Der Beitrag ALL OF THIS IS TRUE von Lygia Day Peñaflor | Jugendbuch 2018 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>»Everybody wants to be famous« singt die 2017 gegründete und via Internet bekannt gewordene Band Superorganism. Und fasst sich damit selbst ans Näschen. Zumal sich die 18-jährige Sängerin Orono mit der damals in Japan tourenden Band The Eversons anfreundete und per virtuellem Musikaustausch zu ihrer eigenen Band machte. So ähnlich wundersam mutet auch die Geschichte um die Romanfiguren aus All of this is true an. Das sind Miri, Soleil und Penny, die sich mit ihrem großen Vorbild anfreunden. Es geht um die exzentrische und populäre Autorin Fatima Ro. Mit ihr geraten die Mädchen in einen Strudel intimer Geheimnisse und verhängnisvollen Ruhms.
Meine Urlaubslektüre Mehr Schwarz als Lila (2017) zu Ende gelesen, schlenderte ich in die nächstgelegene Buchhandlung in Padstow (hier ein kleiner Reisebericht). Auf persönliche Empfehlung einer knapp 20-jährigen Buchhändlerin kaufte ich mir das in verführerischem Rot gehaltene Coming-of-Age Buch All of this is true. Zu meiner Freude sogar drei ganze Monate vor dem Erscheinen hierzulande – im Arena-Verlag (Erscheinungstermin: Oktober 2018). Also, wie war’s?
Mit ihrem Roman Undertow katapultiert sich die junge Autorin Fatima Ro in die Herzen ihrer Leserschaft. Durch die unzensierte Preisgabe ihrer Gefühlswelt hinsichtlich des Todes ihrer Mutter und des eignen Selbstbildes, fühlen sich die Freundinnen Miri, Soleil und Penny der Schriftstellerin nah. Zu deren Glück verbringen sie den Abend nach der Autogrammstunde mit der Autorin selbst. Sie werden von Jonah begleitet, dem neuen und introvertierten Mitschüler. Schnell macht Fatima Ro deutlich, dass sie komplette Offenheit erwartet. Sie will mit ihren neuen Freunden sowohl Zeit als auch intime Geheimnisse teilen.
This is what it means to be transparent.
Fatima Ro
Durch den Freimut und das Vertrauen, das Fatima ihren neuen Homies entgegenbringt, wird sie in die Lebenswelten der Freundinnen integriert: während Miri Erfüllung darin findet, den Fatima-Fanclub zu vergrößern und mit Insider-Infos zu füttern, füttert Penny Fatimas Kater. Und Soleil und Jonah kommen sich Kapitel für Kapitel näher, fast auf dieselbe Weise wie das Paar in Fatimas Undertow. Dabei hüten Soleil, Jonah und Fatima bald gemeinsam ein Geheimnis, um Jonah zu schützen. Um sich nicht ausgeschlossen und nutzlos zu fühlen, unternimmt Penny eigene Nachforschungen zur geheimnisvollen Vergangenheit von Jonah. Was sie dabei herausfindet, zündet einen Skandal. Mit tödlichen Folgen, die Fatima Ro zur Bestsellerliste verhelfen.
Soweit die oben skizzierte Geschichte. Denn wer was gesagt, getan und intendiert hat, lässt der zweite Roman von Autorin und Kinderstar-Lehrerin Lygia Day Peñaflor im Zwielicht und macht die Leser*innen damit unfreiwillig selbst zu Ermittler*innen. Aufgrund des medialen Aufruhrs schildern Miri und Penny in Interviews jeweils ihre Sichtweise der Geschichte. Wohingegen Soleil, welche eine bestimmte Tragödie besonders mitnimmt, ihre Perspektive in einer Kolumne veröffentlicht. Von Fatima Ro fehlt jede Spur, um sie zur Rede zu stellen. Stattdessen liefert ihr neuer Roman, der die Story um die Freundinnen und um Jonah in einer eignen Geschichte wiedergibt, einige Hinweise. Hinweise und Aussagen, die Realität der Protagonisten mit der Fiktion verschmelzen.
Für Autor*innen im Segment Jugendbuch ist es das Ziel, eine Geschichte zu entwickeln, die das Interesse der als leseschwach etikettierten Jugendlichen weckt und hält. Hierfür muss die Story sowohl an der Lebenswelt angelehnt als auch andersartig sein. Vor allem aber müssen Protagonist*innen auftreten, die man mit dem eigenen Freundeskreis oder bestenfalls mit dem eigenen Ich verkuppeln könnte.
Betrachtet man die unterschiedlichen Figuren von Lygia Day Peñaflor, müsste die Chance relativ hoch sein, sich mit der ein oder anderen Figur zu identifizieren. Nur sucht man diesen Effekt vergeblich, solange sich die Charaktere eindimensional wie Scherenschnitt-Silhouetten durch die Geschichte bewegen. Selbst das multiperspektivische Erzählen hinterlässt bei den Lesern kaum den Eindruck facettenreicher Charaktere. Und wieso sich die Freundinnen in Hysterie für die Figur Fatima üben, bleibt den Leser*innen ein weiteres Rätsel.
Das Konzept, eine Story mittels diverser journalistischer Formen wie E-Mails, fiktiven Buchseiten, Interviews und Hashtags erzählen zu lassen, ist ein wunderbarerer Ansatz, der am Transmedia Storytelling anknüpft. Das heißt, eine Geschichte parallel auf mehreren Kanälen zu erzählen, so dass ein fiktives Universum entsteht. Auch die Idee, fiktive Ebenen zu überlagern und verschmelzen zu lassen, wie etwa in dem Film Inception (2010), ist eine spannende Erzähltechnik, das Lesepublikum intellektuell anzuregen.
Doch der gutgemeinte Kunstgriff ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Kunst als solche nicht selbst überzeugt. In diesem Punkt enttäuscht mich das Buch, da das Wechseln der Perspektiven und der Ebenen Fiktion und fiktive Fiktion (intradiegetisch, ums mit Genette zu sagen) vom Wesentlichen ablenken, so dass die jugendliche Leserschaft an der Oberfläche schwimmt und sich von den Figuren nicht wirklich mitreißen lassen kann.
Drei Freundinnen, ein mysteriöser neuer Mitschüler und eine berühmte Autorin werden Freunde, bis ein Skandal ans Licht kommt und eine Figur ins Krankenhaus befördert. Zu allem Übel berichten die Betroffenen alle etwas anderes. Wem soll man also Glauben schenken? Was nach einer wilden Geschichte aussieht, entpuppt sich als Dschungel fiktiver Elemente. Das Verblenden von fiktiver Realität – die Welt von Miri und Co – und der fiktiven Fiktion – den Figuren in Fatimas Roman – strickt einen Mantel, durch den sich das eigentliche Geschehen und der emotionale Zugang zu den Figuren nur erahnen lässt. Ein Umstand, der die Jugendlichen mit etwas Glück zum Selber-Schreiben anregt. Ich vergebe 6 Sterne.
Titel | All of this is true |
Erscheinungsjahr | 2018 |
Autor*in | Lygia Day Peñaflor |
Verlag | Arena Verlag |
Umfang | 360 |
Altersempfehlung | 12 |
Thema | Anerkennung, Freundschaft, Geheimnisse |
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]]>Der Beitrag MIT EINER KATZE NACH PARIS von Angelika Glitz | Kinderbuch 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Meine Eltern haben seit Kurzem Katzenbabys. Für mich ein triftiger Grund, sie mal wieder zu besuchen. Gedacht, geschehen, geflasht. Diese kleinen flauschigen Knutschkugeln hätte ich fressen können. Ein sonderbares, obsessives Gefühl, das eine gewisse Katzendame dazu verleitet, ihr Objekt der Begierde (in diesem Fall eine Maus) nach Paris zu entführen.
Zum Inhalt: »Baguette kaufen geht pupsieinfach«, denkt der kleine Mäuserich Ronald. Doch dazu kommt er erst gar nicht. Denn die Dame Miezekatze hat andere Pläne mit dem Mäusezahn. Um sie von ihrem Hunger nach Mauseschmaus abzulenken, kauft Ronald ihr eine Ladung saftiger Sauerkirschen. Das müsste den Katzenmagen erstmal stopfen.
Doch zu früh gefreut. Miezekatze Rosalie verspürt einen unbändigen Löwenhunger nach Delikatessen und süßer Mäuseliebe. Ehe sich Ronald versieht und seine Schwestern alarmieren kann, entführt sie den Kleinen in die Stadt der Liebe, Paris. Kein glücklicher Zustand für Ronald. Doch als sich ihm eine Möglichkeit bietet, der hungrigen Katze zu entkommen, entscheidet er sich anders und überrascht damit nicht nur seine Schwestern. Über Ronalds Reise zwischen Bangen und Hoffen und dem Auskosten der Liebe.
Ohne Konflikt kein Drama, kein spannendes Storytelling, kein Spaß. Und Kinder lieben, ja brauchen Spaß. Syd Fields Konflikt-Regel, die wir uns im Fachseminar Drehbuchschreiben für Kinder- und Jugendfilme hinter die Ohren schreiben durften, befolgt auch Angelika Glitz in ihrem neuen Bilderbuch Mit einer Katze nach Paris. Denn was könnte die Luft mehr zum Brutzeln bringen, als die Figuren Katz und Maus, das Traumpaar für Gegensätze. Tom und Jerry ist nicht ohne Grund die meist-ausgezeichnete Trickfilmserie weltweit. Somit gelingt es der Autorin, bereits durch das Buchcover die Kinder neugierig aufs Lesen zu machen. Der erste Schritt zur Leseförderung.
Ob Geschwister oder dominante Freund*innen, jedes Kind kommt einmal in die Situation, sich behaupten zu müssen. Hätte ich als Kind nicht so einen lieben und verständnisvollen Bruder gehabt, hätte ich jetzt vermutlich auch ein dickeres Fell. (Dafür haben wir jetzt einen Psychologen in der Familie – mit Elefantenhaut.) Dass sich Ronald in Mit einer Katze nach Paris gegenüber seinen älteren Mäuse-Schwestern beweisen will, indem er sich ohne dämliche Warn-Tröte zum Bäcker aufmacht, passt zur kindlichen Lebenswelt. Jüngere Geschwister möchten ernst genommen werden, nicht unter den Scheffel gestellt. So bietet die Eröffnungsszene Identifikationspotential für all jene Kinder, die mit (älteren) Geschwistern aufwachsen.
Neben dieser lebensnahen Einleitung punktet das Kinderbuch Mit einer Katze nach Paris durch schnelles und kindgerechtes Storytelling. Obwohl das Werk in der Autor*innen-Zeitschrift Federwelt (August 2018) als »Bilderbuch mit viel Text« beschrieben wird, schreibt Angelika Glitz nicht um den heißen Brei herum, ohne langweiliges Blah oder schwierige Wortakrobatik. Stattdessen inszeniert sie den ehrfürchtigen Auftritt der Katzendame direkt auf den Anfangsseiten und treibt beide Figuren zur Aktion an. Ronald muss handeln, sonst könnte Rosalie noch auf die Idee kommen, ihn womöglich zu verspeisen.
Drum lässt die Autorin die beiden Fellwesen in Mit einer Katze nach Paris gemeinsam Kirschen essen, eine Spritztour machen und Paris mit seiner Mona Lisa, dem Eiffelturm und Käse erkunden. Und zwischen den Zeilen hämmert das kleine Mäuseherz, denn Rosalie hat Ronald immer noch zum Fressen gern. So spielen die Emotionen in dem Kinderbuch zwischen Fürchten und Freude ebenfalls das Katz- und Mausspiel. Ein Storytelling und einfacher Sprachstil, bei dem Kinder ihre Lesefreude haben.
Die Illustrationen von Joëlle Tourlonias sind für mich wahre Buchöffner. Der Blick aufs Cover und ihr Name haben mich in der Bücherei dazu gebracht, noch ein 9. Kinderbuch auf den schon schweren Stapel zu legen. Und habe ich es bereut? Pustekuchen. Joëlle Tourlonias überzeugt auf ganzer Buntstiftlinie. Etwas Anderes hätte ich auch nicht erwartet. Ihr bekannter, niedlicher und sanfter Zeichenstil ist für Kinderherzen wie geschaffen. Und wenn man genau hinsieht, entzückt sie mit solch einer Präzision wie etwa die feinen Katzenhaare, dass sich das Können dieser Künstlerin zweifellos nicht auf Kinderbücher beschränken lässt.
Auch der Stilmix zwischen liebreizenden Tierzeichnungen und detailreichen Architekturen lässt Groß und Klein staunen. Das Einzige, das den Glanz der Panoramabilder etwas schmälert, ist die Text-Bild-Integration. Nach meinem ästhetischen Empfinden wäre ein visuell harmonischerer Text-Bild-Übergang in Form eines verspielteren Schriftsatzes wünschenswert gewesen. Aber das ist sicher eine Geschmacksfrage und wird als Extrawurst verbucht.
