehr: als politisch unkorrekt. Mehr dazu im Close-up weiter unten.
Als ich im Jahr 2008 gerade in den Abiturprüfungen steckte, kam mir der Gedanke: Jetzt sei doch ne gute Zeit, mit dem systematischen Suchten von Serien anzufangen. Offiziell rechtfertigte ich es mir selbst und meinen Eltern gegenüber als »Englisch lernen«. Aber offensichtlich professionalisierte ich bloß meine Prokrastinations-Methoden. Immerhin sah ich Friends – bis dato nur sporadisch im deutschen FreeTV mitverfolgt – erstmals im Ganzen und im Original. Wer nicht gerne Serien im (englischen) Original sieht, lasset euch gesagt sein: Friends ist prima geeignet, um damit anzufangen! 2 Gründe:
Erstens ist das Englisch in Friends durch die vielen alltäglichen Situationen in der Serien nicht zu schwer. Professor Alexander Argüelles (der Dutzende von Sprachen spricht) schätzt das Vokabular, das im Alltagsgebrauch einer Sprache genutzt wird, auf nur rund 750 Wörter. Mit denen hat man in Friends schnell Bekanntschaft gemacht (die meisten kennt man ja doch schon irgendwie aus dem Schulunterricht) und erlebt in der Serie den kreativen Umgang mit ihnen.
Zweitens ergibt sich in Friends ein deutlicher Mehrwert, wenn man sich die Serie im Originalton gibt. Die Stimmen klingen echter (na ja: weil sie es sind) – und die Gagdichte ist deutlich höher. Hut ab an die Verantwortlichen der deutschen Synchronfassung, sie haben einen guten, undankbaren, selten gewürdigten Job gemacht. Doch Friends lebt von vielen starken Wortspielen, die bei der Übersetzung natürlich verloren gehen (müssen, weil sie in der Sprache verankert sind). Um dem Vorausgegangenen noch etwas Glaubwürdigkeit zu verleihen, möchte ich mir an dieser Stelle die Blöße geben, meine Englisch-Fähigkeiten zu Schulzeiten mit einem Wort zu beschreiben: nicht vorhanden. (Fun fact: Meine Mathe-Fähigkeiten sind’s heut noch nicht!)
Während ich mir damals noch die DVDs einer Freundin geliehen habe (und mir irgendwann meine eigenen DVDs kaufte), sah ich Friends nun bei der x-ten Sichtung erstmals als Stream via Netflix. Dass die Serie dafür von 4:3 auf 16:9 eingepasst wurde (was bei dem Gesamtkunstwerk The Wire einst zu einem Aufschrei führte), juckt eher niemanden. Friends ist vieles, aber kein großes Kino. Da kann man ruhig mal was vom Rand abschneiden, bestenfalls das Mikrofon, das nicht selten sichtbar am oberen Bildrand rumlungert.
Die Sitcom Friends beginnt mit einer Kamera-Kranfahrt aufs Schaufenster des Cafés Central Perk. Diese Einstellung wird uns noch gefühlt eine Million Mal wiederbegegnen, denn beim Central Perk handelt es sich um das Stammlokal der sechs Freunde, die wir im Folgenden kennenlernen sollen. Wir hören ihre Stimmen schon aus dem Off, ehe zur Totale von der berühmten Friends-Couch geschnitten wird (bemerkenswerte Abweichungen im englischen Original-Dialog in Klammern).
Monica: Da gibt es nichts zu erzählen. Wir arbeiten zusammen, sonst nichts.
Joey: Erzähl mir nichts. Du gehst mit diesem Kerl aus, irgendwas muss doch an ihm faul sein, Monica.
Chandler: Hat der Typ vielleicht ’n Buckel und ein Tourpet?
Phoebe: Hey wartet, frisst er Kreide? Es wäre schrecklich, wenn sie das Gleiche durchmacht, wie ich mit Karl.
Monica: Okay, regt euch nicht auf. Es ist kein Rendevouz, versteht ihr? Wir beide werden nur essen gehen und dann trennen sich unsere Wege. (O-Ton: It’s just two people going out to dinner, not having sex.)
Chandler: So läuft’s bei mir auch immer… (O-Ton: Sounds like a date to me.)
