Jahre – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Jahre – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 Märchenoma Ursula Enders aus Bocholt-Suderwick | 1926-2018 | Nachruf http://www.blogvombleiben.de/nachruf-maerchenoma-ursula-enders/ http://www.blogvombleiben.de/nachruf-maerchenoma-ursula-enders/#respond Mon, 06 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4663 Am vergangenen Freitag, 3. August ist Ursula Enders gestorben. Daheim, in der Wohnstube des ehemaligen Bauernhaus…

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Am vergangenen Freitag, 3. August ist Ursula Enders gestorben. Daheim, in der Wohnstube des ehemaligen Bauernhaus an der Keminksweide. Wer je an diesem Haus im grünen, grenznahen Hinterland vorbeigefahren ist, wird es schon von weitem gesehen haben: Dort wohnt jemand Besonderes. Den Menschen aus Suderwick, Bocholt und Umgebung, bis in die Niederlande, war Ursula Enders vor allem als die »Märchenoma« oder »Sprookjes Oma« bekannt. Ihrer Leidenschaft, Geschichten zum Leben zu erwecken, frönte sie bis ins hohe Alter. Ursula Enders wurde 92 Jahre alt.

Die lebendige Erzählerin

Als die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit anfingen, im Volksmund verbreitete Märchen und Sagen zu sammeln, da stießen sie auf Menschen wie Dorothea Viehmann. Eine rüstige Frau jenseits der Fünfzig, die nach dem Tod ihres Mannes für sich und ihre sieben Kinder zu sorgen hatte. Wilhelm Grimm schrieb über Dorothea:

Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß […]. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. 

Wilhelm Grimm, in: Kinder- und Hausmärchen, Band 1 (1819)

Eben diese Worte kann man heute, knapp 200 Jahre später, auf Ursula Enders anwenden. Wenn sie sich hinsetzte, um ihrer Hörerschaft von Rotkäppchen und Co zu erzählen, dann konnte man sehen, wie die Geschichten vor ihrem inneren Auge lebendig wurden. Doch die Märchenoma war nicht nur eine tolle Erzählerin. Sie war ein Energiebündel, eine Macherin – und eine unglaublich warmherzige Persönlichkeit. Dabei war ihr Lebensweg wahrlich kein leichter.

Die Schauspielerin Anni C. Salander mit Märchenoma Ursula Enders.

Das Mädchen mit den Schlüsselblumen

In dem Jahr, in dem Gertrude Ederle als erste Frau den Ärmelkanal durchschwamm, da kam in Thüringen, nicht weit von der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei, das Mädchen Ursula zur Welt. 1926. Dort geboren und bis in die 90er Jahre nie weit fortgezogen, hat Ursula Enders ihre Kindheit in der Weimarer Republik gelebt, ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus, ihr Erwachsenenalter in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der kommunistischen DDR, noch später in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Fünf verschiedene, politische Systeme vor der immer gleichen Kulisse des thüringischen Waldes.

Eine ihrer frühesten Erinnerungen, würde jenes Mädchen viele Jahrzehnte später als Bocholter Märchenoma erzählen, waren die Spaziergänge mit der Großmutter, die ihre Enkelin auch mit den vielen Märchen bekannt machte, die sie später auswendig erzählen konnte. Als Kind begleitete Ursula ihre Oma oft in das Waldgebiet neben dem Friedhof. Dort pflückten sie Schlüsselblumen und Leberblümchen, aus denen das geschickte Mädchen Sträuße band, für die es pro Strauß 2 Pfennig bekam.

Da hab ich mich so drüber gefreut – wenn ich heimkam und der Mutter 20 Pfennig geben konnt‘,  die ich verdient hab. Dann war sie glücklich. 

Ursula Enders im Juli 2015

Doch die heile Welt währte nicht lange. Ursula hatte 9 Geschwister, der Vater war »im Krieg geblieben«. Der Mutter standen im Monat gerade mal 80 Mark zur Verfügung. Sie konnte sich bald nicht mehr um alle Kinder kümmern, nicht mehr alle ordentlich ernähren, drum gab sie einige weg.

Fester Vorsatz in jungen Jahren

Neben 2 Brüdern wurde auch Ursula im Alter von 9 Jahren in eine andere Obhut überlassen, nach Gera. »Bei fremde Leute«, wie sie später zu sagen pflegte. Fremde Leute, bei denen sie kein Glück erfahren sollte. Im Gegenteil: Viel Arbeit, keine Liebe. »Nicht mal einen winzigen Pfefferkuchen gab’s zu Weihnachten«, erinnerte sich Ursula, die in diesen Jahren viel geweint habe. So etwas erzählte sie nicht, um Mitleid zu erregen, sondern auf die Frage, wie aus Ursula Enders denn die »Märchenoma« geworden ist, die immer Süßigkeiten im Haus hat, wenn Kinder zu Besuch kommen – oder Lämmchen (kein Scherz).

Damals nämlich, in den bitterarmen, tränenreichen Mädchentagen, schon da habe sie sich gesagt: »Wenn ich mal groß bin, und alt, dann geb ich den Kinder das zurück, was ich selbst nie hatte.« Um 1940, im Jugendalter von gerade einmal 14 Jahren, begann Ursula Enders zu arbeiten.

Jahrzehntelange Plackerei

Nach dem 2. Weltkrieg nahm das Stahlwerk Thüringen die Produktion im Hochofen II auf. Es ist der einzige, noch erhaltene Hochofen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, der in der DDR weiter betrieben wurde. An diesem Hochofen arbeitete Ursula Enders jahrzehntelang. Selbst als sie Kinder bekam – nachdem sie 1950 geheiratet hatte – dauerten die Auszeiten nie lange. »Nach 4 Wochen gab man das Kind in die Krippe und die Arbeit ging weiter.«

Ihr Mann schuftete in einem Uranbergwerk, unter Tage und unter schwersten Bedingungen. Schon im Alter von 50 Jahren starb er an einer Staublunge und Ursula Enders stand mit ihren Kindern allein da. In einem Schuppen, den ihr 1966 die Gemeinde zur Verfügung stellte, richtete die Mutter es ihren Kindern und sich wohnlich ein – und bekam selbst eine Stelle im Uranbergwerk zugewiesen.

Zur Genesung fort aus der Heimat

Anfang der 90er Jahre war dann auch Ursula Enders von der schweren Plackerei mit Presslufthammer und Steinbrocken im Bergwerk so geschunden und lungenkrank, dass sie von der Krankenkasse nach Düsseldorf geschickt wurde. Dort hatte man Erfahrung mit der Behandlung von Staublunge. Doch diese Behandlung sei intensiv, hieß es, und man riet Ursula einen Umzug in den Westen des vor kurzem wiedervereinigten Deutschlands. So mietete sie sich eine ehemalige Bauernkate in Bocholt-Suderwick, wo sie bis zu ihrem Tod am 3. August 2018 wohnen bleiben würde.

Obwohl diese Bauernkate nur ein paar Minuten, Wiesen und Felder entfernt liegt von meinem Elternhaus, dauerte es bis vor rund 5 Jahren, ehe ich Ursula Enders kennenlernen sollte.

Gestatten, die Märchenoma

Ich kann mich an eine Fahrradtour im Sommer 2013 erinnern, da kamen wir in der Keminksweide in Bocholt-Suderwick vorbei. Es war ein heißer Tag, pralle Sonne, keine Wolke am Himmel, keine anderen Radler oder Autos unterwegs. Ein sehr stiller Sonntag im Hinterland. Vor diesem seltsamen Bauernhaus, das von bunten Hütten umgeben war, machten wir Halt. Man muss sagen: An dieser Anlage gibt es kein großes Schild, das auf die Märchenwelt der Ursula Enders hinweist. Und so erschließt sich zufälligen Besucher*innen die Kulisse ohne Kontext nicht sofort.

Weit und breit kein Mensch zu sehen, schlenderten wir von Hütte zu Hütte und betrachteten die Märchen darin – bis ins hinterste Häuschen, das man gar betreten konnte. Auch darin, bis hoch unter die Decke arrangiert: Märchenhafte Figuren und Requisiten, die in ihrem stillen Dasein altbekannte Geschichten bewahrten. Ich muss zugeben, wie wir damals so zum ersten Mal in dieser an jenem Tag menschenleeren Märchen-Ausstellung waren, fand ich’s ein bisschen schaurig. (Das kommt davon, wenn man zu viele Gruselfilme sieht, in denen Puppen zum Leben erwachen.)

Kaffee und Kuchen für Karl(a) Kolumna

Im selben Sommer begann ich als Redakteur und rasender Reporter für den Stadtkurier in Bocholt zu arbeiten. Und es sollte nicht lange dauern, bis ich gen Ende 2013 in dieser Funktion nochmals in die Keminksweide kam. Mit Stift und Zettel und lauter Fragen rund um einen bevorstehenden Weihnachtsmarkt, auf dem Ursula Enders einige ihrer Märchenhäuser ausstellte.

Ich staunte nicht schlecht über diese Frau: Hinter dem unscheinbaren, harmlosen Titel der »Märchenoma« steckte ein Mensch von unglaublicher Schaffenskraft. Zunächst saßen wir noch bei Kaffee und Kuchen (selbstgemacht, natürlich) in ihrer kleinen Küche, die selbst wie einer Märchenwelt entsprungen schien. Ringsum türmten sich Puppen und Fabelgestalten. Wenig später bekam ich dann ihre Werkstätte zu sehen, im Wesentlichen:

Eine Nähmaschine zwischen Badewanne und Fenster zum Garten. An diesem bescheidenen Plätzchen entstanden, in stunden- und tagelanger Arbeit, die Kleider für die unzähligen Figuren draußen in der Ausstellung.

Die Ausstellung der Märchenoma in Bocholt-Suderwick

Info: Ursula Enders hat nicht erst in Bocholt-Suderwick damit angefangen, Märchen in Szene zu setzen. Schon in ihrer Heimat baute sie erste Märchen auf, die später von ihrer Tochter zum Märchenwald Saalburg ausgebaut wurden.

Zu Ostern kam ich wieder, als die Märchenoma diese Ausstellung anlässlich der Feiertage um diverse Hasen und Ostereier bereicherte. Während ich im Winter mein Kopfhaar noch lang getragen hatte, kam ich nun kurz geschnitten daher und durfte mir erstmal anhören, dass »beim letzten Mal eine sehr nette Kollegin von Ihnen da war« – »Ehm… nee, das war auch ich.«

Herzensgute Seele

Seitdem kam ich auch mal zwischen den Presseterminen vorbei, einfach nur, damit sich das Gesicht einprägen möge. Und wegen den Süßigkeiten, klar. Und den Märchen, sowieso. Aber eigentlich, das werden sich andere Besucher*innen sicher ebenso eingestehen, kam man vor allem wegen dieser herzensguten Seele gerne dorthin, ins Märchenland. 

