Der Beitrag CHIKO mit Denis Moschitto, Reyhan Şahin | Film 2008 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Inhalt: Als sei eine Sicherung durchgedreht – der junge Deutschtürke Issa (Denis Moschitto) macht in Hamburg von sich redend. Indem er kleine Dealer verprügelt und aus ihrem Revier vertreibt. »Ich bin jetzt hier«, verkündet er und stellt sich mit seinem Rufnamen vor. Den trägt er auch als Tattoo auf dem Arm: Chiko. Dass solches Auftreten ganz schnell die großen Player aufmerksam macht, ist weniger Nebeneffekt als erklärtes Ziel. Schon bald sitzt Issa alias Chiko dem Drogenboss Brownie (Moritz Bleibtreu) gegenüber – Todesurteil oder Vorstellungsgespräch?
Hinweis: Folgender Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle Stream-Angebote zu dem Film Chiko finden sich bei JustWatch.
Von 2002 bis 2004 studierte Özgür Yıldırım, Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie, an der Universität Hamburg das Fach Regie. Zu der Zeit kannte er bereits den Filmemacher Fatih Akin (Gegen die Wand). Dessen Produktionsfirma Corazón International »entdeckte« schließlich den vielversprechenden Newcomer.
Nachdem wir mit großer Begeisterung das Drehbuch von Özgür Yıldırım gelesen hatten, war sehr schnell klar, dass Chiko der erste Nicht-Fatih-Akin-Film [unserer Produktionsfirma] werden sollte.
Klaus Maeck, Filmproduzent und Mitbegründer von Corazón International
Bloß wurde die Begeisterung seitens der Produzenten nicht auf Anhieb von etwaigen Financiers geteilt…
Leider sind wir im ersten Anlauf, den Film zu finanzieren, grandios gescheitert. Denn weder die Fördergremien noch der NDR, mit dem wir bisher alle unsere Produktionen realisiert hatten, fanden das Buch so gut wie wir. Unter anderem hieß es, es sei ihnen zu brutal und es gäbe keinen Zugang zu dieser in sich geschlossenen Gruppe von Charakteren.
Klaus Maeck, Booklet der DVD-Edition »Große Kinomomente«
Kurzum: Das Drehbuch wurde angepasst – bis zu einem Kompromiss, der die Förderinstitute und den NDR zufriedenstellte und trotzdem noch Yıldırıms Vision von einem kleinen, harten Gangsterdrama bewahrten. Am 27. Februar 2007 fand der erste Drehtag zu Chiko statt – am 16. April war das Ding über Drogenkriminalität in Hamburg im Kasten.
Ich habe mir vorgenommen, das Thema nicht so eindimensional zu behandeln. Oft werden Menschen als entweder böse oder gut gezeigt – diejenigen, die nur Gutes tun, müssen auch moralisch total korrekt sein. […] Das widerspricht der Realität, jeder Mensch trägt doch sowohl etwas Gutes als auch etwas Schlechtes in sich. Wir zeigen Brownie [Bleibtreu als Drogenboss] als liebevollen Familienvater, er hat ein Zuhause, eine tolle Frau und eigentlich alles, was man sich so wünschen kann. Trotzdem ist er auch böse. […] Wichtig war mir die Vermeidung von Klischees, zumindest so gut es geht.
Özgür Yıldırım im Interview, Booklet der DVD-Edition »Große Kinomomente«
Dem Klischee »Alle Ausländer sind kriminell« – das Lena in der Serie Türkisch für Anfänger zufällig im selben Jahr wie Chiko (nämlich 2008, Staffel 3, Folge 10) unrühmlich für ein Klatschmagazin aufbereitet – diesem Klischee wird mit dem engen Fokus auf eben kriminelle Kreise jedenfalls nicht entgegengewirkt. Allein die Mutter von Chikos Bruder (gespielt von Lilay Huser, zufällig auch bekannt aus Türkisch für Anfänger) und ein paar kleinere Nebenrollen werden hier nicht als Kriminelle dargestellt. Man könnte auch Chikos Freundin (Reyhan Şahin) nennen – aber wer so offensichtlich vom Gangster-Leben seines Partners profitiert, trägt nicht nur dessen Schmuck, sondern auch die Schuld mit.
Damals habe ich den Presse-Rummel um Chiko voll mitbekommen, war durchaus gespannt auf den Film, bin aber leider dafür mitverantwortlich, dass trotz des Lobgesangs nach der Berlinale kaum Leute den Weg ins Kino fanden. Nach rund 8 Wochen in den Lichtspielhäusern zählte der Film nur etwa 80.000 Besucher*innen – das sind gerade mal so viele, wie in meiner Heimatstadt Bocholt Menschen wohnen. Für eine deutschlandweite Auswertung: ein Flop. Ich selbst wartete die DVD ab… Chiko erschien als Teil der Collection »Große Kinomomente« von Kultur Spiegel. In dieser Edition hab ich den Film damals erstanden und erstmals gesehen. Da war der Hype leider schon vorbei.
Wenn du der Beste sein willst, dann musst du Respekt kriegen. Und wenn du Respekt kriegen willst, dann darfst du keinem Anderen Respekt zeigen. Und wenn du keinem Anderen Respekt zeigst – ne? – dann denken die Leute irgendwann, Mann, du hast den Respekt erfunden, Alter! | Chiko
Eine der heiteren Szenen, on the road:
Ein Klingeln aus dem Off, aus dem Schwarz. Erstes Bild: Ein Panorama vom Morgengrauen, keine tolle Skyline, nur ein paar Strommasten. Schnitt auf die Detailaufnahme von einem Handy – ein Klapphandy. 2007, Baby! Im Hintergrund sind ein Glas und ein Aschenbecher zu sehen, und ein Tütchen Irgendwas. Schnitt auf einen jungen Mann mit freiem Oberkörper, über die Schulter gezeigt, kein Gesicht zu sehen. Doch er räkelt sich, dass die Knochen knacken – und auf seinem Unterarm lesen wir das Tattoo: CHIKO. Das dämmrige Licht ist blau und kalt. Schnitt auf die Schlafzimmer-Totale. Chiko erhebt sich seufzend aus dem Bett, dann setzt die Musik ein: erstaunlich heiterer Jazz! Die Vorspann-Titel in fetter roter Schrift. Huch.
Ey was’n das für ne scheiß Musik eigentlich? | Chikos Kumpel
Im Auto geht’s weiter, Chiko unterwegs mit seinen Kumpels unterwegs, reden über Mucke und wie man eine Gangschaltung benutzt – und dann schleifen sie einen Typen mit ihrem Auto durch die Stadt, um ihr Revier zu markieren. Dieser Kontrast zwischen dem (zuweilen eher lustigen) coolen Gehabe der Gangster und harter Gewalt, das macht Chiko aus.
Chiko, der Film, ist das, was er sein will: Eine Geschichte über Chiko, dem Typen, und seinem Aufstieg zu dem, was er sein will. Ein großer Fisch im mit Testosteron gefüllten Haifischbecken. Hier geht es nur um Jungs und Geld und Respekt und wie man sich beides verdient. Frauen existieren in dieser Welt nur in ihrer Funktion als Mutter, Tochter, Ehegattin oder love interest. Da bringt es auch nichts, wenn Letztere von dem »Alphamädchen« Reyhan Şahin (auch bekannt als die Rapperin Lady Bitch Ray) gespielt wird – kaum hat Chiko die anfangs als Prostituierte arbeitende Frau zu seiner Frau gemacht, behängt er sie wie einen Weihnachtsbaum mit Glitzer.
[…] ihre Eleganz sind ebensosehr äußere Zeichen für den Rang des Ehemannes wie die Karosserie seines Autos. Ist er reich, so behängt er sie mit Pelzen und Schmuck. […] In jedem Mann steckt ein König Kandaules: er stellt seine Frau zur Schau, weil er so seine eigenen Verdienste vorzuführen meint.
Simone de Beauvoir, in: Das andere Geschlecht (1949)
Aber apropos Lady Bitch Ray…
Kürzlich habe ich im Blogbeitrag zu Warum Krieg? (dem Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud) den neuen Kanon angesprochen, den Thomas Kerstan in DIE ZEIT (16.08.18, N° 34) vorgeschlagen hat. Im Rahmen dieses Titelthemas wurde auch Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray (38) gefragt, welche Werke sie in einen neuen Kanon aufnehmen würde. Die Rapperin ist auch promovierte Germanistin – Chiko fällt nicht in ihre Auswahl einer Must-know-Liste relevanter Kulturgüter, wohl aber:
Schwarze Haut, weiße Masken von Frantz Fanon, Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler und die Ringparabel von Lessing. Außerdem müssten die NSU-Morde in einen solchen Kanon aufgenommen werden.
Es geht darum, einen differenzierten Umgang mit Religionen, mit Fundamentalismus und Extremismus zu erlernen. Schon Teenager sollten dafür sensibilisiert werden, was es heißt, »privilegiert«, »weiß« oder eine »Person of Color« zu sein – dann würden die Kinder von AfD-Wähler*innen diese vielleicht von einer anderen Entscheidung überzeugen.
Reyhan Şahin, in: Unendlicher Spaß (DIE ZEIT)
…worum geht’s hier nochmal? Gangsterfilm, ach ja:
Chiko ist ein kurzer Spielfilm – in den 88 Minuten gibt es kaum Verschnaufpausen, die Handlung wird regelrecht vorangehämmert und steuert auf ein düsteres Ende zu. Das Milieu, das Yıldırıms heraufbeschwört, fühlt sich dabei durchgehend authentisch an (wobei ich nicht der Richtige bin, um das zu beurteilen – zu wenig eigene Erfahrungen in der Hamburger Unterwelt). Das Schauspiel ist durch die Bank glaubwürdig, zuweilen grandios – insbesondere Denis Moschitto als Chiko und Moritz Bleibtreu (Lola rennt) stechen natürlich hervor. Ihnen gehören die stärksten Szenen. Weil eben so viel Potential da ist, hätte ich mir ein wenig mehr Tiefe gewünscht, mehr Hintergrund über die Randfiguren oder wenigstens Chiko selbst. Den lernen wir erst kennen, als er durchdreht und sich nach oben prügelt – wie ein Komet aus dem Nichts, der auf seinem Höhenflug zu verglühen droht. Unterm Strich auf jeden Fall ein wirkungsvoller Gangsterfilm für Leute, die auf Gangsterfilme stehen.
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]]>Der Beitrag WARUM KRIEG? von Albert Einstein, Sigmund Freud + Essay von Asimov erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Hinweis: Der Brief, den Sigmund Freud im September 1932 an Albert Einstein schickte, lässt sich im Projekt Gutenberg nachlesen, bereitgestellt von Spiegel Online.
Für alles, was sich die Menschen seit jeher nicht beantworten konnten, hatten sie lange Zeit ihre Gottheiten. Wie Platzhalter in der Sinnbildung unseres Seins. Fast jede Religion, die mehrere Götter und Göttinnen verehrte, sah den Krieg als eigenen Zuständigkeitsbereich.