Mit ihrem neuesten Kinderbuch hat Angelika Glitz eine unterhaltsame und spannende Liebesgeschichte zwischen Katz und Maus erschaffen, die den Kindern kindgemäß nahelegt, Vorurteile über Bord zu werfen und erst einmal mit jemanden Kirschen zu essen. Mit wunderbaren Illustrationen von Joëlle Tourlonias erzählt die Autorin von der Angst vor dem Fremden, die besser klein und klug wie eine Maus sein, und die Chance auf Freundschaft und Liebe offenhalten sollte. Für so eine runde Kindergeschichte, die sich auch gut zum Vorlesen eignet, vergebe ich 9 Sterne.
Titel | Mit einer Katze nach Paris |
Erscheinungsjahr | 2017 |
Autor*in, Illustrator*in | Angelika Glitz (Autorin) Joëlle Tourlonias (Illustratorin) |
Verlag | S. Fischer Verlag |
Umfang | 32 Seiten |
Altersempfehlung | ab 4 Jahren |
Thema | Freundschaft, Liebe, andere Länder |
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]]>Der Beitrag WERKE UND TAGE von Hesiod, Ratgeber & Rechtsphilosoph | Lehrgedicht erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Tipps fürs Wasserlassen machen natürlich nur einen kleinen Teil dieses Gedichts aus, von dem vermutet wird, dass Hesiod es nach seiner Theogonie geschrieben hat. Schon in dieser fantastischen Schöpfungsgeschichte nahm Hesiod als »Hirtenpack« auf sich Bezug (so zitiert er jedenfalls die Musen, die ihn aufscheuchten, das Faulenzen zu lassen und der Dichtung zu frönen).
Auch in Werke und Tage dichtet Hesiod wieder aus der Sicht eines einfachen Kleinbauern – weil er vermutlich selbst einer war – und richtet sich an seinesgleichen. Sein literaturgeschichtlich einziger relevanter Zeitgenosse, Homer (Ilias, Odyssee), war ein Kenner der aristokratischen Oberschicht seiner Zeit. Dazu bietet Hesiod sozusagen das Gegenstück, vom unteren Ende der Gesellschaft, wo Misswirtschaft in Existenznot übergehen konnte. Wie lebte es sich da?
Deinen Mitteln entsprechend bereite den unsterblichen Göttern die Opfer rein und frei von Befleckung und verbrenne ihnen glänzende Schenkelstücke. Dann wieder stimme sie mit Weinspenden und Weihrauch gnädig, wenn du zu Bett gehst und wenn das heilige Licht wiederkehrt, auf daß sie dir Gnade in Herz und Sinn bewahren und du fremden Grund erwirbst, nicht ein anderer den deinen. 1
Wer noch feinstes Schenkelfleisch und Wein als Göttergaben übrig hat, dem kann’s so schlecht nicht gehen, möchte man meinen. Im antiken Böotien, wo Hesiod gelebt haben soll, war Ackerland tatsächlich in Privatbesitz – nicht, wie später im Mittelalter, in den Händen adliger Grund- oder Gutsherren. So lebten Kleinbauern wie Hesiod etwa in einem Wohnhäuschen, umgeben von ihrem Hof, der ein paar Tierställe und Lagerräume umfassen mochte. Man hielt sich Ziegen, Schafe, Ochsen und vielleicht ein paar Sklav*innen. Außerdem eine Frau, wobei die wohl kaum mehr Ansehen genoss, als die Bediensteten und Tagelöhner.
Erst ein Haus, dann eine Frau und den Ochsen zum Pflügen; die Frau sei gekauft, nicht gefreit und soll auch die Ochsen antreiben. 2
Mädchen wurden dieser Tage nicht selten schon sehr jung verheiratet. Hesiod scheint sich in Werke und Tage gegen eine allzu frühe Ehe auszusprechen und empfiehlt eine Heirat »vier Jahre nach der Pubertät der jungen Frau«, so Otto Schönbergers Interpretation von Hesiods Zeilen. Was Nachwuchs anbelangt, spricht Hesiod sich für nur einen Sohn aus. Schönberger dazu:
Das Ein-Kind-System (mit der Barbarei der Kinderaussetzung) verhindert Zerstückelung der Güter. Bei der Kargheit des Landes ist die Sorge vor Übervölkerung freilich verständlich. 3
.An dieser Stelle muss ich mal gestehen, dass mein Interesse an diesen alten Zeiten einer eigentümlichen, verschrobenen Neugier entspringt. Insbesondere für die dunklen Seiten natürlich, die Sitten und Bräuche und Strafen und Taten, die aus heutiger Sicht rabiat bis schlichtweg Menschen verachtend waren. Dinge, die heute verpönt oder verboten sind, üben eine zuweilen fesselnde Wirkung auf mich aus. Dafür sollte man sich, geboren und aufgewachsen in einem Rechtsstaat, mit all seinen Pflichten und Privilegien, eigentlich schämen.
Immerhin gilt meine Faszination, stelle ich ein wenig beruhigt fest, auch für die Idee des Rechts in ihren frühesten Erscheinungen. So nimmt Hesiod in Werke und Tage mit einer tierischen Metapher von Nachtigall und Habicht Anstoß am »Naturrecht« des Stärkeren. (Womit er Teile aus Platons Gorgias vorwegnimmt, wie Schönberger bemerkt.) Stattdessen hält Hesiod das Recht der Götter in Ehren:
Diese Ordnung setzte nämlich Kronion [das ist Zeus] den Menschen, den Fischen, allem Getier und fliegenden Vögeln: daß Tiere zwar einander auffressen, weil bei ihnen kein Recht herrscht, während er den Menschen Recht verlieh, das höchste Gut und allen. Entschließt sich nämlich einer zu sagen, was er als Recht erkennt, dem schenkt Zeus, der weitblickende, Segen; 4
Das unter »Recht« allerdings vieles verstanden werden kann, das haben die Jahrhunderte seit Hesiod gezeigt. Nichtsdestotrotz macht sich der Dichter mit seinen Ausführung zum ersten schriftlich überlieferten Rechtsphilosophen des Okzidents.
Hinweis: Werke und Tage in deutscher Übersetzung und voller Länge findet sich online unter anderem unter www.gottwein.de
Im ersten Absatz von Werke und Tage richtet sich Hesiod gleich mit dem ersten Wort an die Musen, von denen wir aus der Theogonie wissen, dass sie dem Hirten »den göttlichen Sang« eingehaucht haben. Doch schon wenige Zeilen später kommt Hesiod auf Perses zu sprechen, dem er »Wahres verkünden« möchte.
Perses war ein Bruder Hesiods und hat offenbar sein Geld verprasst. Dass er Hesiod schließlich aufsuchte und Anspruch aufs väterliche Erbe erhob, gab überhaupt erst den Anlass für dieses Lehrgedicht: ein brüderlicher Rechtsstreit liegt Werke und Tage zugrunde.
Hesiod belehrt darin seinen Bruder, wie man sich als sparsamer, vorausschauender Mensch zu betragen habe. Doch er spannt den Bogen größer und richtet sich, letztendlich, an die allgemeine (bäuerliche) Weltöffentlichkeit. Mit erstaunlich pragmatischen Tipps, etwa für Landwirte, die es vercheckt haben, rechtzeitig ihre Saat zu streuen:
Hast du nämlich zu spät gesät, dann gäbe es folgende Heilung: Ruft der Kuckuck erstmals im Jahr »Kuckuck« im Laub der Eiche und erfreut die Menschen auf der unendlichen Erde, dann läßt es Zeus vielleicht drei Tage lang regnen, nicht mehr, als daß es die Spur eines Maultiers füllt, doch auch nicht weniger. So holt der Spätpflüger den Frühpflüger wohl noch ein. 5
Ach, manchmal möchte man sich doch für sein simpel gestricktes Gemüt schelten. Während bei Wikipedia in großen Tönen die literaturgeschichtlich „kaum zu überschätzende Nachwirkung“ hervorgehoben wird, macht bei mir erstmal der infantile Pipi-Kaka-Humor Alarm. Und mein ärmlich schlichtes Hirn speichert dann solche Absätze ab:
Pisse auch nicht zur Sonne gewandt im Stehen; […] Hockend macht es ein trefflicher Mann, der was, was man tun soll, oder er tritt zur Wand des wohlumwehrten Gehöftes. 6
Scheiß die Wand an is‘ dat schön. Der Altphilologe Schönberger gibt hier noch ein paar strahlharte Infos mit auf den Weg: »Urinieren im Hocken findet sich als Brauch frommer Männer in Griechenland noch heute.« Ja, und in meinem Elternhaus hing über der Schüssel ein Schild mit der Aufschrift: »Willst du mich im Stehen nutzen, darfst du mich danach auch putzen.« Dieses Schild werde ich nie wieder mit denselben Augen lesen. Sondern dabei an die »kaum zu überschätzenden Nachwirkungen« des Lehrgedichts von anno dazumal denken.
Besagte Nachwirkungen kann man auch in Sachen Frauenfeindlichkeit geltend machen. Hesiod hat in Werke und Tage, diesem viel zitierten, weit verbreiteten Gedicht, womöglich (wie schon in der Theogonie, Stichwort: Pandora) nur das Frauenbild seiner Zeit festgehalten. Und doch hat er es mit der Niederschrift zum Grundstein gemacht, für frauenverachtende Schriften und Denkweisen, wie es sie seit der Antike in beschämender Fülle gab und gibt.
Beispiele für misogynistische Bemerkungen in Hesiods Werke und Tage:
Laß dir auch nicht den Sinn vom süßen Geschwätz eines sterzwedelnden Weibes, das auf dein Häuschen aus ist, betören, denn wer einer Frau traut, der traut auch Dieben. 7
[…] zur Zeit des lähmenden Sommers, dann sind die Geißen am fettesten und der Wein am besten, sind die Frauen am geilsten, die Männer aber am schlappsten […], 8
[…] dann suche, das rate ich dir, einen Knecht ohne Hausstand und eine Magd ohne Kinder, denn eine, die schon gekalbt hat, ist lästig. […], 9
Schmal vom Umfang, reich im Inhalt ist Werke und Tage: Von der Legende der Pandora – jene »hübsche, lockende Mädchengestalt«, die den Menschen das Elend brachte (siehe auch: Theogonie) – bis hin zu einer Art Almanach, der die besten Tage zum Ernten und Gebären von Kindern benennt, ist allerlei darin enthalten. Interessant für Student*innen, denen es um die Anfänge der Rechtsphilosophie geht, ebenso wie für Historiker*innen, die den Wurzeln des Frauenhasses auf die Spur gehen möchten. Eine seltsam gemischte Leser*innenschaft ist das.
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]]>Der Beitrag Freie Trauung oder kirchliche Trauung? | Entscheidung, Planung, Zeremonie erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Sonia: In Polen geboren und in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen, habe ich die Etappen Taufe, Kommunion und Firmung zeremoniell und traditionell durchlaufen. Zum Stolz meiner Verwandten. Doch je älter ich wurde und je seltener wir in die Kirche gingen, in der ich Kirchenfenster wie Schäfchen zählte, desto mehr befasste ich mich mit anderen Welt- und Glaubensanschauungen: Reinkarnation, Engel und Lichtwesen. Menschen, die als Medien zwischen den Welten vermitteln. Nahtoderfahrungen verschiedenster Art.
Was am Ende blieb, war der Gedanke, dass wir unter diesem Himmel alle gleichen Ursprungs sind und mit unseren Gedanken, Worten und Taten unser Leben und das unseres Planeten gestalten. Und dass wir nicht unbedingt eine institutionalisierte Religion brauchen, um zu glauben und gut zu sein. Und geht es nicht letztendlich darum, gut zu sein, um am Ende seiner Tage zufrieden zurück und nach vorne zu blicken?
David: Was ist denn »gut«? Als im Familiengottesdienst damals vom »guten Gott« erzählt wurde, der das Meer hinter Moses schloss, damit all die bösen Ägypter im Wasser umkamen, da flüsterte mein Paps mir zu, dass er sich da auch nicht ganz sicher sei, ob das »gut« ist. Ich habe auch früh gelernt, nicht unbedingt jedes Wort des Papstes »gut« zu heißen – und das sowas wie das Zölibat nicht »gut«, sondern Tradition war. »Man kann ja nicht alles ändern.« Zumal gewisse Werte der römisch-katholischen Kirche sich ja nicht überholen oder so wichtig und sinnvoll sind, wie eh und je: Nächstenliebe, um das prominenteste Beispiel zu nennen. Immer eine gute Idee.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Das Zitat kommt aus dem Evangelium nach Markus, Neues Testament. Und es kommt aus der Tora, der hebräischen Bibel. Diese hat das Christentum auch für sich übernommen, als Altes Testament, in etwas anderer Anordnung.
