Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.
In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.
Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.
Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.
Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.
Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.
Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«
Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.
Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?
Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.
Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13
Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center
Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.
Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.
Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:
Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)
Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.
Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.
Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):
In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.
[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70
Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.
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]]>Der Beitrag Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.
Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert?
Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?
Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.
»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.
Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.
Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.
Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)
Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.
Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace
Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.
Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.
Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.
Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.
Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.
Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:
Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.
Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace
Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:
Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.
Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:
Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.
Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.
[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.
Be at my best,
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.
Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.
[Refrain]
Here, at my best, it’s all at rest,
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.
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]]>Der Beitrag Wie ein Staffelfinale, nur echter | Gedanken zur Hochzeit erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>David: Bei der Serie Friends ist es ja so, dass Hochzeit als Thema zuweilen auf eine Weise behandelt wird, die man als durchaus abschreckend empfinden kann. Je nach dem, wann man sich mit wem gerade am ehesten identifiziert. Ich persönlich kriege Monicas Wedding-Ordner nie aus dem Kopf. Dieses monumentale Sammelwerk für die Planung sämtlicher Aspekte rund um »den schönsten Tag«. Ein armdicker Packen Unterlagen, mit dem man eine ganze Hochzeitsgesellschaft hätte totschlagen können. Wenn in meinen Alpträume Requisiten aus Friends auftauchten, dann nicht etwa Phoebes Gladys-Gemälde – sondern dieses Ding.
Ein winziges bisschen hatte ich ja die Befürchtung, dass auch Sonia vor der Hochzeit so einen Ordner hervorziehen würde. Tadaaa! Brautzilla! Aber allzu ernst hab ich diese Sorge nie genommen. Sonst hätt‘ ich sie ja nicht gefragt.
Sonia: Ahnte ich etwas, als wir aufs Tretboot stiegen und die Schlucht von Gorges de Verdon entlang paddelten? Ein klein wenig schon. Lag da etwas Seltenes in seinem Blick? Erst auf das türkisfarbene Wasser gerichtet (sucht er wieder Fische?), dann in meine Augen. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich. So lang hat er mich noch nie angeguckt (wie ein Fisch halt 😜). »Ja, ich bin nur ein wenig nervös, weil ich denke, dass ich dich jetzt etwas fragen möchte.« Ab da ahnte und irrte und ahnte ich wieder. Erst ein Griff in die Kameratasche – ok, Sonia, er will nur den Akku wechseln – doch dann: »Sonia Małgorzata Kansy…« – tja, ein Dreivierteljahr später, da trag ich diesen Namen nun nicht mehr. Denn ich hab »Ja« gesagt.
Und heute möchte ich »Danke« sagen. Danke an unsere Familien, die uns mit kreativer Energie und Organisationstalent tatkräftig unterstützt haben. An meine Brautjungfern und Freundinnen, die mir beim Brautkleid, den Schuhen und den letzten Minuten vor dem Einzug mit Rat und Tat, Fingerspitzengefühl und Piccolöchen zur Seite standen. An meinen Trauzeugen und großen kleinen Bruder, dessen Stimme für Gänsehaut sorgte (danke für die Rede!) und jedes Bein bewegte (danke für den Auftritt mit deiner Band!!!). Danke an alle Freunde und Verwandte, die diesen Tag so wunderschön harmonisch gemacht haben. Und danke natürlich an Jesse, unseren tollen Zeremonienmeister!
Last but not least: Danke ans Universum. An was auch immer da draußen uns so viel Glück beschert hat. Wir konnten diesen Tag gemeinsam mit all unseren Lieben in guter Gesundheit feiern – das war das größte Geschenk. Denn Bräute lasst es euch sagen: Egal, welche Deko, Blumen, Schnick und Schnack und Pinterest-Zeugs euch auf Trab halten, am Ende ist all das nicht wichtig. Dass man zusammen aufs gemeinsame Wohl anstoßen kann, das stellt alles andere einfach in den Schatten.
David: Mir war wichtig, dass wir eine freie Trauung feiern – und Sonias Traum war’s, draußen zu heiraten. Drum haben wir unsere Wünsche zusammengelegt und unsere Hochzeit als freie Trauung unter freiem Himmel gefeiert. Dass uns bei diesem Fest ein Trauredner begleitet hat, der uns auch noch persönlich kennt, dass war für mich die Kirsche auf der Sahnetorte. Sagt man das so? Na, Jesse Albert jedenfalls, mein Lieblingsschauspieler und zauberhafter Drehpausenclown, war eben diese Kirsche. Ich selbst kenne Jesse seit Frohzusein (2012), einem Kurzfilm übers Fremdgehen. Sonia hat ihn dann bei Wo wir weinen (2013) kennengelernt, einem Kurzfilm über Kriegstraumata. Fünf Jahre später haben wir uns nun endlich mal zu einem fröhlicheren Anlass zusammengefunden.
Auch wenn ich im Gegensatz zu Sonia immer eher denke: letztendlich sind wir dem Universum doch egal… – dieses eine Mal muss ich meiner lieben Schicksalsschwärmerin doch beipflichten. Dass dieser Tag so hell und leicht und schön werden würde, dass hat zwischendurch nicht immer so ausgehen. In diesem Sinne ein dickes Danke an Jenes Höhere Wesen!
PS: Danke auch an alle Leser*innen, die unseren Blog vom Bleiben verfolgen! Wir wissen noch nicht genau, wohin diese Reise wohl geht, aber wir freuen uns sooo sehr, dass ihr sie begleitet
Euer schreiblustiges Paar,
Frau & Herr vom Bleiben
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]]>Der Beitrag HAIRSPRAY mit Ricki Lake, Nikki Blonsky | Filme 1988, 2007 | Kritik, Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Mit den »Bradys« sind Ian Brady und Myra gemeint, seine Lebensgefährtin oder vielmehr: Komplizin. Die beiden haben in den 60er Jahren mehrere Kinder und Jugendliche gefoltert und grausam ermordet. »Die Mansons« sind jenes kriminelle Kollektiv um den Rassisten Charles Manson, der seine Anhänger*innen ebenfalls zu Morden aufrief. Die Faszination des Filmemachers John Waters für die Manson-Familie, deren Mitglieder*innen er gar im Gefängnis besuchte, geht soweit, dass er seinen Film Female Trouble (1974) einem Manson-Mitglied widmete: Charles Watson. Dieser war unter anderem an der Ermordung der Schauspielerin Sharon Tate beteiligt. Mit der Aufsehen erregenden Bluttat sollte – so die Idee des fanatischen Charles Manson – ein Rassenkrieg zwischen Schwarzen und Weißen ausgelöst werden.
Wie passt die Faszination für derart menschenverachtende, rassistisch motivierte Taten mit einem Film wie Hairspray zusammen, der wie kaum ein anderer für Nächstenliebe und Toleranz wirbt, Menschen zusammenbringen will und Anstand statt Ausschluss fordert? Diese Frage stellt sich nur dann, wenn wir unser logisches Denkvermögen auf einen Gegenstand anwenden, der von Natur keiner inneren Logik folgt: Homo Sapiens.
[andere Frage: Wie kommt David Edelstein zu einer solch grauenvollen, unnötigen Floskel? Als Familienmitglied eines der Mordopfer liest sich ein solcher Humor sicher als blanker Hohn.]
Jener John Waters, Regisseur des Hairspray-Originals, hat im Hairspray-Remake einen kleinen Gastauftritt. Die Hauptfigur Tracy (Nikki Blonsky) begegnet ihm, während sie singend den Bürgersteig entlangmarschiert. Waters, mit seinem markanten Bleistift-Schnurrbart und einem langen Mantel, grüßt das Mädchen freundlich. Dann wendet er sich ab und reißt den nächsten Passantinnen gegenüber seinen Mantel auf, darunter offenbar nackt, der alte Perversling.
Diese Szene, in der zwischen nettem Gruß und obszöner Geste nur Sekunden liegen, ist beispielhaft für John Waters. Dessen zotiger Flausenkopf ist es, der das Original-Drehbuch zu Hairspray hervorgebracht hat, einem integrativen Feel-Good-Familienfilm vom Feinsten, sowohl in alter als auch in neuer Version.
Inhalt: Hairspray handelt von der Teenagerin Tracy Turnblad (1988: Ricki Lake, 2007: Nikki Blonsky). Sie und ihre Freundin Penny sind große Fans der Corny Collins Show. In dieser TV-Show, die von ihrer Heimatstadt Baltimore ausgestrahlt wird, tanzen weiße Teens zu hipper Musik (für die schwarzen Teens gibt es einen »Negro Day«, einmal im Monat). Die jungen Tänzer*innen der Show werden vom Publikum als Stars gefeiert – und Tracy träumt davon, selbst einmal in dieser Show aufzutreten… der Traum wird wahr, dank ihrer Tanzbegabung und trotz ihres Übergewichts. Die Berufung des fröhlichen, fülligen Mädchens in die Show löst einen ungeahnten Wandel in Baltimore aus.
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text nimmt (im Absatz »Bleibender Eindruck«) nur ein paar Pointen vorweg, verrät aber nichts über den durchaus spannenden Handlungsverlauf. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.