Wenn man so mit Ursula Enders in der Küche saß, dann konnte es passieren, dass ein kleines Schaf hereinspazierte. Dieses Lämmchen lag auch gerne am Fußende auf Ursulas Bett, während von draußen durchs Fenster die großen Schafe hineinspähten. Nach getaner Arbeit (jeden Morgen um 6.30 Uhr aufstehen, jeden Tag 5-6 Stunden nähen) lag die Märchenoma selbst erschöpft in diesem Bett – doch auch von dort hatte sie immer etwas Süßes in Greifweite, wenn man zu Besuch kam.

Ihr Lebensgefährte Dieter saß dann abends neben dem Bett. In der Ecke lief der Fernseher, die Nachrichten, auf stumm geschaltet. Und Dieter erzählte aus diesem oder jenem Kapitel der deutschen Geschichte, bemerkenswert kenntnisreich.

Es wird einmal…

Im Sommer 2015 durften wir bei der Märchenoma einige Aufnahmen für unser Langzeit-Filmprojekt Es wird einmal… drehen, das jedes Jahr um ein paar Szenen weiter wächst. Dafür trat Ursula Enders selbst in ihrer Lebensrolle als Märchenoma in Erscheinung. Rückblickend wünschte ich mir, wir hätten damals einfach einen Kurzfilm gedreht. Irgendwas kleines, geschlossenes, damit wir Ursula Enders das Ergebnis noch hätten zeigen können. Denn ihre Gastfreundschaft unserem Filmteam gegenüber war unglaublich.

Ein kurzer Ausschnitt aus dem Projekt, das die Märchenoma mit ihrer Präsenz und ihrem Lebenswerk bereichert hat:

Ich bin der Märchenoma so dankbar für all die Inspiration und Mut, den sie den Menschen mit auf den Weg gegeben hat – und ich bereue es sehr, sie im vergangenen Jahr nicht mehr besucht zu haben. Man redet sich ein, »ja, ja, der Umzug, die Arbeit«, viel zu tun und was weiß ich. In Wahrheit habe ich einfach nur meine Prioritäten falsch gesetzt. Was kann denn besser warten, irgendein x-beliebiges Projekt oder ein über 90-jährige Frau, die trotz ihrem Frohsinn schwerkrank war?

Eine Botschaft der Märchenoma

Ursula Enders hat sich nicht in ihrer Märchenwelt versteckt, als wolle sie der Wirklichkeit entfliehen. Im Gegenteil: Sie hat sich sehr um ihre Nachwelt gesorgt. So sehr, dass sie auch mal vom »Grimmschen Original« abwich und ein Märchen nach eigenen Gutdünken umdichtete. Das Ergebnis war eine Art »Bocholter Version« des Rotkäppchens. Während der Drehtage im Spätsommer 2015 hat die Märchenoma uns diese Geschichte erzählt. Hier ist sie nochmal, ganz in ihrem Element:

Keine andere Dichtung versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge zu sagen wie das Märchen.

Johann Gottfried Herder

Ausgezeichnetes Engagement

Mit diesem Zitat hat der Landrat Dr. Kai Zwicker den Hauptteil seiner Rede eingeleitet, im Juli 2014, als Ursula Enders die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde. Weiter sagte er:

Sehr geehrte Frau Enders, mit Ihrer Einstellung und Ihrem unermüdlichen Einsatz für Ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger – nicht nur in Bocholt, sondern in der ganzen Region – sind Sie ein Vorbild für Bürgerengagement und solidarisches Handeln. Für Sie selbst war dies immer selbstverständlich. Das ist es jedoch keineswegs. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass die Öffentlichkeit auf das Beispiel, das Sie geben, aufmerksam gemacht und zur Nachahmung aufgefordert wird.

Landrat Dr. Kai Zwicker

Info: Über die Verleihung berichtete auch der Gemeindebrief für Suderwick und Spork: Der Grenzgänger (Oktober-November 2014)

Nachahmung in Sachen Solidarität, die hat die Märchenoma seitens der Bevölkerung aus Bocholt und Umgebung erfahren, als Anfang das Sturmtief »Friederike« ihre Ausstellung zerstörte. Binnen 7 Wochen schafften es viele freiwillige Helfer*innen mithilfe von Spenden und tatkräftigen Händen, Ursula Enders Märchenwelt wieder aufzubauen. Ein beeindruckendes Beispiel für gesellschaftliches Engagement, das jetzt, da Ursulas Lebensweg zu Ende gegangen ist, als umso wichtiger in Erinnerung bleibt: Diese Helfer*innen haben einem Vorbild gezeigt, wofür es sich lohnt, ein Vorbild zu sein.

In Respekt und Dankbarkeit

Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar andere Stimmen zu Wort kommen lassen, die sich in den letzten Tagen und Jahren über Märchenoma Ursula Enders geäußert haben. Inbesondere

Ich halte ihr Leben und ihre rastlose Tätigkeit […] für ein Vorbild für uns alle. Es zeigt uns, dass ein hartes Leben und ein schweres Schicksal nicht in Resignation und Verbitterung enden muß, sondern neue Kräfte und viel Kreativität freisetzen kann und den Wunsch, Liebe und Wärme zu geben und Freude in das Leben anderer Menschen zu bringen.

H. Lippelt | 2014

Ich denke. mit folgender Formulierung nicht zu übertreiben: Bocholt und
die Umgebung verneigen sich in großem Respekt und tiefer Dankbarkeit vor dem Engagement und der enormen Leistung der – stets äußerst bescheidenen »Märchenoma«.

E. Geitel | 2014

Ich sagte ihr zum Abschied: »Frau Enders. ich habe noch selten so über einen Menschen gestaunt.« Sie wehrte bescheiden, fast erschrocken ab: »Nein, nein, nicht staunen! Sie sollen sich freuen!«

M. Handschuh-Bauer | 2014

Herzmensch durch und durch

»Oma« Ursula zeigte schon mir, als ich noch ein kleiner »Windelscheißer« war, die Welt der Märchen. Das ist nun gut 25 Jahre her. Sie ist nicht meine leibliche Großmutter, doch im Herzen war sie es immer – jeder, der Ursula kennt, wird genau wissen, was ich meine. Und vermutlich wird fast jeder sie als »eigene Oma« ins Herz geschlossen haben. Verwandtschaftsgrad hin oder her.

Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, wenn sie Geschichten erzählte und dazu die passenden Figuren zeigte, welche sie stets selbst bastelte. Niemand konnte so schön die Stimme der drei kleinen Schweinchen nachäffen wie sie. Ursula hatte nie viel Geld und nutzte das bisschen, das sie hatte, um anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Bis heute – ja, sogar im Zeitalter der Medien, wo Märchen leider in den Hintergrund rücken, ist sie mit ihren Geschichten unglaublich beliebt. Sie war ein Herzmensch durch und durch. Ohne sie wird hier etwas fehlen… mach’s gut, Oma.

Jennifer Woelk | 2018

Märchenoma im Fernsehen

Oh, und bevor es in Vergessenheit gerät: Im Jahr 2010 hat die niederländische Sendung Joris‘ Showroom ein wirklich tolles, stimmungsvolles Porträt der Märchenoma – oder eben: »Sprookjes Oma« – produziert. Alle Rechte dieses Films liegen bei der Nederlandse Christelijke Radio Vereniging, doch ehe das schöne Filmdokument in der Versenkung verschwindet (online konnte ich es leider nicht mehr finden), möchte ich es hier abschließend für Interessierte zur Verfügung stellen:

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WERKE UND TAGE von Hesiod, Ratgeber & Rechtsphilosoph | Lehrgedicht http://www.blogvombleiben.de/lehrgedicht-werke-und-tage-hesiod/ http://www.blogvombleiben.de/lehrgedicht-werke-und-tage-hesiod/#respond Fri, 03 Aug 2018 07:00:23 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4805 Rhapsoden, das waren umherziehende Sänger im antiken Griechenland. Rapper auf Tournee, würde man heute sagen. Solche…

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Rhapsoden, das waren umherziehende Sänger im antiken Griechenland. Rapper auf Tournee, würde man heute sagen. Solche Kunstschaffenden brachten dem jungen Hirten Hesiod das Dichten und Singen beibrachten. So wird’s zumindest vermutet – nach rund 2800 Jahren lässt sich vieles nicht mehr so genau sagen. Was sich aber noch sagen lässt ist die Windrichtung, in die ein Mann um 700 v. Chr. zu pinkeln hatte. Dank Hesiod und seinem Lehrgedicht Werke und Tage.

Recht und Verachtung

Tipps fürs Wasserlassen machen natürlich nur einen kleinen Teil dieses Gedichts aus, von dem vermutet wird, dass Hesiod es nach seiner Theogonie geschrieben hat. Schon in dieser fantastischen Schöpfungsgeschichte nahm Hesiod als »Hirtenpack« auf sich Bezug (so zitiert er jedenfalls die Musen, die ihn aufscheuchten, das Faulenzen zu lassen und der Dichtung zu frönen).

Auch in Werke und Tage dichtet Hesiod wieder aus der Sicht eines einfachen Kleinbauern – weil er vermutlich selbst einer war – und richtet sich an seinesgleichen. Sein literaturgeschichtlich einziger relevanter Zeitgenosse, Homer (Ilias, Odyssee), war ein Kenner der aristokratischen Oberschicht seiner Zeit. Dazu bietet Hesiod sozusagen das Gegenstück, vom unteren Ende der Gesellschaft, wo Misswirtschaft in Existenznot übergehen konnte. Wie lebte es sich da?

Die Büchse der Pandora, dazu das Buchcover von Werke und Tage

Totale: Werke und Tage im Zusammenhang

Historischer Kontext

Deinen Mitteln entsprechend bereite den unsterblichen Göttern die Opfer rein und frei von Befleckung und verbrenne ihnen glänzende Schenkelstücke. Dann wieder stimme sie mit Weinspenden und Weihrauch gnädig, wenn du zu Bett gehst und wenn das heilige Licht wiederkehrt, auf daß sie dir Gnade in Herz und Sinn bewahren und du fremden Grund erwirbst, nicht ein anderer den deinen. 1

Wer noch feinstes Schenkelfleisch und Wein als Göttergaben übrig hat, dem kann’s so schlecht nicht gehen, möchte man meinen. Im antiken Böotien, wo Hesiod gelebt haben soll, war Ackerland tatsächlich in Privatbesitz – nicht, wie später im Mittelalter, in den Händen adliger Grund- oder Gutsherren. So lebten Kleinbauern wie Hesiod etwa in einem Wohnhäuschen, umgeben von ihrem Hof, der ein paar Tierställe und Lagerräume umfassen mochte. Man hielt sich Ziegen, Schafe, Ochsen und vielleicht ein paar Sklav*innen. Außerdem eine Frau, wobei die wohl kaum mehr Ansehen genoss, als die Bediensteten und Tagelöhner.