So hatten die Griech*innen der Antike ihren Gott des Meeres, der sie seit Menschengedenken umgab. Ebenso gab es einen Gott des Todes, der unausweichlich war, und einen Gott des Eifers, einer urmenschlichen Eigenschaft. Und irgendwo dazwischen, zwischen dem, was immer da und unausweichlich und tief dem Menschen innewohnend war, lag der Krieg. Ares hieß der Gott des Krieges bei den Griechen. Der »städtevertilgende Ares«, wie Hesiod ihn in seiner Schöpfungsgeschichte – der Theogonie [936] – nannte, rund 700 Jahre vor Christus.
Das Christentum glaubte nur noch an den einen Gott, der die Welt und die Menschen erschaffen hatte. Als Schutzpatron der Krieger galt fortan der Erzengel Michael, oder auch der eine oder andere Heilige, St. Georg zum Beispiel. Die Frage, warum es überhaupt Leid in der vom allmächtigen Gott geschaffenen Welt gibt, wurde trotzdem gestellt – als Frage nach der »Gerechtigkeit Gottes« (Theodizee). Der Theodizee-Begriff geht dabei auf den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zurück. Dieser erklärte alle Leiden der Menschheit als notwendiges Übel »in der besten aller möglichen Welten« – ein Optimismus, den schon der französische Philosoph so naiv fand, dass er als Antwort darauf die Satire Candide schrieb. Darin sollte der gleichnamige blauäugige Held die Welt in all ihrer Schrecklichkeit erleben (hier ein Blogbeitrag über die Theater-Adaption von Candide im Minack Theatre, Cornwall). Eine Antwort indes fand der Held nicht, auf die drängende Frage: Warum Krieg?
Im Menschen lebt ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten. Diese Anlage ist in gewöhnlichen Zeiten latent vorhanden und tritt dann nur beim Abnormalen zutage; sie kann aber verhältnismäßig leicht geweckt und zur Massenpsychose gesteigert werden. | S. 19 1
Albert Einstein
Ich bin 1989 geboren, »das Jahr des Mauerfalls«, wie man mir später sagte. Nicht »das Jahr, in dem in Äthiopien, Afghanistan, Eritrea, Georgien, Guatemala, Indonesien, Kambodscha, Kolumbien, dem Libanon, Mosambik, Namibia, Nicaragua, Nordirland, Osttimor, Panama, Rumänien, Sri Lanka, im Südsudan, Suriname, dem Tschad und natürlich Israel und Palästina gerade Krieg oder kriegsähnliche Zustände herrschen.« – wäre ja auch arg sperrig gewesen. »Das Jahr des Mauerfalls« ist die griffigere Formel und auch tatsächlich die größere Besonderheit und Seltenheit. Dass Menschen sich vereinigen statt einander zu bekriegen. Der erste Krieg, den ich bewusst wahrnahm, war der Kosovokrieg 1998/99 (siehe: Gedanken einer schlaflosen Nacht)
Erst lange nach den Anschlägen vom 11. September 2001 lernte ich, dass es keinen »guten« oder »gerechten« Krieg geben kann, auch keinen »Krieg gegen den Terror«, wie ihn erst Ronald Reagan, dann George W. Bush proklamierte, im Namen der USA. 2004 gab Bush erstmals öffentlich zu, dass er Zweifel an den Geheimdienstberichten über Massenvernichtungswaffen im Irak hatte – also Zweifel an dem offiziellen Grund für den völkerrechtswidrigen »Krieg gegen den Terror«, den er kein ganzes Jahr zuvor begonnen hatte. 2004, da ging ich gerade in die 10. Klasse – und wir beschäftigten uns mit der Frage, was eigentlich der Unterschied sei, zwischen Krieg und Terror?
Terror hat politische, religiöse und wirtschaftliche Gründe. Hierfür nutzen die Terroristen Bomben und Sprengstoffe. Das Geschehen kommt an bestimmten Orten vor und an bestimmten Zeitpunkten. […] Kriege werden zwischen Staaten ausgefochten und Terroristen sind schlicht und einfach Kriminelle, die nur ihren eigenen Neigungen folgen.
Das ist eine Antwort, wie sie jemand aus der Klasse 10 im Jahr 2017 beantwortet. Ungefähr so habe ich es mir auch erklärt, in der Schule damals. Da möchte man noch eine klare Linie ziehen können, zwischen Kriminellen und den Menschen, die wir an die Macht wählen. Später ließ ich mich dann von den Argumenten Noam Chomskys überzeugen, demnach jeder US-Präsident seit 1945 ein Kriegsverbrecher ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen Krieg und Terror – Krieg ist der Terror der Stärkeren.
Die Frage nach dem »Warum?« blieb jedenfalls bestehen: Warum Krieg? Deshalb griff ich zu, als ich das Buch mit eben diesem Titel entdeckte. Ein Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud.
Wir sehen, das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft. Es ist noch immer Gewalt, bereit sich gegen jeden Einzelnen zu wenden, der sich ihr widersetzt, arbeitet mit denselben Mitteln, verfolgt dieselben Zwecke; der Unterschied liegt wirklich nur darin, daß es nicht mehr die Gewalt eines Einzelnen ist, die sich durchsetzt, sondern die der Gemeinschaft. | S. 28f.
Sigmund Freud
Von der Gewalt Einzelner zur Gewalt aller und gegen die Einzelnen, die den Frieden bedrohen. Das Recht – das sich von der Idee her schon in Hesiods Werke und Tage abzeichnet – ist eine große Errungenschaft der Menschheit. Es soll für Ruhe sorgen, zwischen Familien und ganzen Völkern.
Aber ein solcher Ruhezustand ist nur theoretisch denkbar, in Wirklichkeit kompliziert sich der Sachverhalt dadurch, daß die Gemeinschaft von Anfang an ungleich mächtige Elemente umfaßt, Männer und Frauen, Eltern und Kinder, und bald infolge von Krieg und Unterwerfung Siegreiche und Besiegte, die sich in Herren und Sklaven umsetzen. | S. 30
Feststellungen über Feststellungen. Einstein und Freud reflektieren in Warum Krieg? den Werdegang dessen, was wir Zivilisation nennen – von den Anfängen, die im Dunkeln verborgen liegen, hin zu seinem ungewissen Ausgang. Ein Prozess, den Freud »mit der Domestikation gewisser Tierarten vergleichbar« findet, vielleicht, denn »ohne Zweifel bringt er körperliche Veränderungen mit sich«. Ebenso aber eine Erstarkung des Intellekts und eine Verinnerlichung unserer aggressiven Neigungen. Unsere Psyche wandelt sich in einer Art, dass der Krieg ihr »in der grellste Weise« widerspricht. Und deshalb, so Freud in Warum Krieg?, »müssen wir uns gegen ihn empören!« Gut gebrüllt, Löwe. Doch in der Empörung gipfelt dann auch die Suche nach Mittel gegen den Krieg.
Sie sehen, es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man bei dringenden praktischen Aufgaben den weltfremden Theoretiker zu Rate zieht. Besser, man bemüht sich in jedem einzelnen Fall der Gefahr zu begegnen mit den Mitteln, die eben zur Hand sind. | S. 43
Dass der Briefwechsel unter dem Titel Warum Krieg? die Frage nicht soweit erschöpfend beantwortet, dass man den Kriegsgrund bei der Wurzel packen und beseitigen könnte – das lässt sich schon vor der Lektüre erahnen. Wir schreiben das Jahr 2018 und noch herrscht der Krieg: in Syrien, im Südsudan und Jemen, in der Ostukraine. Steven Pinker erklärt die Gegenwart in seinem Buch Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit (2011) zur friedlichsten Zeit, die es jemals unter Menschen gab. Doch gelöst ist das Problem gewiss nicht.
Das Buch, in dem der Verlag Diogenes den Briefwechsel Warum Krieg? veröffentlicht hat, enthält außerdem ein Essay des Biochemikers und Science-Fiction-Autors Isaac Asimov: Die gute Erde stirbt (auch nachzulesen im Spiegel vom 17. Mai 1971). Darin setzt sich Asimov noch mit einem anderen Problem auseinander – dem der Überbevölkerung. Ausgehend von der Frage, wie viele Menschen die Erde überhaupt aushält? Zur Antwort führt Asimov einige Zahlen an. 20 Billionen Tonnen etwa, darauf beläuft sich seiner Schätzung nach die Masse lebender Zellen auf Erde.
Davon sind 10 Prozent oder zwei Billionen Tonnen tierisches Leben. Fürs erste kann diese Zahl als Maximalwert betrachtet werden, da sich das pflanzliche Leben der Quantität nach nicht vermehren kann, ohne daß die Sonnenstrahlung erhöht oder seine Fähigkeit, das Sonnenlicht zu verarbeiten, verbessert wird. Das tierische Leben dagegen kann sich quantitativ nicht vermehren, ohne daß sich die Pflanzenmasse vermehrt, die ihm als Grundnahrungsmittel dient. | S. 51
Dass sich die Zahl der Menschen vermehrt, begründet Asimov mit einem Rückgang des nicht-menschlichen tierischen Lebens auf Erden.
Jedes zusätzliche Kilogramm Menschheit bedeutet mit absoluter Zwangsläufigkeit ein Kilogramm nicht-menschlichen tierischen Lebens weniger. Wir könnten also argumentieren, daß die Erde maximal eine Menschheitsmasse ernähren kann, die der gegenwärtigen Masse allen tierischen Lebens entspricht. Das wären nicht weniger als 40 Billionen [Menschen]. […] Allerdings würde daneben keine andere Spezies tierischen Lebens existieren. | S. 51
In seinem Essay malt uns Isaac Asimov ein Bild, wie die Welt beschaffen sein müsste, um so viele Menschen zu beherbergen – und wie rasant sie diesem Bild entgegen strebt. Auch hier mögen Leser*innen erahnen, worauf die Berechnungen hinauslaufen: Es wird eng auf Erden. Zu eng. Nun mögen die Warnungen eines Science-Fiction-Schriftstellers in ihrer Brisanz etwas überhöht wirken – nichtsdestotrotz: die Weltbevölkerungsuhr tickt und die Zahlen sprechen für sich.
Nun könnte man denken, dass hier zwei Probleme in einer Lösung aufgehen: Indem wir mehr Kriege ausfechten, dezimieren wir die Weltbevölkerung? Doch die Zeiten, in denen Kriege mit gegeneinander antretenden Heerscharen ausgetragen werden, ist längst Geschichte. Einerseits kurbelt unser Kriegstreiben seit jeher unseren Innovationsgeist an und fördert so paradoxerweise den Fortschritt, andererseits bremst unser Kriegstreiben diesen Fortschritt durch Zerstörung und Konkurrenzdenken auch aus – viel mehr, als wir uns leisten können.
Die Welt ist zu klein für jenen Patriotismus, der zu Kriegen führt. Wir dürfen zwar auf unser Land, unsere sprache, unsere Kultur oder unsere Traditionen stolz sein, aber es darf nur jener abstrakte Stolz sein, den wir einem Baseball-Team entgegenbringen – ein Stolz, der nicht von Waffengewalt gedeckt werden kann. | S. 60f.