Dass ausgerechnet John Waters einen Film über die Integration von Außenseitern in die öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung macht, hat einen autobiografischen Touch. So integrierte sich der Untergrund-Filmemacher mit einem Faible für Fetische und gesellschaftliche Außenseiter mit seinem ersten Mainstream-Film Hairspray doch selbst in die öffentliche Wahrnehmung.
Während sein wohl berüchtigtes Werk, Pink Flamingos (1972) nur von einem vergleichsweise kleinen Personenkreis als Kultfilm und »Meilenstein des schlechten Geschmacks« gefeiert wird, hat Hairspray seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1988 eine breite Rezeption erfahren. Von einer Adaption als Broadway-Musical im Jahr 2002 bis zum Kino-Remake im Jahr 2007, das Film und Musical auf virtuose Weise miteinander verbindet.
Durch die Lektüre von Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter bin ich auf Hairspray aufmerksam geworden. Butler führt diesen Film aufgrund des Schauspielers Harris Glenn Milstead alias Divine an, der – als vermutlich berühmteste Drag-Queen seiner Zeit – in Hairspray eine Doppelrolle spielt. Er tritt als rassistischer Fernsehstudio-Boss sowie als Mutter der Hauptfigur auf. Letztere Rolle fällt deutlich größer aus.
Divine hat bis Hairspray in jedem Film, den er mit seinem Jugendfreund John Waters zusammen gemacht hat, die weibliche Hauptrolle gespielt und (darum geht es Butler bei besagter Referenz) den Eindruck geprägt, dass »weiblich sein« vielmehr ein Akt der Nachahmung als eine »natürliche Tatsache« ist.
Wenige Wochen nach dem Kinostart von Hairspray (1988) starb Divine im Alter von 42 Jahren an einem Herzstillstand. Er hatte Zeit seines Lebens mit seinem Übergewicht zu kämpfen und wog zum Zeitpunkt seines Todes etwa 170 Kilo.
Im Remake von Hairspray (2007) wurde die Rolle der Mutter Edna Turnblad, gewiss als Hommage an Divines Darstellung, an einen Mann vergeben: John Travolta. Diese Besetzung der Mutterrolle mit einem Mann hatte auch schon eine gewisse Tradition, wurde so doch bereits bei der Musical-Adaption vorgegangen. Aufgrund meiner closure issues habe ich Original und Remake von Hairspray kurz hintereinander gesehen.
Hairspray (1988) beginnt mit dem gleichnamigen Song von Rachel Sweet (mit Deborah Harry). Dazu sehen wir, in der ersten Einstellung, den Haupteingang zu einer TV-Station, an deren Fassade die Buchstaben WZZT prangen. Drinnen sind Vorbereitungen in Gange. Junge Damen und Herren machen sich fit für den Beginn einer neuen Folge von The Corny Collins Show. Tanzende Teens im TV, die hunderttausende Teens vor Amerikas Fernsehgeräten in Euphorie versetzen.
Diese Show hat es wirklich gegeben. Und tatsächlich basiert der Handlungsstrang über die Integration schwarzer Jugendlicher in das weiße Show-Format in gröbsten Zügen auf wahren Tatsachen. Die echte Show (The Buddy Deane Show) wurde 1964 abgesetzt, weil die echte TV-Station (WJZ-TV) unfähig war, die Diskriminierung von Afroamerikanern zu unterlassen. Dieses Kapitel aus einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels hat sich John Waters in Hairspray zum Thema gemacht. Neben Schön- und Schlankheitswahn, Bodyshaming, Generationenkonflikten und der Verlogenheit des Showgeschäfts. Eine Menge Stoff für einen knapp 90-minütigen Film.
Ob das Remake, Hairspray (2007), deshalb eine satte halbe Stunde länger ist, als das Original? Nein, thematisch geht die Neuauflage nicht mehr in die Tiefe. Wohl aber in Sachen Genre. Durch die Integration der Musical-Nummern bekommt das Remake eine neue Facette. Diese macht es zu etwas Eigenständigem, das sich inszenatorisch vom Original emanzipiert. Schon die erste Szene wird zwar auch mit einem Song eröffnet, doch diesen singt – aus vollem Leibe und Herzenslust – die »neue Tracy Turnbled« auf ihrem Weg zur Schule.
Immer wieder wird die Handlung, die sich am Original orientiert, allerdings dramaturgische Änderungen vornimmt, von Gesangseinlagen der Schauspieler*innen übernommen. Denn siehe da: Sie können alle fantastisch singen! Außer John Travolta, aber ok.
Man hat es hier zweifelsfrei mit zwei Herzensprojekten zu tun. Jedes für sich begeistert durch eine leidenschaftliche Umsetzung aller Beteiligten. Und auch die Brücke zwischen den Filmen steckt voller schöner Details. Schubst die Tracy im Original noch eine Ratte weg, um in Ruhe einen romantischen Moment auskosten zu können, füttert die Tracy im Remake ein paar Ratten am Straßenrand, wie zur Wiedergutmachung. Jerry Stiller, der im Original Tracys Vater spielt (und in dieser Rolle ein 90er-Kind wie mich sehr an Arthur aus King of Queens erinnert), tritt im Remake als Inhaber eines Schönheitssalons auf.
Neben derlei kleinen Verbindung stechen Kenner*innen beider Filme natürlich umso mehr die Unterschiede ins Auge. Wie sehr diese nun als Mehrwert oder Missetat empfunden werden, ist Geschmackssache. Mir persönlich gefällt das Erzähltempo des Originals besser (auch wenn dadurch die Musical-Nummern wegfallen). Das Drehbuch des Remakes lässt sich bedachtsam Zeit, jede Wendung und Gefühlsregung so im Dialog zu klären, dass auch wirklich jede*r checkt, was abgeht. Muss nicht sein. Im Original passieren Dinge einfach. Manchmal auch überrumpelnd schnell, das atmet den Charme eines impulsiveren Projekts. (Hängt gewiss mit dem markanten Budget-Unterschieden zusammen.)
So gelungen ich Waters Cameo im Remake finde, ist seine Rolle als sadistischer Psychiater im Original umso grandioser. Und die Rolle der Penny Pingleton, die im Original noch mit einem »P« für »Punished« herumlaufen muss, bleibt im Remake (trotz der tollen Schauspielerin Amanda Bynes) meinem Empfinden nach vergleichsweise blass. Insgesamt fehlt es dem Remake an dem absurden John-Waters-typischen Humor. Wenn etwa (im Original) der Mädchenschwarm in einem »police riot« von Handtaschen niederknüppelt wird und mega die Show draus macht.
Auch die »Special Education Class«, im Remake ganz offensichtlich die Klassse mit den cooleren Kids, ist im Original noch ne urkomische Rasselbande, die selbst von Sportlehrerin (die Dogdeball-Trainerin, grandiooos lustig!) hart gedisst wird.
Beide Filme sind sehr lustig und versprühen ansteckend gute Laune. Während im Original der Humor mehr Raum einnimmt, sind es im Remake die Musik- und Tanzeinlagen, dann auch mit Gesang. Das Original ist kurzweiliger, das Remake opulenter, das Original flotter, das Remake bunter. Man kann getrost beide Filme schauen und sich auf zwei tolle Umsetzungen der gleichen Geschichte freuen. Die Hauptdarstellerinnen Ricki Lake und Nikki Blonsky sind übrigens gleichermaßen großartig charismatisch und liebenswert, die Highlights dieser Filme!
Der Beitrag HAIRSPRAY mit Ricki Lake, Nikki Blonsky | Filme 1988, 2007 | Kritik, Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Ein irrer Film. Verbrochen hat ihn der berüchtigte John Waters, Ikone des Untergrund-Kinos. Diesen Ruf verdankt er seinem Durchbruch mit Pink Flamingos (1972), aber eben auch Female Trouble. Wer John Waters über die muntere Mainstream-Komödie Hairspray (1988) kennengelernt hat, mag es kaum glauben: Dieser Typ hat insbesondere in den 70er Jahren einige Meilensteine des schlechten Geschmacks gedreht, die bei vielen Menschen den Magen umdreht. Allein, dass diese Meilensteine die meisten Menschen ohnehin nicht erreichen – man muss schon gezielt nach diesen Filmen suchen. Im Internet ist das nicht schwer, dort tummeln sich John Waters‘ Werke dicht unter der Oberfläche. Denn wie bei allen extremen Auswüchsen des Kinos gibt es auch genug Menschen, die diese als Kultfilme feiern.
Inhalt: Female Trouble handelt von dem Teenager-Mädchen Dawn Davenport (Divine). In der Schule und daheim macht sie Probleme. Zu Weihnachten zerstreitet sie sich so sehr mit ihren Eltern, dass Dawn von zu Hause weg will. Ein Verbrechen, dass ihr daraufhin beim Trampen widerfährt, wird den Verlauf ihres Lebens bestimmen. Dawn gerät auf die schiefe Bahn und macht eine Karriere als Kriminelle.