Im Islam nennt man die gelebte, soziale Wohltätigkeit Zakat und im Buddhismus hat Karuna als Mitgefühl und Erbarmen eine ähnlich hohen Stellenwert, ist da jedoch nicht an eine Gottesvorstellung geknüpft. Die Verhaltensbiologie beobachtet Moral-ähnliches Verhalten im Übrigen zwar auch bei Tieren, doch in der neuzeitlichen Philosophie appelliert Immanuel Kant explizit an den menschlichen Verstand:
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.
Das finde ich »gut« – ein Maßstab, der in meinem Kopf geschlossen Sinn ergibt. Mit mir selbst als Verantwortung tragende Instanz, ohne Berufung auf ein Höheres Wesen oder etwaigem Aberglauben.
Sonia: Zugegeben, ich habe einen Hang zum Aberglauben. Auf Holz klopfen, das Brautkleid vor dem Bräutigam verstecken, oder den Rosenkranz meiner Oma bei Prüfungen in der Tasche verstauen. Mach. Ich. Alles. Doch ich mogele, wenn’s mir nicht passt, was ein wenig an meiner Seriosität kratzt. Wenn mein Glaube ein Tier wäre, dann wohl ein Vogel.
Etwas flatterhaft, aber himmelsnah. In einer Sache aber bin ich umso geerdeter: Dem Universum oder dem Höheren ist es, denke ich, ganz gleich, ob wir am Strand, in der Kirche oder sonst wo und wie heiraten. Solange man seine Liebe so bekennt und besiegelt, wie man es auch meint.
So zu heiraten, wie man es meint, das war mir wichtig. Was ist nun, wenn die eigenen Wurzeln nicht mehr ganz zu den Flügeln passen? Um unsere traditionellen Hintergründe und meine spirituellen Einflüsse mit den jeweils individuellen Überzeugungen zu verbinden, entschieden wir uns für die freie Trauung. Was ist das eigentlich?
…aber vorweg: Kleiner Exkurs
David: Wann immer wir in binären Gegensätzen denken, also solchen mit zwei klaren Positionen, da sollten wir hellhörig werden. Wir Menschen. Die Studien des Völker-Forschers Claude Lévi-Strauss haben das menschliche Denken schon vor Jahrzehnten als universell und uniform entlarvt. Überall auf der Welt, egal ob in New York City oder dem Amazonasgebiet, denken die Menschen in Gegensatzpaaren. Sowas wie »heiß – kalt«, »oben – unten«, »hell – dunkel«, soweit, so gut. Weiter: »Natur – Kultur«, »wild – zivilisiert«, »Frau – Mann«, und vielleicht am gewichtigsten: »schlecht – gut«. Denn beim Denken in Gegensatzpaaren geht eine Gewichtung dieser Paare in »gut« oder »schlecht« oft automatisch mit einher, bewusst oder unterbewusst.
So haben sich Denkweisen, die »Kultur über Natur« oder »Mann über Frau« erhoben, über Jahrhunderte fortgesetzt. Wie auch immer du zur Kirche oder freien Trauung stehst: Wenn du dir das Gegensatzpaar »Kirche – freie Trauung« denkst, findest du vermutlich eines besser, eines schlechter. Ich persönlich assoziere »Kirche« etwa mit einer nicht mehr zeitgemäßen Institution mit arg verbrecherischer Historie (die nicht abgeschlossen ist). Andere assoziieren mit »freie Trauung« ein beliebiges Wunschkonzert, das sich an den schönsten Ritualen der kirchlichen Liturgie bedient und daraus ihr eigenes Ding dreht. Mal abgesehen davon, dass viele Religionen ihre Rituale auch nicht originär selbst erdacht und patentiert haben, liegt ein weiteres Problem mit dem Denken in Gegensatzpaaren darin, dass damit suggeriert wird, es gäbe nur zwei Kategorien.
Gibt es nur »männlich – weiblich« als mögliche Geschlechtsidentitäten? Nein. Es sind nur die einzigen beiden Möglichkeiten, auf die uns unser Hirn und unsere Sprache festlegt, wenn wir nicht daran rütteln. Und ebenso sollte man freie Trauung nicht als das einzig mögliche Gegenstück zur kirchlichen Trauung verstehen. Das Adjektiv »frei« macht es unserem Denken hier immerhin leichter, die eigentliche Vielfalt zu sehen: Eine freie Trauung kann alles sein, was ihr euch wünscht. Auch in Verbundenheit zu einem Gottesbild, wie es in der Bibel beschrieben wird.
Sonia: Eine freie Trauung kann frei nach den Vorstellungen des Brautpaares gestaltet werden. Dabei sind der Zeremonie keine Grenzen gesetzt (außer natürlich denen des Rechtsstaates). Die gute Nachricht an alle Pinterest-Suchtis: Ablauf und Ort der Trauung könnt ihr euch selbst überlegen – mithilfe von tausenden Inspirationen da draußen. Hier eine kleine Pinnwand zur Gestaltung unserer Hochzeit.
Dank der freien Trauung konnten wir die standesamtliche (bürokratisch gehaltene) Eheschließung um eine Komponente ergänzen, die weit aus romantischer und feierlicher war. In der Zeremonie bekannten wir im Kreise unserer Lieben und Verwandten unsere Werte, unsere Liebe und Entscheidung füreinander, nach unseren Vorstellungen. Sogar nach meinen Mädchentraum, einmal wie Forrest und Jenny unter freiem Himmel zu heiraten, in der Geborgenheit der Bäume, wurde wahr.
Der Vorteil einer kirchlichen Trauung – rein pragmatisch betrachtet – ist die per se feierliche Kulisse, der romantische Orgelmusikeinsatz, die geringeren Kosten. Für Paare, die sich jedoch weniger mit der Kirche und/oder dem Glauben identifizieren, bedeutet dies eine Trauung unter dem Mantel der Kirche und deren Vorstellungen der Ehe, Familienplanung, Kindererziehung. Hier gibt es deutliche Unterschiede in der katholischen und evangelischen Zeremonie, wobei Letzteres mehr Gestaltungsraum für das Brautpaar bietet.
Die Kosten einer freien Trauung hängen natürlich ganz von der Trauung selbst ab. Dafür müsst ihr euch überlegen, wen und was ihr gerne integrieren möchtet. Der erste Kostenfaktor, der den Kern jeder freien Trauung darstellt, ist der oder die Zeremonienmeister*in respektive freie*r Hochzeitsredner*in. Natürlich gibt es auch die Option, freie Theolog*innen anzufragen, die unabhängig von der Kirche arbeiten und ebenfalls ein Honorar erhalten (hier eine Übersicht freier Theolog*innen).
Wie hoch die Honorare sind, hängt stark von den Redner*innen ab. Diese bieten in der Regel Vorab-Gespräche mit dem Brautpaar an, wo die persönliche Geschichte und die eigenen Vorstellungen kommuniziert werden. Mit Kosten ab 500 Euro sollte man für professionelle Hochzeitsredner*innen wohl rechnen.
Alternativ bietet sich auch die Friends-Variante an: Gibt es einen Menschen, der euch gut kennt und gerne und gut vor Publikum spricht (muss nicht in Soldatenuniform sein)? Dann ab dafür!
Wir hatten das Glück, den Theater- und Film-Schauspieler Jesse Albert in unserem Bekanntenkreis zu haben, der sich gerne bereit erklärte, uns durch die Trauung zu führen. Die Herausforderung bei semiprofessionellen Hochzeitsredner*innen: Den Text zur freien Trauung muss das Brautpaar selbst austüfteln. Wer selten schreibt und textet, kann hier ebenfalls im Bekannten- und Freundeskreis fragen, ob es helfende Hobbyschreiber*innen-Hände gibt? Denn wie gesagt, fragen schadet nicht. Und dann ladet eure Schreiberling-Freund*innen zu einem Essen ein und lasst euer Herz sprechen.
Ein weiterer Kostenfaktor ist die Ausstattung. Je nachdem wie ihr euch trauen lasst und in welcher Location ihr dies vollzieht, könnt ihr auf Stühle, Bänke, Heuballen und vieles mehr zurückgreifen. Unsere Location (die Gaststätte Wintergarten in Bocholt) hatte zum Glück alles parat und übernahm die Aufstellung der Stuhlreihen. Für das Rednerpult stellten wir ein eigenes auf, samt selbst gehäkelter Gardine meiner Großmutter. Als kleinen Hingucker stellte uns die Blumenbinderei Flores für den Flur ein paar schöne Blumentöpfchen auf. Hier liegt es wieder ganz an euch, was ihr euch wünscht.
Der musische Rahmen kann auch all denen Tränen in die Augen treiben, die sonst eher keine Miene verziehen. Nicht, dass bei einer Hochzeit geweint werden muss (muss es nicht 😊). Manche Brautpaare lassen sich professionelle Musiker*innen einfliegen, andere über die Anlage ihre Lieblingssongs abspielen, nur Sänger*innen singen oder befreundete Musiker*innen spielen. Hier müsst ihr entsprechend Angebote einholen. Da wir es irgendwie mit Friends haben, freuten wir uns riesig, dass Davids Schwester und ihre Freunde mit Engelstrompeten, Gitarre, Keyboard und Sheeran-Gesangsstimme sowohl den Einzug als auch die Zeremonie in rührende Atmosphäre tauchten.
Nehmt ihr Profis für die freie Trauung in Anspruch (freie Theolog*innen, Hochzeitsredner*innen), müsst ihr nichts weiter tun, als euch ein- bis zweimal mit dieser Person zu treffen und dort alles Wichtige zu besprechen (etwa Symbole, die ihr einsetzen möchtet, eure persönliche Geschichte oder Musikwünsche). Falls ihr euch zutraut, die Zeremonie aus eigener Feder zu verfassen, dann ist es hilfreich, sich zunächst eine kleine »Dramaturgie« zu überlegen. Diese könnte für eine freie Trauung so aussehen:
Dann könnt ihr ein paar Kerndaten sammeln, die euch wichtig erscheinen. Bei uns waren es das erste Kennenlernen und die Meilen- und Stolpersteine unserer Freundschaft, aus der im verflixten siebten Jahr mehr wurde. Inhaltlich habt ihr also viel Spielraum, was vielleicht die Krux ist. Um es nicht steif ablesen zu lassen, ist es hilfreich, dem oder der Hochzeitsredner*in nicht Wort für Wort in den Mund zu legen und ihm oder ihr durchaus auch eigene Ideen oder Formulierungen zuzutrauen.
Etwas, das für uns das Highlight war, und weshalb wir so derart nervös waren: unsere beiden Eheversprechen. (Wieder so ein Brauch aus Friends – ja, vielleicht sind wir dieser Sitcom ein bisschen zu sehr erlegen.) Die persönlichen Worte, aneinander gerichtet, vor den Augen und Ohren unserer Liebsten und Nächsten, waren das Herzstück unserer Trauung. Sicherlich nicht jedes Brautpaars Sache. Aber für mich war es der schönste Moment, meine Liebe so offen preiszugeben und zu bekennen.
Ihr allein entscheidet, was ihr euch sagen und versprechen wollt, so dass es auch da kein Richtig oder Falsch gibt. Um keine Peinlichkeiten entstehen zu lassen, haben wir uns abgesprochen, wie lang unsere Versprechen werden sollen. Bei Paaren mit sehr unterschiedlichem Redebedarf eine sinnvolle Angelegenheit. Mein Tipp: Setzt euch hin und schreibt einfach eine Minute darauf los, ohne eine Pause zu machen. Einfach herunterschreiben, welche Gedanken euch gerade durch den Kopf schießen, wenn ihr an euren Partner denkt.
David: Mein Tipp: Das Eheversprechen auf einem Spickzettel in der Trauung bei sich tragen. Mal drauf lünkern heißt ja nicht, dass man vergessen hat, warum man mit dieser Person da gegenüber sein Leben verbringen möchte. Nur, dass einen das Publikum arg nervös macht und die wenigsten Menschen viel Übung darin haben, ein Eheversprechen vorzutragen.
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]]>Zum Auftakt, ein besonders starkes Stück:
Arcade Fire – We Exist (2014) mit Andrew Garfield (Boy A). | Unter der Regie von David Wilson (auch bekannt für das Video zu Passion Pit – Take a Walk) schlüpft der Schauspieler Andrew Garfield in die Rolle einer Transgender-Frau. Anfangs steht sie daheim vorm Spiegel, rasiert sich den Schädel und zieht sich an. Dann geht es in eine Bar, wo sie erst von Typen angepöbelt wird, bis die Awesomeness passiert. Teile dieses großartigen Musikvideos wurden beim Coachella-Konzert von Arcade Fire gedreht. Sehenswert! Hier geht es zum Video.