Erst ein Haus, dann eine Frau und den Ochsen zum Pflügen; die Frau sei gekauft, nicht gefreit und soll auch die Ochsen antreiben. 2

Mädchen wurden dieser Tage nicht selten schon sehr jung verheiratet. Hesiod scheint sich in Werke und Tage gegen eine allzu frühe Ehe auszusprechen und empfiehlt eine Heirat »vier Jahre nach der Pubertät der jungen Frau«, so Otto Schönbergers Interpretation von Hesiods Zeilen. Was Nachwuchs anbelangt, spricht Hesiod sich für nur einen Sohn aus. Schönberger dazu:

Das Ein-Kind-System (mit der Barbarei der Kinderaussetzung) verhindert Zerstückelung der Güter. Bei der Kargheit des Landes ist die Sorge vor Übervölkerung freilich verständlich. 3

Persönlicher Kontext

.An dieser Stelle muss ich mal gestehen, dass mein Interesse an diesen alten Zeiten einer eigentümlichen, verschrobenen Neugier entspringt. Insbesondere für die dunklen Seiten natürlich, die Sitten und Bräuche und Strafen und Taten, die aus heutiger Sicht rabiat bis schlichtweg Menschen verachtend waren. Dinge, die heute verpönt oder verboten sind, üben eine zuweilen fesselnde Wirkung auf mich aus. Dafür sollte man sich, geboren und aufgewachsen in einem Rechtsstaat, mit all seinen Pflichten und Privilegien, eigentlich schämen. 

Immerhin gilt meine Faszination, stelle ich ein wenig beruhigt fest, auch für die Idee des Rechts in ihren frühesten Erscheinungen. So nimmt Hesiod in Werke und Tage mit einer tierischen Metapher von Nachtigall und Habicht Anstoß am »Naturrecht« des Stärkeren. (Womit er Teile aus Platons Gorgias vorwegnimmt, wie Schönberger bemerkt.) Stattdessen hält Hesiod das Recht der Götter in Ehren:

Diese Ordnung setzte nämlich Kronion [das ist Zeus] den Menschen, den Fischen, allem Getier und fliegenden Vögeln: daß Tiere zwar einander auffressen, weil bei ihnen kein Recht herrscht, während er den Menschen Recht verlieh, das höchste Gut und allen. Entschließt sich nämlich einer zu sagen, was er als Recht erkennt, dem schenkt Zeus, der weitblickende, Segen; 4

Das unter »Recht« allerdings vieles verstanden werden kann, das haben die Jahrhunderte seit Hesiod gezeigt. Nichtsdestotrotz macht sich der Dichter mit seinen Ausführung zum ersten schriftlich überlieferten Rechtsphilosophen des Okzidents.

Hinweis: Werke und Tage in deutscher Übersetzung und voller Länge findet sich online unter anderem unter www.gottwein.de

Close-up: Werke und Tage im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalts des Lehrgedichts

Im ersten Absatz von Werke und Tage richtet sich Hesiod gleich mit dem ersten Wort an die Musen, von denen wir aus der Theogonie wissen, dass sie dem Hirten »den göttlichen Sang« eingehaucht haben. Doch schon wenige Zeilen später kommt Hesiod auf Perses zu sprechen, dem er »Wahres verkünden« möchte.

Perses war ein Bruder Hesiods und hat offenbar sein Geld verprasst. Dass er Hesiod schließlich aufsuchte und Anspruch aufs väterliche Erbe erhob, gab überhaupt erst den Anlass für dieses Lehrgedicht: ein brüderlicher Rechtsstreit liegt Werke und Tage zugrunde.

Hesiod belehrt darin seinen Bruder, wie man sich als sparsamer, vorausschauender Mensch zu betragen habe. Doch er spannt den Bogen größer und richtet sich, letztendlich, an die allgemeine (bäuerliche) Weltöffentlichkeit. Mit erstaunlich pragmatischen Tipps, etwa für Landwirte, die es vercheckt haben, rechtzeitig ihre Saat zu streuen:

Hast du nämlich zu spät gesät, dann gäbe es folgende Heilung: Ruft der Kuckuck erstmals im Jahr »Kuckuck« im Laub der Eiche und erfreut die Menschen auf der unendlichen Erde, dann läßt es Zeus vielleicht drei Tage lang regnen, nicht mehr, als daß es die Spur eines Maultiers füllt, doch auch nicht weniger. So holt der Spätpflüger den Frühpflüger wohl noch ein. 5

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Lehrgedichts

Ach, manchmal möchte man sich doch für sein simpel gestricktes Gemüt schelten. Während bei Wikipedia in großen Tönen die literaturgeschichtlich „kaum zu überschätzende Nachwirkung“ hervorgehoben wird, macht bei mir erstmal der infantile Pipi-Kaka-Humor Alarm. Und mein ärmlich schlichtes Hirn speichert dann solche Absätze ab:

Pisse auch nicht zur Sonne gewandt im Stehen; […] Hockend macht es ein trefflicher Mann, der was, was man tun soll, oder er tritt zur Wand des wohlumwehrten Gehöftes. 6

Scheiß die Wand an is‘ dat schön. Der Altphilologe Schönberger gibt hier noch ein paar strahlharte Infos mit auf den Weg: »Urinieren im Hocken findet sich als Brauch frommer Männer in Griechenland noch heute.« Ja, und in meinem Elternhaus hing über der Schüssel ein Schild mit der Aufschrift: »Willst du mich im Stehen nutzen, darfst du mich danach auch putzen.« Dieses Schild werde ich nie wieder mit denselben Augen lesen. Sondern dabei an die »kaum zu überschätzenden Nachwirkungen« des Lehrgedichts von anno dazumal denken.

Diebische Weiber, geile Frauen, kalbende Mägde

Besagte Nachwirkungen kann man auch in Sachen Frauenfeindlichkeit geltend machen. Hesiod hat in Werke und Tage, diesem viel zitierten, weit verbreiteten Gedicht, womöglich (wie schon in der Theogonie, Stichwort: Pandora) nur das Frauenbild seiner Zeit festgehalten. Und doch hat er es mit der Niederschrift zum Grundstein gemacht, für frauenverachtende Schriften und Denkweisen, wie es sie seit der Antike in beschämender Fülle gab und gibt.

Die Büchse der Pandora

Beispiele für misogynistische Bemerkungen in Hesiods Werke und Tage:

Laß dir auch nicht den Sinn vom süßen Geschwätz eines sterzwedelnden Weibes, das auf dein Häuschen aus ist, betören, denn wer einer Frau traut, der traut auch Dieben. 7

[…] zur Zeit des lähmenden Sommers, dann sind die Geißen am fettesten und der Wein am besten, sind die Frauen am geilsten, die Männer aber am schlappsten […], 8

[…] dann suche, das rate ich dir, einen Knecht ohne Hausstand und eine Magd ohne Kinder, denn eine, die schon gekalbt hat, ist lästig. […], 9

Fazit zu Werke und Tage

Schmal vom Umfang, reich im Inhalt ist Werke und Tage: Von der Legende der Pandora – jene »hübsche, lockende Mädchengestalt«, die den Menschen das Elend brachte (siehe auch: Theogonie) – bis hin zu einer Art Almanach, der die besten Tage zum Ernten und Gebären von Kindern benennt, ist allerlei darin enthalten. Interessant für Student*innen, denen es um die Anfänge der Rechtsphilosophie geht, ebenso wie für Historiker*innen, die den Wurzeln des Frauenhasses auf die Spur gehen möchten. Eine seltsam gemischte Leser*innenschaft ist das.

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COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/ http://www.blogvombleiben.de/film-coco-chanel-2009/#respond Tue, 31 Jul 2018 07:00:15 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4530 Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die…

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Ein Biopic über Coco Chanel von ihrem Einzug ins Waisenhaus bis zu ihrem Einzug in die Modewelt, wobei man über beiderlei Hintergründe ähnlich wenig erfährt: Das ist Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft. Während die Kindheit und Jugend der größten Modeschöpferin des 20. Jahrhunderts in einem Dunkeln liegen, dass Coco selbst nicht aufhellen wollte, ist vieles über ihre ersten Karriere-Schritte in Paris bekannt. Da kommt es nur auf den Fokus an.

Die fabelfreie Welt der Rebellin

Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.

Audrey Tautou als Coco Chanel | Bild: Warner Bros. France

Totale: Coco im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.

Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:

Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)

Persönlicher Kontext

Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.

Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.

Fokus: Coco im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.

Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.

Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.

Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.

Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.

So läuft’s eben nicht

Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:

Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. |  Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)

Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.

Der Trailer zum Film

Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.

Dunkle Seiten

Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)

Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:

Fazit zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft

Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.


Weitere Filmkritiken:

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ASTERIX IM LAND DER GÖTTER | Film 2014 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-asterix-im-land-der-goetter-2014/ http://www.blogvombleiben.de/film-asterix-im-land-der-goetter-2014/#respond Mon, 30 Jul 2018 05:00:48 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4439 »Wer Asterix-sozialisiert ist«, schreibt Christine Paxmann im aktuellen Eselsohr (Heft 7, 2018), »wird sicher noch die ersten…

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»Wer Asterix-sozialisiert ist«, schreibt Christine Paxmann im aktuellen Eselsohr (Heft 7, 2018), »wird sicher noch die ersten Ausgaben im Schrank haben.« Band 1, Asterix der Gallier, kam 1968, passend zu Paxmanns Schulstart. »Da waren die Figuren noch nicht stromlinienförmig, auch wenn das bei den beleibten Herren der gallischen Antike eh schwierig ist.« Aber, wie die Zeit vergeht: Inzwischen werden die beleibten Herren der gallischen Antike im digitalen Animationsprogramm gestaltet. Der Blog-vom-Bleiben-Gastautor Markus Hurnik hat sich den ersten computer-animierten Asterix-Film aus 2014 nochmal angesehen.

Gastbeitrag von Markus Hurnik

Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.

Asterix im Land der Götter: Topaktuell und spannend. Er garniert die weltpolitische Lage mit einer Prise Humor, zeigt einem aber auch die aktuellen Probleme und Missstände auf. Sei es Flüchtlinge, Migration, Gentrifizierung, Integration und Widerstand.