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text enthält Spoiler. Es werden einige Einzelheiten zum Handlungsverlauf sowie das Ende besprochen. Wer zunächst den Film sehen möchte, findet diesen ganz unten verlinkt. Doch Achtung, Female Trouble ist eine trashige Tabu-Orgie und Perversionen-Parade, die Gewalt verherrlicht. Wird den wenigsten Menschen ehrlichen Herzens gefallen. Hoffe ich, irgendwie.
Female Trouble ist der zweite Teil einer losen Trilogie, die Regisseur John Waters selbst als »Trash Trilogy« bezeichnet. Dazu zählen des Weiteren Pink Flamingos (1972) und Desperate Living (1977). Ersterer ist Waters‘ berühmtester, explizitester und extremster Spielfilm, dessen finale Szene wohl nur von Hundeschiss-Fetischisten mit Genuss gesehen werden kann. Letzterer ist Waters‘ einziger Spielfilm ohne Ausnahme-Schauspieler und Drag-Queen Divine vor dessen Tod im Jahr 1988 und auch sein erster Film ohne David Lochary, der wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Desperate Living unter bis heute ungeklärten Umständen starb. Im Drogenrausch versehentlich verblutet, ist eine gängige Vermutung.
In Female Trouble stehen Divine und David Lochary noch in tragenden Rollen vor der Kamera. Divine spielt die Hauptfigur Dawn Davenport sowie (als Doppelrolle) den Mann, der dieses Mädchen am Straßenrand vergewaltigt. David Lochary spielt den Inhaber eines Schönheitssalons, der Dawn gemeinsam mit seiner Frau später zu übelsten Verbrechen anstiftet, um diese in Bildern festzuhalten.
»Crime is beauty«, so die Idee.
John Waters selbst nennt Female Trouble »ein fiktives Biopic über eine Frau, die einer Gehirnwäsche unterzogen wird und daran glaubt, dass Verbrechen gleich Schönheit sei.« Hinsichtlich der Widmung im Vorspann, an den Mörder Charles Watson, schreibt Waters später in einem Text über Leslie Van Houten, ebenfalls Mitglied der Manson-Familie und verurteilte Mörderin, die John Watson als »wirklich gute Freundin« bezeichnet:
Ich bin auch schuldig. Schuldig, die Manson-Morde auf eine spaßige Klugscheißer-Weise in meine früheren Filme eingebaut zu haben. Ohne die geringste Empathie für die Familien der Opfer oder die Leben der gehirngewaschenen Manson-Killer-Kids, die ebenso Opfer waren, in diesem traurigen und schrecklichen Fall.
Inspiriert von Mordtaten, aber frei von Empathie für die Opfer. Das ist Female Trouble. Genug, um den Film als verachtenswertes Projekt unreflektierter Gewalt-Enthusiasten abzutun. Mir selbst indes ist dieser Streifen in einem ganz anderen Zusammenhang begegnet.
Für mein Studium der Philosophie darf ich mich aktuell mit Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble (1990) beschäftigen. Bis dato kann ich nicht viel mehr dazu sagen, als dass es kompliziert geschrieben ist. 1998 bekam Butler einmal den Ersten Preis in einer Bad Writing Competition. Mal abgesehen davon, dass solch Negativpreise schlicht gemein sind und mehr über das Wesen der Verleiher*innen solcher Trophäen aussagen, als irgendetwas anderes, hat Butler mit einem Kommentar in The New York Times schlagfertig darauf reagiert:
Wenn das Alltagsdenken [die Umgangssprache] manchmal einen bestimmten gesellschaftlichen Status Quo konserviert, und dieser Status Quo manchmal ungerechte soziale Verhältnisse als natürlich behandelt, dann macht es Sinn, in solchen Fällen das Alltagsdenken [und damit die Umgangssprache] herauszufordern. Eine Sprache, die diese Herausforderung annimmt, kann helfen, den Weg zu einer sozial gerechteren Welt zu weisen.
Die ungerechten sozialen Verhältnisse, um die es Judith Butler geht, sind in Das Unbehagen der Geschlechter inbesondere die zwischen Frauen und Männern. Die Philosophin beschäftigt sich mit der Frage, ob es beim Frau-sein und Mann-sein nicht weniger um natürliche Unterschiede geht, als vielmehr um unterschiedliche Rollenbilder, die wir performen?
In diesem Zusammenhang kommt Butler im Vorwort zu Das Unbehagen der Geschlechter auf den Female Trouble zu sprechen, dessen Hauptdarsteller*in, jene berühmte Drag-Queen Divine auch als Heldin Hairspray (1988) auftritt. Divine wurde 1945 als Harris Glenn Milstead geboren, ein Junge, der schon früh Gefallen daran fand, in Frauenrollen zu schlüpfen – so auch in den Filmen seines Jugendfreundes John Waters.
Divines Darstellung von Frauen weist implizit darauf hin, daß die Geschlechtsidentität eine Art ständiger Nachahmung ist, die als das Reale gilt. Sein/Ihr Auftritt destabilisiert gerade die Unterscheidungen zwischen natürlich und künstlich, Tiefe und Oberfläche, Innen und Außen, durch die der Diskurs über die Geschlechtsidentitäten fast immer funktioniert.
Judith Butler wirft Fragen auf:
Ist die Travestie (also die Darstellung einer Bühne- oder Filmrolle durch Personen des anderen Geschlechts) eine Imitation der Geschlechtsidentität (also der inneren Gewissheit, einem bestimmten Geschlecht anzugehören)? Oder bringt sie die charakteristischen Gesten auf die Bühne, durch die die Geschlechtsidentität selbst gestiftet wird? Ist »weiblich sein« eine »natürliche Tatsache« oder eine kulturelle Performanz?
Antworten auf diese Fragen sucht man statt in Waters‘ Werk wohl lieber in Butlers Buch, dessen Originaltitel Gender Trouble, so legen es Judith Butler Ausführungen nahe, aber immerhin an den Film Female Trouble angelehnt ist.
Hey, spar dir deine Moral.
Schau, jede*r stirbt einmal.
Das, was ich gerne mag,
sind Mord und Totschlag.
Das ist eine Strophe aus dem Song Female Trouble. Gesungen von Divine, geschrieben von John Waters, begleitet dieses Lied den Vorspann des gleichnamigen Films und nimmt ein wenig seiner Haltung und Handlung vorweg.
Der Film beginnt mit einem Text-Insert: »Dawn Davenport *Youth* 1960«. In verspielter blaue Schrift auf violettem Hintergrund schließt sich diese Einblendung nahtlos an den schrillen Vorspann an. Immer wieder wird es solche Text-Inserts geben, die den Film in Kapitel unterteilen, nach den Lebensabschnitten der rastlosen Heldin.
Die erste Szene auf einem Schulkorridor führt Dawn Davenport als Schülerin ein, die ob ihres Haar- und Körpervolumen ins Auge sticht. Sie spricht mit einer Mitschülerin über das Weihnachtsgeschenk, das sie sich von ihren Eltern erhofft: irgendwelche hochhackigen Schuhe namens Cha Cha Heels. Dass sie diese später nicht bekommt, ist das Auslösende Ereignis der Films, das die Handlung ins Rollen bringt.
Hier ist dieser selige Moment bei der Bescherung, als Dawn Davenport nicht kriegt, was sie sich wünscht:
Wer diesen Auftakt für schräg hält: Es ist das normalste Weihnachten der Welt, im Vergleich zu den folgenden Abenteuern der streit- und geltungssüchtigen Heldin.
In einer Szene sagt Tante Ida (gespielt von Edith Massey, die später im Film minus einer abgehackten Hand im Vogelkäfig landet und dort als Haustier gehalten wird) zu ihrem Sohn Gater, von dem sie sich so sehr wünscht, dass er schwul wäre:
Ich mache mir Sorgen, dass du in einem Büro arbeiten und Kinder haben und Hochzeitsjahrestage feiern wirst. Die Welt der Heterosexuellen ist ein krankes und langweiliges Leben.
Krank ja, langweilig nein, so würde ich den weiteren Verlauf des Films in aller Kürze kommentieren. Völlig entkoppelt von etwaiger sexueller Orientierung, die vor der Kamera ausgelebt wird.
Aus der Sicht eines (im Vergleich zu John Waters, seiner Entourage und seinen Protagonisten) ziemlichen Otto-Normalos sage ich mal: Man muss diesen Film nicht gesehen haben, fällt nicht in den Kanon von Filmen für lockere Tischgespräche zwischen gelegentlichen Kinogänger*innen. Und man sollte bei diesem Film auch nicht unbedingt etwas essen (mein Fehler). Aber tut man sich Female Trouble trotzdem an, gewährt das Werk einen Blick in eine Parallelwelt, in der all unsere gesellschaftlichen Ideale auf den Kopf gestellt werden. Was ist schön, was ist richtig, falsch, anständig, abartig? Da diese gesellschaftlichen Ideale aber ohnehin nur der hauchdünne Vorhang auf einer Bühne voller verlogener Irrer ist, mag der schonungslose Schandtaten-Schaukasten Female Trouble gar sowas wie ein Kino der Katharsis sein. So weh es auch tut, dieser Film ist vermutlich näher dran am wirklichen Wesen der Menschen, als so bezaubernde Werke wie La La Land (2014) oder Tatsächlich… Liebe (2003).