Kontroverse: Die Transgender-Musikerin Laura Jane Grace kritisierte das Musikvideo dafür, dass es Stereotypen reflektiere – und sagt, die Hauptrolle hätte eine Transgender-Schauspielerin spielen sollen, statt ein Cisgender-Mann. Der Songwriter Win Butler (nicht verwandt oder verschwägert mit der Gender-Studies-Fachfrau Judith Butler) verteidigte die Besetzung von Andrew Garfield mit den Worten »Für ein homosexuelles Kind in Jamaika ist es, meiner Meinung nach, verdammt kraftvoll, in eben dieser Rolle den Schauspieler zu sehen, der Spiderman gespielt hat.« Später lenkte Laura Jane Grace ein, dass sie ihre Meinung zum Video geändert habe.
With great power comes great great responsibility. | Spiderman
Carly Rae Jepsen – I Really Like You (2015) mit Tom Hanks (Forrest Gump) | Wer hatte bei der jungen fröhlichen Singstimme von Jepsen nicht immer eigentlich Tom Hanks vor Augen? Der Mann wird älter, aber bleibt ein Kind. Kann man nur feiern. Hier geht es zum Video.
Vampire Weekend – Giving Up The Gun (2010) mit Jake Gyllenhaal (Nightcrawler), Lil‘ Jon und RZA | Ein ziemlich witziges Tennis-Match mit einem extra-breiten Mr. Gyllenhaal. Hier geht es zum Video.
The Shoes – Time to Dance (2012) mit – schon wieder! – Jake Gyllenhaal (Donnie Darko) | Eine ziemlich düstere Mordserie mit einem extra-krassen Mr. Gyllenhaal. Vorsicht, nichts für schwache Nerven! Hier geht es zum Video.
Aerosmith – Jaded (2000) mit Mila Kunis (Die wilden Siebziger). | In der Lobby des Los Angeles Theater, diesem extravaganten Bau im französischen Rokoko-Stil, tobt ein spektakulärer Zirkus mit irren Artist*innen. In ihrer Mitte: Die abgestumpfte, ausgepowerte (engl. jaded) Frau, verkörpert von Mila Kunis. Hier geht es zum Video.
Will Smith – Miami (1998) mit Eva Mendes (Hitch). | Wenn der Prince von Bel Air ein Musikvideo gemacht hätte… dann wohl diesen tanzlustig-kultigen, preisgekrönten Clip. Mit Schauspielerin Eva Mendes in einem kleinen Auftritt vor ihrem Durchbruch. Hier geht es zum Video.
Melissa Etheridge – I Want To Come Over (1995) mit Gwyneth Paltrow (Sieben, Contagion). | Die Golden-Globe- und Oscar-Preisträgerin ist nicht nur fleißig in Kinofilmen unterwegs. Wer sie als arg deprimierte Liebeskummer-Leidende sehen mag: Hier geht es zum Video.
The Lemonheads – It’s a Shame About Ray (1992) mit Johnny Depp (Angst und Schrecken in Las Vegas). | Es geht immer noch ein bisschen älter: Anfang der 90er Jahre spielte Johnny Depp in diesem lahmen Clip einen Typen, der wütend auf ein Foto ist. Hier geht es zum Video.
Radiohead – Creep (1993) mit Johnny Depp und Charlotte Gainsbourg (Antichrist). | So viel schöner, als sein letzter Musikvideo-Auftritt. Und eigentlich, na ja, kein richtiger Musikvideo-Auftritt. Bei der Begegnung von Johnny Depp als geheimnisvoller Fremder und Charlotte Gainsbourg im Plattenladen handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Film Happy End mit Hindernissen von Yvan Attal. Hier geht es zum Video.
Brandon Flowers – Crossfire (2010) mit Charlize Theron (Mad Max: Fury Road). | Als hostage in bondage wird der amerikanische Sänger Brandon Flowers (Frontmann von The Killers) nicht einmal, nicht zweimal, sondern DREIMAL von Schauspielerin Charlize Theron aus den Händen von Ninjas befreit. Beim vierten Mal hat sie ihn den Ninjas überlassen. Schätz ich. Hier geht es zum Video.
Korn – Thoughtless (2002) mit Aaron Paul (Breaking Bad) | Jesse Pinkman before he was cool? Hier spielt Aaron Paul noch einen Schüler, der von seinen Mitschülern übel misshandelt wird, bis ihn alles ankotzt – oder andersherum? Hier geht es zum Video.
The Rolling Stones – Anybody Seen My Baby? (1997) mit Angelina Jolie (Wanted) | Noch lange vor Brangelina und ihrer ersten Regie-Arbeit trat Angelina Jolie in einem der Musikvideos der Rolling Stones auf. Als Stripperin lässt sie mitten in der Performance ihre Perücke fallen und haut ab. Mit langem Mantel und kurzgeschorenen Haaren wandelt sie durch das New York der späteren 90er Jahre. Hier geht es zum Video.
The Rolling Stones – Doom And Gloom (2012) mit Noomi Rapace (The Girl With The Dragon Tattoo) | Nochmal die alten Herren mit einem abgedrehten Video, in dem sich eine Hollywood-Schauspielerin halbnackt im Müll räkelt, ein Kopf und eine Atombombe explodiert, Zombies rumröcheln und, und, und, also viel zu sehen. Hier geht es zum Video.
Fatboy Slim – Weapon Of Choice (2006) mit Christopher Walken (Catch Me If You Can) | Hat jemand gerade »alte Herren« gesagt? Der gut gealterte Hollywood-Star Christopher Walken zeigt hier mal, was ne krasse Tanzperformance ist! Zum Video.
Islands – No You Don’t (2010) mit Michael Cera (Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt) | Genau der Richtige für den Job: Badass Michael Cera in einem Musikvideo, das den irren Humor dieses Ausnahme-Schauspielers gut treffen dürfte. Hier geht es zum Video.
Foo Fighters – Learn to Fly (1999) mit Jack Black und Kyle Gass (Tenacious D) | Gewinner der Grammy Awards im Jahr 2000 – und das zu Recht. Die Parodie zu dem an sich schon herrlich-absurden Airplane! (Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug) steckt voller Ideen und für meinen simplen Geschmack sehr witziger Szenen! Hier geht es zum Video.
One Night Only – Say You Don’t Want It (2010) mit Emma Watson (Vielleicht lieber Morgen) | 2 Jahre dran herum gefeilt, 2010 endlich herausgebracht: Das zweite Album der englischen Indie-Rockband One Night Only heißt genauso wie die Band selbst. Das Video zur Single Say You Don’t Want It wurde in New York City gedreht. Es handelt sich um eine Verneigung vor Susi und Strolch. Denn nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei da eine Jungs-Clique unterwegs, die auf Emma Watson als »leichtes Mädchen« treffen. Es sieht nicht nur komisch aus, wie sich Watson und Frontsänger George Craig beschnuppern und lecken. Am Ende macht alles einen Sinn, versprochen. Hier geht es zum Video.
Ed Sheeren – Lego House (2011) mit Rupert Grint (Harry Potter) | Yes, auch Rupert Grint hat sich in einem Musikvideo die Ehre gegeben (und damit also alle von Harrys Freunden, alle beide) – Grint spielt Sheeran, bis Sheeran selbst auftaucht, sehr witziges Ding! Hier geht es zum Video.
Ed Sheeran – Galway Girl (2017) mit Saoirse Ronan (Am Strand, Lady Bird) | Eine Nacht mit Ed Sheeran im irischen Galway um die Häuser ziehen – Saoirse Ronan spielt (in aller gegebenen Coolness) den vielleicht größten Traum vieler, vieler Fanboys und -girls… und Rupert. Hier geht es zum Video.
James Blunt – Goodbye My Lover (2005) mit Mischa Barton (Hope Lost, Painkillers) | Mr. James Blunt, bekannt für seine hohe Stimme und seine spitzzüngigen Tweets, hat sich mit Schauspielerin Mischa Barton im Bett geräkelt. Sehenswert? Naaa jaaa… ach… nö. Wer trotzdem lünkern möchte: Hier geht es zum Video.
Justin Timberlake – What Goes Around… Comes Around (2007) mit Scarlett Johansson (Don Jon, Her) | Vor und hinter der Kamera starbesetzt, sehr cineastisch inszeniert und geschrieben von Nick Cassavetes (Regisseur von The Notebook). Unter der Regie von Musikvideo-Ikone Samuel Bayer üben sich Justin und Scarlett als leidenschaftliches Liebespaar. Guess what? Funktioniert. Bis zum krachenden Finale. Hier geht es zum Video.
Eminem – Love The Way You Lie ft. Rihanna (2010) mit Megan Fox (Transformers, Jennifer’s Body) | Apropos leidenschaftliches Liebespaar… nein, nicht Eminem und Rihanna. Hier geht’s um Model und Schauspielerin Megan Fox und deren leidenschaftliche Liebe zu einem Arschloch. Zum Video. (Wie beknackt ist bitte die Songzeile: Told you this is my fault / Look me in the eyeball !?– was ein Rapper nicht alles für seinen Reim tut, nee, nee, das ist gar nicht gut.)
Ricky Martin – She Bangs (2000) mit Channing Tatum (The Hateful Eight), angeblich… | Man muss schon ziemlich genau hinschauen, in der Sekunde (ca. 01:30), in der ein Barkeeper im Hintergrund einen Cocktail-Shaker hochwirft. Nach semi-offiziellen Angaben handelt es sich bei diesem Background-Tänzer um den inzwischen berühmten, immer noch tanzenden Schauspieler Channing Tatum. Eingefleischte Fans erkennen ihn vielleicht an seinem Sixpack. Ansonsten: Ein sehr feuchter Macho-Traum, dieses Filmchen. Hier geht es zum Video.
Broken Bells – The Ghost Inside (2010) mit Christina Hendricks (Mad Men, Drive) | Science Fiction gefällig? Hatten wir bis jetzt noch nicht – bildgewaltig und ein klitzekleines bisschen trashig. Hier geht es zum Video.
…und auch wenn kein Mensch dieser Welt all die Musik aus dieser Liste mag – warum nicht ne Spotify-Playlist anlegen
Savage Garden – I Knew I Loved You (1999) mit Kirsten Dunst | Im Alter von 17 Jahren sitzt die Schauspielerin Kirsten Dunst in der New Yorker U-Bahn dem Sänger Darren Hayes (damals 27) gegenüber und wird von ihm als love interest besungen. Hier geht es zum Video.
The Offspring – She’s Got Issues (1998) mit Zooey Deschanel (New Girl, (500) Days Of Summer) | Sehr witzig, sehr weird und unglaublich 90er Jahre: Zooey Deschanel (18 Jahre alt und knallrothaarig) spielt in diesem Song eine vom Alltag abgefuckte Frau in einer Welt, die von Künstler Wayne White immer wieder ins comichafte Komische überzeichnet wird. Hier geht es zum Video. Hier geht es zum Making-of (als MTV-Episode! Oooh, so 90er!)
Stone Temple Pilots – Sour Girl (1999) mit Sarah Michelle Gellar | Heute schon ein düsteres Video mit creepy Teletubby-Bunnies gesehen? Nö? Dann ab dafür! Mit der damals noch als Vampirjägerin aktiven Sarah Michelle Gellar vor der Kamera – und dem namhaften Regisseur David Slade (30 Days of Night, Hard Candy) hinter der Kamera. Hier geht es zum Video.
Paula Abdul – Forever Your Girl (1989) mit Elijah Wood (Der Herr der Ringe) | Kurz vor seinem ersten Kurzauftritt in einem Kinofilm (Zurück in die Zukunft II) spielte Elijah Wood im Alter von 8 Jahren einen melancholischen Anzugträger in diesem Musikvideo, das von Regisseur David Fincher inszeniert wurde. Hier geht es zum Video.
Als der kleine Elijah groß geworden war und seinen Ring weggebracht hatte, da trommelte er halb Hollywood noch für das wohl größte Star-Line-Up aller Musikvideos ever zusammen:
Beastie Boys – Make Some Noise (2011) mit Seth Rogen, Danny McBride und Elijah Wood (in den Rollen der Beastie Boys). | Bei diesem Song handelt es sich um den größten Hit der Beastie Boys seit Ch-Check It Out (2004). Bei dem Musikvideo wiederum handelt es sich um ein Sequel zu deren Musikvideo (You Gotta) Fight for Your Right (To Party!) (1986), das – mit #MeToo im Hinterkopf – nicht ganz so dolle gealtert ist. Aber, aber: Bandmitglied Adam Horovitz hat im Dezember 2017 Schlagzeilen gemacht, als er sich hinter die Vorwürfe von neun Frauen stellte, die seinen Vater – den Drehbuchautor Israel Horovitz – mit Vorwürfen von ungewollten Berührungen bis hin zu Vergewaltigung konfrontierten.