Asterix im Land der Götter, schüttelt einem Mann die Hand. | Bild: M6 STUDIO / BELVISION / M6 FILMS / SNC / LES ÉDITIONS ALBERT RENÉ / GOSCINNY-UDERZO

Erstmals in der dritten Dimension

Der Film Asterix im Land der Götter wurde bereits 2014 veröffentlicht. Er ist der erste 3D-Animationsfilm der Reihe. Viele haben vermutlich in den letzten Jahren irgendwann aufgehört zu verfolgen, wann neue Asterix-Filme veröffentlicht wurden, da die Filme mit echten Schauspieler*innen teilweise doch einigen Missmut hinterlassen haben. Sie konnten das asterix‘sche Flair nie richtig einfangen. Wer erinnert sich nicht an das Fiasko Asterix und Obelix gegen Caesar, in dem der Humor auf der Strecke blieb? Doch der neue Film der Reihe gibt einem wieder einen Grund ins Kino zu gehen bzw. die Blu-ray zu erwerben. Asterix im Land der Götter basiert auf dem 17. Comic der Reihe – der Trabantenstadt

Ansehnliche Animationen, ein schönes Farbbild und eine typische Asterix Geschichte sind zu erwarten.

Feinde ihrer selbst

Zum Inhalt: Der Film ist in Gallien angesiedelt. Caesar hegt wieder einmal Pläne, wie er das Dorf der Gallier*innen sich zu eigen machen kann. Ein kaltblütiger Plan soll her und man entscheidet sich zu dem Bau einer Trabantenstadt – dem Land der Götter (und Göttinnen). Das gallische Dorf wiederum soll dadurch in die Defensive gerückt werden und nach und nach zum unbedeutenden Vorort verkommen, welcher sich nach und nach integriert. Dabei wird die Bevölkerung des gallischen Dorfes auf eine harte Probe gestellt. Seine gesellschaftlichen Strukturen drohen zu zerfallen beziehungsweise die Dorfbewohner*innen die Feinde ihrer selbst zu werden.

Alles findet seinen Platz Asterix im Land der Götter und wird wunderbar humorvoll und amüsant in Szene gesetzt.

Das Schwein zwischen den Fronten

Dem neuen Animationsstil ist es auch zu verdanken, dass die Keilereien zwischen Römer*innen und Gallier*innen (*und eigentlich kloppen sich doch nur die Kerle) endlich wieder so sind, wie man Sie aus den alten Filmen kennt. Mal ragt eine Hand aus dem Gemenge, ein Römer fliegt über das Feld oder ein Wildschwein kommt zwischen die Fronten. Und alles wirkt schön unrealistisch und verspielt, wie es sein muss!

Man kann sagen, Asterix ist endlich im 21. Jahrhundert angekommen! Dafür ist vermutlich der zweite Regisseur Louis Clichy verantwortlich, der bereits einige Pixar-Filme prägte, wie WALL·E (2008) oder Oben (2009).

Asterix im Land der Götter auf Deutsch

Leider gibt es aber auch unschöne Aspekte. So ist die deutsche Synchronisation zum Teil etwas gewöhnungsbedürftig. Milan Peschel gefällt mir einfach nicht als Asterix. Der Charakter kommt einem teilweise so fremd vor, als würde die eigene Stimme nicht an Ihn glauben.

Der Humor kommt dagegen überhaupt nicht zu kurz. Schöne Szenen im römischen Dampfbad und auch szenische Darstellung holen sowohl das ältere Publikum, als auch den jungen Filmfan ab. Viel Witz spielt sich auch zwischen den Zeilen ab, hier muss man vermuten, dass durch die Synchronisation eventuell noch mehr verloren gegangen ist, dies bleibt aber vorerst Spekulation. Genug Ironie und dialogischen Feinschliff hat die Übersetzung auf alle Fälle mitgebracht. Passierschein A38 lässt grüßen.

Mit dem Zaubertrank auf die Couch!

Die 3D-Umsetzung kann leider nicht weiter bewertet werden. Ich durfte den Film im heimischen Heimkino genießen und war daher auf 2D angewiesen. Jedoch ist anzunehmen, dass die 3D-Umsetzung nur für Hardcore-3D-Fans absolut notwendig ist, der durchschnittliche Zuschauer dürfte mit der 2D-Variante sehr gut versorgt sein.

Holt Euch daher Euren Lieblingszaubertrank auf die Couch und fallt zurück in Eure Kindheit. Ihr werdet es nicht bereuen und viel Spaß und Freude mit Asterix im Land der Götter haben.

Und wem das alles nicht genug ist, der kann sich auf 2019 freuen. Der Regisseur Alexandre Astier arbeitet bereits an seinem neuen Asterix – The Secret of the Magic Potion, welcher 2019 in Deutschland erscheinen wird.


Zum Autor

Markus Hurnik (28), langjähriger Berliner und Vorortbewohner, den es beruflich inzwischen zunehmend in sächsische Gefilde verschlägt. Er hat in seinen frühen Jahren für die Verlagsgruppe Randomhouse Jugendbücher rezensiert. Anfang der 2000er kam er vermehrt ins Kino und wurde filmabhängig. Studiert hat Hurnik etwas vollkommen Kunstfernes, vis-à-vis der Filmstudios Babelsberg.

Stammkino: Cineplex Titania Palast, Berlin
Lieblingskinos: Programmkino Ost, Dresden Thalia, Potsdam
Lieblingsfilme (eine Auswahl): La Grande Bellezza, Metropolis, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, WALL·E, Train to Busan

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GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/ http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/#respond Fri, 27 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4397 Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman…

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Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman Show (1998) schrieb und an einen Produzenten verkaufte. Der junge Mann bekam »extra money« dafür, dass er von seinem Wunsch, auch die Regie zu führen, zurücktrat und einen erfahreneren Regisseur walten ließ. Niccol stimmte zu, zog sich zurück und schrieb das Drehbuch zu Gattaca. Dieses Mal ließ er sich die Regie nicht nehmen und setzt sein Skript selbst um. Schließlich kam Gattaca sogar noch ein Jahr vor Die Truman Show in die amerikanischen Kinos.

Mutter Natur und ihre Beta-Babys

Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.

In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.

Die Schauspieler Uma Thurman und Ethan Hawke in dem Film Gattaca

Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.

Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert.  Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.

Totale: Gattaca im Zusammenhang

Historischer Kontext

Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.

Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.

Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«

Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.

Persönlicher Kontext

Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?

Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.

Close-up: Gattaca im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13

Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center

Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.

Die Essenz unserer Gene

Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.

Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:

Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.

Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.

Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):

Zur Position des Films

In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.

[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70

Fazit zu Gattaca

Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.


Weitere Filmkritiken:

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Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/ http://www.blogvombleiben.de/musikvideo-birthplace-novo-amor-2018/#respond Wed, 25 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4288 Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia…

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Früher Nachmittag, ich bin gerade im Bad. Durch die Tür höre ich, dass Musik läuft. Sonia schaut ein Handyvideo. Sie sitzt auf dem Sofa. Draußen brütet die Hafenstadt Padstow unter der Sonne. Das Sprachwirrwarr der Tourist*innen und das Geschrei der Möwen dringen durchs offene Fenster herein, mit den Sonnenstrahlen. Ich setze mich zu Sonia, in den Schatten der Gardine. Das Video hat eine Freundin bei Facebook geteilt. Fünf Minuten, fast vorbei, Sonia scrollt nochmal auf Anfang. So derart im alltäglichen Zwischendurch begriffen, aus irgendwelchen Gedanken gerissen, entdecken wir das Musikvideo zu Birthplace von Novo Amor. Wie eine Flaschenpost im Meer der Massenmedien. Mit wichtiger Botschaft und doch hoffnungslos verloren im ganzen Müll, der das Netz anfüllt.

Im Rachen des Todes

»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.

Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert? 

Free Diver Michael Board und ein Manta Rochen im Meer, Standbild aus dem Musikvideo Birthplace von Novo Amor

Was kann Kunst schon ausrichten?

Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?

Novo Amor und die Natürlichkeit

Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.

»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.

Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.

Die Nähe zum Visuellen

Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.

Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)

Mehr Plastik als Fische

Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.

Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace

Unsere selbstgemachte Nemesis

Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.

Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.

Die Geburt des Wals

Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.

Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.

Bali: Müll auch zu Lande

Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.

Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:

In aller Ruhe atemlos: Michael Board

Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.

Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace

Blind im Angesicht des Wals

Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:

Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.

Die Lyrics zu Birthplace + deutsche Übersetzung

Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:

Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.

Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.

[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.

Vom Menschen in Bestform

Be at my best, 
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.

Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.

[Refrain]

Here, at my best, it’s all at rest, 
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.


Weitere Links:

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Roadtrip: Von Kent über Chesil Beach nach Cornwall | Reise, Travel http://www.blogvombleiben.de/roadtrip-kent-chesil-beach-cornwall/ Tue, 24 Jul 2018 07:00:41 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4270 Die erste Ortschaft, die sich beim Verlassen des Eurotunnels mit dem Auto ansteuern lässt, ist Folkestone.…

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Die erste Ortschaft, die sich beim Verlassen des Eurotunnels mit dem Auto ansteuern lässt, ist Folkestone. Da wir es versäumt hatten, vorher ein wenig Geld umzutauschen, hielten wir es für eine gute Idee, erstmal dort auf die Suche nach einer Wechselstube zu gehen. Und – wenn man schonmal da ist – nach einer Imbissbude, und – Macht der Gewohnheit – einem Café für einen Kaffee und natürlich Kuchen, muss ja, zum Kaffee, und… nein, eigentlich wollten wir doch weiter! Chesil Beach und so.

Aus der Höhle in die Höhe

Eine Möwe und eine Höhle, dazu der Text: Von Kent nach Cornwall

Wenn man aus dem Eurotunnel kommt, begegnen den kontinental-europäischen Autofahrer*innen erstmal einige Verkehrsschilder, die ans Linksfahren erinnern. Daran gewöhnt man sich (von ein, zwei kleinen Aussetzern mal abgesehen) ganz flott. Selbst das Rückwärts-in-linke-Parklücke-Setzen funktioniert, irgendwie. (Es trägt zur Entspannung bei, wenn das Auto ohnehin schon verbeult und zerkratzt ist.) In Folkestone haben wir die Karre in einer Seitenstraße stehen gelassen und zu Fuß die Stadt erkundet. Erst ein Krabbenbrötchen am Hafen, wo wir erste Bekanntschaft mit dem krassen Akzent und den omnipräsenten Möwen gemacht haben.