Genug der Worte, hier gibt es den Film zu sehen: Female Trouble, 97 Minuten, viel Spaß!
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Nach den ersten 3 Filmen – Jurassic Park (1993), Vergessene Welt: Jurassic Park (1997) und Jurassic Park III (2001) – wurde es lange still um die Dino-Filmreihe. Ganze 7 Godzilla-Filme erblickten seit 2001 weltweit das Licht der Kinosäle (oder landeten direkt im DVD-Regal). Auch ansonsten wurden die ehrwürdigen Urtiere eher für schändliche filmische Zwecke wiedererweckt. Als da wären: Dinocroc vs. Supergator (2010) oder Age of Dinosaurs – Terror in L.A. (2013, von Joseph J. Lawson, auch bekannt für Nazi Sky – Rückkehr des Bösen!).
Nun hätte, ehrlich gesagt, ein Jurassic Park 4 (wie er lange im Gespräch war) nicht weniger trashig geklungen. Die Zahl 4 ist schlichtweg nicht sexy. Welche Filmreihe liebt man denn bitte für ihren Teil 4? Die 3 trifft bei uns Menschen einen Nerv, vom flotten Dreier bis zu allen (anderen) sprichwörtlich guten Dingen. Aber die 4 suggeriert den Abstieg in die Belanglosigkeit. Das erklärt auch die Unbeliebtheit vieler Politiker. Legislaturperioden von 4 Jahren sind einfach eines zu lang…
Schockierender Hinweis (um den Teil-4-Trash-Faktor nochmal zu unterstreichen): Für Jurassic Park 4 wurden zeitweise Mensch-Dino-Hybride in Erwägung gezogen. Wesen also, die halb Homo Sapiens, halb Tyranno Saurus Sonstwas sind. Davon haben wir doch nun wahrlich genug…
Trilogien hingegen sind sexy – und wie! Nachdem die Planung für Jurassic Park 4 nach dem Tod des Drehbuch- und Romanautors Michael Crichton im Jahr 2008 auf Eis gelegt wurden, besinnten sich auch die Jurassic-Park-Produzenten auf diese altbekannte Gewissheit. Im Januar 2010 hieß es dann, die Vorbereitungen für eine Fortsetzung sollen wieder aufgenommen werden, doch völlig anders als geplant: Teil 4 werde der Beginn einer neuen Trilogie.
Nach Jurassic World (2015) wurde das Budget für den neuen Teil 2 nochmal um über 100 Millionen Dollar aufgestockt. Damit konnte neben den CGI-Effektfeuerwerken wieder verstärkt auf state of the arts Puppenspieler und Animatroniker gesetzt werden. Es wurden extra Szenen ins Drehbuch geschrieben, die es ermöglichten, Dinos nur teilweise (siehe: das T-Rex-Weibchen im Fahrzeug-Laderaum) und/oder in langsamen Bewegungen (siehe: die gefesselte, betäubte Velociraptorin) zu zeigen. Diese wurden nicht am Computer animiert, sondern »in echt« gebaut und gesteuert. Für diese Rückbesinnung zu den Wurzeln (Animatronik sorgte schon im allerersten Jurassic Park für die denkwürdigsten Szenen) wird Jurassic World: Das gefallene Königreich gebührend gefeiert.
Auch sonst gibt es nennenswerte Reminiszenzen an die 90er-Jahre Jurassic-Park-Filme. Von verfütterten Ziegen über zerdrückte Geländewagen, fliehende Urviecherherden und Türöffno-Saurus bis hin zu Dino-OPs gibt es einige Motive, die Jurassic-Fans Krokodilstränen der Freude in die Augen treiben.
Ich hatte das Vergnügen, Jurassic World: Das gefallene Königreich im OH·KINO in Wrocław (Breslau) zu sehen. Englisches Original mit polnischen Untertiteln und Karamell-Popcorn, yay! Auf dem Roadtrip nach Polen hatten wir zuvor eine Nacht in Dresden verbracht, inklusive Besuch im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr. In der dortigen Dauerausstellung kreuzte – zu unserer Überraschung – ein imposanter Elefant unseren Weg. Lebensgroß, ausgestopft. Er führte eine Parade von Tieren an, die von Menschen über die Jahrhunderte für ihre kriegerischen Zwecke missbraucht wurden. Von Sprengstoffspürhunden und Brieftauben über Schafe, deren traurige Bestimmung es war, Minenfelder zu erschließen. Sogar ein Löwe ist in dem Museum zu sehen, mit der Info, dass sich NS-Mann Hermann Göring einen solchen gehalten hat, auf seinem feudalen Anwesen in Carinhall. Einfach nur, um seine Gäste zu beeindrucken. Da hatte wohl jemand etwas zu kompenisieren…
Dass Jurassic World: Das gefallene Königreich also von Bonzen handelt, die Dinosaurier für Millionenbeträge ersteigern möchten, erscheint absolut logisch und sinnvoll. Manche der grimmig dreinschauenden Herren im Film wollen sicher nur ein fettes Urzeit-Haustier, um ihr zartes Ego zu streicheln. Andere denken (natürlich) an Dinosaurier für militärische Einsätze. Es gibt gar einen Dialog, in dem explizit davon gesprochen wird, dass Menschen im Krieg immer Tiere eingesetzt hätten. Da werden sogar Elefanten genannt! Und das nur 2 Tage, nachdem ich erstmals über Elefanten im Krieg gelernt habe! Das ist die fiese Art des Universums, mir zu sagen: »Na, du kleiner Wurm? Genießt du die Matrix?«
Jurassic World: Das gefallene Königreich beginnt Unterwasser, mit Lichtern eines U-Boots, die sich aus der Dunkelheit abheben. Ebenso, wie die Rahmenhandlung von Titanic (1997) anfängt. Bloß, dass der Tauchgang keinem Schiffswrack gilt, sondern dem Skelett eines Dinosauriers. Doch nicht irgendein Skelett! So wie es in Titanic um das größte Schiff im Jahre 1912 geht, dreht sich die Fortsetzung von Jurassic World zunächst um den furchterregendsten Saurier, der im Jahr 2015 noch gewütet hat. Wir erinnern uns an den epischen Kampf zwischen Tyrannosaurus Rex, ein paar Raptorinnen und besagtem Superlativ-Saurier, dem aus verschiedenen Spezies gezüchteten Hybriden Indominus Rex. Der Kampf endete damit, dass das Mosasaurus-Weibchen (die gut bezahnte Unterwasser-Echse, Rex Machina) aus ihrem Becken sprang und Indominus Rex mit zu sich in die Tiefe riss.
Dort unten also sägt nun – 3 Jahre nach dem Untergang von Jurassic World – ein U-Boot mit zwielichtigen Männern an dem Indominus-Skelett herum, um einen Knochen zu bergen. Dieser Knochen ist für die Männer ungefähr so wertvoll, wie das »Herz des Ozeans« für die ihrerseits zwielichtigen Wrack-Plünderer in Titanic. Nur dass Letztere halt in Ruhe den Tresor an die Oberfläche hieven können, während Erstere im Mosasaurus-Becken die Bekanntschaft von Mosasaurus machen. Blöder Zufall, bei so einem großen Becken…
Was hat Mosasaurus die 3 Jahre seit dem letzten Film gefressen, um in ihrem Becken nicht zu verrecken? Achtung, Achtung! Wer so früh mit Logikfragen anfängt, wird in Jurassic World: Das gefallene Königreich Kopfschmerzen kriegen. Stattdessen lieber zurücklehnen, entspannen und die Dino-Action genießen. Über 2 Stunden lang gibt’s die volle Dröhnung, ab dem Vulkanausbruch sogar ziemlich pausenlos: Auf der Insel, Unterwasser, im Schiffsbauch, Keller, Kinderzimmer, auf Dächern und in Käfigen. Neben den üblichen Verdächtigen unter den Dinos natürlich auch wieder mit einem neu gezüchteten Hybrid-Horror-Viech, das die Saurier-Sause erst so richtig in Schwung bringt!
Ich hab’s genossen, keine Frage. Jurassic World: Das gefallene Königreich ist ein Action-geladenes Dino-Spektakel mit ordentlich Schauwerten. Tatsächlich hätte ich mir gar etwas weniger Action gewünscht. Nur einmal stapft ein Brachiosaurus gemächlich durchs Bild. Diesem schönen Tier und seinen herbivoren Homies ein Weilchen beim Grasen zuschauen, das wär auch schön gewesen. Stattdessen konzentriert sich Jurassic World: Das gefallene Königreich auf die Idee vom »Dino als Kriegswaffe«. Das nimmt teilweise wirklich bescheuerte Züge an.