Im Musikvideo zu Make Some Noise indes gibt sich halb Hollywood in Cameos die Klinke in die Hand. Mit dabei sind unter anderem Amy Poehler, Steve Buscemi, Chloë Sevigny, Kirsten Dunst, David Cross und Orlando Bloom. Ebenso Will Ferrell, John C. Reilly und Jack Black (in den Rollen der älteren Beastie Boys aus der Zukunft). Klingt nach krassem Staraufgebot? Da geht noch was: Zum dem Musikvideo in Standardlänge gibt es eine Extended Edition, die unter dem Titel Fight for Your Right Revisited (Regie: Bandmitglied Adam Yauch aka MCA) veröffentlicht wurde. Darin tauchen unter anderem auch noch Susan Sarandon, Stanley Tucci und Robert Downey Jr. auf. Hier geht es zur langen Version des Videos.
YouTube-User mastersoftoday gibt noch ein bisschen Nerd-Knowledge mit einer Auswahl an Eastereggs im Video zur Hand. Details, die nur echten Fans der Beastie Boys und ihrer Musikvideos auffallen:
Der Typ in Minute 13:00 ist MCA’s Regie führendes Alter Ego Nathaniel Hornblower (der bei den MTV Video Music Awards 1994 die Bühne enterte – in genau diesem Outfit – und behauptete, er habe das Drehbuch zu StarWars verfasst), Jason Schwartzman cosplayt Van Gogh in Anlehnung an Hey Ladies (hier geht’s entsprechenden zu den Lyrics) und Orlando Bloom spielt Johnny Ryall aus dem Song Johnny Ryall (Lyrics).
Ein Jahr nach dem spektakulären Video-Release starb Adam Yauch im Alter von 47 Jahren an Krebs. Im Juni 2014 gab Bandmitglied Mike D bekannt, dass weder er noch Horovitz je wieder als Beastie Boys auftreten würden – aus Respekt vor Yauch.
Zuletzt, als kleines Schmankerl, Nr. 31 der Musikvideos mit berühmten Schauspieler*innen: Massive Attack, Young Fathers – Voodoo In My Blood mit Rosamund Pike (Gone Girl). Ein irres, übles Meisterwerk:
…und zu aller Letzt, Nr. 32 der Musikvideos (und Nr. 16 im Sigur Rós Mystery Film Experiment): Eine poetische Reise mit der fantastischen Schauspielerin Elle Fanning in Sigur Rós – Leaning Towards Solace feat. Dauðalogn and Varúð.
Der Beitrag 30 MUSIKVIDEOS mit berühmten Hollywood-Schauspieler*innen erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.
Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert?
Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?
Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.
»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.
Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.
Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.
Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)
Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.
Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace
Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.
Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.
Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.
Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.
Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.
Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:
Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.
Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace
Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:
Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.
Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:
Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.
Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.
[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.
Be at my best,
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.
Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.
[Refrain]
Here, at my best, it’s all at rest,
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.
Der Beitrag Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag Roadtrip: Von Kent über Chesil Beach nach Cornwall | Reise, Travel erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Wenn man aus dem Eurotunnel kommt, begegnen den kontinental-europäischen Autofahrer*innen erstmal einige Verkehrsschilder, die ans Linksfahren erinnern. Daran gewöhnt man sich (von ein, zwei kleinen Aussetzern mal abgesehen) ganz flott. Selbst das Rückwärts-in-linke-Parklücke-Setzen funktioniert, irgendwie. (Es trägt zur Entspannung bei, wenn das Auto ohnehin schon verbeult und zerkratzt ist.) In Folkestone haben wir die Karre in einer Seitenstraße stehen gelassen und zu Fuß die Stadt erkundet. Erst ein Krabbenbrötchen am Hafen, wo wir erste Bekanntschaft mit dem krassen Akzent und den omnipräsenten Möwen gemacht haben.
Geld zu wechseln erwies sich als minimal schwieriger, als auf der Fahrt nach Polen, wo jede grenznahe Tanke mit einem Kantor (einer Wechselstube) einherging. Stattdessen tauschten wir unsere Euros auf einen Tipp hin im Thomas Cook Reisebüro an der Sandgate Road in Pfund um, bei einem netten jungen Italiener, der seit ein paar Jahren in Groß-Britannien liebt und uns Canterbury als seine Lieblingsstadt empfohlen hat. Sei sehr schön und sehr nah (und trotzdem, na ja, vielleicht beim nächsten Mal… wir mussten in die andere Richtung).
Noch schnell ne Ladung Kaffee reinkippen und Blueberry-Vanille-Cake scheffeln, im wunderschönen Steep Street Coffee House, wo alle Wände bis unter die Decke mit Bücherreihen dekoriert sind – dann ging’s weiter. Unsere erste Airbnb-Unterkunft lag in Hythe, nahe Folkestone. Ein Künstler und eine Yoga-Lehrerin ließen uns in ihrem ziemlich großartigen Dachgeschoss-Loft schlafen. Dort oben war es, obwohl man die Glasfront komplett zu Seite schieben und Meerluft genießen konnte, so ruhig, wie es auf der ganzen Reise nicht mehr würde…
Denn schon unsere nächste Bleibe, in Abbotsbury (siehe oben), lag direkt neben einer kleinen Kirche. Ding dong! Aber wirklich halb so wild, trotzdem eine echt geruhsame Nacht. Abgesehen von der gelegentlich läutenden Kirche steppt in Abbotsbury im Übrigen nicht gerade der Bär. Der Grund, weshalb wir auf unserem Weg nach Cornwall dort einen Zwischenstopp eingelegt haben, war ein kleines cineastisches Sightseeing:
Nachdem wir vor zwei Wochen erst den neuen Film Am Strand gesehen und ich derweil das Buch von Ian McEwan gelesen habe, wollten wir uns den Chesil Beach, an dem ein Teil der darin erzählten Geschichte spielt, mal selbst ansehen. Wenn man schon so nah daran vorbeifährt… und siehe da, auf unserem Weg zum Chesil Beach kamen wir an einem weiteren, noch aktiven Filmset vorbei. Laut unserer Gastgeberin wurden dort Szenen für eine neue Adaption von The Secret Garden gedreht, mit Julie Waters und Colin Firth. Keinem der beiden sind wir wohlgemerkt über den Weg gelaufen, und auch am Chesil Beach trieben sich statt Saoirse Ronan und Billy Howle nur jede Menge Angler*innen herum. Dödöm.
Zuvor sind wir zum Abendessen (im Restaurant The Station Kitchen, in einem alten Zug-Waggon, sehr cool, sehr lecker!) noch in West Bay an der Jurassic Coast mit den hohen, gelben Klippen gewesen. Dort nimmt der Chesil Beach seinen Anfang. Tatsächlich waren an dieser Stelle, einige Kilometer weiter westlich des Strandes, die Kieselsteine, nach denen der Chesil Beach benannt ist (altenglisch: cisel = Kies), viel kleiner als in der Höhe von Abbotsbury, wo wir bei Sonnenuntergang herumschlenderten, im knirschenden Kies.
[…] Gleich darauf vernahm sie das Geräusch seiner Schritte auf dem Kies, und das hieß, er könnte auch ihre hören. Er mußte gewußt haben, wo sie zu finden war, weil sie nach dem Essen doch hierher hatten kommen wollen, um mit einer Flasche Wein in der Hand über die berühmte Kiesbank zu spazieren. Sie hatten unterwegs Steine gesammelt und der Größe nach vergleichen wollen, um festzustellen, ob die Stürme tatsächlich Ordnung am Strand geschaffen hatten. | aus: Am Strand (Diogenes), S. 176
Denn das kommt im Buch und Film zur Sprache: Dass über die Jahrhunderte die Stürme und Unwetter die Steine am Chesil Beach der Größe nach sortiert haben. Von Westen nach Osten werden sie immer größer. Welch schöne Metapher für eine Beziehung, die durch stürmische Zeiten gehen muss, bis in dem großen Ganzen, das aus vielen kleinen Elementen besteht, eine gewisse Ordnung herrscht.
Von Abbotsbury ging’s mit vier, fünf, sechs Autostunden nach Padstow. Dort trafen wir an einem Freitagmittag ein, in praller Hitze und einem völlig überfüllten Hafenstädtchen. Nach all den abgelegenen Orten entlang der Südküste und den verlassenen Landstraßen in Cornwall war das ein kleiner Schock: Ausgerechnet hier, in diesem glühenden, wuseligen Moloch (mit echt frechen Möwen), da wohnen wir die nächsten paar Tage?
Angenehme Überraschung: So heiß und voll wie am Freitagmittag wurde es danach nicht mehr, und Padstow entpuppte sich als ganz hübscher kleiner Ort in toller Lage (bloß die Möwen blieben sich treu, klauten Eiswaffeln und krächzten lautstark von den Dächern, vermutlich: »Verschwindet, ihr dämlichen Primaten, wir waren zuerst da!« Womit sie ja recht hätten. Was beschwere ich mich über ein geklautes Eis und lautes Krächzen, wenn wir deren Brutplätze plattgewalzt haben, um unsere Städte zu bauen, in denen wir mit brummenden Blechmonstern rumfahren und nichts als Müll hinterlassen? …will sagen: man darf den Möwen ihre bösen Blicke nicht übel nehmen.)
Von Padstow aus, jedenfalls, kann man wunderbare Wanderschaften unternehmen – zwischen Meer und Feldern entlang zu Klippen, an denen Schafe grasen und Falken im Rüttelflug am Himmel stehen.
Neben unserem Tagesausflug nach Land’s End trieb es uns am vorletzten Tag unserer Reise nochmal Richtung Norden: nach Tintagel. Das ist eine Ortschaft an einem besonders zerklüfteten Küstenabschnitt, bekannt durch das Tintagel Castle. Wieder so ein Fleck Erde, der »soaked in history« ist, wie unsere Gastgeberin in Abbotsbury es schon über The Minack formulierte. Von tief unten in Merlin’s Höhle (die wir, Wasserstand sei dank, tatsächlich betreten konnten), bis hoch zu den Ruinen jenes Schlosses, das dem legendären King Arthur gehört haben soll – gemäß Geoffrey von Monmouth, einem fleißigen Geschichtsschreiber mit Hang zum Sagenhaften. Hier noch ein paar Impressionen aus Tintagel:
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]]>Der Beitrag GOOD WILL HUNTING mit Minnie Driver | Film 1997 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Hinweis: Liebe Leser*innen, über Good Will Hunting und alle Themen, die mit dem Film und allen Beteiligten einhergehen, könnte man ein Buch schreiben. Im Folgenden gehe ich nur auf eine kleine Auswahl an Namen und Themen ein. Spoiler voraus!, wohlgemerkt. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie immer via JustWatch.
Inhalt: Besagter fiktive geniale Typ namens Will verbringt seine Tage als Bauarbeiter oder Hausmeister, seine Abende mit Kumpels in Kneipen – und nachts liest er Lehrbücher von Historikern wie Howard Zinn oder andere akademische Schinken. Schließlich wird ein Professor auf das verkappte Genie aufmerksam und will sich seiner annehmen. Einzige Bedingung: Will muss sich auf eine Therapie einlassen.
Jene junge Männer hatten eine Stolperfalle in ihr Drehbuch eingebaut, ehe sie es irgendwelchen Filmproduzent*innen gaben. Bei der Falle handelte es sich um eine völlig zusammenhangslose homoerotische Liebesszene zwischen Will und seinem besten Freund. Wer diese Szene nicht bemerkte, war reingetappt: Diese Person hatte das Skript offenbar nicht gelesen. Die beiden Drehbuchautoren, das waren die inzwischen weltbekannten Schauspieler Ben Affleck und Matt Damon (Der Marsianer). Nur ein einziger Produzent sprach sie auf die Liebesszene an – also setzten sie das Projekt mit diesem Produzenten um. Ausgerechnet Harvey Weinstein.
Um die Zeit, zu der Good Will Hunting herauskam, im Jahr 1997, da soll Harvey Weinstein unter anderem Asia Argento, Rose McGowan und Ashley Judd (einst für die Rolle von Minnie Driver in Good Will Hunting im Gespräch) belästigt haben – um nur drei der prominentesten Frauen aus einer langen Liste von Namen zu nennen, die gegen Weinstein ihr Wort erhoben haben. Aus dem aktuellen Heist-Movie Ocean’s 8 wurde der Cameo von Matt Damon herausgeschnitten, man munkelt, der Grund sei eine Unterschriftensammlung gegen ihn, nachdem er einen relativierend Kommentar bezüglich sexueller Belästigung abgelassen hat. Im Kern: ein Tätscheln auf den Po und eine Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch seien nicht dasselbe und man dürfe nicht überreagieren mit den Verurteilungen.