Die Lieblingsstadt, die wir nicht sahen

Geld zu wechseln erwies sich als minimal schwieriger, als auf der Fahrt nach Polen, wo jede grenznahe Tanke mit einem Kantor (einer Wechselstube) einherging. Stattdessen tauschten wir unsere Euros auf einen Tipp hin im Thomas Cook Reisebüro an der Sandgate Road in Pfund um, bei einem netten jungen Italiener, der seit ein paar Jahren in Groß-Britannien liebt und uns Canterbury als seine Lieblingsstadt empfohlen hat. Sei sehr schön und sehr nah (und trotzdem, na ja, vielleicht beim nächsten Mal… wir mussten in die andere Richtung).

Kaffee, Kuchen, Künstler-Stube

Noch schnell ne Ladung Kaffee reinkippen und Blueberry-Vanille-Cake scheffeln, im wunderschönen Steep Street Coffee House, wo alle Wände bis unter die Decke mit Bücherreihen dekoriert sind – dann ging’s weiter. Unsere erste Airbnb-Unterkunft lag in Hythe, nahe Folkestone. Ein Künstler und eine Yoga-Lehrerin ließen uns in ihrem ziemlich großartigen Dachgeschoss-Loft schlafen. Dort oben war es, obwohl man die Glasfront komplett zu Seite schieben und Meerluft genießen konnte, so ruhig, wie es auf der ganzen Reise nicht mehr würde…

 

Angler statt Saoirse am Chesil Beach

Denn schon unsere nächste Bleibe, in Abbotsbury (siehe oben), lag direkt neben einer kleinen Kirche. Ding dong! 🙂 Aber wirklich halb so wild, trotzdem eine echt geruhsame Nacht. Abgesehen von der gelegentlich läutenden Kirche steppt in Abbotsbury im Übrigen nicht gerade der Bär. Der Grund, weshalb wir auf unserem Weg nach Cornwall dort einen Zwischenstopp eingelegt haben, war ein kleines cineastisches Sightseeing:

Nachdem wir vor zwei Wochen erst den neuen Film Am Strand gesehen und ich derweil das Buch von Ian McEwan gelesen habe, wollten wir uns den Chesil Beach, an dem ein Teil der darin erzählten Geschichte spielt, mal selbst ansehen. Wenn man schon so nah daran vorbeifährt… und siehe da, auf unserem Weg zum Chesil Beach kamen wir an einem weiteren, noch aktiven Filmset vorbei. Laut unserer Gastgeberin wurden dort Szenen für eine neue Adaption von The Secret Garden gedreht, mit Julie Waters und Colin Firth. Keinem der beiden sind wir wohlgemerkt über den Weg gelaufen, und auch am Chesil Beach trieben sich statt Saoirse Ronan und Billy Howle nur jede Menge Angler*innen herum. Dödöm.

Bloggerin Sonia Lensing am Chesil Beach

Zuvor sind wir zum Abendessen (im Restaurant The Station Kitchen, in einem alten Zug-Waggon, sehr cool, sehr lecker!) noch in West Bay an der Jurassic Coast mit den hohen, gelben Klippen gewesen. Dort nimmt der Chesil Beach seinen Anfang. Tatsächlich waren an dieser Stelle, einige Kilometer weiter westlich des Strandes, die Kieselsteine, nach denen der Chesil Beach benannt ist (altenglisch: cisel = Kies), viel kleiner als in der Höhe von Abbotsbury, wo wir bei Sonnenuntergang herumschlenderten, im knirschenden Kies.

Stürme am Strand

[…] Gleich darauf vernahm sie das Geräusch seiner Schritte auf dem Kies, und das hieß, er könnte auch ihre hören. Er mußte gewußt haben, wo sie zu finden war, weil sie nach dem Essen doch hierher hatten kommen wollen, um mit einer Flasche Wein in der Hand über die berühmte Kiesbank zu spazieren. Sie hatten unterwegs Steine gesammelt und der Größe nach vergleichen wollen, um festzustellen, ob die Stürme tatsächlich Ordnung am Strand geschaffen hatten. | aus: Am Strand (Diogenes), S. 176

Denn das kommt im Buch und Film zur Sprache: Dass über die Jahrhunderte die Stürme und Unwetter die Steine am Chesil Beach der Größe nach sortiert haben. Von Westen nach Osten werden sie immer größer. Welch schöne Metapher für eine Beziehung, die durch stürmische Zeiten gehen muss, bis in dem großen Ganzen, das aus vielen kleinen Elementen besteht, eine gewisse Ordnung herrscht.

Bloggerin Sonia Lensing am Chesil Beach

Vogelschutzzone am Chesil Beach
Bis hierher und nicht weiter: Hier beginnt die Vogelschutzzone am Chesil Beach. Ein kleiner Rückzugsort, an dem die Möwen vor uns Menschen ihre Ruhe haben.

Von Abbotsbury ging’s mit vier, fünf, sechs Autostunden nach Padstow. Dort trafen wir an einem Freitagmittag ein, in praller Hitze und einem völlig überfüllten Hafenstädtchen. Nach all den abgelegenen Orten entlang der Südküste und den verlassenen Landstraßen in Cornwall war das ein kleiner Schock: Ausgerechnet hier, in diesem glühenden, wuseligen Moloch (mit echt frechen Möwen), da wohnen wir die nächsten paar Tage?

Wandern rund um Padstow

Angenehme Überraschung: So heiß und voll wie am Freitagmittag wurde es danach nicht mehr, und Padstow entpuppte sich als ganz hübscher kleiner Ort in toller Lage (bloß die Möwen blieben sich treu, klauten Eiswaffeln und krächzten lautstark von den Dächern, vermutlich: »Verschwindet, ihr dämlichen Primaten, wir waren zuerst da!« Womit sie ja recht hätten. Was beschwere ich mich über ein geklautes Eis und lautes Krächzen, wenn wir deren Brutplätze plattgewalzt haben, um unsere Städte zu bauen, in denen wir mit brummenden Blechmonstern rumfahren und nichts als Müll hinterlassen? …will sagen: man darf den Möwen ihre bösen Blicke nicht übel nehmen.)

Von Padstow aus, jedenfalls, kann man wunderbare Wanderschaften unternehmen – zwischen Meer und Feldern entlang zu Klippen, an denen Schafe grasen und Falken im Rüttelflug am Himmel stehen.

Strandweg nahe Padstow

Bloggerin Sonia Lensing an der Küste nahe Padstow
Sonia + Sonne + Küste + Meer = happy

Ein Tag in Tintagel

Neben unserem Tagesausflug nach Land’s End trieb es uns am vorletzten Tag unserer Reise nochmal Richtung Norden: nach Tintagel. Das ist eine Ortschaft an einem besonders zerklüfteten Küstenabschnitt, bekannt durch das Tintagel Castle. Wieder so ein Fleck Erde, der »soaked in history« ist, wie unsere Gastgeberin in Abbotsbury es schon über The Minack formulierte. Von tief unten in Merlin’s Höhle (die wir, Wasserstand sei dank, tatsächlich betreten konnten), bis hoch zu den Ruinen jenes Schlosses, das dem legendären King Arthur gehört haben soll – gemäß Geoffrey von Monmouth, einem fleißigen Geschichtsschreiber mit Hang zum Sagenhaften. Hier noch ein paar Impressionen aus Tintagel:

Treppe, die zum Tintagel Castle führt

Merlins Höhle in Tintagel

Statue von King Arthur in Tintagel

Bloggerin Sonia Lensing an einer Klippe

Die Zwei vom Bleiben: Sonia und David Lensing in Tintagel

Info-Schild in Tintagel, über Prince Dafydd's tale
…und Sonia so: »Prince Dafydd!? Was ist denn das für ein bescheuerter Name?« Keine Ahnung. Am besten Mal DAVID fragen! 🤨😆
Die Zwei vom Bleiben: David und Sonia Lensing am Meer in Padstow.
Das war’s von uns! Zurück in Padstow haben wir unsere Bücher und ein Fläschchen Wein geschnappt und auf Südengland angestoßen. So ein schönes Reiseziel! Cheers!

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Land’s End, Porthcurno Beach und The Minack in Cornwall | Reise, Travel http://www.blogvombleiben.de/lands-end-porthcurno-beach-the-minack/ http://www.blogvombleiben.de/lands-end-porthcurno-beach-the-minack/#respond Mon, 23 Jul 2018 07:00:53 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4273 Wer nach Cornwall reist, wird auch Land’s End erleben wollen. Cornwall (eingedeutscht: Kornwall) ist diejenige Grafschaft,…

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Wer nach Cornwall reist, wird auch Land’s End erleben wollen. Cornwall (eingedeutscht: Kornwall) ist diejenige Grafschaft, die als südwestlichster Landteil von England den Zipfel der South West Peninsula umfasst. Zwischen dem Bristol- und dem Ärmelkanal. In der Nähe der darin gelegenen Stadt Penzance ragt eine Landzunge ins Meer, deren Spitze der westlichste Punkt der Hauptinsel Großbritanniens ist: Land’s End. Auch uns hat es auf unserer Cornwall-Reise dorthin verschlagen – der schönste Ausflug des gesamten Trips. Kleiner Reisebericht.

Zwischen Meerblickbrot und Freilichtbühne

Ausgangspunkt unseres Tagesausflugs am Montag, 16. Juli 2018 war die Hafenstadt Padstow im Norden Cornwalls. Dort durften wir ein kleines Apartment mitten im Städtchen für eine Woche unser Zuhause nennen. Von Padstow nach Penzance sind es mit dem Auto (wenn man langsam fährt, weil man nicht auf das Linksfahren und die Steigungen klarkommt) etwa anderthalb Stunden. Eine schöne Strecke, gesäumt von grünen Panoramen und hin und wieder einem Blick aufs Meer. Nahe Penzance ist das Land’s End dann schon überdeutlich ausgeschildert, so dass man sich getrost vom Navi lösen und den Schildern (oder in unserem Fall: einem Reisebus) folgen kann.

Bloggerin Sonia Lensing steht an der Küste von Land's End in Cornwall, Südengland

Erster Stop: Land’s End

Natürlich ist Land’s End touristisch erschlossen. Wo man an der Südwestspitze Portugals – Cabo de São Vicente – einen Leuchtturm besichtigen und »die letzte Bratwurst vor Amerika« futtern kann, erwartet die Reiselustigen im britischen Land’s End fast ein kleiner Freizeitpark. Schon die Durchfahrt zwischen zwei Mauern, vor denen »LAND’S« und »END« in großen, steinernen Buchstaben rechts und links der Straße stehen, erinnerte mich ein wenig an Jurassic Park. Gleich dahinter knüpfte uns ein überfreundlicher Brite 6 Pfund fürs Parken haben (»you can stay as long as you want«, na dann). Parkplätze sind reichlich vorhanden. Wir trafen in der Mittagszeit bei bestem Sonnenschein ein und hatten kein Problem, unseren VW Polo »paid and displayed« irgendwo abzustellen.