Es gibt eine Szene, in der ein Auktionär (verkörpert von Schauspieler Toby Jones) seinem vor Geld stinkenden Publikum vorführen will, wie übelst krass der genmodifizierte Hybrid-Dino namens Indoraptor im Käfig neben ihm drauf ist. Dazu richtet der Auktionär ein Gewehr auf einen Mann im Publikum. Als der rote Laserpunkt der Zielvorrichtung auf der Brust des (jetzt nervösen) Mannes flackert, drückt der Auktionär einen bestimmten Knopf am Gewehr. Sofort rastet der Indoraptor in Richtung des nervösen Mannes aus – nur der Käfig hält den Dino davon ab, den Mann zu zerfetzen.
Das soll also effiziente Kriegsführung sein? Mit einer Waffe auf einen Mann zielen, um dann per Knopfdruck einen wütenden Dino auf diesen Mann loszulassen? Um den Mann zu töten, oder was? Und dazu hätte man nicht einfach den guten alten Abzug neben dem fancy Dino-Knopf betätigen können!? »Raptoren auf Menschen loslassen« ist Hollywoods Pendant zu »mit Kanonen auf Spatzen schießen«. Immerhin: Wesentlich bildgewaltiger, als die Spatzen-Variante.
Übrigens hat Colin Trevorrow, Drehbuchautor der beiden Jurassic-World-Filme angekündigt, im dritten Teil werde man sich wieder auf reale Dinosaurier konzentrieren, ohne die genmodifizierten Neuschöpfungen. Jurassic World 3 soll tatsächlich ein »science thriller« werden. Zur Erinnerung daran, wie weit die Dinos in Jurassic World nach heutigem Kenntnisstand von ihren urtümlichen Vorfahren entfernt sind: In Münster gibt es seit 2014 das erste befiederte Velociraptor-Modell in Deutschland zu sehen. Schaut dezent anders aus, als die coole Raptorin Blue:
Apropos Teil 3: Nach dem Abspann lieferte Jurassic World: Das gefallene Königreich noch ein Schmankerl für alle Kinobesucher*innen, die bis zum Ende sitzen geblieben sind und gewissenhaft die Namen aller Beteiligten durchgelesen haben. Fun Fact: Ich heiße David, weil meine Eltern solche Leute sind, die sich Filmcredits durchlesen. Um 1989 herum dachten sie dabei eines schönen Filmabends: »Hey, David, der Name ist gut.« Ich persönlich hoffe ja, es war David Fincher.
NACH DEM ABSPANN jedenfalls gibt es noch ein letztes Bild von ein paar Pteranodons, die um das Eiffelturm-Dublikat in Las Vegas kreisen.
Denn: Die Dinos sind am Filmende ja ausgebüxt, alle miteinander. Und jetzt streunen sie frei durch die Welt. Die Flugsaurier an Amerikas Eiffelturm zu zeigen ist eine schönes Sinnbild für diese Dino-Klone, die ja ihrerseits »nachgemacht« sind von den urzeitlichen »Originalen«. Gleichzeitig stellt der Eiffelturm ein Symbol für Europa dar und eröffnet damit neue Dimensionen. Die Dinos haben nicht nur ihre Insel verlassen, nein, sie könnten auch den Kontinent verlassen. Jurassic WORLD eben.
Sehr, sehr coole Vorstellung. Den Film möchte ich gerne sehen. Es gibt sogar schon einen Starttermin. Am 11. Juni 2021 kommt Jurassic World 3 in die Kinos. Einfach schonmal freihalten. ABER: Ich hoffe sehr, die Macher*innen finden für die weltweite Ausbreitung der Dinos eine glaubwürdige Erklärung. Denn ein paar Dutzend große Echsen einzufangen, die im weiteren Umkreis der Villa rumlaufen, aus der sie entflohen sind, das sollte mit heutigen Mitteln doch zu händeln sein? Für den glaubwürdigen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation braucht es bitteschön ein bisschen mehr, als die Szene von einer Velicoraptorin, die sich ihren Weg durch eine City beißt.
Ach, das war ein großer Spaß! Die Spannung ist natürlich mäßig, weil man nie wirklich damit rechnen muss, dass die Dinos das kleine Mädchen zerreißen. Wann immer die junge Schauspielerin Isabella Sermon um ihr Leben bangt, können sich die Zuschauer*innen entspannt zurücklehnen: Ist immer noch Jurassic World, nicht Game Of Thrones. Hier ist die Welt noch in Ordnung, Dinos hin oder her. Abgesehen davon, dass sich Jurassic World: Das gefallene Königreich im Vergleich zum ersten Teil der neuen Trilogie zwar Mühe gibt, erneuten Sexismus-Vorwürfen auszuweichen, dies aber nur bedingt gelingt. Die weibliche Hauptrolle Claire Dearing (gespielt von Bryce Dallas Howard) bleibt im Schatten von Chris Pratt und dort trotz anderen Schuhwerks (die Stöckelschuhe aus dem ersten Jurassic World sind gewichen) eher im ständigen Opfer/Beute-Modus.
Die Journalistin Anne Cohen (Refinery29) kann tatsächlich nur der Rolle von besagter Isabella Sermon etwas Positives abgewinnen. Ansonsten findet sie erschreckend viele gute Argumente dafür, dass Jurassic World bis dato sexistischer ist, als der erste Jurassic-Park-Film in den 90er Jahren. In diesem Sinne überlasse ich der fiktiven Paläontologin Dr. Ellie Sattler mal das letzte Wort:
Über Sexismus in Überlebenssituationen können wir diskutieren, wenn ich zurück bin. | Ellie Sattler, in: Jurassic Park (1997)
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Zum Inhalt: Im Jahr 1958 nimmt Anna Jurin (Virginie Ledoyen) einen Job als Haushälterin in dem Waisenhaus Saint Ange an. Es liegt, heruntergekommen und isoliert, in den Französischen Alpen. Die letzten Kinder werden gerade fortgeschickt, hinaus in die Welt entlassen, kurz nachdem ein Junge in dem Waisenhaus zu Tode gekommen ist. Vor Ort bleiben nur eine Köchin und eine Geisteskranke und Anna, die ihre Schwangerschaft nicht lange verheimlich kann.
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text enthält keine Spoiler. Aktuelle legale Streamingangebote gibt es bei JustWatch.
Haus der Stimmen (im Original Saint Ange, international House of Voices) ist ein französisch-rumänischer Horrorfilm, geschrieben und inszeniert von Pascal Laugier. Es handelt sich um dessen Spielfilm-Debüt. In den Hauptrollen zu sehen sind Virginie Ledoyen (von 2000 bis 2005 eines der Gesichter von L’Oréal), Catriona MacColl, Lou Doillon und Dorina Lazăr. Größere Bekanntheit erreichte Regisseur Laugier vor allem durch seinen zweiten Streifen, aufgrund dessen beispielloser Brutalität: Martyrs (2008). Nach dessen Premiere sagte Laugier, interviewt von Ryan Turek, über sein Erstlingswerk:
Mein vorheriger Film, Haus der Stimmen, war komplett anders – viel cooler, ruhiger – sodass das Publikum ziemlich überrascht war.
Überrascht sei sein Publikum gewesen, damit meint Laugier wohl: Überrascht von der Härte des Nachfolgers, seines zweiten Films. Denn tatsächlich: Haus der Stimmen reicht nicht annähernd an den Blutzoll und die Schlagkraft von Martyrs heran. Wobei ein Gewaltexzess erstmal kein Qualitätsmerkmal ist. Originalität hingegen schon eher.
Mein erster Film, Saint Ange [Haus der Stimmen], bestand nur aus filmischen Referenzen, das bestreite ich nicht. Ich habe das Kino gefilmt, das ich liebe, statt mein eigenes zu erschaffen. Das war definitiv ein notwendiger Schritt. | Pascal Laugier im Interview (FilmBizNews)
Obwohl dank Martyrs schon eine ziemliche Marke im Horrorfilm-Genre, hat Regisseur Pascal Laugier nur knapp eine Handvoll Werke geschaffen. Bis dato (2018) sind es erst vier Spielfilme. Da kann ein Filmnerd mit closure issues schonmal auf die Idee kommen, das gesamte Œuvre dieses Filmemachers kennen zu wollen. So ging’s mir, nur deshalb hab ich mir Haus der Stimmen (über den ich sonst wohl kaum gestolpert wäre, weil: zu unbekannt) vor kurzem angesehen.
Haus der Stimmen beginnt im Schlafsaal eines Waisenhauses, bei Nacht. Es gewittert. Ein Junge knipst unter der Decke seine Funzel an, dann kraxelt er aus dem Bett und schleicht raus. Im finsteren Korridor hört er die Stimme eines Mädchens, das seinen Namen wispert, »Alex«. Sie müsse auch zum Klo und will mit ihm zusammen gehen…
Die Kinder schalten in einem großen, gefliesten Raum das Licht ein. Es flackert. Das Mädchen sputet zur Toilette, setzt sich. Der Junge dreht einen Hahn nach dem anderen auf, doch es kommt kein Wasser.
Mädchen: Funktioniert nicht?
Junge: Wie immer.