Das harmlose Geplänkel geht weiter, bis Ross auftaucht. Der Bruder von Monica und als männlicher Part der tragenden Lovestory in Friends sozusagen der eigentliche, tragische Held der Serie – und der Charakter, der für den meisten Diskussionsstoff sorgt. Mit trauriger Miene und einem Regenschirm in den Händen begrüßt der begossene Pudel seine Freunde:
Ross: Hi…
Joey: Wenn dieser Kerl Hi sagt, möcht ich ihn am liebsten umbringen. (O-Ton: This guy says hello, I wanna kill myself.)
Monica: Ross, hast du irgendwas?
Ross: Ich fühle mich, als hätte man mir in den Rachen gegriffen, meinen Dünndarm gepackt, ihn mir mit Gewalt aus dem Mund gezogen und um den Hals gewickelt.
Chandler: Kekse?
Monica: (zu allen) Carol ist heute ausgezogen.
[…]
Ross: Ich komm schon allein zurecht. Ich wünsch ihr alles Gute für ihr zukünftiges Leben.
Phoebe: Du lügst.
Ross: Stimmt. Zur Hölle mit ihr, sie hat mich verlassen!
Joey: Dir ist nie aufgefallen, dass Carol lesbisch ist?
Ross: Nein! Und eure ewige Fragerei bringt mich noch in Schwulitäten!
Die Kritik an Friends bezüglich politischer Inkorrektheit setzt schon bei dieser ersten Szene ein. Es wird nicht mehr als zeitgemäß, geschweige denn cool oder lustig empfunden, einer Clique von heterosexuellen Weißen der wohlhabenderen Mittelschicht dabei zuzusehen, wie sie über Homosexuelle reden und scherzen wie über Außerirdische. Immer wieder im Verlauf der Serie machen insbesondere die Männer der Runde deutlich, dass sie auf keinen Fall für schwul gehalten werden wollen. Und auch Menschen der Transgender-Community und Übergewichtige bekommen in der Serie ihr Fett weg – auf eben so plumpe Weise, wie dieses Wortspiel.
Dass Friends dabei auch herrliche verzwickte Plots und großartige Pointen für alle Gemüter mitbringt, fällt bei aktuellen Diskussion etwas unter den Tisch. Man kann es dem jungen Publikum nicht verübeln. Ich selbst (*1989) hatte das zweifelhafte Glück, die Serie beim ersten Mal ohne ein solch geschärftes Bewusstsein für Diskriminierung und Sexismus zu sehen, wie es heute im öffentlichen Diskurs vorausgesetzt wird (wenn man gesellschaftlichen Fortschritt leben will – ist ja auch nicht jedertrumps Sache.)
So sehr sich Friends also beste Mühe gegeben hat, zeitlos zu sein und bleiben, ist die kulturelle Standortverbundheit einer Situation Comedy nicht zu verschleiern. Als die Serie 1994 an den Start ging, hätte niemand in Amerika geglaubt, noch selbst einen schwarzen Präsidenten zu erleben. Es gab kein Facebook, kein Twitter, keine Hashtags zur Lenkung der Aufmerksamkeit. Das war bevor das Internet salonfähig wurde. Die isolierende »Bubble« vor der heute in Hinblick auf personalisierte Newsfeeds gewarnt wird, die war 1994 noch vielmehr gegeben: vom persönlichen Umfeld, der Nachbarschaft oder anderen kleinen Gemeinschaften, in denen sich das Leben abspielte.
All sowas kann man sagen, um die doch etwas präsente Diskriminierung von Randgruppen in Friends als »zeitgemäß gerechtfertigt« abzutun. Das ändert nichts daran, dass zukünftige Generationen die Serie nicht mehr so sehen können, wie Generation X und (die frühe) Y – ebenso, wie man Die Bill Cosby Show nicht mehr sehen kann, ohne die Hauptfigur als vielfachen Sexualstraftäter im Hinterkopf zu haben.