Hier geht’s zur offiziellen Website von Land’s End, samt Übernachtungs- und Erlebnismöglichkeiten für Gäste, die länger bleiben möchte – und für solche, die noch länger bleiben möchten: Jobangebote!

Dinos und domestizierte Kamele

In besagtem, einem Freizeitpark gleichendem Gebäudekomplex, gab es neben anderen Attraktionen für Familien mit Kindern tatsächlich ein 4D-Kino-Erlebnis zu dem aktuellen Dino-Sequel Jurassic World: Das gefallene Königreich. Sehr verlockend, und doch hielten wir uns in diesem (etwas überbevölkerten) Gebäudekomplex nur für unseren rituellen Mittagskaffee auf.

Den Lunch wollten wir hingegen direkt an den Kliffen genießen. Auf dem Fußweg dorthin kommt man an der Greeb Farm vorbei. Dabei handelt es sich um eine der Reklame nach 200 Jahre alte, kornische (also typisch-cornwallige) Farm, wie sie einst wohl oft an der dortigen Küste zu finden war. Ob solche Farmen schon damals neben Schafen auch Alpakas hielten, das weiß ich nicht. Jedenfalls begegneten uns dort, im Vorbeigehen, zwei dieser domestizierten Kamele aus (eigentlich) Übersee.

Butterbrot mit Blick aufs Meer

Hinter der Farm gelangt man schließlich an die Küste. Eine Absperrung zu den Klippen gibt es nicht wirklich. Insofern ist Vorsicht geboten: Da geht’s ziemlich tief hinab. »Dangerous Cliffs« liest man in roten Lettern auf einigen Steinen am Wegesrand.

Ein bemalter Stein warnt vor Dangerous Cliffs am Land's End

Bloggerin Sonia Lensing betrachtet die Klippen am Land's End

Die Aussicht auf das offene Meer war fantastisch. Beeindruckende Felsformationen ziehen sich entlang beider Richtungen, die man zu Fuß weiter erschließen kann. Dort haben wir uns einen abgelegenen Platz gesucht und unser Butterbrot gegessen. Die Möwen an der Küste sind längst nicht so frech, wie im Hafen von Padstow, wo mir eine dieser weißen Luft-Piratinnen mein Eis abgeknüpft hat, direkt aus der Hand (und genau da hört der Spaß nämlich auf!).

Vielmehr segelten die Möwen an Land End’s geradezu majestätisch neben den Felswänden her, wie sie es schon seit Jahrtausenden tun. Ich muss bei dem Anblick solch großer Vögel an der See immer an Flugsaurier denken (ja, Jurassic Park nimmt in meinem Kopf sehr viel Raum ein).

Eine Möwe fliegt entlang der Klippen

Nächster Stop: Porthcurno Beach

Am Nachmittag sind wir schließlich weiter zur Küstensiedlung Porthcurno gefahren – nur 10 Autominuten vom Land’s End entfernt. Schon tags zuvor hatten wir übers Internet Tickets für das Minack Theatre (oder einfach: The Minack) bestellt, die 20-Uhr-Vorstellung des Stücks Candide. Dazu waren wir satte vier Stunden zu früh vor Ort, aber in Porthcurno kriegt man diese Zeit bei gutem Wetter wunderbar um. (Bei schlechtem Wetter übrigens auch, etwa mit einem Besuch im unterirdischen Porthcurno Telegraph Museum – vorausgesetzt, man interessiert sich für Telegrafie und so ’n Zeugs.)

Bei unserer Ankunft in Porthcurno schien die Sonne, keine Wolke am Himmel, und schon am Parkplatz kamen uns Menschen in Badekluft entgegen. Yeah! Wo kamen diese Beachboys and -girls bloß her!?

Kleiner Exkurs zum Parken in Porthcurno: Man wird, wenn man in den Mini-Ort fährt, wie automatisch auf einen größeren Parkplatz gelotst. Von dem aus sind Strand, Museum und Beach Café fußläufig erreichbar. (Ebenso, etwas bergauf, das Minack Theatre. Das hat aber nochmal einen eigenen, großen, kostenlosen Parkplatz, wie wir etwas zu spät gelernt haben.) Die Kosten fürs Parken belaufen sich von 2 Pfund (für 2 Stunden) bis maximal rund 6 Pfund (für den ganzen Tag). Hier geht’s zum Euro-Pfund-Umrechner.

Sprung ins Blaue

Von einem Strand in Porthcurno hatten wir zuvor gar nichts gehört, gelesen, gesehen, somit auch keine Badesachen mitgebracht. Zu dumm, dachten wir, als wir über bewaldete Wege in die Bucht von Porthcurno schlenderten und diesen großartigen Strand vor uns sahen. Heller, feiner Stand, strahlend blaues Wasser, ein bisschen Wellengang und nur wenige Menschen. Das alles vor traumhafter Kulisse, eingerahmt in grün umsäumte Klippen, dazwischen wie gemalt der Horizont: Wow!

Panorama-Bild vom Porthcurno Beach

Und mal ehrlich, wer braucht schon Badesachen? Wir haben uns kurzerhand in Unterwäsche ins Wasser gestürzt und das kalte Nass genossen. (Mit rund 16 Grad nicht sooo kalt wie erwartet. Überhaupt haben wir an diesem sonnigen Juli-Tag am Strand kaum glauben können, in Groß-Britannien zu sein. Erinnerte zuweilen eher ans Mittelmeer.)

Am Ende des Tages sind wir, getrocknet (sowie etwas verbrannt) von der Sonne und mit Meersalz in den Haaren hoch zum Minack gelatscht. Oben haben wir am Holzhäuschen unsere hinterlegten Tickets abgeholt. Nach wie vor zu früh, konnten wir auch dort einmal mehr die Klippen erkunden und tolle Aussichten genießen – plus leckeres Essen! Denn anders als andere, geregeltere Theaterbesucher*innen hatten wir kein Picknick mitgebracht. (Es gibt neben dem Parkplatz einen Garten mit Holztischen und -bänken. Auf denen kann man sich auch prima mit eigenem Proviant ausbreiten.) Unser Abendessen haben wir an dem Stand von Katie’s Cornish Hot Pots geholt: ne ordentliche Portion veganer Kichererbsen-Eintopf mit Reis und Tortilla-Brot im Takeaway-Pappkarton, perfekt!

100 Jahre Bernstein

Zum krönenden Abschluss dann die Aufführung im Freilichttheater. Das Stück unserer Wahl: Candide oder der Optimismus, von (ursprünglich) dem großen Philosophen Voltaire. Der Komponist Leonard Bernstein hat’s in den 50er und nochmal in den 70er Jahren zu einem Musical adaptiert. Und weil dieser gute Mann diesen Sommer 100 Jahre alt geworden wäre, wurde ihm zu Ehren eben dieses Bühnenstück zum Besten gegeben.

David und Sonia Lensing im Minack Theatre, Cornwall

Bühne des Minack Theatre, Cornwall

Naturgewaltige Kulisse

Das Minack Theatre befindet sich an einem Felshang. Aufgebaut und über Jahrzehnte gepflegt wurde es von der Britin Rowena Cade. Das ist die Schwester der visionären, feministischen Schriftstellerin Katharine Burdekin (Nacht der braunen Schatten). Die Tribünen dieses Ausnahme-Theaters sind in die Klippen eingearbeitet und der Blick der Zuschauer*innen geht, über die Bühne hinaus, aufs freie Meer. Samt der Wolkenformationen, die darüber von Wind und Wetter in Szene gesetzt werden. Eine krasse Kulisse, vor der man tatsächlich vermutlich jedes noch so miese Musical irgendwie dramatisch finden muss. Stattdessen aber erweckten das Ensemble, begleitet von einem Live-Orchester, die Geschichte um den optimistischen Herrn Candide und seiner nicht ganz optimalen Reise um die Welt auf beeindruckende Art und Weise zum Leben. Doch davon ein andermal mehr.

Steine bilden das Wort END an Land's End in Cornwall, England

Weitere Reiseberichte:

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GHOSTLAND, Horror von Pascal Laugier, Set-Unfall | Film 2018 | Kritik, Spoiler http://www.blogvombleiben.de/film-ghostland-2018/ http://www.blogvombleiben.de/film-ghostland-2018/#respond Mon, 09 Jul 2018 07:00:21 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4241 Er hat es wieder getan. Der Franzose Pascal Laugier lebt seit nunmehr 15 Jahren sein Faible…

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Er hat es wieder getan. Der Franzose Pascal Laugier lebt seit nunmehr 15 Jahren sein Faible für Horrorfilme in schöpferischer Funktion aus – als Drehbuchautor und Regisseur. Mit Ghostland findet er beinahe zu der Härte zurück, die ihn mit Martyrs (2008) bekannt gemacht hat. Überschattet wird Laugiers neuer Film allerdings von einem Unfall, der sich beim Dreh ereignete und Schauspielerin Taylor Hickson mit einer Narbe im Gesicht zurücklässt.

Vorfall im Geisterland

Deadline Hollywood spricht von der Ironie, dass das Kinoplakat zum Film Ghostland das Gesicht einer jungen Frau wie von Scherben zerschmettert zeigt. Die Anklageschrift spricht von mangelnden Industriestandards und wirft der Produktionsfirma vor, die Schauspielerin Taylor Hickson in eine absehbar gefährliche Situation gebracht hat. Regisseur Pascal Laugier wird indes in dieser Anklageschrift nicht erwähnt, obwohl er bei dem Unfall eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint. Mehr dazu im Absatz »Set-Unfall mit Taylor Hickson«.

Zum Inhalt: Eine Mutter und ihre zwei Töchter beziehen das Haus einer verstorbenen Verwandten. Doch schon in der ersten Nacht werden sie in dem düsteren Anwesen von üblen Gewaltverbrechern attackiert, die das Leben der Frauen grundlegend verändern.

Hinweis: Dieser Text enthält Spoiler zu allen Filmen von Pascal Laugier, aber nur im Absatz »Misogynistischer Folter-Porno?«, bis dahin, schönes Lesen! Eine weitere Rezension zu Ghostland, mehr auf den Inhalt als auf den Kontext bezogen, habe ich für kinofilmwelt.de geschrieben.