Tatsächlich kann dem Schnitt eine andere, künstlerische Entscheidung zugrunde liegen – doch die Debatte um Damons Kommentar ist nicht wegzureden. Mit am lautstärksten hat darauf Minnie Driver reagiert, die Matt Damon schon aus Zeiten von Good Will Hunting kennt, in dem sie die einzige relevante Frauenrolle spielte.
Ich merke, dass die meisten Männer – gute Männer, Männer, die ich liebe – dass deren Fähigkeit begrenzt ist, es zu verstehen. Sie können einfach nicht verstehen, wie sich Beleidigung und Missbrauch auf einem täglichen Level anfühlen. […] Du kannst Frauen nicht einfach etwas über den von ihnen erlebten Missbrauch erzählen. Ein Mann kann das nicht tun, niemand kann das. Es ist so individuell und persönlich […]
So individuell wie der körperliche Missbrauch, der dem verschlossenen Protagonisten Will Hunting widerfahren ist – in diesem Film, der thematisch zur MeToo-Debatte durchaus einen gewissen Bezug hat. Tatsächlich sollte man Matt Damons Bemerkungen nicht vorschnell aus dem Kontext seines ganzen Lebens reißen, das sowohl On- also auch Off-Screen stark von feministischem Engagement geprägt ist. Mehr darüber kann man in einem ausführlichen Porträt von Matt Damon auf Bitch Flicks nachlesen (englisch). Darin schreibt die Autorin Lady T auch über besagte einzige relevante Frauenrolle:
Skylar, gespielt von Minnie Driver, ist eine der am besten ausgearbeiteten supporting characters, die ich in Filmen gesehen habe. Weil sie ein supporting character ist, dient sich – bei Definition – dazu, Will’s Entwicklung im Film mit voranzutreiben. Trotzdem ist sie ein voll ausgestalteter Mensch. Abseits vom obligatorischen »Girlfriend«-Archetypen, der nur im Film ist, um dem weiblichen Publikum eine Identifikationsfigur zu bieten. […] Während ein Großteil der Wirkung von Skylars Charakter in der Performance von Minnie Driver liegt, muss man Damon und Affleck etwas Anerkennung dafür zollen, dass sie eine Frau mit Hintergrundgeschichte geschrieben haben. Mit einer größeren Ambition als bloß: »Hey, da muss ein Mädchen im Film sein.«
Lesetipp: Anlässlich seines 20. Jubiläums hat die TV-Journalistin und Filmproduzentin Ivana Imoli im Dezember 2017 einen lesenswerten Artikel über den Film Good Will Hunting geschrieben.
Zuletzt: Auch Ben Affleck (der Will Huntings besten Freund Chuck spielt) ist derweil beschuldigt worden, Fehlverhalten gegenüber Frauen an den Tag gelegt zu haben. Hier ist seine reumütige, rücksichtsvolle Antwort darauf, im Gespräch mit Stephen Colbert (ab Minute 02:30 geht es um Harvey Weinstein und die MeToo-Debatte).
Good Will Hunting war einer der Filme, der wie Forrest Gump (1994), Gilpert Grape – Irgendwo in Iowa (1993) und Titanic (1997) mit als erster in meine Wahrnehmung als »richtige Filme mit Erwachsenen und für Erwachsene« rückte und von meiner Mutter als »super« eingestuft wurde. Das war nach meiner Disney-geprägten Kindheit. Und bevor ich mit dem systematischen DVD-Sammeln und Kultfilm-Suchten anfing. Kultfilme, die »cooler« waren als Good Will Hunting, was in ein paar meiner Jugendjahre leider synonym war mit: gewalttätiger. Bevor ich Good Will Hunting das erste Mal sah, war ich im Übrigen der Meinung, der Titel lasse sich übersetzen mit der »Jagd nach dem guten Willen«.
Good Will Hunting beginnt nach einem Schlaue-Bücher-im-Kaleidoskop-Vorspann mit einer kurzen Szene von Will Hunting (Matt Damon) beim Speedreading in seiner heruntergekommenen Bude. Er blättert durch die schlauen Bücher durch, als seien es Fotobände, kleiner Hinweis auf sein fotografisches Gedächtnis. Dann rollt eine rostige Karre vor seine Haustür in eher ärmlicher Nachbarschaft. Ein Typ im Jogging (Ben Affleck) steigt aus. Wills Kumpel, der ihn von zu Hause abholt – dieses Ritual soll noch eine wichtige Rolle im Film einnehmen, in symbolischer und dramaturgischer Hinsicht.
Lesetipp: 14 verrückte Fakten über Good Will Hunting (von Mental Floss)
Mit jedem Mal Sehen gewinne ich dem Film neue kleine Entdeckungen ab und mag ihn dafür sehr. Jüngst etwas sensibilisiert für feministische Sichtweisen, war ich bei der jüngsten Sichtung arg erschrocken darüber, wie wenige Frauen darin vorkommen. Good Will Hunting mag krasse Mathe-Aufgaben packen, aber er rasselt mit Karacho durch den Bechdel-Test, in allen Punkten, angefangen damit, dass nicht einmal drei Frauenfiguren mit Namen darin vorkommen. Überrascht war ich, dass der Film in feministischen Reviews erstaunlich gut abschneidet. So schreibt Ashley Woodvine:
Es klingt kindisch, aber Good Will Hunting hat mich gelehrt, tiefe Gefühle für einen Film zu entwickeln, der ausschließlich von männlichen Problemen handelt. Es ist nicht ungewöhnlich für mich, dass ich Filme über Männer mag (wie könnte man auch nicht, wenn 90 Prozent der Filme von Männern handeln), aber ich erwische mich oft bei dem Gedanken »das hier wäre besser, wenn es über Frauen wäre« […] – jedenfalls bin ich froh, dass Good Will Hunting ein Film über Männer ist. Wieso? […]
Good Will Hunting zeigt eine Männerfreundschaft auf eine Art und Weise, die sich nicht um Sexismus gegenüber Frauen dreht. Der Film vermeidet solche Stereotypen rund um junge Männer der Arbeiterschicht – und fordert sie dadurch heraus. Vor allem aber ist Good Will Hunting eine fantastische Kritik an der Idee von ultimativem männlichen Erfolg und dem »Streben nach Größerem«. | Ashley Woodvine (Screen Queens)
Gleichzeitig finden Männer-Portale, die ihre maskuline Vormachtstellung in Gefahr sehen, »powerful ideas« in diesem Film (»Wird alle brauchen einen Mentor, der uns bei der Seelenarbeit auf dem Weg zur Reife assistiert« … geht auch Mentorin? Wohl eher nicht.) Der Blogger Luke O’Neil schreibt indes als Mann einen feministisch-kritischen Artikel, während die Bloggerin astriaicow (unter Berücksichtigung anderer Artikel eher anti-feministisch eingestellt) einen ganz anderen Aspekt an dem Film kritisiert, als das Männer/Frauen-Verhältnis: die Fehldarstellung des Genies.
Mit Hinweis auf ihren chinesischen Hintergrund (China, »wo Anstrengung und harte Arbeit von hoher gesellschaftlicher Bedeutung sind«) schreibt sie:
Der Film scheint sagen zu wollen, dass jemand, der ein Thema nicht tiefgreifend erarbeiten will, der es einfach als Hobby nebenbei macht, einfach so komplexe mathematische Beweise erbringen kann. Als ginge es um Brettspiele für Kinder. Es stimmt, dass es Genies gibt, die kein formales Training zu einem bestimmten Thema brauchen (formal im Sinne beständig geschult) und gewisse Dinge besser verstehen, als die meisten Menschen. Doch es gibt kein Genie, dass Dinge einfach am Rande als Hobby macht und trotzdem Leute aussticht, die ihr ganzes Leben diesen Dingen verschrieben haben. Selbst [der berühmte Mathematik-Autodidakt] Ramanujan, der in diesem Film erwähnt wird, hat sich in Mathematik abgeschuftet. Er ging nicht einfach zu seinem Alltags-Job und nächtlichen Partys und kam dann heim, boom!, um komplexe Probleme zu lösen. Diese Menschen widmen ihr Leben einem Thema, ob im Rahmen beständigen Unterrichts oder auch nicht. DAS IST, was den Unterschied macht.
Good Will Hunting legt den Fokus, wie viele amerikanische Filme, allzu sehr auf Talent und nicht auf die Anstrengung. Das macht ihn unglaubwürdig und setzt Genies […] herab.
Good Will Hunting ist ein Film, der versucht, Genies auf das Level normaler Leute abzusetzen. Damit normale Leute sich wohler damit fühlen können, keine Genies zu sein. Die Wirklichkeit funktioniert so nicht, Leute! Genies mögen kein perfektes Leben haben, aber sie entzünden ein Leuchtfeuer für uns Normalos, um aus der Dunkelheit unserer simpel gestrickten Gedankenwelten zu tappen. DAS IST ES, was sie zu etwas Besonderem macht. Aber Good Will Hunting will dich in dem Glauben lassen, dass dieses Leuchtfeuer nichts weiter als eine Taschenlampe ist – und die Dunkelheit das, wo’s am sichersten ist. | astriaicow, in: Why Good Will Hunting is a bad movie, hier im Original nachzulesen (englisch)
Ich denke, selbst mit aller Kritik im Hinterkopf, kann man Filme wie Good Will Hunting noch mit Gewinn sehen. Bestenfalls entdeckt man darin einmal mehr neue Facetten. Dramaturgisch ist der Film absolut gewöhnlich, aber gut gemacht. Und er lässt sein Publikum (na ja… uns normale Nicht-Genies halt, als die wir entlarvt wurden…) mit einem Gefühl angenehmer Genugtung zurück. Zu erwähnen ist auch noch die Performance von Robin Williams. Der hat mit Charisma und Improvisation diesen Film bereichert und damit seinen ersten und einzigen Oscar gewonnen – für seine Rolle als Will Huntings Therapeut.
Zuletzt habe ich Good Will Hunting zufällig mit einem studierten Psychologen und Therapeuten gesehen. Der hat die Therapiestunden in Good Will Hunting mit einem milden Lächeln als »na ja, sehr unkonventionell halt« kommentiert. Sie seien allenfalls durch ihren Erfolg gerechtfertigt. Szenen wie der körperliche Übergriff des Therapeuten, der Will einmal wortwörtlich an die Kehle srpingt, zeugten zumindest nicht von Professionalität.
Zu guter Letzt, wie man aus Good Will Hunting einen Trailer für einen völlig anderen, aber irgendwie auch ziemlich coolen Film schnipseln kann, zeigt dieser grandiose Fake Trailer:
Der Beitrag GOOD WILL HUNTING mit Minnie Driver | Film 1997 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag FORREST GUMP aus Jennys Perspektive | Film 1994 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Bei manchen Filmen ist die Sympathie-Lage nicht so ganz klar: In Karate Kid (1984) fiebert man eigentlich für, na ja, das Karate Kid mit. Allein How-I-met-your-mother-Legende Barney Stinson feierte seiner Auslegung des Filmklassikers nach Karate Kids Widersacher, den bösen Johnny. Bei Harry Potter (Bücher: 1997-2007, Filme: 2001-2011) sollte man meinen, alle Herzen flögen Harry und seinen Freunden zu. Doch erst gestern noch sah ich den Kurzfilm The Interviewer über ein Vorstellungsgespräch, das von einem jungen Mann mit Downsyndrom geführt wird – und eben dieser junge Mann begeisterte sich für Voldemort. Doch bis dato habe ich noch keinen Menschen über Forrest Gump sagen hören: Also ich bin im Team Jenny.
Gerade im Kontrast zu dem ultimativen Gutmensch Forrest zieht eine Frau wie Jenny, die ihn scheinbar nur ablehnt und ausnutzt und ablehnt und ausnutzt, einige Antipathien auf sich. Zu recht? Betrachten wir Forrest Gump mal durch Jennys Brille (ja, sie trägt keine, aber sinnbildlich, IN-SO-DUMM, verdammte Hacke!).
Hinweis: Liebe Leser*innen, hier fliegen euch mehr Spoiler um die Ohren, als Bubba Shrimps-Sorten aufzählen kann. Also lieber erst den Film schauen, dann nochmal vorbeikommen. Hier geht’s zu legalen Streaming-Angeboten von Forrest Gump.