Im August 1939 schrieb Albert Einstein einen weiteren Brief. Adressiert an den amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt warnte er darin vor der möglichen Entwicklung einer Atombombe seitens Deutschland – und dass man deren Wissenschaftlern voraus sein müsste. 6 Jahre später warfen die Amerikaner selbst Atombomben ab, über Japan. Sigmund Freud sollte diese dunkle Wendung der Geschichte nicht mehr erleben – er starb 1939 in London. Dort versteckte er sich bereits vor den Nazis, die vier Schwestern von Freud später in Konzentrationslagern ermodern würden.
Warum Krieg? Keine Antwort. Was tun, gegen Krieg? Das machen Einstein und Freud vor: Meinungsaustausch. Den eigenen Horizont erweitern. Als Schritt in diese Richtung schlägt Thomas Kerstan in der aktuellen Ausgabe von DIE ZEIT einen neuen Kanon von Kulturgütern vor, von Literatur über Musik bis hin zum Film. Ein solcher »gemeinsamer Fundus an Wissen« mag helfen, gegen den Krieg. Dieser (vorläufige) Kanon umfasst übrigens ein Werk von Einstein – aber nichts von Freud. »Das Schöne ist: Beschränkung führt zu Entscheidungen«, schreibt Kerstan. Freud musste anderen weichen, George Lucas vielleicht, und seinem Krieg der Sterne, IV – denn der ist drin, in diesem Kanon (Allgemeinbildung im Fach Kunst und Ästhetik!).
Bildung ist extrem wichtig für einen Menschen. Sie gibt Halt selbst in düsteren Zeiten. Sie befreit aus der Not und führt aus der Enge der Vorurteile, sie ermöglicht den Aufstieg, sie fördert das soziale Miteinander.
Thomas Kerstan
Hinweis: Vorschläge für den neuen Kanon sind übrigens ausdrücklich gewünscht! Wer ZEIT ONLINE also bestimmte Werke vorschlagen möchte, kann das hier tun.
Der Beitrag WARUM KRIEG? von Albert Einstein, Sigmund Freud + Essay von Asimov erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag TRAUMNOVELLE + EYES WIDE SHUT | Buch 1926, Film 1999 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>[…] keinem von beiden entging, dass der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt. | S. 7 1
Zum Inhalt: Es geht um ein Ehepaar, das nach abendlichen Feierlichkeiten, bei denen beide Ehepartner je mit anderen Gästen geflirtet haben, heimkehren und über ihre heimlichen Gelüste sprechen.
Doch aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen, und sie redeten von den geheimen Bezirken, […] wohin der unfassbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär’s auch nur im Traum, verschlagen könnte. | S. 7
Die offenbarten Fantasien stehen zwischen ihnen, als Frau und Mann spätabends noch voneinander getrennt werden. Er – ein angesehener Arzt – muss beruflich das Haus verlassen, zu einem verstorbenen Patienten. Im Folgenden erlebt er eine Nacht voller mysteriöser und sexuell aufgeladener Zwischenfälle.
Hinweis: Der folgende Text enthält einige Zitate aus der Traumnovelle und verrät – im Abschnitt »Entsorgte Frauen« – eine größere Wendung der Geschichte. Ansonsten spoilerfreies Lesen, viel Spaß! Aktuelle Streaming-Angebote zu Eyes Wide Shut gibt’s bei JustWatch.
Es war ihm, als schwiege der Tote mit ihnen; nicht etwa weil er nun unmöglich mehr reden konnte, sondern absichtsvoll und mit Schadenfreude. | S. 19
Der Österreicher Arthur Schnitzler (1862-1931) war selber Arzt, aber auch ein Geschichten-Erzähler. Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Schriftstellers zeigen, dass er an dem Stoff, aus dem später die Traumnovelle würde, schon seit 1907 arbeitete, rund 20 Jahre vor dem fertigen Werk. Ein Werk, über das ein Kritiker später schreibt:
Einzelheiten sind entzückend. Im Ganzen ist man nicht recht von der Notwendigkeit des Buches überzeugt. | S. 115
Entzückend, wie ein Literaturkritiker über »Notwendigkeit« nachsinnt. Im Ganzen bin ich nicht recht von der Notwendigkeit dieses Blogs überzeugt. Oder dieses Zitats. Oder, klar, wenn wir schon dabei sind, auch der Traumnovelle, um die es hier geht. »Notwendigkeit« ist ein ausgesprochen seltsamer Anspruch an die Kunst. Ein anderer Kritiker schreibt:
Wir würden nicht anstehen, den künstlerischen Wert dieser epischen Dichtung anzuerkennen, wenn es uns nicht gar so verhängnisvoll vorkäme, die Verwirrung im Gefühlsleben des modernen Menschen noch zu vergrößern. Erleben wir nicht des Verwirrenden genug? Und […] ist es nicht eine Gegenwartsaufgabe unserer Epik, dem deutschen Menschen als Gegengewicht gegen den importierten Kult des Muskels und des Kraftmeiertums eine feine abgeklärte Gefühlskultur zu bieten? | S. 115
Auch der Anspruch einer irgendwie gearteten »Gegenwartsaufgabe« von Kunst scheint verfehlt. Zumal sich ihr Wirken in einer immer neuen Gegenwart entfaltet. Im Falle der Traumnovelle war die epische Dichtung die Vorlage für einen Film. Dieser wiederum wusste »die Verwirrung im Gefühlsleben des modernen Menschen noch zu vergrößern«, nur eben 70 Jahre später. Ob wir der Verwirrung nicht genug erleben? Eine Frage, die jede Generation aufs Neue stellen wird – im Angesicht ihrer beunruhigenden Träume und Triebe und Themen.
Randnotiz: Hier geht es zu einer Antwort auf die Frage: Was haben Kubricks Filme gemeinsam?
Als ich Eyes Wide Shut zum ersten Mal gesehen habe, via DVD auf einem alten PC, da war ich etwa 15 Jahre alt und voreingenommen von ein paar Standbildern des Films, die ich bei damaligen »Internet-Recherchen« entdeckt hatte. Mit viel nackter Haut und Masken, das machte mich doch neugierig. Und was soll ich sagen? Ich war enttäuscht. Mein erster Eindruck von dem Werk war wohl der, den Filmkritiker Scott Wampler 1999 erlebte, als er Eyes Wide Shut im Kino sah.
Die meisten Leute damals reagierten mit: »Das war’s? Das ist der skandalöse Film, über den wir in den vergangenen zwei Jahren so viel gehört haben?« Erstens: Wie verdammt undankbar musst du sein, um Stanley Kubricks letzten Film so niederzumachen?
Scott Wampler (Birth.Movies.Death.) in: Be Thankful For Eyes Wide Shut
Ja, okay, stimmt, sorry… Zweitens verweist Wampler darauf, dass die meisten Beschwerden über den Film – Zu lang! Für einen »Sex-Film« ziemlich kalt! Sinnlos! – den Anschein machten, als hätten die Kläger*innen nie zuvor einen Kubrick-Film gesehen. Und in meinem Fall traf das zu.
Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr, ob ich A Clockwork Orange damals vor oder nach Eyes Wide Shut gesehen habe. Es war jedenfalls etwa zur selben Zeit (Pubertät) aus etwa denselben Gründen (nackte Haut) mit etwa derselben Reaktion (»Hä?«). Rückblickend bin ich dem großen Stanley Kubrick nicht gerecht geworden, mit meinen niedrigen Motiven und noch niedriger Filmbildung (obwohl… was war mit 15 Jahren niedriger?). Es lohnt sich, das Œuvre dieses Regisseurs in chronologischer Reihenfolge zu sehen – und bloß nicht auf einem alten Computer. Auch nicht auf einem neuen Smartphone!
Apropos Smartphone… (und apropos pubertärer Lüstling):
Die wirkliche Pornografie in diesem Film besteht in seiner nachwirkenden Darstellung des schamlosen, nackten Reichtums von Manhattan um die Jahrtausendwende – und von dem obszönen Effekt dieses Wohlstandes auf unsere Gesellschaft und unseren Geist. Der kurzsichtige Fokus nationaler Kritiker*innen auf den Sex und die oberflächliche Psychologie in Bezug auf das Filmpaar […] sagen mehr über die Blindheit unserer Eliten hinsichtlich ihrer Umgebung aus, als über Kubricks Unzulänglichkeiten als Pornograf. Für diejenigen mit offen Augen sind da jede Menge »money shots« [hier: kostspielige und Wohlstand in Szene setzende Einstellungen].
Tim Kreider, in: Introducing Sociology
Damit meint Tim Kreider etwa die Referenzen des Films an den europäischen Dekadentismus rund um die letzte Jahrhundertwende. Referenzen wie den glamourösen Eröffnungswalzer und etliche europäische Charaktere. Gemeint ist ebenso das weihnachtliche Setting, das die Konsumgesellschaft in Bestform zeigt. Auch was die Hauptfigur Dr. William Harford bereit ist, in einer Nacht an Geld auszugeben, sowie nicht zuletzt das ganze mysteriöse Treiben in der Villa zeigen deutlich: Hier versinken Menschen (und menschliche Moralvorstellungen) im Geld.
Die literarische Vorlage – Schnitzlers Traumnovelle – lernte ich durch mein Studium an der Fernuniversität Hagen kennen (Studiengang: Kulturwissenschaften, Fach: Literaturwissenschaft, Modul: L1). Das wurde letztendlich auch zu meiner Neuentdeckung des Films. In Schnitzlers Novelle ist die bürgerliche Moral des 19. Jahrhunderts noch ein relevanter Maßstab. Eine Zeit, in welcher der Umgang mit Sexualität wesentlich befangener war, als in den späten 90er Jahren oder heutzutage.
Diese »gesellschaftliche Moral«, die einerseits das Vorhandensein der Sexualität und ihren natürlichen Ablauf privatim voraussetzte, anderseits öffentlich um keinen Preis anerkennen wollte, war aber sogar doppelt verlogen. Denn während sie bei jungen Männern ein Auge zukniff und sie mit dem andern sogar zwinkernd ermutigte, »sich die Hörner abzulaufen«, wie man in dem gutmütig spottenden Familienjargon jener Zeit sagte, schloss sie gegenüber der Frau ängstlich beide Augen und stellte sich blind. | S. 119
Die Augen fest verschlossen. Stefan Zweig beschreibt in Die Welt von Gestern altmodische Sichtweisen zur Sexualität, die sich zuweilen hartnäckig gehalten haben. Kubrick greift diesen Umstand auf. Durchweg glaubwürdig lässt er die vom Schauspieler Tom Cruise verkörperte Figur im Streit mit der Ehefrau Zeilen über die unterschiedlichen »Denkweisen von Männern und Frauen« aussprechen. Diese übertragen Zweigs Feststellungen zum 19. Jahrhundert bruchlos ins späte 20. Jahrhundert.
Dass ein Mann Triebe empfinde und empfinden dürfe, musste sogar die Konvention stillschweigend zugeben. Dass aber eine Frau gleichfalls ihnen unterworfen sein könnte, dass die Schöpfung zu ihren ewigen Zwecken auch einer weiblichen Polarität bedürfe, dies ehrlich zuzugeben, hätte gegen den Begriff der »Heiligkeit der Frau« verstoßen. | S. 119
Die Heiligkeit der Frau. Der Film Eyes Wide Shut beginnt mit einer Totale von einem edel anmutenden Zimmer. Mit großem Spiegel und roten Verhängen, Tennisschlägern hinter einer goldenen Stehlampe in der Ecke. Zu beiden Seiten des Raumes: Säulen, wie sie das Tempeldach des Parthenon stemmen. Dazwischen steht eine Frau (Nicole Kidman), die ihr schwarzes Kleid von den Schultern gleiten lässt. Unterwäsche sie keine und steht jetzt nackt da, mit einem Körper wie ihn die in Stein gemeißelten Göttinnen jener Griechen zur Schau stellen.