Zwei Mädchen flüchten Hand in Hand in einen Wald, Standbild aus dem Film Ghostland | Bild: Mars Films

Totale: Ghostland im Zusammenhang

Cineastischer Kontext

Pascal Laugiers erster Film (Haus der Stimmen) handelte von einer jungen Frau, die sich in ein spukendes Waisenhaus zurückzieht, um in aller Heimlichkeit ihr Kind auf die Welt zu bringen. Laugiers zweiter Film (Martyrs) erzählte die Geschichte von zwei jungen Frauen, die im Rahmen eines Racheakts eine ganze Familie hinrichten, ehe sie selbst bluten müssen. Sein dritter Film (The Tall Man) handelte von einer jungen Frau in einer Stadt, in der Kinder von einem »großen Mann« entführt werden – ein sehr (eher: zu) wendungsreicher Wannabe-Polit-Thriller mit Horrorelementen.

Im vierten Film sind nun zwei Frauen (mal als Jugendliche, mal als Erwachsene, also vier Schauspielerinnen) der rohen Brutalität zweier Gewaltverbrecher ausgesetzt. Es verwundert nicht, dass Filmkritikerin Antje Wessels den Regisseur bei einem Interview im April 2018 also auf seine Wahl immerzu weiblicher Hauptfiguren angesprochen hat. Und er so:

Für mich sind Mädchen »das große Andere«. Sie sind alles, was ich niemals sein werde. Und ein paar Wochen auf einem Set zu verbringen und Schönheiten, ich meine, Gesichter zu filmen, die mich faszinieren – auch das ist für mich ein Grund, Filme zu machen. Vielleicht war ich in der Schule einer der von den Mädchen zurückgewiesenen Jungs – und ich mache Filme, um geübt darin zu werden, ihnen zu gefallen. Um ihnen zu zeigen, dass ich selbst ein liebenswerter Typ bin.

Pascal Laugier im YouTube-Interview mit Filmkritikerin Antje Wessels

Ich persönlich finde, der heute 46-jährige Pascal Laugier hat sich nicht das beste Genre ausgesucht, um den »girls« zu gefallen. Aber hey, wo die Liebe hinfällt… und dass seine Liebe dem Horror-Genre gilt, das hat der Mann ja nun auf vierfache, sehr unterschiedliche Weise in Spielfilmlänge unter Beweis gestellt. Dabei ist sein Œu­v­re von solch wechselhafter Qualität, dass ich dem Herrn Laugier aktuell keine Träne nachweinen täte, wenn er sich vom Regiestuhl wieder aufs heimische Sofa begäbe.

In einem Abgesang über den »Retro-Wahn des Gegenwartskinos« schreibt Georg Sesslen (DIE ZEIT, N° 31, 26. Juli 2018) anlässlich des Remake von Papillon über ein »System der Selbstreferenz«.

Die Filme beziehen sich nicht mehr auf eine Art von äußerer Wirklichkeit, sondern auf andere Filme und andere Ereignisse innerhalb der Popkultur. Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht auf das Leben ihrer Konsumenten beziehen würden, dann das besteht ja in der Regel zur Hälfte aus Popkultur-Konsum.

Dabei habe ich (nach kurzer Empörung: Wie herablassend schreibt dieser Typ bitte über mein Leben!?) an Ghostland denken müssen. Wie viele Zeilen, Szenen, Kulissen, Ideen, ja ganze Versatzstücke dieses Films sind (bewusst oder unbewusst) nicht Referenzen an etwaige namhafte Vertreter*innen der Horror-Genres? Tobe Hooper und Rob Zombie als nur prominenteste Beispiele.

Noch vor dem ersten Bild serviert Ghostland bereits die erste Referenz in aller Deutlichkeit, eine, die sich durch den gesamten Film zieht. Der Streifen fängt mit einem Zitat an.

Close-up: Ghostland im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Zu Beginn des Films Ghostland sehen wir einen Schwarzweiß-Porträt des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft (1890-1937). Darunter – in Schreibmaschinen-Lettern getippt, erscheint die Zeile:

Freakin‘ awesome horror writer. The best. By far. | Elizabeth Keller

Wie aus der Zeit gefallen: Ein schwarz gekleideter Junge mit einem Hut rennt über einen Acker. Hin zu einer Straße, auf der gerade ein Wagen vorbeifährt. Mitten auf der Straße bleibt der Junge stehen und schaut dem Wagen nach. Aus dem Wagen, von der Rückbank aus, begegnet ein Mädchen (Taylor Hickson) seinem Blick. Ihre Schwester (Emilia Jones), auf dem Beifahrersitz, liest derweil eine selbst geschriebene Grusel-Geschichte vor. Anschließend wird sie von ihrer Mutter, am Steuer, für die Geschichte gefeiert und von ihrer Schwester beleidigt. Typisches Familiengezanke also, bis sich ein wild hupender Candy Truck von hinten nähert und den Wagen überholt.

Im Truck sieht man nur zwei dunkle Silhouetten, die den irritierten Frauen zuwinken. Spooky shit. Dann zieht der Wagen vorbei und der Titel erscheint: Incident in a Ghostland (der etwas längere, alternative Titel des Films)

An einer Tanke kauft die schriftstellerisch ambitionierte Tochter etwas zu knabbern. Draußen fährt jener Candy Truck vorbei, gruselig langsam, das Licht in der Tanke flackert, als hätte der Sicherungskasten Angst bekommen. Besagte Tochter wirft einen Blick auf die Titelseite einer Zeitung, die da rumliegt: »Familien-Killer schlagen zum fünften Mal zu!« (wenn man später erlebt, wie auffällig und unvorsichtig diese Killer unterwegs sind… dann muss man sich schon sehr wundern: Wie genau hat die Polizei denn bisher versucht, sie aufzuhalten?)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

All die üblen Vorzeichen führen rascher als gedacht zur Konfrontation zwischen den Familien-Killern und der Familie. Dabei geht es brutal zur Sache. Die Gewalt-Eskalation zum Auftakt des Films ist derartig heftig in Szene gesetzt, dass sich schon hier die Spreu vom Weizen trennen wird: die Zuschauer*innen, die solche Filme lieber meiden, und diejenigen, die bleiben. Letztere bekommen einen Film zu sehen, der handwerklich sehr gut gemacht ist. Vieles, was an Pascal Laugiers vorausgegangenem Werk The Tall Man mies war (die Computer-Effekte, die unglaubwürdigen Twists, die politische Message) fallen weg. Stattdessen: Absolut solides Genre-Kino, dass zur Entspannung zwischen den Gewalt-Exzessen gekonnt Zeit- und Wirklichkeits-Ebenen wechselt. Samt Cameo-Auftritt von H. P. Lovecraft.

Die Kritik zum Film fällt sehr gemischt aus (siehe: englischer Wikipedia-Beitrag). Manch Filmrezensent*innen schlagen mit ihrem Lob ein bisschen über die Stränge. So schreibt Simon Abrams (The Village Voice):

[Ghostland] ist eine verstörende, effektvolle Kritik an misogynistischen Folter-Pornos. […] Der Film mag zuweilen daherkommen wir ein blutrünstiger Slasher-Klon, aber Laugiers gefolterte Mädchen erweisen sich immer wieder stärker als ihre brutal entstellten Körper.

Misogynistischer Folter-Porno? (Achtung, Spoiler!)

In Haus der Stimmen stirbt die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen im Arm. Im Laufe von Martyrs schlitzt sich die eine Hauptfigur selbst auf, die andere wird gehäutet – und stirbt elendig. Am Ende von The Tall Man wird die weibliche Hauptfigur auf Lebenszeit weggesperrt, nachdem man ihr die Scherben aus dem Gesicht gepickt hat. In Ghostland, das stimmt, da überleben die beiden Mädchen die schier endlosen Gewalt-Attacken in den vorausgegangenen anderthalb Stunden.

Man kann nicht behaupten, ein Film sei nicht misogynistisch oder gar feministisch, nur weil die weiblichen Protagonistinnen am Ende irgendwie mit dem Leben davon kommen. Ghostland ist ein Folter-Porno, der Misogynisten gefallen wird. Ebenso, wie Der Soldat James Ryan kein Antikriegsfilm, sondern ein Kriegsfilm ist, der all denen gefällt, die Lust auf Kriegs-Action haben.

[Die Gewalt] dient als Mittel zum Zweck, um Zuschauer*innen daran zu erinnern, dass Traumata die menschliche Psyche schädigen können. Doch darüber hinaus scheint Ghostland nichts zu sagen zu haben. Der Mittel zum Zweck führt zu keinem tieferen Sinn oder einer größeren Idee, so dass die Unmenschlichkeit sich wirklich lohnt. Die Story ist zu hauchdünn, um zu rechtfertigen, was ihre Charaktere durchleben müssen. Dadurch wirkt die Gewalt als Ziel gesetzt und misogynistisch.

Day Ebaben (BloodyDisgusting), aus dem Englischen übersetzt

Das Kunstschaffen von Pascal Laugier

Pascal Laugier wurde am 16. Oktober 1971 geboren. Er begann seine Karriere als Assistent des Regisseurs und Filmproduzenten Christophe Gans (Silent Hill, Die Schöne und das Biest). So drehte Laugier zu dessen Pakt der Wölfe (2001) mit Vincent Cassel eine Making-of-Dokumentation (und er trat selbst in dem Film auf).

Später schrieb und inszenierte Pascal Laugier nach seinem Debüt Haus der Stimmen (2004) den Horror-Schocker Martyrs (2008), seit dem er dem New French Extremism zugeordnet wird. Das Gewalt-Spektakel brachte dem Regisseur einige Kontakte in Hollywood ein, wo er nach eigenen Aussagen, »drei oder vier verschiedene Projekte« unterzeichnete. Eines davon war ein Remake zu dem Horror-Klassiker Hellraiser (1987), von dem er jedoch wieder zurücktrat (oder zurückgetreten wurde). Hier ist Laugiers Sicht der Dinge:

Ich hatte das Gefühl, dass die Produzenten hinter dem neuen Hellraiser keinen wirklich seriösen Film machen wollten. Nun, für mich wäre ein neuer Hellraiser vor allem ein Film über die SadoMaso-Schwulen-Kultur, weil es von einem homosexuellen Begehren herrührt – und Hellraiser handelt von solchen Dingen. Ich wollte nicht die ursprüngliche Version von Clive Barker [Hellraiser-Schöpfer] betrügen.

Pascal Laugier im Interview mit Ambush Bug (AICN)

Die Produzenten hingegen seien eher an einem kommerziell erfolgreichen Remake für Teenager*innen als Zielgruppe interessiert gewesen. Statt eines Hellraiser-Remakes drehte Laugier stattdessen den Mystery-Thriller The Tall Man (2012). Im Jahr 2015 inszenierte außerdem er das Musikvideo zu City Of Love über gefallene (gruselig ausschauende) Engel und die Faszination für den menschlichen Körper. Die französische Popsängerin und Schauspielerin Mylène Farmer, die City Of Love sang, übernahm 6 Jahre nach Pascal Laugiers letztem Spielfilm die Rolle der Mutter in Ghostland. (Die lange Dauer zwischen seinen Projekten schreibt er Finanzierungsschwierigkeiten zu.)