Forrest Gump erzählt nicht nur die Geschichte seiner Hauptfigur (gespielt von Haley Joel Osmet und Tom Hanks), sondern auch die Zeitgeschichte, mit der diese Hauptfigur immer wieder interagiert. Forrest lernt Elvis Presley, John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon kennen. Er leistet seinen Beitrag zur Watergate-Affäre und brachte John Lennon auf die Idee für den Song Imagine. All das und mehr, worüber etliches geschrieben worden ist.
Bemerkenswert wäre noch, wie sehr Forrest Gump die Zeit- und Kinogeschichte noch über Kinostart und Filmende hinaus beeinflusst, bis heute. Zwei Jahre, nachdem Forrest Gump in die Lichtspielhäuser kam, wurde in Kalifornien die Restaurantkette Bubba Gump Shrimp Company gegründet. Sie trägt nicht nur den Namen sondern auch das Logo des Unternehmens aus dem Film und operiert inzwischen weltweit, mit 44 Niederlassungen. In einer davon arbeitete im Jahr 2000 ein junger Mann als Kellner, der von seiner Kundin – der kanadischen Schauspielerin Rae Dawn Chong – eine Rolle in deren Regie-Debüt bekam. So wurde der Schauspieler Chris Pratt entdeckt, der aktuell als Leinwandheld gegen Dinos kämpft, in Jurassic World: Das gefallene Königreich.
Und vergangenen Monat erst, da hat der britische Marathon-Läufer Rob Pope einen Weltrekord aufgestellt, in dem er die berühmte Joggingstrecke aus dem dritten Akt von Forrest Gump ablief: 422 Tage lang, 24.140 Kilometer, rund 24 Millionen Schritte. Dabei sammelte er Spenden in Höhe von knapp 37.000 Euro für wohltätige Zwecke ein. Frei nach Forrest Gump: Gut ist nur, wer Gutes tut.
Forrest Gump flog als VHS-Kassette bei uns rum, als aus dem Free-TV aufgenommene, illegale Raubkopie der 90er Jahre und zog schon früh meine Aufmerksamkeit auf sich. Meine Mama hat immer gesagt, die Kassette ist wie eine Schachtel Streichhölzer. Man weiß nicht, ob sie funktioniert. Tatsächlich kann ich mich nicht an das erste Mal erinnern, bei dem ich Forrest Gump in einem Rutsch ohne Störung und Unterbrechung durchgeguckt habe. Ich war jedenfalls noch zu jung, um die meisten der Anspielungen, Referenzen und zeitgeschichtlichen Ereignisse zu verstehen. Inzwischen habe ich den Film zig Mal gesehen und entdecke immer noch neue Details darin. Eine seltene Schönheit: Forrest Gump ist absolut gefälliges Mainstream-Kino und Crowdpleaser und trotzdem ein vielschichtiger, durchdachter, detailverliebter Film – ähnlich wie Titanic (1997).
Kurz vor Filmbeginn, nehme ich an, ist ein Vogel in eine Flugzeugturbine geraten. So oder ähnlich kommt es, dass eine Feder von hoch oben im Himmel auf die Erde niedersegelt. Begleitet wird sie von der Kamera und einer Klaviermelodie, von der ich öfter einen Ohrwurm habe, als von Kanye Wests Gold Digger (von dem es als white dude wirklich nicht cool ist, mitzusingen, weshalb ich tatsächlich lieber das Forrest Gump Theme von Alan Silvestri vor mir herpfeife…). Reinhören? Hier:
Die Feder landet vor den Füßen eines geistig beschränkten Mannes auf einer Parkbank. Einer dieser Typen, die wenn man sich zufällig neben sie setzt, prompt und ungefragt ihr ganzes Leben erzählen:
Hallo. Mein Name ist Forrest, Forrest Gump.
Der spektakuläre Werdegang des guten alten Forrest Gump ist ja hinlänglich bekannt. Springen wir direkt zu Jenny, Jenny Gump geb. Curran (gespielt von Hanna R. Hall und später von Robin Wright). Der junge Forrest lernt sie in einer Rückblende im Schulbus kennen, in Filmminute 13 (von 135), als »die süßeste Stimme der ganzen Welt« sagt:
Wenn du willst, kannst du hier sitzen.
Es braucht nicht viel kindlichen Smalltalk, ehe Jenny ihren Sitznachbarn fragt, ober er dumm sei oder sowas? Jenny ist es offenbar nicht. Aber Jenny ist ein Kind. Sie sieht Forrest nicht mit den Augen der Erwachsenen, die direkt die ganze Chancenlosigkeit im Leben des dummen Jungen antizipieren und ihn deshalb abschreiben oder umso hartnäckiger voranbringen wollen (wie seine Mutter). Jenny lebt im Hier und Jetzt und da hat sie eben diesen einen Schulfreund, der ein bisschen dumm ist und gehänselt wird, aber schnell laufen kann.
Im Hier und Jetzt ist es auch, da Jenny misshandelt wird, von ihrem alkoholkranken Vater. Ein »sehr liebevoller Mann«, wie der naive Forrest es aus dem Off beschreibt. Dauernd habe der Vater Jenny und ihre Schwestern gestreichelt und geküsst. Mehr erfahren wir nicht, können aber unsererseits, als erwachsene Menschen, direkt antizipieren, welche Tragweite solch ein Kindesmissbrauch für Jennys ganzes Leben haben mag.
Doch für uns Außenstehende, die vielmehr Forrests Leben mitverfolgen, gerät das erstmal in Vergessenheit. Forrest rennt sich an die Spitze des College-Footballteams, neuer Lebensabschnitt. Jenny sehen wir erst als Studentin wieder, die im Auto mit ihrem Freund anbändelt, bis Forrest interveniert. Er attackiert den Freund, verscheucht ihn dadurch, bleibt mit Jenny allein zurück. Im Zimmer ihres Mädchen-Colleges sitzen sie gemeinsam auf der Bettkante und Jenny zieht vor Forrest ihren BH aus. Sie legt seine Hand auf ihre Brust. Jenny meint es nur gut, will ihrem Freund eine Erfahrung geben, die er noch nicht machen konnte. Forrest scheint es arg unangenehm zu sein – und dann wirkt es, als sei er gerade gekommen (in den Bademantel von Jennys Zimmergenossin, wie wir in der Pointe dieser Szene erfahren).
Der kurze, seltsame Moment ist verstrichen und Jenny zieht den BH wieder an, während Forrest um Fassung ringt. Forrest, der junge Mann auf dem geistigen Niveau eines Kindes. Dass diese Szene auch als Missbrauch gesehen werden kann, wird umso deutlicher, wenn man sich die Situation mit umgekehrten Geschlechterverhältnissen vorstellt: Mit einem halbnackten Studenten, der die Hand seiner geistig beschränkten, verunsicherten Kommilitonin in seinen Schritt legt.
In der Szene umarmt und küsst Jenny ihren debilen Freund noch, ist heiter und scheint ihr Verhalten nicht als möglicherweise missbräuchlich zu deuten. Doch klug, wie Jenny eben ist, dürfen wir davon ausgehen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt darüber nachgedacht haben muss. Auch, dass sie sich durch ein solches Verhalten natürlich zum Gegenstand einer Obsession dieses jungen Mannes machen kann. Jenny aber, selbst Missbrauchsopfer, wird ihrerseits Schwierigkeiten damit haben, mit anderen Männern Nähe und mehr zu erleben (wie Jenny es, so die Vermutung, als Kind durch ihren Vater erfahren hat). Wir wissen wenig darüber, was in der jungen Frau vorgeht, welche inneren Kämpfe sie austrägt und sie schließlich auf die schiefe Bahn geraten lassen.
Forrest liebt Jenny. Das ist eine einfache Formel, die sich durch den Film zieht. Man mag sich darüber ärgern, weil Jenny ihm gegenüber doch so oft so abweisend ist. Doch was hat Forrest denn für Mädchen/Frauen in seinem Leben, von denen wir wüssten? Was wir wissen, ist das Jenny als Mädchen manchmal heimlich bei ihm übernachtete und ihn später als Studentin seine erste quasi-sexuelle Erfahrung hat machen lassen. Ihre langjährige Freundschaft hinzugenommen ist das mehr als genug, um seine hoffnungslose Liebe zu rechtfertigen. Danach landet Forrest in der Army, wo treudoofe Gefolgsamkeit das Leben leichter macht. Von Vietnam aus schreibt er Jenny unentwegt Briefe, ohne je eine Antwort zu bekommen.
Wen liebt Jenny? Die Männer, mit denen wir sie erleben, sind allesamt ziemlich ätzende Menschen. Als Zuschauer*in kommt man da schnell in die Versuchung, ihr zurufen zu wollen: Nimm Forrest, verdammt, entscheid dich für den herzensguten Gump!
Ich könnte mir vorstellen, dass Jenny als erwachsene Frau ihre Bedenken damit hätte, eine Liebesbeziehung mit einem Mann einzugehen, der im Geiste ein Kind ist und bleiben wird. Ein liebenswerter Junge, den emotional abhängig zu machen, ein Leichtes ist. Würde man es Jenny nicht als Missbrauch oder wenigstens Ausnutzen vorwerfen, wenn sie sich mit Forrest einlassen würde?
Als sie es später tut, folgt der Vorwurf des Ausnutzens auf dem Fuße – weil Forrest inzwischen reich und Jenny krank ist und es ja inzwischen das Kind gibt, das Jenny jahrelang vor Forrest geheim gehalten hat. Aber wieder aus Jennys Perspektive gedacht: Wird sie nicht, selbst nach Forrests wiederholter Liebeserklärung und ihrem ersten gemeinsamen Mal, gedacht haben: Wie solle das gehen?
Ob sie sich nun Sorgen über »die Leute« machte, die sich ihr Urteil über die Frau und ihren beschränkten Mann machen würden. Oder ob sie bei ihrem Verschwinden nach der Liebesnacht an Forrest gedacht hat, den sie nicht überfordern wollte, als Vater für ein Kind sorgen zu müssen, wo er doch selbst ein Kind ist. Oder ob Jenny eben durchweg nur an sich selbst gedacht hat und sich schlichtweg nicht abhängig machen wollte, auch nicht von ihrem nun millionenschweren, alten Schulfreund – wäre ihr das vorzuwerfen? Man steckt nicht in der Haut anderer Menschen, man kennt nicht deren ganzes Leben. In diesem Sinne, lasst Jenny in Ruhe.
Sophie Wing (One Room With A View) formuliert es am Ende einer lesenswerten Filmanalyse von Forrest Gump sehr treffend. Sie schreibt (übersetzt aus dem Englischen):
Die Dunkelheit wird uns nur angedeutet – Jennys sexueller Missbrauch als Kind, ihr Drogenkonsum, eine Reihe ausfälliger Freunde – aber obwohl das Publikum diese Dinge weiß, reflektiert der Film stets Forrests eigene Naivität. Sie liegt wie ein Schleier über dem Film. Obwohl das Wissen über die Dunkelheit da ist, lindert der optimistische Schleier all diese Fakten über Jenny und lassen sie weniger real erscheinen, als Jennys direkte und unmittelbare Interaktionen mit Forrest. Das Publikum adaptiert eine kindsgleiche Sichtweise von Schwarz und Weiß – Forrest ist gut, Jenny ist schlecht. Selbst diejenigen Zuschauer*innen, die eigentlich mit ihr sympathisieren würden, werden so hineingestrickst in die standfeste Meinung, dass Jenny ein Miststück aus der Hölle ist.
Viele interessante Figuren begleiten Forrest Gump durch den Film, von der Mutter und Bubba über Lt. Dan und eben Jenny. Wer Forrest Gump schon einige Male gesehen hat, mag es interessant finden, mal den Perspektivwechsel zu wagen. Wie erleben diese Randfiguren, gedanklich in den Mittelpunkt gestellt, den etwas einfältigen Forrest Gump als Mitmenschen, Wegbegleiter, Lebensabschnittspartner? Dadurch bekommt man ein Gefühl dafür, dass nicht nur die zeitgeschichtlichen Ereignisse im Laufe des Films von großer (historischer) Bedeutung sind, sondern auch die menschlichen Begegnungen, hinter denen jeweils ganzheitliche Individuen stehen. Eine kleine Filmübung, die man aufs eigene Leben übertragen kann, in dem man sich jeden Tag, jede Stunde selbst als Hauptfigur erlebt. Was ist mit den anderen Figuren, ringsum, welche Pralinen hat ihnen das Leben gegeben? Wie könnten sie schmecken? Süß, zartbitter oder mit einer harten Nuss in der Mitte?
Ein Film, den ich so oft gesehen habe und wiedersehen möchte, weil er mich mal in diese, mal jene Richtung zum Grübeln einlädt, ein solcher Film mag mir mal mehr, mal weniger gefallen. Aber es ist ohne Frage ein großartiger Film, der mehr als nur eine Geschichte erzählt, die man auf mehr als nur eine Art auslegen kann.