Die Eröffnungszene des Films:
Arthur Schnitzlers Traumnovelle beginnt mit einer Erzählung in der Erzählung. Die Eltern lesen dem Kinde eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Sie scheint Tausendundeine Nacht entnommen zu sein, über »vierundzwanzig braune Sklaven«, die »die prächtige Galeere« des Prinzen Amgiad ruderten. Als das Kind eingeschlafen ist, ziehen sich die Eltern in ihr Gemach zurück. Dort lassen sie den zurückliegenden, gestrigen Abend Revue passieren – ein Ballfest, an dem sie teilgenommen haben. Sie schwelen in der Vergangenheit und so führt eines zum anderen…
Albertine, ob sie nun die Ungeduldigere, die Ehrlichere oder die Gütigere von den beiden war, fand zuerst den Mut zu einer offenen Mitteilung; und mit etwas schwankender Stimme fragt sie Fridolin, ob er sich des jungen Mannes erinnere, der im letztverflossenen Sommer am dänischen Strand eines Abends mit zwei Offizieren am benachbarten Tisch gesessen [habe]. | S 7-8
In Kubricks Film heißen sie nicht mehr Albertine und Fridolin, sondern Alice und William. Während Schnitzlers Novelle ein Streifzug durch eine Wiener Nacht ist, die stellenweise an Richard Linklaters Before Sunrise (1995) denken lässt, spielt Kubricks Adaption in New York und beginnt mit jenem »Ballfest«, das in der Novelle schon in der Vergangenheit liegt. Doch es ist und bleibt ein Offizier, von dem die Frau ihrem Mann später erzählt, ein Offizier, den sie einmal im Urlaub gesehen und von dem sie fantasiert hat. Untreue in Gedanken – das setzt die Handlung in Gang, sowohl die der literarischen Vorlage als auch die der Verfilmung.
Eyes Wide Shut gibt es in voller Länge unter anderem auf Youtube zu sehen – hier mit einem Trailer zum Film verlinkt:
Vielleicht gibt es Stunden, Nächte, dachte er, in denen solch ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber von Männern ausgeht, denen unter gewöhnlichen Umständen keine sonderliche Macht über das andere Geschlecht innewohnt? | S. 54
Der Erzähler in Schnitzlers Novelle hat im Laufe der Nacht noch Begegnungen mit der Tochter eines verstorbenen Patienten, der mädchenhaften Tochter eines Kostümhändlers und einer Prostituierten, ehe eher zu der geheimen Orgie gelangt, wegen der die Traumnovelle sowie Eyes Wide Shut wohl am ehesten in Erinnerung bleibt: Was geht da vor sich, in der Villa voller maskierter »Kavaliere« und nackter Frauen? Was auch immer es ist, für die Beteiligten ist es – wie sich bald herausstellt – eine todernste Angelegenheit.
Eine der Frauen warnt unseren männlichen Helden vor den Konsequenzen seiner Anwesenheit in der Villa. Es sei ihm verboten, dieser Orgie beizuwohnen. Am nächsten Tag ist die Frau tot. Später, in der Leichenhalle, bekommt Fridolin/William sie zu sehen – ehe er sich schockiert abwendet.
[…] was da hinter ihm lag in der gewölbten Halle, […] ihm konnte es nichts anderes mehr bedeuten als, zu unwiderruflicher Verwesung bestimmt, den bleichen Leichnam der vergangenen Nacht. | S. 94
Angeblich soll diese Frau an einer Überdosis gestorben sein. William erfährt davon in einem Café, an dessen Wänden zahlreiche antike Porträts von Frauen hängen – während im Hintergrund Mozarts Requiem zu hören ist.
Das Setting und die Musik machen diesen Moment zeitlos, universell. Kubricks letzten drei Filme formen eine Art thematische Triologie über den Frauenhass unserer Kultur.
Tim Kreider, in: Introducing Sociology
In The Shining verachtet Jack Torrance seine Frau und sein Kind und versucht, sie zu ermorden, so, wie sein Vorgänger dessen Frau und Töchter ermordet hat. […] In Full Metal Jacket herrscht bei den Marines eine institutionalisierte Misogynie – und die Abwesenheit von Frauen (wir sehen lediglich zwei Prostituierte und eine Sniperin) ist so offensichtlich, dass sie zur eindringlichen Präsenz wird. Der Höhepunkt des Films ist die Hinrichtung eines 15-jährigen Mädchens. Das Requiem in dem Sonata Café [in Eyes Wide Shut] wird nicht nur für [jene gestorbene Frau] gespielt, sondern für all die anonymen, verbrauchten Frauen, die von Männern aus Williams Gesellschaftsschicht benutzt und entsorgt wurden – über alle Jahrhunderte hinweg.
Dass Stanley Kubrick – der Frauen häufig weniger als Subjekte, denn als Objekte inszeniert hat – selbst kein misogynistischer Filmemacher sei, das verteidigt die Filmkritikerin Nikki Martin in einem Videoessay, am Beispiel von Lolita (1997), Dr. Strangelove (1964) und eben Eyes Wide Shut. Hier ist Nikkis Beitrag:
Ein Werk von literarischer und cineastischer Kraft, das lange nachwirkt: Obwohl die Traumnovelle ein so dünnes Büchlein ist, dass man es fast schneller durchgelesen als den rund zweieinhalbstündigen Film gesehen hat, ist es reich an Deutungsebenen und bemerkenswerten Momenten. Kubrick ist es gelungen, die Vielschichtigkeit der Vorlage in seiner Verfilmung zu bewahren. Wenn man nur nicht in der falschen Annahme ran geht, »leichte Erotik« serviert zu bekommen, sind die Traumnovelle und Eyes Wide Shut zwei bereichernde Werke – ob »notwendig« oder ihre »Aufgabe erfüllend«, das sei dahingestellt.
(…) diese scherzhafte, fast übermütige Art, in der zugleich eine milde Warnung und die Bereitwilligkeit des Verzeihens ausgedrückt schien, gab Fridolin die sichere Hoffnung, dass sie, wohl in Erinnerung ihres eigenen Traum –, was auch geschehen sein mochte, geneigt war, es nicht allzu schwer zu nehmen. | S. 96-97
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]]>Der Beitrag GOOD NIGHT STORIES FOR REBEL GIRLS | Kinderbuch 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Blicke ich auf meine Kindheit zurück, muss ich zugeben: meine Emanzipation ging recht schleppend vonstatten. Neben Einflussfaktoren wie familiäres und soziales Umfeld lag das am Einfluss und der Rezeption von Kindermedien. Allen voran meiner geliebte Walt Disney Classic Collection. Die dort dargestellten Geschlechterrollen prägten mich maßgeblich mit. Dornröschen als in Not geratene Schönheit, Schneewittchen als gutgläubige, in Not geratene Schönheit oder Belle als in Gefangenschaft genommene Schönheit.
Dieses Jungfrau in Nöten-Bild zieht sich durch die so oft zugrunde liegenden Grimmschen Märchen. So dass Mädchen vor dem Zubettgehen eingetrichtert wurde, das weibliche Geschlecht sei zwar schön, aber nun mal schwach. Und deshalb angewiesen auf den starken Prinzen. Doch um Disney gegenüber fair zu bleiben: Mit den späteren Frauenfiguren Mulan, Pocahontas und (meiner Favoritin) Meg in Hercules flimmerten auch Persönlichkeiten auf dem Bildschirm, die durchsetzungsstärker waren. Oder eben: rebellisch! (Ach, und wer Rotkäppchen als Aktivistin erleben will, kann sich die Rotkäppchen-Version der Bocholter Märchenoma Ursula Enders anschauen.)
Zum Inhalt: In 100 Kurzgeschichten und künstlerischen Illustrationen präsentieren Elena Favilli und Francesca Cavallo 100 Mädchen und Frauen, die unsere Gesellschaft zu Höherem verholfen haben. Ob Rennfahrerin Lella Lombardi, Modeschöpferin Coco Chanel (hier geht’s zur Filmkritik über das Biopic zu Coco) oder Aktivistin Malala Youzafzai. Die Protagonistinnen in diesem Buch sind Vorbilder. Nicht nur für Mädchen, sondern natürlich auch für Jungen. Schließlich geht es um Geschichten, die Geschichte geschrieben haben. Um starke Menschen, die mutig waren, zu scheitern, aufzustehen und weiter nach ihren Zielen zu greifen.
Das geplante Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls der beiden italienischen Autorinnen Elena Favilli, Journalistin, und Theaterregisseurin und Schriftstellerin Francesca Cavallo traf einen internationalen Nerv. Als Reaktion auf das Video If you have a daughter, you need to see this (siehe unten) beteiligten sich Menschen aus über 70 Ländern mit mehr als 1 Million Euro bei der Crowdfunding-Kampagne. Sie halfen dabei, dass die Geschichten von 100 beeindruckenden Frauen in die Buchläden, die Kinderzimmer und in die Köpfe der Menschen einziehen konnten. Dank ihres Erfolgs gilt Good Night Stories for Rebel Girls als erfolgreichstes Kinderbuch im Bereich Crowdfunding.
Auch die Pressestimmen unterstreichen die Relevanz und den Erfolg dieses feministischen Kinderbuchs. Hier eine Auswahl:
Entgegen dem Titel sind die pointierten, auf je eine Doppelseite verdichteten Kurzporträts zu jeder Tageszeit ein Genuss. So viel geballte Girlpower ist eine Ermunterung und Bestätigung für jede Heranwachsende, große Träume und hohe Ziele zu haben.
Verena Hoenig (Neue Zürcher Zeitung), 11.12.17
Bei Good Night Stories for Rebel Girls ließe sich die Botschaft so zusammenfassen: Wie ein Leben sich gestaltet, kann man nicht wissen; aber wer für seine Träume und Ideen einsteht, integer lebt und aufbegehrt, der trägt zu seinem eigenen Glück und meistens auch zum Wohlergehen anderer bei.
Yalda Franzen (SPIEGEL Online), 29.10.17
Elena Favilli und Francesca Cavallo liefern mit heroischen, die Selbstermächtigung in sämtlichen Spielarten feiernden Kurzbiografien ein Prägungsmodell für Heldinnen der Zukunft.
Jamal Tuschick (Der Freitag)
Frage: Gibt es das schwache Geschlecht? Einer Antwort darauf sind wir in diesem Blogbeitrag auf den Grund gegangen: Bio mit Beauvoir.