Set-Unfall mit Taylor Hickson

Nun ist für einen Star für Mylène Farmer dieser Film nur eines von vielen Werken in einer langen Karriere. Für die meisten Cast- und Crew-Mitglieder*innen und Zuschauer*innen wird Ghostlandnur ein weiterer Horror-Film sein. Einer, der manchen mehr, manchen weniger gefällt, aber kaum das Zeug hat, lange von sich reden zu machen.

Allein für Schauspielerin Taylor Hickson stellt dieser Film eine Zäsur dar. Ein Schnitt, der ihr Leben in ein »Davor« und »Danach« unterteilt. Grund ist eine Szene, in der Hickson gegen eine Glastür hämmern sollte, härter, wie es der Regisseur Pascal Laugier wollte, so hart, bis das Glas brach und die junge Frau hindurch fiel. Dabei schlitzte eine Scherbe ihr Gesicht so sehr auf, dass Taylor Hickson mit 70 Stichen genäht werden musste. Die Narbe wird die Schauspielerin für den Rest ihres Lebens im Gesicht tragen. Zitat des Regisseurs:

Manchmal war ich der Bösewicht am Set. Die Crew verhielt sich sehr beschützend gegenüber den Schauspielerinnen und ich musste sie davon abhalten. Ich wollte, dass sich die Schauspielerinnen einsam und sozusagen miserabel fühlen – damit sie fähig waren, das darzustellen, was das Skript abverlangte. Also, yeah, hin und wieder fühlte ich mich wie der Bösewicht, aber die einzige Sache, woran ich dabei dachte, war der finale Film.

Pascal Laugier im Interview mit Darren Rae (Review Graveyard), 17. März 2009

Nie wieder mit Laugier

Dieses Zitat bezieht sich gar nicht auf Ghostland. Sondern auf Martyrs, dem anderen Gewalt-Schocker, den Laugier 10 Jahre zuvor gedreht hat. Als die Schauspielerinnen aus dem Film damals, Morjana Alaoui und Mylène Jampanoï, ein Interview gaben, kam dieser Gesprächsfetzen zustande (aus dem Englischen übersetzt):

Rob Carnevale (Indie London): Pascal scheint ein wirklicher netter, sanfter Typ zu sein… wie war er als Regisseur? MJ: Das ist nicht wahr… MA: Er hat eine sehr sanfte Seite und eine sehr gewaltsame Seite. Er hätte diesen Film nicht gemacht, wenn es diese gewaltsame Seite nicht gäbe. Und ich denke, dass er eine sehr gewaltsame Haltung gegenüber der Welt hat. RC: Würdet ihr wieder mit ihm arbeiten? MJ: Niemals! [Lacht.] MA: Ich ebenfalls nicht. MJ: Kann ich noch sagen, dass wir uns zwar darüber beschwert haben, aber das wir trotzdem eine exzellente Zeit dort hatten? Und auf professioneller Ebene, als Schauspielerinnen, haben wir viel über uns gelernt.

Fazit zu Ghostland

Horrorfilme sind heute, was öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter waren: Ein Spektakel für Menschen, die von Gewalt fasziniert sieht (mich eingeschlossen). Und so wie Henker*innen damals sicher eine »gewaltsame Seite« hatten, haben sie heute Filmemacher*innen. Indem sie ihre Gewaltfantasien inszenieren und damit die Gewaltfantasien etlicher Anderer bedienen, schaffen sie ein Ventil für sadistischen Voyeurismus. Oder sie fördern ihn damit nur, so kann man es auch sehen. Ich persönliche gehöre eher der ersteren Meinung an. Doch mir graut es bei einem Regisseur, der sein filmisches Ergebnis höher wertet, als das Wohlbefinden aller Beteiligten.

Erst recht, wenn die Story derart dünn ist. Auch die Charaktere des Films bleiben substanzlos. Bloße Täter-/Opfer-Schablonen, wie man sie aus x-beliebigen Horrorfilmen kennt, die man sieht und wieder vergisst. Da warte ich doch lieber auf das nächste Werk des Meisters popkultureller Referenzen, zuweilen gar mit Wirklichkeitsbezug: Quentin Tarantino. Dessen nächster Streich soll vom mörderischen Treiben der Manson-Familie handeln.

Weitere Filmtipps:

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Wie ein Staffelfinale, nur echter | Gedanken zur Hochzeit http://www.blogvombleiben.de/wie-ein-staffelfinale-gedanken-zur-hochzeit/ http://www.blogvombleiben.de/wie-ein-staffelfinale-gedanken-zur-hochzeit/#respond Sat, 07 Jul 2018 17:00:09 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4246 Seit September vergangenen Jahres wussten wir, dass dieser Tag kommen würde. In den vergangenen Monaten hatten…

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Seit September vergangenen Jahres wussten wir, dass dieser Tag kommen würde. In den vergangenen Monaten hatten wir mal lockere, mal wuselige Planungsphasen. Eher zufällig haben wir in eben dieser Zeit wieder einmal unsere Lieblings-Sitcom Friends (1994-2004) durchgeschaut. Darin geht es bekanntlich nicht selten um eben jenes Thema, das uns selbst bewegte. Und wäre unser Leben eine Serie, dann war am vergangenen Wochenende wohl Staffelfinale – mit Hochzeit! Wir möchten allen Beteiligten ganz herzlich danken!

Hochzeit? Check.

Sonia und David Lensing bei der Hochzeit

David: Bei der Serie Friends ist es ja so, dass Hochzeit als Thema zuweilen auf eine Weise behandelt wird, die man als durchaus abschreckend empfinden kann. Je nach dem, wann man sich mit wem gerade am ehesten identifiziert. Ich persönlich kriege Monicas Wedding-Ordner nie aus dem Kopf. Dieses monumentale Sammelwerk für die Planung sämtlicher Aspekte rund um »den schönsten Tag«. Ein armdicker Packen Unterlagen, mit dem man eine ganze Hochzeitsgesellschaft hätte totschlagen können. Wenn in meinen Alpträume Requisiten aus Friends auftauchten, dann nicht etwa Phoebes Gladys-Gemälde – sondern dieses Ding.

Ein winziges bisschen hatte ich ja die Befürchtung, dass auch Sonia vor der Hochzeit so einen Ordner hervorziehen würde. Tadaaa! Brautzilla! Aber allzu ernst hab ich diese Sorge nie genommen. Sonst hätt‘ ich sie ja nicht gefragt.

Sonia: Ahnte ich etwas, als wir aufs Tretboot stiegen und die Schlucht von Gorges de Verdon entlang paddelten? Ein klein wenig schon. Lag da etwas Seltenes in seinem Blick? Erst auf das türkisfarbene Wasser gerichtet (sucht er wieder Fische?), dann in meine Augen. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich. So lang hat er mich noch nie angeguckt (wie ein Fisch halt 😜). »Ja, ich bin nur ein wenig nervös, weil ich denke, dass ich dich jetzt etwas fragen möchte.« Ab da ahnte und irrte und ahnte ich wieder. Erst ein Griff in die Kameratasche – ok, Sonia, er will nur den Akku wechseln – doch dann: »Sonia Małgorzata Kansy…« –  tja, ein Dreivierteljahr später, da trag ich diesen Namen nun nicht mehr. Denn ich hab »Ja« gesagt.

Das größte Geschenk

Und heute möchte ich »Danke« sagen. Danke an unsere Familien, die uns mit kreativer Energie und Organisationstalent tatkräftig unterstützt haben. An meine Brautjungfern und Freundinnen, die mir beim Brautkleid, den Schuhen und den letzten Minuten vor dem Einzug mit Rat und Tat, Fingerspitzengefühl und Piccolöchen zur Seite standen. An meinen Trauzeugen und großen kleinen Bruder, dessen Stimme für Gänsehaut sorgte (danke für die Rede!) und jedes Bein bewegte (danke für den Auftritt mit deiner Band!!!). Danke an alle Freunde und Verwandte, die diesen Tag so wunderschön harmonisch gemacht haben. Und danke natürlich an Jesse, unseren tollen Zeremonienmeister!

Last but not least: Danke ans Universum. An was auch immer da draußen uns so viel Glück beschert hat. Wir konnten diesen Tag gemeinsam mit all unseren Lieben in guter Gesundheit feiern – das war das größte Geschenk. Denn Bräute lasst es euch sagen: Egal, welche Deko, Blumen, Schnick und Schnack und Pinterest-Zeugs euch auf Trab halten, am Ende ist all das nicht wichtig. Dass man zusammen aufs gemeinsame Wohl anstoßen kann, das stellt alles andere einfach in den Schatten.

Die Blogger Sonia und David Lensing mit dem Schauspieler Jesse Albert.

David: Mir war wichtig, dass wir eine freie Trauung feiern – und Sonias Traum war’s, draußen zu heiraten. Drum haben wir unsere Wünsche zusammengelegt und unsere Hochzeit als freie Trauung unter freiem Himmel gefeiert. Dass uns bei diesem Fest ein Trauredner begleitet hat, der uns auch noch persönlich kennt, dass war für mich die Kirsche auf der Sahnetorte. Sagt man das so? Na, Jesse Albert jedenfalls, mein Lieblingsschauspieler und zauberhafter Drehpausenclown, war eben diese Kirsche. Ich selbst kenne Jesse seit Frohzusein (2012), einem Kurzfilm übers Fremdgehen. Sonia hat ihn dann bei Wo wir weinen (2013) kennengelernt, einem Kurzfilm über Kriegstraumata. Fünf Jahre später haben wir uns nun endlich mal zu einem fröhlicheren Anlass zusammengefunden.

Jenes Höhere Wesen

Auch wenn ich im Gegensatz zu Sonia immer eher denke: letztendlich sind wir dem Universum doch egal… – dieses eine Mal muss ich meiner lieben Schicksalsschwärmerin doch beipflichten. Dass dieser Tag so hell und leicht und schön werden würde, dass hat zwischendurch nicht immer so ausgehen. In diesem Sinne ein dickes Danke an Jenes Höhere Wesen!

PS: Danke auch an alle Leser*innen, die unseren Blog vom Bleiben verfolgen! Wir wissen noch nicht genau, wohin diese Reise wohl geht, aber wir freuen uns sooo sehr, dass ihr sie begleitet 🙂

Euer schreiblustiges Paar,
Frau & Herr vom Bleiben


Zuletzt ein paar romantische Filmtipps:

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