Mädchen: Es sind die Anderen, weißt du. Sie lieben es, mit den Kübeln zu spielen.
Junge: Wer? Wovon redest du?
Mädchen: Du weißt schon, die gruseligen Kinder.
Der Junge glaubt dem Mädchen nicht, Hand in Hand gehen sie raus – und im Dunkeln gehen, wie von Geisterhand, auf einmal die Wasserhähne. So geräuschvoll, dass der Junge neugierig nochmal reingeht (zum Mädchen so: »Ich komm gleich zurück« – ach, bitte, als wenn!) und wenig später vor einem seltsamen Spiegel einen plötzlichen Tod stirbt (na siehste!).
Gewitternächte, flüsternde Kinder und flackernde Lichter, tropfende Hähne, seltsame Spiegel und überhaupt, ein Waisenhaus als Schauplatz. Das kommt Freund*innen des Horrorgenres doch alles recht vertraut vor. Genussvoll kann man in der gekonnt, aber eben konventionell heraufbeschworenen Gruselstimmung schwelgen, zumindest fünf Minuten lang.
Nach diesem düsteren Prolog geht’s harmlos weiter. Haus der Stimmen hat, für einen Debütfilm nicht ungewöhnlich, ein spürbar schmales Budget. Da wird »weniger ist mehr« noch aus der Not heraus zur Tugend erklärt, viel geköchelt und wenig serviert. Jahre später, im Presserummel um sein wieder sehr brutalen Schocker Ghostland (2018) sagt Pascal Laugier:
Ich habe ein Problem mit dem Gedanken des Mainstream-Horrors. Für mich sind diese Filme wie Pornos ohne Sex. Bedeutungslos. | aus dem Interview mit Max Wieseler (moviepilot)
Wie ein »Porno ohne Sex«, das ist ehrlich gesagt eine ziemlich pointierte Logline für Laugiers Haus der Stimmen, in dem auf viel gruseliges Vorspiel (mit Kinderzeichnungen und Stimmen und Alpträumen und allen anderen Gruselzutaten) arg wenig Horror-Action folgt. Tatsächlich gibt es ein Finale mit Schauwerten und Überraschungen, doch es bleibt so frei von Kontext, dass es wie aus einem anderen Film wirkt – nicht sehr homogen eingeflochten in den Rest des Settings.
Um die Frage aus der Einleitung zu beantworten: Ja, Haus der Stimmen ist abgedroschen. Solide in der technischen Umsetzung, aber einfallslos im Storytelling. Selbst für Liebhaber*innen des Horrorgenres hat dieser Filme wenige herausstechende Momente und ist wohl dazu verdammt, schnell in Vergessenheit zu geraten. Daher kann man sich dieses Filmvergnügen auch getrost sparen, wenn man nicht gerade Pascal Laugier als Filmemacher aufarbeitet. Für diesen wiederum war Haus der Stimmen eine sicher wichtige Fingerübung – sein nächstes Werk hat unter Horror-Freund*innen auf jeden Fall hohe Wellen geschlagen: Martyrs (2008). Sein drittes Werk hat die Wellen wieder geebnet: The Tall Man (2012).
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Von Freitag bis Sonntag, 22. bis 24. Juni ist das Bundes-Festival.Film. in Hildesheim zu Gast, und damit zum ersten Mal in Niedersachsen. Zur Umsetzung arbeiten Ministerien, Behörden und Facheinrichtungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zusammen – das hat schon Tradition: Bereits 1988 wurde das Deutsche Kinder- und Jugendfilmzentrum (KJF) mit der Durchführung dieses Festivals beauftragt, vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ, so die offizielle, etwas zungenbrecherische Abkürzung). Das Bundes.Festival.Film. ist ein Wanderfestival.
Hinter der Idee mit dem Bundes.Festival.Film. an immer neuen Austragungsorten zu gastieren, steckt der Anspruch, dass sich das Festival und die jeweiligen lokalen Veranstaltungspartner gegenseitig mit frischen Impulsen bereichern. | Thomas Hartmann, Festivalleiter / Deutsches Kinder- und Jugendfilmzentrum
Im Auftakt 1988 jedenfalls wurden beeindruckende 350 Videos zu dem Wettbewerb Jugend und Video eingereicht. Ausgetragen wurde das erste Bundesfestival übrigens in Bonn, damals noch Bundeshauptstadt. Hier habe ich mal die Historie zusammengefasst: Deutscher Jugendfilmpreis – wie alles begann
Seither setzt das Festival jährlich Impulse für die Weiterentwicklung der Film- und Medienarbeit in den gastgebenden Regionen und beteiligt die jeweiligen Partner an der inhaltlichen Ausgestaltung und Organisation der Veranstaltung. In der Kulturstadt Hildesheim trifft das Bundes.Festival.Film. auf besonders engagierte Mitveranstalter und Kooperationspartner.
So heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung zum Bundes.Festival.Film., in der auch Dr. Ingo Meyer zitiert wird, stolzer Oberbürgermeister der Gastgeberstadt Hildesheim:
Der Film ist ein zentraler und populärer Bestandteil der Kultur in Hildesheim. Dank der renommierten kulturwissenschaftlichen Studiengänge der Hochschulen gilt Hildesheim als Ideenschmiede und Ausbildungsstätte für Kunst und Kultur.
Im Jahr 2019 soll das Bundes.Festival.Film noch einmal in der Stadt Hildesheim gastieren.
Eine berühmte Tochter der Stadt Hildesheim ist übrigens die Schauspielerin Diane Krüger, bekannt aus Meisterwerken wie Inglorious Basterds und Mr. Nobody (beide aus dem Jahr 2009). In Mr. Nobody werden bekanntlich auf grandiose Weise die Zeitebenen aus dem Leben eines Helden (gespielt von Jared Leto) miteinander verstrickt. Wir begleiten ihn als Kind und Mann und Greis, generationsübergreifendes Storytelling, ja ja… hey, apropos Generationen!
Ein weiteres Merkmal des Wanderfestivals ist sein generationsübergreifender Ansatz. Sowohl dem Bundesministerium als auch dem Land Niedersachsen ist dieser Aspekt wichtig. Das Teamwork von jüngeren und älteren Filmemachern werten sie als demokratiebildend und bestens dafür geeignet, eine positive Gesprächskultur unter den Teilnehmenden und Gästen des Festivals zu stiften.
Das ist Pressemitteilungs-Deutsch für: »Hier kommen Jung und Alt ins Gespräch.« Aus Hunderten von Einreichungen schafften es nach Sichtung durch das Vorauswahl-Gremium rund 100 Filme in die Auswahl, die von der 5-köpfigen Jury im März gesichtet und besprochen wurden. Hier mal eine kleine Vorstellungsrunde der Damen und Herren, mit denen ich da vor einigen Monaten im dunklen Kämmerchen über Filme von Kindern und Jugendlichen diskutieren durfte:
Philipp Eichholtz, Stargast und alter Hase: Zum wiederholten Male in der Jury zum Deutschen Jugendfilmpreis am Start, ist Philipp Eichholtz, seinerseits gestandener Regisseur. Sein Film Rückenwind von vorn mit Victoria Schulz eröffnete in diesem Jahr die Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale, andere Werke von ihm (wie der wundervolle Luca tanzt leise mit Martina Schöne-Radunski) laufen bei Netflix und dem Indie Film Netzwerk realeyz. Philipps neuester Film Kim hat einen Penis wird in der Reihe »Neues Deutsches Kino« beim Filmfest München seine Weltpremiere feiern.
Ilona Herbert arbeitet als Redaktionsleiterin in der Jugendfernsehredaktion matz im Medienzentrum München, wenn sie nicht gerade in klösterlicher Abgeschiedenheit in einer Bande Filmenthusiasten Filme suchtet und ihren Senf hinzugibt. Dabei war Ilonas Perspektive bei der Jurysitzung im März stets besonders kenntnisreich: Gerade aus dem süddeutschen Raum hatte sie die jungen Filmemacher*innen, deren Werke wir sichteten, bereits auf dem Schirm und kannte sie von anderen Festivals, bei denen sie ebenfalls mit in der Jury sitzt. Sie ist auch Mitveranstalterin des Münchner Jugendfilmfests flimmern&rauschen.
Louis Huwald, das Jury-Küken mit dem Blick fürs Künstlerische. Louis und ich wurden als ehemalige Teilnehmer zur Jurysitzung eingeladen. Mit Grün Blau Gelbe Legosteine räumte Louis noch im Vorjahr (2017) einen der Wettbewerbs-Preise ab. In diesem Jahr entschied der frisch eingeschriebene Student an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf mit, welche Filme 2018 ausgezeichnet werden sollen. Er selbst zeichnete sich dabei durch die Fähigkeit aus, seinen eigenen Geschmack voll in den Hintergrund zu stellen und die ganz eigenen Stärken eines Werks zu bemerken. Als freischaffender Filmeditor und Montage-Student galt sein Blick dabei nicht selten dem Schnitt.