Mit ihrem feministischen Kinderbuch haben die Autorinnen einen wertvollen Sammelband diverser Frauen- und Mädchengeschichten aus dem echten Leben kreiert. Das gehört in jedes Kinderzimmer. In knappen Texten, die fast alle klassisch mit »Es war einmal…« eröffnen, werden statt Klischee-Märchen Lebensgeschichten erzählt. Diese dürften sowohl Kindern auch als Erwachsenen Inspiration und Mut einflößen. Hierzu gehören besagte Coco Chanel, Schriftstellerin Astrid Lindgren, Michelle Obama und 97 mehr. Jede*s der Mädchen und Frauen wird sowohl textlich als auch künstlerisch porträtiert und so zu einer Gute-Nacht-Heldin. So facettenreich die Protagonistinnen selbst erscheinen, so imponieren auch die mitwirkenden 60 Künstlerinnen aus aller Welt mit ihrem eigenem Stil.
Ein schöner Bonus: Das Kinderbuch wurde 2018 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Wien als Sieger in der Kategorie Junior-Wissensbücher ausgezeichnet.
Einen Einblick ins Kinderbuch gibt’s hier:
Ein Hoch auf die mutigen und unerschrockenen Frauen und Mädchen in diesem Kinderbuch (und in der Welt)! Und ein Hoch auf die beiden Autorinnen und die 60 Künstlerinnen. Mit den wahren Geschichten motivieren sie Mädchen, aktiv zu werden und für ihre Werte einzustehen. Dieses Verständnis muss gefördert werden. Denn immer noch herrscht ein veraltetes Rollenbild, das Medien wie Menschen reproduzieren und an den Nachwuchs weitertragen. Die immense Teilnahme an diesem Crowdfunding-Projekt macht deutlich, wie relevant und dringend das Thema Geschlechter-Verständnis ist. Mit ihren echten Märchen vermittelt das Kinderbuch Good Night Stories For Rebel Girls auf kindgemäße Weise ein differenzierteres Bild vom weiblichen Geschlecht. Ich vergebe 10 Sterne.
Titel | Good Night Stories for Rebel Girls |
Erscheinungsjahr | 2017 |
Autor*in, Illustrator*in | Elena Favilli (Autorin) Francesca Cavallo (Autorin) |
Verlag | Hanser Verlag |
Umfang | 224 Seiten |
Altersempfehlung | ab 12 Jahren |
Thema | Mut, Gender, Frauenbild |
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]]>Der Beitrag THEOGONIE von Hesiod, Musenfreund & Frauenfeind | Griechische Mythologie erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Am Anfang der Weltliteratur stehen – von einem europäischen Standpunkt aus gesehen – zwei Namen, die schon zu Platons Zeiten berühmt waren. Die Rede ist von Hesiod und Homer, zwei Dichter, die vor ungefähr 2700 Jahren lebten. Sie waren diejenigen, die den Griech*innen die Herkunft der zahlreichen Götter lehrten, diesen Namen gaben und ihre Funktionen und Erscheinungen beschrieben. So fasste die Errungenschaft der beiden Dichter bereits Herodot (2, 53) zusammen, Urvater aller Geschichtsschreiber*innen, im 5. Jahrhundert vor Christus (dem Sohn des einzigen Gottes, an den gemäß der heute am weitesten verbreiteten Religion noch zu glauben ist). Ein paar Jahrzehnte nach dem Historiker Herodot urteilte der Heerführer und spätere Herrscher Alexander der Große: Homer sei ein Dichter für Könige gewesen, Hesiod hingegen einer für Bauern. Dinge wie Ehre, Eleganz und Schönheit haben bei Letzterem nicht allzu hohen Stellenwert.
Als Sohn eines Bäckers fühle ich mich da eher zu dem Bauern-Dichter hingezogen. Dessen bekannteste Schriften – die Theogonie und Werke und Tage – sind auch viel kürzer, als Homers wuchtige Epen, die Ilias und die Odyssee. Hesiods Schöpfungsgeschichte und sein Lehrgedicht lassen sich in ein paar Mußestunden lesen. Aus diesem schändlich pragmatischen Grund habe ich mich an Hesiod herangetraut. Als Student*in der Geschichte und Philosophie kommt man an diesem frühesten aller Dichter sowieso nicht wirklich vorbei.
Und als römisch-katholisch erzogener Mensch ist es auch mal erfrischend, eine andere Schöpfungsgeschichte als die Genesis der Bibel zu lesen. In Hesiods Version der Weltentstehung, so viel sei versprochen, da gibt’s mehr Action und die krasseren Held*innen. Die Theogonie ist wie ein antikes Avengers-Prequel. Aber: Die Frauenfeindlichkeit, die das Christentum später über Jahrhunderte tradiert hat, die findet sich ebenso bei Hesiod.
Hinweis: Die Theogonie in deutscher Übersetzung und voller Länge findet sich online unter anderem unter www.gottwein.de
Es war einmal, am grünen Hang eines Berges in Griechenland, da lag ein junger Mann im Gras. Um ihn herum weideten die Schafe, die er zu hüten hatte. Das Gebirge hieß und heißt noch heute Helikon. Dort begegneten dem dösenden Hirten die Töchter des Zeus, dem obersten der olympischen Götter und Göttinnen. Diese Töchter waren empört über die Faulheit des Mannes, der da zwischen seinen Schafen lag:
[26] Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche, vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden. 1
Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?
Mit eben dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit soll der Mann verkünden! Sein Name ist, natürlich, Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod noch göttlichen Sang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen eigentlich die Musen?
[53] Diese gebar in Pierien, dem Kronossohn [das ist Zeus] und Vater der Musen in Liebe vereint, Mnemosyne [die Göttin des Gedächtnisses], die an den Hängen des Eleuther waltet; sie schenken Vergessen der Übel und Trost in Sorgen. Neun Nächte nämlich einte sich ihr der Rater Zeus und bestieg fern von den Göttern ihr heiliges Lager; als aber die Zeit kam […], gebar sie neun Mädchen von gleicher Art, deren Herz in der Brust am Gesang hängt und deren Sinn frei von Kummer ist […] 2
9 Nächte miteinander verbracht, 9 Mädchen gezeugt. Diese bestechende Logik ist laut dem Altphilologen Otto Schönberger in Mythen nicht unüblich: Die Zahl der Kinder entspricht häufig der Zahl der miteinander verbrachten Nächte. Mir persönlich gefällt die Idee, dass die Göttin des Gedächtnisses die Musen hervorbringt, die Schutzgöttinnen der Künste. Denn was will Kunst schon groß anderes, als im Gedächtnis zu bleiben?
Doch es ist nicht die Dichtkunst, die mir im Gedächtnis bleibt. Mag daran liegen, dass ich (der ich damals im Griechisch-Unterricht eine Graupe war) Hesiod nicht im Original gelesen habe, Götter bewahret! Erst recht nicht im Gedächtnis bleibt mir, wer wen zeugte. Obwohl die Schöpfungsgeschichte der Theogonie da um einiges spannender ausfällt als in der Bibel – Hesiod unterschlägt auch nicht, dass am Zeugungsakt meist zwei beteiligt sind. Vergleich:
BIBEL, Matthäus 1,2: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte […]
HESIOD, Theogonie 295: Noch ein unbezwingliches Scheusal gebar Keto, das weder sterblichen Menschen noch ewigen Göttern gleicht, in gewölbter Höhle, die wundersame, mutige Echidna, halb Mädchen mit lebhaften Augen und schönen Wangen, halb Untier, greuliche, riesige Schlange, schillernd und gierig nach Blut im Schoß der heiligen Erde. […] Mit Echidna, heißt es, vereinte sich liebend Typhaon, der furchtbare, ruchlose Frevler, mit dem lebhaft blickenden Mädchen, das von ihm empfing und mutige Kinder gebar. Zuerst gebar sie den Hund Orthos für Geryoneus […]
Na, welche Schöpfungsgeschichte geht mehr ab? Welche würde man eher im Kino sehen wollen? Die Antwort ist ganz klar: NEIN. Einfach nein. Denn Achtung!
Richtigstellung | Ein aufmerksamer Leser hat mich für diesen Vergleich von Schöpfungsgeschichten ob ihrer Coolness gescholten. Zu recht, muss ich kleinlaut beipflichten. Ich wurde der groben Vereinfachung überführt. Ein tückisches Mittel, um unkundige Leser*innen mit plakativen Pseudo-Beispielen ins eigene Lager zu ziehen. Dabei liegt hier wohlgemerkt keine Tücke im heimtückischen Sinne zugrunde: Ich bin schlicht selbst zu unkundig, als dass ich meine (allenfalls geahnte…) Vereinfachung in ihrem ganz Ausmaß bemerkt hätte.
Fakt ist, dass es nicht die eine biblische Schöpfungsgeschichte gibt. Ein kurzer Blick ins Stichwort-Verzeichnis von Bibelwissenschaft.de genügt, um sich der Breite des Schöpfungsthemas bewusst zu werden. Ein längerer Blick in den Artikel Schöpfung AT (von Annette Schellenberg) lässt staunen, wie sich das Thema hinsichtlich Terminologie, Auslegung und kulturellem Standpunkt in all seiner Vielschichtigkeit auffächert – was man bei der jahrhundertlangen Entstehungsgeschichte erwarten sollte. Jener aufmerksame Leser schrieb mir folgende Denkanstöße:
Das Judentum wurde sowohl von den Griechen als auch von den Römern als »Volk von Philosophen« bezeichnet, weil die – nennen wir es – »Volksbildung« recht hoch war. Fachsimpeln war scheinbar Bestandteil der Religionsausübung. Die Geschlechter-Listen (Abraham zeugte Isaak etc.) sind eigentlich gar nicht Teil der Schöpfung. Sie sind Resultat einer Redaktion (siehe Priesterschrift) in der verschiedene mündlich tradierte Erzählkreise in ein Gesamtwerk verpackt werden sollen. Diese langweiligen Verwandtschaftslisten sind also ein »Kit«, um verschiedene viel ältere Geschichten in eine Chronologie zu bringen.
Florian Sauret, Nachtwächter der Stadt Bocholt
Das Geile ist ja jetzt, dass dem alttestamentarischen Juden diese mesopotamischen, ägyptischen und später hellenistischen Theogonien bekannt waren. Sie waren Teil seines kulturellen Umfeldes. Die wirklich vielfältigen Schöpfungsvorstellungen in der Bibel gewinnen mit der Kenntnis anderer Mythen noch viel mehr an Aussagekraft. Es steckt viel mehr heroic epicness mit Monstern und Helden zwischen den Zeilen, als man heute auf den ersten Blick vermuten mag
In diesem Sinne, vielen Dank für das wertvolle Feedback und die vertiefenden Einblicke in ein doch sehr komplexes Thema! Und um auch die Komplexität der Griechischen Mythologe nochmal so übersichtlich und unterhaltsam wie möglich zu vermitteln, gibt’s hier ein wirklich großartig gemachtes Video von Maurus Amstutz, der die Theogonie als Animationsfilm adaptiert hat:
Nun denn, wie gesagt, die ungeheuerliche Titanen-Parade aus der Theogonie von Hesiod ist es nicht, die mir in Erinnerung bleibt. Stattdessen prägt sich ins Gedächtnis, wie der antike Dichter schon inbrünstig gegen die Frau wettert. Sie kommt als Strafe des Zeus auf die Erde, dafür, dass der Mensch sich des Feuer bemächtigt hat:
[570] Sogleich schuf er den Menschen für das Feuer ein Unheil. Aus Erde nämlich formte der ruhmreiche Hinkfuß Hephaistos nach dem Plan des Kronossohnes das Bild einer züchtigen Jungfrau. […] Staunen hielt unsterbliche Götter und sterbliche Menschen gebannt, als sie die jähe List erblickten, unwiderstehlich für Menschen. Stammt doch von ihr das Geschlecht der Frauen und Weiber. 3
Diese unwiderstehliche Jungfrau, die Zeus den Menschen zur Strafe schickte, war Pandora. Jene Pandora, von der sich auch die heute noch sprichwörtliche »Büchse der Pandora« ableitet. Allein, dass die »Büchse« einem Übersetzungsfehler oder Kunstgriff aus der Renaissance zurückgeht. Bei Hesiod schickte Zeus seine tückische Kreation noch mit einem Faß los, zu den Menschen.