An sich ist es eine schöne Entwicklung, dass das junge Publikum so sensibilisiert ist gegenüber Diskriminierung in der Popkultur und schnell mal die rote Karte zeigt. Andererseits frage ich mich, wenn ich den Online-Debatten (auch über etwaige Rassismus-Vorwürfe gegenüber Friends) so folge: Wo waren all die Verfechter politischer Korrektheit, als der sexistische, behinderte-nachäffende Rassist Donald Fucking Trump ins Amt gewählt wurde? Denn die politische Korrektheit in der Popkultur – den kulturellen Erzeugnissen des populus (Volkes) – muss per definitionem DIE POLITIK zu ihrem Maßstab nehmen. Und an dem gemessen, was sich »Weltpolitiker« dieser Tage um die Ohren zwitschern, ist Friends eine Hymne an die Menschlichkeit.
Bleibt zu hoffen, dass all die Kids, die seit 2000 geboren werden (und damit seit eben diesem Jahr nach und nach volljährig und wahlberechtigt werden), die politische Korrektheit, nach der im Internet so gern geschrieen wird, auch wieder zurück in die Politik bringen. Wenn das der Fall ist, kann ich als großer Friends-Fan gut damit leben, dass meine alte Serien nicht mehr ganz so cool ist.
Das Schöne an Friends ist: Die Serie bleibt, was sie ist – ein in sich geschlossenes Werk. Das Spin-Off über Joey (2004-2006) lässt sich ignorieren. Ernsthafte Neuauflagen stehen nicht zur Diskussion und sollte tatsächlich eine Art Revival mit den Schauspielern von damals kommen, ist der zeitliche Abstand zum Original inzwischen groß genug. Friends bleibt Friends. Ob man diese Serie nun gut findet, ist jedem und jeder selbst überlassen. Ich schlage mich dabei auf die Seite der wortgewandten Sarah Gosling, die den Friends-Verächtern Folgendes zu sagen hat (übersetzt aus dem Englischen):
Bevor ich Friends sah, habe ich noch nicht von »Trans« gehört und wusste nichts über Homosexualität oder Gender-Politik. […] Als »rechthaberisches« Kind ermutigte es mich, Monica ebenfalls so zu erleben – und dass sie von ihrer Clique trotzdem respektvoll behandelt wurde. Ich sah Joey, Chandler und Ross dabei zu, wie sie »Ich liebe dich« zueinander sagten und mit ihren Gefühlen darüber haderten, wie Männer sich verhalten »sollten«. Ich sah Ben liebevoll von zwei Frauen großgezogen werden und erlebte Rachel als unverheiratete und nebenbei arbeitende Mutter eines Babys. Phoebe zeigte mir, wie sie mit dem Selbstmord ihrer Mutter umging und sich als Frau ihre sexuelle Freiheit behielt, wie sie sonst nur Männern vorbehalten scheint. Selbst heute ist das keine kleine Sache.
Ja, Friends ist überholt, und es sollten definitiv mehr Randgruppen im Cast vertreten sein. Aber die Themen in der Serie bleiben relevant. Menschen hadern immer noch mit Größen, Sexualitäten, Weiblichkeit. In einer der Episoden, über die am meisten gemeckert wird, hat Ross ein Problem mit einem männlichen Babysitter. Ross fragt ihn, ob er schwul sein, will ihn nicht einstellen und lästert über ihn. Millennials kritisierten das als homophob – ich stimme zu. Was dabei unterschlagen wird, ist dass Ross später offenbart, dass dieses Verhalten in seinen eigenen Problemen mit schädigender Maskulinität begründet liegt. Damit ringen viele Männer noch heute. Wie sollen wir uns jemals in ein gebildetes, ehrliches Umfeld verwandeln, wenn wir komödiantische Dialoge dauernd eintauschen gegen Monologe vorgefertigter Reden?
[PS: Wenn man genau hinschaut, wird auch die Transgender-Community so respektvoll behandelt, wie es ein humoristisches Format aus den 90ern eben zulässt. Dass Chandler seine Probleme mit dem Transgender-Papa hat, wird als in etwaigen Komplexen aus der Kindheit begründet offengelegt. Und Monica geht absolut cool und tolerant mit dem Umstand um, dass Chandlers Vater eben als Frau lebt – ihr lieben Läster-Millennials, bleibt bitte fair beim Austeilen eurer Kritik an Menschen, die ohne Internet aufwuchsen.]
Der Beitrag FRIENDS und politische Korrektheit | Serie 1994-2004 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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