Vera Schöpfer leitet seit 2014 die Junge Akademie für Dokumentarfilm YOUNG DOGS im Dortmunder U. Damit einher geht ein Faible für Dokumentarfilm, das bei der diesjährigen, fiktionslastigen Filmauswahl ein wenig kurz kam. Vergangenes Jahr hat Vera, ihrerseits ehemalige KHM-Studentin und selbst Filmemacherin, die Geschäftsführung im Scope Institute übernommen. Dabei handelt es sich um eine gemeinnützige Bildungseinrichtung für Film und digitale Medien in Köln. Kommendes Wochenende wird Vera aber anderorts unterwegs sein: Sie ist in Hildesheim mit dabei, wenn wir Jury-Mitglieder*innen die Ehre haben, die Filmemacher*innen hinter den Werken persönlich kennenzulernen und auszuzeichnen!
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Gastbeitrag von Markus Hurnik
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Beitrag enthält keine Spoiler.
Heute sollte ich mich auf Netflix beim Haus des Geldes wiederfinden, eine Serie aus spanischer Produktion, die in den letzten Monaten innerhalb Europas deutlich an Popularität gewonnen hat. Das »Haus des Geldes« ist die spanische Zentralbank in Madrid. Diese soll durch den »perfekt« geplanten Überfalls eines »Professors« mit seinem bunt zusammengewürfelten Team, um ihr Geld erleichtert werden.
Die Serie startete spannend und die ersten 3-4 Folgen wussten zu begeistern. Doch dann kam die Ernüchterung. 22 Folgen und jede ungefähr 40 Minuten lang! Viele würden nun sagen, das ist doch super und endlich habe ich für längere Zeit Unterhaltung aus einem Guss, doch leider zerstört die lange Zeitspanne jegliche Langzeitspannung. Denn eine klassische Heist-Geschichte sollte Tempo und Emotionen haben und sich nicht in sich verlieren. Jedoch tut Haus des Geldes genau dies. Was fulminant startet, verweilt ab einem gewissen Punkt immer mehr auf Einzelschicksalen, während die Story nur noch vor sich hin dümpelt. Das am Anfang entwickelte Gefühl, »hey, das ist ein perfekt geplanter Coup, das wird eine richtig coole Erfolgsstory für die Bankräuber und die Bösen werden als die wahren Helden etabliert«, löst sich schnell in Luft auf.
Gerade nach Filmen wie Bube, Dame, König, grAS, Snatch oder Oceans sind die Erwartungen an eine solche Handlungsentwicklung hoch. Der Bösewicht als Held und als der perfekte Verbrecher. Dieser Punkt ist für viele Serien und Filme entscheidend. Denn derjenige, welcher Banküberfall-Filme, wo Coups respektive Handlungsweisen nicht zu viele moralische Fragen aufwerfen bevorzugt, wünscht sich eine solche Handlung. Das Bedürfnis, dass ein Plan reibungslos läuft und der moralische Zeigefinger nicht zu sehr erhoben wird. Schwarzer Humor, moralisch fragwürdige Handlungen und Erfolgsmomente der Gangster, der Filmfans begeistert von der Couch aufspringen lässt, entscheidet durchaus über Erfolg und Misserfolg einer Serie, je nachdem, wie sehr man sich mit den Charakteren identifiziert.
Auch sind die Handlungen der einzelnen Charaktere der Serie teilweise absolut nicht plausibel und »dumm«. es ärgert einen extrem, wenn einer der Protagonisten immer wieder absolut unüberlegt, dumm und irrational handelt – völlig unmöglich bei einem solch perfekt geplanten Verbrechen.
Dabei macht Haus des Geldes auch vieles richtig. So gibt es tolle Charaktere, den »Professor« (Álvaro Morte) – den Kopf der Bande, seine linke Hand und Nairobi, die flippige Gangster-Braut (Schauspielerin Alba Flores, siehe Bild). All diese sorgen für tolle Momente und ein großartiges Mittendrin-Gefühl. Tokio (Úrsula Corberó) dagegen ist mehr schmuckes Beiwerk. Ihre Rolle beim Überfall bleibt nebulös. Die Geiseln wiederum treten in der Masse nicht weiter in Erscheinung und man fokussiert sich auf einzelne Charaktere, die leider aber keine schauspielerischen Meisterleistungen präsentieren.
Deutliche Schwächen an allen Ecken und Enden. Haus des Geldes eignet sich für Fans des klassischen Fernseh-Dauerkrimis, der nur wenig Besonderes bietet. Die Serie ist sicher etwas besser als der Durchschnitt, mehr aber auch nicht. Kurz um, wer gerade eine »Langzeitbeschäftigung« sucht und alle großen Knüller am Serienhimmel durchgeschaut hat, kann sich bedenkenlos Haus des Geldes anschauen.
Markus Hurnik (28), langjähriger Berliner und Vorortbewohner, den es beruflich inzwischen zunehmend in sächsische Gefilde verschlägt. Er hat in seinen frühen Jahren für die Verlagsgruppe Randomhouse Jugendbücher rezensiert. Anfang der 2000er kam er vermehrt ins Kino und wurde filmabhängig. Studiert hat Hurnik etwas vollkommen Kunstfernes, vis-à-vis der Filmstudios Babelsberg.
Stammkino: Cineplex Titania Palast, Berlin
Lieblingskinos: Programmkino Ost, Dresden Thalia, Potsdam
Lieblingsfilme (eine Auswahl): La Grande Bellezza, Metropolis, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, Wall- E, Train to Busan
Der Beitrag HAUS DES GELDES mit Alba Flores | Serie, 2017-18 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag TATSÄCHLICH… LIEBE mit Emma Thompson | Film 2003 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Der starbesetzte Film aus dem Jahr 2003 gilt inzwischen als moderner Klassiker. Vergangenes Jahr erst gab’s anlässlich des Red Nose Day ein spektakuläres Revival als kleiner Teil 2, wieder mit Rowan Atkinson als Slow-Motion-Verpacker und Andrew Lincoln mit romantischer Slide-Show (samt Rick-Grimes-Bart!). In dieser 15-minütigen Fortsetzung wurden einige der vor nunmehr 15 Jahren miteinander verstrickten Liebesgeschichten weitererzählt. Wir widmen uns hier dem Original: der 135-minütigen, tragikomischen Monumental-Schnulze Tatsächlich… Liebe.
Hinweis: Liebe Leser*innen, was Spoiler angeht, hab ich den Überblick verloren. Keine Ahnung, ob ich hier die eine oder andere Kleinigkeit verrate. Da es sich um ein Feel-Good-Movie für die Weihnachtszeit handelt, ist der Generalverdacht, dass es in allen Handlungssträngen irgendwie gut ausgeht, sowieso nicht verfehlt. Aktuelle Streamingangebote zu Tatsächlich… Liebe gibt’s bei JustWatch.
2003. Die Veröffentlichung von Tatsächlich… Liebe fällt in das Jahr des dritten Teils von Der Herr der Ringe und dem ersten Teil von Fluch der Karibik. Der Clownfisch Nemo paddelt über die Leinwände und die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland fällt einmal mehr, in Good Bye, Lenin!
Der ewige Junggeselle Hugh Grant, der in Tatsächlich… Liebe als tanzender, singender Prime Minister auftritt, hat jetzt im Mai 2018 im Alter von 57 Jahren übrigens geheiratet – die schwedische TV-Produzentin Anna Elisabet Eberstein. Glückwunsch, ihr beiden!
Ach, puuh… ja, was soll ich sagen? Tatsächlich… Liebe hab ich tatsächlich zig mal gesehen. So eine Weihnachtstradition, der zu frönen ich nicht müde werde. Ich mag den Film, trotz allem, was daran auszusetzen ist (siehe unten). Warum aber jetzt darüber schreiben, im Hochsommer, unter dem fadenscheinigen Vorwand, einen kühlen Kopf bewahren zu wollen? Ehrlich gesagt: Ein schlechtes Gewissen treibt mich an. Nachdem ich den neuen Martin-Freeman-Film Cargo (2018) gestern so genüßlich zerrissen habe (weil er aber auch einfach mies war!), fürchte ich nun um mein Karma. Um das wiederherzustellen, hier also ein Loblied für einen alten Martin-Freeman-Film, den ich ehrlichen Herzens feiern kann.
Martin Freeman spielt in Tatsächlich… Liebe übrigens einen schüchternen Pornodarsteller, der seine Spielpartnerin nach einem Date fragt. Kleine Nebenrolle, aber fürs Karma wird’s reichen.