[591] Von ihr kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluß. […] Gerade so schuf der hochdonnernde Zeus zum Übel der sterblichen Männer die Frauen, die einig sind im Stiften von Schaden. Auch sandte er ein weiteres Übel zum Ausgleich des Vorteils: Wer die Ehe und schlimmes Schalten der Weiber flieht und nicht freien will, der kommt in ein mißliches Alter, weil es dem Greis an Pflege fehlt. 4
Soll heißen: Man könne weder mit noch ohne die Frauen gut leben. Denn obwohl sie ein beschwerliches Laster seien, bräuchte man sie doch zur Zeugung einer Nachkommenschaft, die den Vater im hohen Alter pflegen kann. Schönberger kommentiert es so: »Die Frau ist die Strafe. Hesiod war (aus Erfahrung?) ein Frauenfeind und will die schlimme, ja vernichtende Rolle der Frau im Leben der Menschen darstellen.«
Es spielt keine Rolle, welche Erfahrungen Hesiod mit einzelnen Frauen gemacht haben mag. Den allgemeinen Frauenhass jedenfalls, den hat der Dichter nicht erfunden. Ebenso wenig wie die meisten der Götter und Göttinnen und einige ihrer Abenteuer, die in der Theogonie geschildert werden. Auch wenn Hesiods Werk eines der ältesten ist, die uns erhalten geblieben sind, hat sich der Dichter im 8. Jahrhundert v. Chr. bereits von einem ganzen Kosmos an Ideen und Geschichten inspirieren lassen können. »Viele Vorbilder«, so bringt Otto Schönberger es auf den Punkt, »dürften uns unbekannt sein.«
Die Strahlkraft von Hesiods Werk lässt sich schon besser nachweisen. So schreibt man ihm einen Einfluss auf die vorsokratischen Philosophen zu. Indem Hesiod den mythischen Wesen seiner Erzählung die Bezeichnung oder Eigenschaften von Gegebenheiten der Wirklichkeit gab – so verkörpert die Göttin Gaia etwa die Erde – vollzieht Hesiod »einen Schritt von der epischen Dichtung zur Philosophie«, schreibt Schönberger und nennt Hesiod einen »Vorbote[n] spekulativen Denkens« in den »Schranken überlieferter Vorstellungen«.
Hesiod in diesem Vorboten-Sein eine besondere Leistung zuzuschreiben wäre indes, als würde man einen Frosch dafür loben, dass er als Wassertier schon Beine hat. Der Gedankengang von mythischen Wesen über Metaphysik und Erkenntnistheorie hin zur hochtechnologisierten, naturwissenschaftlichen Forschung vollzieht sich in ähnlich evolutionären, ihrem Gewicht unbewussten Einzelschritten, wie der Werdegang vom Meeresbewohner zum Menschenaffen.
Eine kurzweilige Lektüre von hohem, historischem Stellenwert, die gleichermaßen beeindruckend und beschämend ist. Darin steckt viel Wahres darüber, wie sich der Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten die Welt erklärt – zuweilen eben sehr erfindungsreich. Schon Platon kritisiert vieles von Hesiods Dichtung als »unwahre Erzählungen« (Politeia, Abschnitt 40a über Musische Bildung), die den jungen Leuten nicht unbedacht überliefert werden, »sondern am liebsten verschwiegen bleiben« sollten. Das geringschätzige Frauenbild hingegen, das Hesiod vermittelt, hatte Platon ebenso verinnerlicht, wie all die Generationen nach im, zum Teil bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.
Apropos Platon: Hier geht’s zu Blogbeiträgen über Platons Ideenlehre und Platons Höhlengleichnis.
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]]>Der Beitrag Das schwache Geschlecht: Schicksal oder Mythos? | Bio mit Beauvoir erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Ich ziehe für die etwas plakative Frage – Gibt es das schwache Geschlecht? – ein Buch zurate, das schon ein wenig in die Jahre gekommen ist. Das andere Geschlecht (1949) von Simone de Beauvoir. Eine französische Philosophin und ihr monumentales Standardwerk über die Rolle der Frau von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis heute. Ja, okay, heute vor rund 70 Jahren – doch vieles von dem, was Beauvoir schreibt, hat nicht an Gültigkeit verloren.
Doch vorweg: Wer war Simone de Beauvoir? Zu dieser Frage hat ARTE einen amüsanten Film produziert – eine Art »Beauvoir kompakt«, 3 Minuten knackig kurzes Kennenlernen jener Frau, aus deren Werk hier fleißig zitiert wird:
Wie es sich für ein Standardwerk gehört, fängt Beauvoir mit ihrer Untersuchung der Geschlechter-Verhältnisse ganz vorne an. Oh nein, nicht bei Adam und Eva – noch weiter vorne: Bei den namenlosen Einzellern, die sexlos durchs urgeschichtliche Meer wabern und lange vor Darwin denken: könnt‘ langsam mal weitergehen, die Evolution…
Einzellige Lebewesen sind zur selbständigen Teilung fähig, da geht die Vermehrung ganz ohne Sex vonstatten. Diese ungeschlechtliche Fortpflanzung nennt man auch Schizogonie.
Vielzellige Lebewesen können sich ebenfalls ungeschlechtlich vermehren. Dazu gehören etwa die Süßwasserpolypen, winzige Nesseltiere, an denen Knospen wachsen, aus denen dann neue Nesseltiere entstehen.
Beobachtungen haben gezeigt, daß die ungeschlechtliche Vermehrung sich unbegrenzt fortsetzen kann, ohne daß irgendeine Form von Degeneration auftritt. 1
Mit diesem Kommentar möchte Beauvoir der naheliegenden Reaktion entgegenwirken, evolutionären Fortschritt per se mit Überlegenheit gleichzusetzen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung »primitiver« Organismen nutzt sich nicht ab, schadet nicht den Individuen oder ist irgendwie »schlechter« als geschlechtliche Fortpflanzung. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Denkkategorien »besser« und »schlechter« mal für eine Weile abzuschalten. Das Leben ist erstmal nur.
Unter dem Fachbegriff Parthenogenese (oder auch: Jungfernzeugung) fällt die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Dabei gehen etwaige Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen hervor. Die Parthenogenese ist bei manchen Pflanzen zu beobachten. Ebenso bei Blattläusen (die häufig über mehrere Generationen nur Weibchen hervorbringen), sowie gewissen Schnecken, Fischen, Schlangen und Eidechsen. Bestimmte Hormone sind es, die deren Eizellen vorgaukeln, sie seien befruchtet. Darauf folgt die Teilung und ein neuer Organismus entsteht – ohne, dass andersgeschlechtliche, befruchtende (von Menschen gemeinhin als »männlich« bezeichnete) Artgenossen dazu beigetragen hätten.
Es sind immer zahlreichere, immer kühnere Experimente mit Parthenogenese durchgeführt worden, und bei vielen Arten hat das Männchen sich als vollständig unnütz erwiesen. 2
Kommen wir zum nächsten Szenario: 2 Gameten verschmelzen miteinander. Gameten sind in einem Körper diejenigen Zellen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen – auch Geschlechtszellen genannt. Es gibt Algen, bei denen diese miteinander zu einem Ei verschmelzenden Gameten äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das nennt man Isogamie. Es zeigt, dass Gameten (die wir später »männlich«, »weiblich« differenzieren) grundsätzlich gleichwertig sind. Das schwache Geschlecht? Bis hierher: keine Spur.
Nun sind im Laufe der Evolution aus ursprünglich identischen Zellen voneinander zu unterscheidende hervorgegangen: Eizellen (Oozyten, auch »weibliche Geschlechtszellen« genannt) und Samenzellen (Spermatozyten, oder »männliche Geschlechtszellen«).
Doch Achtung! Hier leitet uns die Sprache bereits auf naheliegende Irrwege. Tatsache ist, dass es verschiedenartige Gameten gibt, aus deren Verschmelzung ein Ei entsteht. Diese verschiedenartigen Gameten jedoch unterschiedlichen Geschlechtern (»weiblich«, »männlich«) zuzuordnen, mutet etwas voreilig an. Beide Ausprägungen von Gameten, also sowohl Ei- als auch Samenzellen, können gemeinsam in ein- und demselben Lebewesen vorkommen. Das kennt man zum Beispiel von bestimmten Pflanzen oder auch Ringelwürmern. Wenn Individuen mehrere Arten von Geschlechtsausprägungen haben, die verschiedenartige Gameten hervorbringen (jene Eizellen und Samenzellen), dann sprechen wir von Zwittrigkeit.
Hermaphroditismus ist ein Fachbegriff für Zwittrigkeit, die sich aus der griechischen Mythologie ableitet – genauer: Aus Ovids Metamorphosen. Darin erzählt der Dichter die Geschichte vom gemeinsamen Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, nach seinen Eltern Hermaphroditos benannt. Dieser wurde eines Tages von einer Nymphe derart fest umarmt, dass ihre Körper miteinander verschmolzen. Fortan trug Hermaphroditos seine eigenen Geschlechtsmerkmale sowie die der Nymphe – auch, wenn er schlief, wie diese großartige Skulptur zeigt (sie geht auf eine Bronzeplastik aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurück):
Schlafender Hermaphrodit
Zwar kommt es beim Menschen vor, dass ein Körper unterschiedliche Geschlechtsmerkmale (etwa einen Penis und Brüste) offensichtlich ausprägt. Nicht jedoch, dass in einem Menschen verschiedenartige Gameten (also Ei- und Samenzellen) produziert werden. Deshalb spricht man bei Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen von »Pseudohermaphroditen« oder »unechten Zwittern«. »Pseudo« respektive »unecht« sind jedoch sehr wertende Begriffe, in denen eine Vorstellung von richtig und falsch mitschwingt, die nicht von der Natur, sondern von uns Menschen kommt. Wir sind es, die diese Ausprägung eines Körpers als »Störung« klassifizieren und behandeln.
Menschen, die solch unterschiedliche Geschlechtsmerkmale haben, empfinden solche Begriffe – verständlicherweise – als diskriminierend. Viele bevorzugen die Bezeichnung intersexuell. Und ja, intersexuelle Menschen können schwanger werden (siehe: Diskussion bei Quora), je nach dem, wie die jeweiligen Geschlechtsmerkmale ausprägt sind. Das ist Tatsache. Doch von der Möglichkeit zur Fortpflanzung auf einen »erfüllten Sinn« zu schließen, der eine etwaige Störung wettmacht, das ist wieder der Mensch. Die Natur ist irgendwie und wir Menschen deuten sie. Wie ein Kunstwerk. (Wobei wir bei einem Kunstwerk gerne mal hinnehmen, dass es einfach keinen Sinn macht.)