Der Beitrag FORREST GUMP aus Jennys Perspektive | Film 1994 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag GENDER TROUBLE (PDF) von Judith Butler | 1991 | Vorwort im Fokus erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Im Folgenden steht das Vorwort zu Judith Butler Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble im Fokus. Hier geht es zu einer kommentierten Kapitelübersicht zum Buch. Ein PDF der englischen Original-Fassung Gender Trouble von Judith Butler stellt die Mexikanerin Laura González Flores bereit.
Feminismus. Unter diesem Begriff tummeln sich soziale Bewegungen mit dem Ziel, Frauen zu gleichberechtigten und selbstbestimmten Mitgliederinnen von traditionell patriarchalen (von Männern dominierten) Gesellschaften zu machen. Diese Strukturen wurden über Jahrtausende gefestigt. Sie lassen sich nicht mit einer Demonstration, Rede oder Begegnung wegwischen. Der Wandel erfordert viel Arbeit und Aufmerksamkeit, zumal unser Bewusstsein für die Problematik gerade erst einige Jahrzehnte zurückreicht.
Wer ist Feminist*in? Im weitesten Sinne: All diejenigen, die von der Idee überzeugt sind, dass Menschen unabhängig von ihrem körperlichen und/oder sozialen Geschlecht in unserer Gesellschaft gleichermaßen gerecht behandelt werden sollten, sind Feminist*innen. In diesem weitesten Sinne ist das jede Person, die das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland anerkennt.
Die Philosophin Judith Butler sieht im Unbehagen (trouble) ob des vagen Begriffs der Geschlechtsidentität kein Problem für den Feminismus. Im Gegenteil: »trouble« sei unausweichlich. Butler schreibt über ihre »erste kritische Einsicht in die subtile List der Macht« als noch junge Denkerin.
Das herrschende Gesetz drohte, einem »Ärger [trouble] zu machen«, ja einen »in Schwierigkeiten [trouble] zu bringen«, nur damit man keine »Unruhe [trouble] stiftete«. | S. 71
Die Aufgabe sei also herauszufinden, was der beste Weg ist, in »trouble« zu sein.
Eine bestimmte Schwierigkeit für eine Frau in einer von Männern dominierten Kultur bestehe darin, für diese Männer eine Art »weibliches Mysterium« zu sein. So gibt Butler einen Gedanken der Philosophin Simone de Beauvoir wieder, bekannt für die Zeile:
Man kommt nicht als Frau zur Welt. Man wird es.
Auch bei Beauvoirs Lebensgefährten Jean-Paul Sartre findet sich die Vorstellung vom »weiblichen Mysterium«. Sartre setzte jedes Begehren als heterosexuell und männlich bestimmt voraus. Dieses Begehren werde gestört, wenn das Objekt der Begierde (die Frau) den Spieß umdreht. Das geschieht durch ihre bloße Aktivität. Etwa durch Erwidern eines Blickes. Damit kann die Autorität zwischen den sich Sehenden schon die Seiten wechseln. Diese Abhängigkeit im Subjekt-Objekt-Verhältnis entlarvt die männliche Autonomie gegenüber des weiblichen »Anderen« als Illusion.
Gibt es das »schwache Geschlecht«? Hier eine biologische Annäherung an diese Frage, auf Grundlage von Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (1949).
Macht umfasst mehr als das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Für Judith Butler offenbart sich Macht im Schaffen eines »binären Rahmens, der das Denken über die Geschlechtsidentitäten bestimmt«. Binär heißt zweiteilig. Gemeint ist die Vorstellung, es gäbe in Fragen der Geschlechtsidentität nur zwei Antworten. Bekanntermaßen Mann und Frau.
[…] diese Differenz, die als Machtapparat operiert, ist von der ständigen Schwierigkeit gekennzeichnet, »zu bestimmen, wo das Biologische, das Psychische, das Diskursive, das Soziale anfangen und aufhören«, ein Problem, das streng genommen nicht eindeutig gelöst werden kann, denn die Geschlechterdifferenz hat, so nimmt Butler an, »psychische, somatische und soziale Dimensionen, die sich niemals gänzlich ineinander überführen lassen, die aber deshalb nicht endgültig voneinander abgesetzt sind«.
Hannelore Bublitz, in: Judith Butler zur Einführung (2002), S. 77
Die Beschränkung auf die Kategorien »Männer« und »Frauen« beschert solange kein Unbehagen, solange man sich innerhalb dessen befindet, was Judith Butler die »heterosexuelle Matrix« nennt.
Der Begriff heterosexuelle Matrix steht in diesem Text für das Raster der kulturellen Intelligibilität [die Fähigkeit, Zusammenhänge nur durch den Intellekt zu verfassen, ohne sinnliche Wahrnehmung], durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden. Ich stützte mich auf Monique Wittigs Begriff des »heterosexuellen Vertrags«, und weniger stark auf Adrienne Richs Begriff der »Zwangsheterosexualität«. | S. 219
Mit der »heterosexuellen Matrix« meint Butler eine Welt, in der man davon ausgeht, dass es zwei Geschlechtsidentitäten gibt (Frauen, Männer). Zu passend existieren zwei körperlicher Geschlechter (weiblich, männlich), die einander natürlich begehren. Mit dieser Weltsicht geht also eine Zwangsheterosexualität einher. Das ist die normative Kombination von Frauen und Männern als Geschlechtspartner. Im Vorwort zu Das Unbehagen der Geschlechter fragt Judith Butler:
Wie kann man am besten die Geschlechter-Kategorien stören, die die Geschlechter-Hierarchie (gender hierarchy) und die Zwangsheterosexualität stützen? | S. 8
An dieser Stelle kommt Butler in Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble auf den Begriff »female trouble« zu sprechen. Das ist im Englischen eine umgangssprachliche Beschönigung weiblicher Unpässlichkeiten, wie sie etwa mit der Menstruation, beziehungsweise gynäkologischen Untersuchungen einhergehen können. Oder es sind andere intime Körper-Angelegenheiten gemeint, die man je nach Situation gerade nicht beim Namen nennen möchte. Daher, in aller Diskretion: »female trouble«. Dass in diesem Begriff die Vorstellung mitschwingt, dass »weiblich sein« an sich eine Art Unpässlichkeit ist, macht deutlich, wie durch den Gebrauch bestimmter Floskeln solch Vorstellungen tradiert werden.
Female Trouble (1974) ist auch der Titel eines Films von John Waters. Durch diesen Hinweis will Butler eine mögliche Angriffsfläche vermeintlich in Stein gemeißelter Geschlechtsidentitäten aufzeigen. Sowohl in Female Trouble als auch später in Hairspray (1988) – unter anderem – spielt der Schauspieler Harris Glenn Milstead, besser bekannt als Drag-Queen Divine, jeweils Doppelrollen als Mann und Frau. Seine Frauenrollen nehmen wohlgemerkt stets den größeren Teil ein. Divines Spiel mit Geschlechtsidentitäten lassen diese als schieren Akt der Nachahmung erscheinen, die als real wahrgenommen wird. Man sehe sich nur ein paar Filme mit Divine an und entscheide dann, ob die Person hinter den mal männlichen, mal weiblichen, meist schrillen Figuren nun eine Frau oder ein Mann ist?
Judith Butler stellt in Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble fest, dass Divine durch seine Auftritt unsere vermeintlich festen Unterscheidungen von natürlich/künstlich, Tiefe/Oberfläche, Innen/Außen destabilisiert. Über diese Unterscheidungen funktioniere meist der Diskurs über die Geschlechtsidentitäten. Durch besagte Destabilisierung werde eben dieser selbst erschüttert.
Könnte es etwa sein, dass »männlich sein« oder »weiblich sein« keine »natürliche Tatsache«, sondern eine kulturelle Performanz ist? Damit ist nicht etwa eine rein schauspielerische Leistung gemeint. Stattdessen geht es um ein bestimmtes Verhalten, das an den Tag gelegt wird. Und was ist schon »natürlich«? Judith Butler fragt im Vorwort von Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble:
Wird die »Natürlichkeit« durch diskursiv eingeschränkte performative Akte konstituiert, die den Körper durch die und in den Kategorien des Geschlechts (sex) hervorbringen? | S. 9
Ein performativer Akt ist eine Sprachhandlung. Also eine Handlung, die durch das Sprechen selbst geschieht. Beispiel: »Hiermit ernenne ich euch zu rechtmäßigen Eheleuten.« Durch die gesprochenen Worte der Pastorin wird der Akt vollzogen und das Paar ist verheiratet. Mit »diskursiv eingeschränkt« meint Butler, dass solche performativen Akte nur innerhalb der Schranken dessen möglich sind, was wir im Diskurs (unserer fortwährenden Erörterung der Dinge) erschlossen haben. Wenn unser Diskurs nur zwei Kategorien des Geschlechts hervorgebracht hat, neigen wir dazu, diese Kategorien – durch performativen Akte, also ständig wiederholte Sprachhandlungen – für »natürlich« zu erklären.
Ein performativer Akt kann also sein…
…die Pastorin, die sagt: »Hiermit taufe ich dich Eva.« Durch ihre gesprochenen Worte wird der Akt der Taufe (samt dem rituellen Drumherum) vollzogen. Das Kind trägt fortan einen Namen, der mit reichlich Bedeutung aufgeladen ist. Und zwar in verschiedenen Sprachen und Kontexten, nicht nur dem biblischen.
…die Hebamme, die sagt: »Es ist ein Mädchen.« Durch ihre gesprochenen Worte wird das weibliche Kind aufgrund seines primären körperlichen Geschlechtsmerkmals der von uns konstruierten Kategorie »Mädchen/Frau« zugeordnet. Dieser Kategorie haften etliche Bedeutungen und gesellschaftliche Vorstellungen an, samt einer Geschlechtsidentität. (In der heterosexuellen Matrix gehen wir davon aus, dass dieses Kind später einen Menschen männlichen Geschlechts begehren wird, einen »Jungen/Mann«.)
Das, was gemeinhin als »natürlich« gilt, ist in homosexuellen Kulturkreisen ein beliebter Stoff für Parodien. Ziel sei, so Butler in Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble, die Entlarvung vermeintlich »ursprünglicher« oder »wahrer« Geschlechter als reine Konstruktion, die wir durch performative Sprechakte tradieren.
Damit stellt sich die Frage, welche anderen grundlegenden Kategorien […] als Produktionen dargestellt werden können, die den Effekt des Natürlichen, des Ursprünglichen und Unvermeidlichen erzeugen. | S. 9
Um die Kategorien des Geschlechts, der Geschlechtsidentitäten und des Begehrens als solche Effekte kenntlich zu machen, bedarf es einer genealogischen Kritik. Eine solche »richtet das Wissen um die Gewordenheit eines Objekts gegen dieses, um es durch einen Hinweis auf seinen Ursprung zu kompromittieren« (Quelle: Information Philosophie). Der hinterfragende Ansatz müsse lauten: Welche politischen Einsätze sind davon abhängig, dass die bekannten Identitätskategorien als Ursprung oder Ursache gelten, statt als Effekte »von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen« vielfältigen, undurchschaubaren Ursprungs?
Damit kommen wir zu der Aufgabe, die Judith Butler mit Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble erfüllen möchte. Ihre Schrift soll den Fokus auf die besagten Effekte prägenden Institutionen richten. Namentlich auf die Zwangsheterosexualität und den Phallogozentrismus, demnach Weiblichkeit aus rein männlicher Perspektive betrachtet und definiert wird. Diese Institutionen müssen, so Butler, dezentriert werden.
Die Begriffe »weiblich« und »Frau« sind in ihrer Bedeutung längst verworren. Sie existieren zudem nur in Relation zu »männlich«, »Mann«. Butler geht es nicht darum, die Frage der primären Identität zu klären. Stattdessen geht es um die politischen Möglichkeiten, die sich im Hier und Jetzt ergeben, wenn man die bestehenden Identitätskategorien einer Kritik unterzieht. Judith Butler fragt:
Welche neue Form von Politik zeichnet sich ab, wenn der Diskurs über die feministische Politik nicht länger von der Identität [als »Frau«] als gemeinsamen Grund eingeschränkt wird? | S. 10
Der Versuch, feministische Politik auf einer solchen gemeinsamen Identität zu begründen, könne eine Behinderung sein. Er schließe womöglich »die Erforschung der politischen Konstruktion und Regulierung der Identität selbst aus«. Mit dieser Mahnung geht Judith Butler im Vorwort von ihrer Einleitung in die Erläuterung der Struktur ihrer Schrift Das Unbehagen der Geschlechter über.
Der Beitrag GENDER TROUBLE (PDF) von Judith Butler | 1991 | Vorwort im Fokus erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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