Tatsächlich… Liebe ist gespickt mit Kultszenen, über die sich im Internet Trivia-Infos türmen. Gleich der Auftakt des Films ist eine solche Szene, obwohl sie als Prolog vorweg ohne berühmte Schauspieler*innen auskommt. Allein die Stimme von Hugh Grant (beziehungsweise seinem deutschen Synchronsprecher Patrick Winczewski) begleitet den Filmanfang aus dem Off, mit den Worten…
Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert, denke ich immer an die Ankunftshalle im Flughafen Heathrow. Es wird allgemein behauptet, wir lebten in einer Welt voller Hass und Habgier. Aber das stimmt nicht. Im Gegenteil, mir scheint, wir sind überall von Liebe umgeben. Oft ist sie weder besonders glanzvoll, noch spektakulär, aber sie ist immer da. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Ehepaare, frisch Verliebte, alte Freunde…
Wir sehen dokumentarische Aufnahmen, die tatsächlich am Flughafen Heathrow (der unter anderem schon Gastgeber für die Flughafen-Szene in Ein Fisch namens Wanda war) entstanden sind. Regisseur Richard Curtis hat damals einfach Kameraleute losgeschickt und echte Reisende filmen lassen. Heute hätte er dafür im Sinne der DSGVO vermutlich erstmal einen Schwung Handzettel in der Halle verteilen müssen. Was es wohl für eine Szene geworden wäre, wenn nur noch die vorfreudigen »Wir kommen ins Kino!!!«-Flughafenbesucher für diesen Vorspann hätten verwendet werden dürfen: theatralisches übereinander Herfallen, dramatisches Rumgeknutsche, fake smiles und duck faces. Vor 15 Jahren ließ Curtis die gefilmten Menschen stattdessen erst im Nachhinein fragen, ob er das Material verwenden dürfte. Deshalb sind all die Begrüßungen, die wir sehen, die Umarmungen und Blicke und Gesichtsausdrücke tatsächlich… Liebe. Oder wie Videostore-Franky sagen würde: 90 Sekunden Hardcore, echte Gefühle.
Auf den rührseligen Flughafen-Einstieg folgt erstmal ein Bruch, mit einem Schnitt zum famosen Bill Nighy (aktuell zu sehen in Der Buchladen der Florence Green). Als altender Rockstar Billy Mack vereint er das Selbstbewusstsein von Videostore-Franky mit dem Fame eines Mick Jagger. Er soll den Troggs-Klassiker Love is All Around als Weihnachtsedition neu einsingen, was nicht auf Anhieb klappt – doch sein Manager Joe ist ein geduldiger Mann (für mich sind und bleiben die beiden ja das tollste Liebespaar in diesem Film). Irgendwann klappt’s mit dem Einspielen des Liedes, das von Billy Mack unverhohlen als Kommerz-Aktion kommuniziert wird:
Das Lied ist Schrott, aber kauft es trotzdem!
Sympathisch, so viel Offenheit. Und weil’s so schön ist, hier der Song zu einem Best-Of-Moments aus Tatsächlich… Liebe:
Die Balance zwischen romantischen und witzigen, tragischen und schönen Szenen ist das, was Tatsächlich… Liebe tatsächlich großartig gelingt. Die Kunst liegt darin, nicht bloß ein Schaulaufen der Stars zu veranstalten, sondern den vielen großen Schauspieler*innen (und damit meine ich nicht nur die bekannten Gesichter) in der Kürze ihrer jeweiligen Screentime möglichst viel Raum für ihre Rollen zu geben. Obwohl ihnen allen eher Zeitfenster im Kurzfilm-Format zur Verfügung stehen, erleben wir den trauernden Ehemann, seinen verliebten Sohn, den Familienvater auf Irrwegen, seine gekränkte Frau, eine herzzerreißende Geschwisterliebe… so viele Szenen, in denen starke Gefühle vermittelt werden, ohne dass die Zuschauer*innen sich lange auf die Charaktere einlassen konnten.
Dass dieser Coup aufgeht, liegt auch am sorgfältigen Arrangement der Szenen. Die vielen Episoden werden mit teils echt pfiffigen, teils schlicht stimmigen Übergängen miteinander verknüpft, mit Komik und Tragik im gekonnten Wechselspiel. Nehmen wir die Szene mit dem britischen Sextouristen Colin, der (völlig erwartungsgemäß) an seinem ersten Abend in Amerika sein Bett gleich mit vier attraktiven Frauen teilen darf. Zuletzt sehen wir ihn und seine Begleiterinnen von außen durchs Schlafzimmerfenster einander ausziehen, natürlich ganz jugendfrei als Schattenspiel im Gegenlicht: Der junge Mann, der mit drei Damen ins Bett fällt, während die vierte schon auf dem Weg ist. Schnitt zur Bescherung bei einer anderen Familie, deren Mutter (Emma Thompson) direkt ankündigt:
Heute Abend gibt’s für jeden nur ein Geschenk.
Nicht nur spielt der Dialog damit auf die vorausgegangene, vom überzogenen Humor lebende Szene an. Auch leitet eben dieser Dialog, im weiteren Verlauf, die wohl bitterste Szene des Films ein: Die Ehefrau, die als Geschenk ihres Mannes ein Album mit trauriger Musik bekommt, statt des erhofften Herzschmucks (der dann wohl an die Geliebte ging…). Vor kurzem wies ich für die Kritik zu Whale Rider (2002) noch auf die Zusammenstellung traurigster Szenen durch Autor*innen und Leser*innen von The Guardian hin. Nun, wenn Emma Thompson als enttäuschte Ehefrau zur Stimme von Joni Mitchell versucht, ihre Gefühle zu kontrollieren – diese Szene ist natürlich auch in der Zusammenstellung zu finden.
Man dürfte es in den vorausgegangenen zwei Absätzen gemerkt haben: Gut gealtert ist Tatsächlich… Liebe in Sachen stereotypische Geschlechterrollen nicht: die scheue Haushaltsgehilfin, die sexy Sekretärin, die andere sexy Sekretärin von dem Prime-Minister und seinem notgeilen Amtskollegen aus Amerika (na ja, in der Hinsicht war Tatsächlich… Liebe schmerzhaft prophetisch). Da gibt’s die Hausfrau und Mutter, die fürsorgliche und schwer verliebte Schwester, die begehrenswerte Frau des Anderen und besagte Sex-Gespielinnen für britische Touristen. Während alle Macht und Initiative den Männern (und Jungs) zugeschrieben wird, sind die Frauen vor allem hübsch anzusehen und begehrenswert, ansonsten aber still und passiv. Sie sollen sich erobern lassen wollen.
Hinzu kommt: neun erzählte Liebesgeschichten, alle hetero (eine Szene zwischen einem lesbischen Paar wurde herausgeschnitten, siehe: deleted scenes). Und für ein, zwei billige Jokes macht der Film übergewichtiger Menschen runter, was tatsächlich… nicht sehr liebenswert ist.
An der Mentalität von Richard Curtis könnten all solche Bemängelungen abprallen. Auf die Kritik des berüchtigten Chef-Filmkritikers der New York Times hin, sagte der Regisseur bei der Premiere seines Films damals: Lieber mache er einen Film, den die meisten Zuschauer mögen und einige Kritiker nicht, anstatt einen Film, den die Kritiker mögen, aber keiner sehen mag. Curtis wollte den Mainstream bedienen und das hat er getan. Allein, dass der Mainstream inzwischen bunter geworden ist.
Was hatte besagter Chefkritiker, namentlich A.O. Scott, denn eigentlich an Tatsächlich… Liebe auszusetzen? Oh, so einiges:
Tatsächlich… Liebe […] ist ein unverdaulicher Weihnachtspudding aus der britischen Schrullenfabrik, die auch für die leidlich schmackhafteren Zuckerwerke Vier Hochzeiten und ein Todesfall, Notting Hill und Bridget Jones verantwortlich sind. Eine romantische Komödie, herangeschwollen zu einem nach Oscars fischenden Epos. | A.O. Scott (übersetzt aus dem Englischen)
Es gibt genug Gründe, Tatsächlich… Liebe zu ignorieren. Der Film ist schnulzig und sicher ein wenig zu lang. Er zeichnet ein Gesellschaftsbild, das Hetero-Männern ja nur schmeicheln kann, gezeichnet als Herren der Welt, begehrenswert oder Begehrende, die ihr Begehrtes kriegen. Für solche Schmeicheleien bin ich selbst durchaus anfällig und so sehr ich alle Minuspunkte abnicken kann, mag ich das Gesamtwerk immer noch. Zumal ich sehr empfänglich bin für Musik-Einsatz in Filmen. Ein ernüchternd einfaches Mittel, von dem Tatsächlich… Liebe nicht wenig Gebrauch macht. Doch on top finde ich das Ding schlicht gut geschrieben, gespielt und dramaturgisch arrangiert.
Bemerkenswert: Es gibt eine deleted scene, die ich vor Jahren gesehen und nie vergessen habe. Darin ist das Plakat einer Hilfsorganisation zu sehen. Es zeigt zwei Frauen, die dicke Bündel von Ästen durch die afrikanische Wüste schleppen. »Help shoulder their burden«, steht darunter: »Hilf, ihre Lasten zu tragen«. Die Kamera fährt hinein in das Plakat, ist plötzlich bei den armen Frauen in der Wüste…
Sie reden darüber, dass sich eine Tochter in einen Typen verknallt hat, ein Idiot, aber was solle man machen? Und hätten sie nicht selbst große Idioten geheiratet? Lachend gehen die Frauen weiter ihren Weg, alltäglich plänkelnd. Irgendwie fand ich diese kleine Einsicht sehr schön.
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