Was mit Sicherheit behauptet werden kann, ist, daß beide Fortpflanzungsmodi [Getrenntgeschlechtlichkeit und Zwittrigkeit] in der Natur nebeneinander vorkommen, daß einer wie der andere die Arterhaltung sichert und daß die Verschiedenartigkeit der gonadentragenden Organismen [Gonaden sind die Geschlechtsorgane, in denen die Ei- oder Samenzellen gebildet werden] ebenso wie die der Gameten akzidentell [also zufällig] scheint. Die Trennung der Individuen in Männchen und Weibchen stellt sich also als eine unreduzierbare und kontingente Tatsache dar. 3
Mit »kontingent« meint Simone de Beauvoir »beliebig« im Sinne einer möglichen aber nicht notwendigen Trennung. Zu Beginn ihres Buchs Das andere Geschlecht (1949) führt die Autorin beeindruckend vor Augen, wie namhafte Denker diese Trennung zwischen »männlich« und »weiblich« seit jeher entweder erklärungsfrei hingenommen oder logisch zu begründen versucht haben. Dabei schlägt sie den Bogen von der griechischen Antike (Platon, Aristoteles) vor rund 2500 Jahren über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit (Hegel) und ihre unmittelbare Gegenwart (Merleau-Ponty, Sartre).
Auch die Ansichten über die jeweiligen Rollen der Geschlechter beleuchtet Beauvoir im Wandel der Zeit. Angefangen mit frühgeschichtlichen Mythen bis hin zur ersten Beobachtung einer Samenzelle, die in die Eizelle eines Seesterns eindringt – im Jahr 1877. Damit war die Gleichwertigkeit dieser verschiedenartigen Geschlechtszellen, die zu einem Ei verschmolzen, eigentlich bewiesen. Und doch wurde das quirlige Verhalten der Spermien und die geruhsam wartende Eizelle vielfach von altklugen Köpfen interpretiert: Als Zeichen für männliche Aktivität und weibliche Passivität. Beauvoir erlaubt sich hier noch einmal einen Verweis auf die eingeschlechtliche Fortpflanzung (Parthogenese), bei der Eizellen durch bloße Einwirkung körpereigener Hormone beginnen, neues Leben hervorzubringen.
Es hat sich gezeigt, daß bei manchen Arten die Einwirkung einer Säure oder eine mechanische Reizung ausreichen kann, um die Eifurchung und die Entwicklung des Embryos auszulösen. Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes an der Fortpflanzung eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher Frauen. Nichts aber berechtigt zu einer so gewagten Vorwegnahme, denn nichts berechtigt zu einer Verallgemeinerung spezifischer Lebensprozesse. 4
Eine Verallgemeinerung wie die vom Verhalten unserer Geschlechtszellen auf die Verhaltensnormen unserer Geschlechtsrollen, wenn man sagt: »Eizellen sind passiv, also gehören Frauen an den Herd.« Beauvoir warnt überhaupt vor der Freude an Allegorien, während sie auf die genauen biologische Vorgänge bei der Befruchtung eingeht. (Und bevor sich jemand räuspert: ja, ich weiß, ich stelle in diesem Blog selbst eine unverhohlene Vorliebe für Allegorien zur Schau…). Im Moment der Zeugung, so die Quintessenz von Beauvoirs Ausführungen jedenfalls, stellt sich keines der Geschlechter als dem jeweils anderen überlegen dar. Aber ab wann gibt es das schwache Geschlecht denn dann?
Aus befruchteten Eiern gehen beim Menschen – wie bei den meisten Tieren – in etwa gleich viele Individuen zweier verschiedenartiger Geschlechter hervor, von uns »Männchen« und »Weibchen« genannt. Für beide vollzog sich die embryonale Entwicklung identisch, bis zu einem Reifestadium, da sich Hoden oder Eierstock zu bilden begannen. Bis zur neunten Woche hat ein Embryo einen sogenannten Genitalhöcker, aus dem sich Penis oder Vagina bilden. Was beim Penis größer wächst und zur Eichel wird, rutscht bei der Vagina weiter hoch und heißt Klitoris. Quasi das gleiche Ding, etwas anders positioniert. Etwaige Zwischenformen – wie eine zu große Klitoris oder ein zu kleiner Penis, wie sie die Natur manchmal hervorbringt – werden von uns als Störungen bezeichnet und zuweilen operativ angepasst.
Die Sexualtheorie zu Zeiten Beauvoirs ging bereits davon aus, dass das Einwirken bestimmter Hormone auf den Zellhaufen Mensch dazu führt, dass dieser Zellhaufen diese oder jene Geschlechtsmerkmale bekommt. Hormonelles Ungleichgewicht hat dabei Formen der oben beschriebenen Intersexualität zur Folge. Wie genau die Gewichtung zustande kommt? Der Titel von Beauvoirs erstem Kapitel sagt es schon: Schicksal.
Die Philosophin klettert im Folgenden die evolutionäre Stufenleiter des tierischen Lebens hinauf, mit Blick auf das schwache Geschlecht. Wir passieren Stechmücken, von denen das Männchen nach der Befruchtung stirbt, und Schmetterlinge, deren Weibchen nicht einmal Flügel haben, während Männchen mit Flügeln, Fühlern und Scheren ausgestattet sind, sowie allerlei anderes Getier.
Sehr häufig legt [das Männchen] bei der Befruchtung mehr Initiative an den Tag als das Weibchen: es sucht das Weibchen auf, greift es an, betastet es, packt es und zwingt ihm die Paarung auf; […]
Auch wenn das Weibchen provozierend oder willig ist, ist es in jedem Fall das Männchen, das es nimmt: es wird genommen. Das trifft oft buchstäblich zu: entweder weil das Männchen entsprechende Organe hat oder weil es stärker ist, packt es das Weibchen und hält es fest; ebenso vollführt es aktiv die Kopulationsbewegungen. Bei vielen Insekten, bei den Vögeln und den Säugetieren dringt es in das Weibchen ein. Dadurch erscheint das Weibchen als eine vergewaltigte Interiorität. 5
Zu dieser äußerlichen Fremdherrschaft kommt eine innere Entfremdung durch das befruchtete Ei, dass sich im Uterus festsetzt und zu einem anderen Organismus heranwächst. Simone de Beauvoir beleuchtet die vorwiegend belastenden Auswirkungen von Schwanger- und Mutterschaft, von Zyklus und Wechseljahren auf den weiblichen Körper und kommt zu dem Schluss:
[…] von allen weiblichen Säugern ist die Frau am tiefsten sich selbst entfremdet, und sie lehnt diese Entfremdung am heftigsten ab; bei keinem ist die Unterwerfung des Organismus unter die Fortpflanzungsfunktion unabwendbarer, und bei keinem wird sie mit größeren Schwierigkeiten angenommen. 6
Die in Beauvoirs Buch ausführlich beschriebenen Gegebenheiten des Körpers sind deshalb so wichtig, weil der Körper als »Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« maßgeblich ist. Trotzdem lehnt Beauvoir die Vorstellung ab, dass all die Belastungen für den weiblichen Körper mit einem festgelegten Schicksal einhergingen. Das bringt uns zu unserer Ausgangsfrage:
Gibt es das schwache Geschlecht?
Diese Frage stelle sich für die Frau nicht in derselben Weise, wie für andere Weibchen irgendwelcher Tierarten, die beobachtet und einigermaßen statisch beschrieben werden könnten. Denn, so betont Beauvoir: Menschen sind stetig im Werden begriffen, niemals fertige Wesen. Beauvoir schreibt in den späten 1940er Jahren:
Die Frau ist keine feststehende Realität, sondern ein Werden, und in ihrem Werden müßte man sie dem Mann gegenüberstellen, das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen: was so viele Diskussionen verfälscht, ist, daß man die Frau, wenn man die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt, auf das beschränken will, was sie gewesen ist, was sie heute ist. Tatsache ist doch, daß Fähigkeiten nur sichtbar werden, wenn sie verwirklicht worden sind. 7
Und eben, dass eine Untersuchung der Fähigkeiten niemals abgeschlossen wäre. Fähigkeiten, die beim Mensch nicht von körperlichen Gegebenheiten abhängig sind.
Beauvoir appelliert an den Kontext:
Schwäche zeigt sich als solche nur im Licht der Ziele, die der Mensch sich setzt, der Instrumente, über die er verfügt, und der Gesetze, die er sich auferlegt. […] Wo die Sitten Gewaltanwendung verbieten, kann die Muskelkraft keine Herrschaft begründen: existentielle, ökonomische und moralische Bezüge sind nötig, damit der Begriff Schwäche konkret definiert werden kann. 8
Diese Bezüge stellt Simone de Beauvoir her. In ihrem 900 Seiten umfassenden Werk Das andere Geschlecht nimmt sie die Kunst- und Kulturgeschichte unter die Lupe, die kindliche Entwicklung und Erziehung. Sie untersucht etablierte Argumente und Klischees und liefert damit eine Lektüre, die über Jahrzehnte Bestand hat und noch heute Antworten auf Fragen gibt, die manchmal eben nicht in einem 30-sekündigen Facebook-Video zu beantworten sind. Es sei denn, man heißt Frauke Petry. Das schwache Geschlecht? Abgenickt.
Ich habe nichts dagegen, dass Frauen weiterhin das schwache Geschlecht sind, weil wir objektiv anders sind als Männer.
Frauke Petry (Quelle)
»Das schwache Geschlecht« ist ein Mythos. Eine polemische Formel, die helfen soll, eine Autorität zu etablieren, wo es an Rechtfertigung für diese Autorität fehlt. »Objektiv anders« ist jeder Mensch von seinem Nächsten, »anders« mit »schwach« gleichzusetzen ist irgendwie absurd, für eine Partei, die sich selbst als »Alternative« (also: anders!) bezeichnet – und in dieser Absurdität schon wieder passend. Doch bevor ich mich dazu hinreißen lasse, hier auf den letzten Zeilen das Thema zu wechseln, überlasse ich die Kommentierung von Frauke »weiterhin das schwache Geschlecht« Petry dieser YouTuberin:
Das schwache Geschlecht spricht:
Der Beitrag Das schwache Geschlecht: Schicksal oder Mythos? | Bio mit Beauvoir erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag COCO CHANEL – DER BEGINN EINER LEIDENSCHAFT | Film 2009 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Hinweis: Aktuelle Streamingangebote zu Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft finden sich bei JustWatch.
Manche Leben sind zu groß für die Leinwand, oder vielmehr: für eine herkömmliche Filmlänge. Selten bietet es sich da an, solche Leben in ihrer Gesamtheit einzufangen, von der Kindheit bis zum Tod. Mit Amadeus (1984) über Wolfgang Amadeus Mozart ist es dem Regisseur Miloš Forman gelungen. Doch der exzentrische Komponist wurde auch nur 35 Jahre alt. Und der Director’s Cut dieser Filmbiografie dauert knapp dreieinhalb Stunden. Coco Chanel hingegen ist 87 Jahre alt gewesen, als sie 1971 altersschwach im Hotel Ritz starb, wo sie die letzten drei Jahrzehnte gewohnt hatte. Da verwundert es nicht, wenn sich ein weniger als zwei Stunden langer Film nur auf einen Lebensabschnitt seiner Heldin konzentriert. In diesem Fall also: der Beginn einer Leidenschaft.
Im selben Jahr wie Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft von Anne Fontaine erschien Jan Kounens Film Coco Chanel & Igor Stravinsky. Letzterer setzt inhaltlich ungefähr dort an, wo Ersterer aufhört. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um ein Sequel, sondern die eigenständige Adaption des gleichnamigen Romans von Chris Greenhalgh. Ich selbst habe den zweiten Film (mit Schauspieler Mads Mikkelsen als Stravinsky) noch nicht gesehen und überlasse mal der Bloggerin Andressa Lourenço (Miss Owl) eine kurze Stellungnahme:
Die beiden Filme ergänzen einander und erschaffen auf diese Weise erfolgreich ein Porträt von Chanel als Figur, die Generationen inspiriert hat – innerhalb und außerhalb der Mode. Nicht nur aufgrund ihres kritischen Blicks, sondern durch ihre Persönlichkeit: vieldeutig, ironisch, erfinderisch, ruhelos und stur. | Hier geht es zu Lourenços ausführlichem Vergleich der Filme (englisch)
Sonia hat sich ein Buch zugelegt, Good Night Stories for Rebel Girls: 100 außergewöhnliche Frauen. Als es mit der Post kam und wir durch die kunstvollen Illustrationen blätterten, die jede Kurz-Biografie darin begleiten, blieben wir an Coco hängen: »Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Kloster in Zentralfrankreich, umgeben von schwarzweiß gekleideten Nonnen…« – und gegenüber vom Text eine schwarzweiße, abstrakte Illustration von Karolin Schnoor, die eine elegante Coco zeigt, knallrote Lippen, mit ihrer Perlenkette spielend.
Kurzum: Die Doppelseite hat uns neugierig auf die Modeschöpferin gemacht. Und aus dieser spontanen Laune heraus haben wir uns noch am selben Abend den Film angeschaut.
Die Filmbiografie über Gabrielle Chanel (so zunächst ihr Name) beginnt 1893 mit einem Schwenk von der Puppe in den Händen eines Mädchen auf das Gesicht desselben. Es liegt mit seiner schlafenden Schwester auf der Ladefläche einer Kutsche, die sich einem großen, grauen Bau nähert. Durch die Holzlatten seitlich der Kutsche betrachtet das Mädchen, was für die nächsten Jahre sein Zuhause werden soll.
Die Kamera nimmt Gabrielles Point of View ein. Die Vorspanntitel werden schlicht aber kunstvoll zwischen den Holzlatten der Kutsche eingeblendet und weggewischt. Dazu ein zarter Piano-Score, ohne ein gesprochenes Wort. Auch nicht, als das Mädchen dem Kutscher einen letzten Blick zuwirft. Ein rauchender Mann, der sich nicht nochmal zu ihr umdreht. Das Mädchen wird von schwarzweiß gekleideten Nonnen in das Gebäude geführt.
Nach nur zwei sehr kurzen Szenen im Waisenhaus, die Gabrielle als melancholisches Kind zeigen, springt der Film 15 Jahre weiter. Nach Moulins in der Auvergne, 1908, wo sie im Grand Café mit ihrer Schwester als Sängerin arbeitet. Hier wird Gabrielle erstmals von der Schauspielerin Audrey Tautou gespielt. Sie bekommt den Spitznamen »Coco« und lernt Étienne Balsan kennen, einen Industriellensohn, der Cocos Eintrittskarte in die Welt der Schönen und Reichen ist.
Um einen Fuß in die Tür zu dieser Welt zu bekommen, bedarf es einiger Eigeninitiative seitens Coco. Und Beharrlichkeit, um in dieser Welt auch zu bleiben und mehr zu sein, als schmückendes Beiwerk.
Die Aufnahme in eine Biografie-Sammlung voller Rebellin erscheint sehr passend, wenn man diesen Film sieht: Audrey Tautou spielt Coco in geradezu bruchlos rebellischer Attitüde, sei es in ihren Umgangsformen, ihren Worten oder eben ihrer Mode. Letztere ist zwar immerzu präsent, an Cocos Körper und später auch an denen ihrer ersten Kundinnen, und auch Cocos Sinn fürs Modische begleitet subtil die Filmhandlung. Doch diese legt den Fokus doch deutlich auf Cocos Verhältnis zu den Männern. Zunächst ist da besagter Balsan, später noch dessen Freund Arthur »Boy« Capel.
Insbesondere Letzterer ermöglichte es Coco, mit ihrer Mode eine Geschäftstätigkeit zu starten und ein Atelier in Paris zu eröffnen. Wie sich das genau vollzieht, diese ersten Karriere-Schritte als Geschäftsfrau, das kommt in dem Film Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft für mein Empfinden zu kurz. Überhaupt ist Cocos »Leidenschaft« kaum zu spüren. Sie strebt konstant nach Unabhängigkeit, aber das hätte wohl auch auf anderem Wege geschehen können. Dass Coco für die Mode brannte, das stellt dieser Film jedenfalls nicht dar. Ich weiß zu wenig über die echte Coco Chanel und ihre Art, um beurteilen zu können, ob Audrey Tautous reserviertes Spiel die Persönlichkeit gut trifft.
Man kann diesen Aspekt des Biopics auch anders sehen, etwa durch die Augen des filmkundigen Roger Ebert:
Sie hatte einen visionären Sinn für die Mode, ja, aber wir bekommen das Gefühl, das davon nicht ihr Erfolg abhing. Sie arbeitete viel, behandelte Menschen auf realistische Weise, führte harte Verhandlungen und sah Mode als Job, nicht als Karriere oder Berufung. Dies zu unterstreichen, macht den Film umso fesselnder. Wir haben genug Filme über Heldinnen gesehen, die getragen wurden vom Schwung ihres gesegneten Schicksals. Das ist nicht, wie es läuft. | Filmkritiker Roger Ebert (aus dem Englischen übersetzt)
Dramaturgisch ist der Film eher flach geraten, unaufgeregt, kann man wohlwollend sagen. Er fühlt sich wie eine überlange Downton-Abbey-Folge an – aber: eine gute Folge. Vor allem Balsan (grandios gespielt von Benoît Poelvoorde) und Cocos Freundschaft zu diesem Mann bekommen in vielen, schönen Szenen eine bemerkenswerte Tiefe.
Schon während des Films, spät in der zweiten Hälfte, kam mit der Gedanke, wie man daraus wohl einen spannenden Trailer zusammen geschnitten hat? Danach habe ich mir den Trailer angesehen, nicht überrascht, dass größere Wendungen der Geschichte darin vorweggenommen werden. Zum Einstieg in den Trailer hat man sogar die letzte Einstellung des Films (!) gewählt. Das ist insofern ein Unding, als doch manch Zuschauer*in (schließe ich mal von mir auf andere) die Bilder aus dem Trailer wie Ankerpunkte im Hinterkopf hat, beim Betrachten des Filmes. Wenn dann eine der markantesten Aufnahmen bis zum Schluss auf sich warten lässt, verpufft dessen Wirkung in dem enttäuschten Aha-Effekt: schau an, da ist es ja… Ende.
Der Film zeigt Gabrielle Chanels Weg aus der Armut in die High Society, von der jungen Hut-Macherin zu ihrer ersten Catwalk-Show. Doch er schreckt davor zurück, die dunkle Episode ihres Lebens zu zeigen – ihre Affäre mit einem Nazi-Offizier im Pariser Ritz während der Besatzungszeit. Ebenso verfehlt der Film einen Einblick ins Chanels Versuch, die Gesetze gegen jüdisches Geschäftswesen zu nutzen, um der Wertheimer-Familie die Kontrolle über deren Parfüm-Herstellung zu entreißen. | Ben Leach (The Telegraph)
Einen mit 7 Minuten super-kurzweiligen Überblick von Coco Chanels Weg zur Stilikone inklusive dunklerer Seiten bietet dieses Video, durch das die Schauspielerin und Vloggerin Nilam Farooq führt:
Die Filmbiografie über die frühen Jahre der Modeschöpferin Coco Chanel ist ein wenig unbefriedigend. Zumindest mit der Erwartungshaltung, den Beginn einer Leidenschaft zu sehen. Denn Leidenschaft im Sinne einer ergreifenden Emotion, einer großen Begeisterung für etwas, das sprüht Audrey Tatou als Coco Chanel nicht aus. Doch vermutlich ist sie damit näher an der Wirklichkeit, als die Zuschauer*innen es gerne hätten. Was dieser Film bietet, ist ein hochwertig inszeniertes Biopic über eine rebellische Frau, die sich den Umgangsformen ihrer Zeit wirkungsvoll widersetzt. Kulissen, Kostüme und Schauspiel, all das ist erstklassig und machen Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft unterm Strich zu einem guten Film.
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]]>Der Beitrag Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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»Hip Hop has always been political, yes, it’s the reason why this music connects« rappt Macklemore in seinem Song White Privilege II, in dem er reflektiert, wie man sich als weißer Mensch zu der Bewegung Black Lives Matter verhalten soll/kann. Rund 50 Jahre vor ihm hat der Künstler Norman Rockwell mit seinem Gemälde The Problem We All Live With (1964) ähnliche Gedanken angeregt, zum selben Problem, das nach wie vor besteht: Rassismus. Ein anderes Problem, das haben die Guerrilla Girls im Jahr 1989 adressiert. Auf einem ausdrucksstarken Poster fragen sie: Do women have to be naked to get into the Met. Museum? Unter dem Schriftzug ist der Sexismus einer Kunstwelt, in der Frauen lieber als Objekte denn Subjekte gesehen werden, in Zahlen belegt. Zahlen, die sich kaum verändert haben, in den Jahren, in denen dieses Poster in neuer Auflage verbreitet wurde, 2005 und 2012.
Kunst ist immer schon politisch gewesen, ja, aber hat sie jemals die Welt verbessert?
Und jetzt: Ein weiteres Problem. Beim Staunen über das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor spüre ich einen Stein im Magen. Kann es das Debakel, das darin so bildgewaltig in Szene gesetzt wird, zum Besseren wenden? Oder vielmehr zur Wende beitragen? Bevor wir über das Problem sprechen, und über das Musikvideo zu Birthplace, dieses politische Kunstwerk von atemberaubender Wirkung, hier ein kurzer Blick hinter die Kulissen. Denn die Entstehungsgeschichte ist, wie so oft, nicht minder beeindruckend als das Werk selbst. Da Song und Musikvideo den Titel Birthplace tragen, fangen wir passender Weise mal ganz vorne an. Denn den wenigsten wird einer der wichtigsten Protagonisten dieser Geschichte bis dato bekannt sein: Wer ist Novo Amor?
Novo Amor ist der Künstlername eines Mannes, dessen birthplace man als Nicht-Waliser*in wohl kaum aussprechen kann. Llanidloes heißt sein Geburtsort – und der Mann mit bürgerlichem Namen: Ali John Meredith-Lacey. Als solcher ist er am 11. August 1991 zur Welt gekommen. Und als Novo Amor hat er 2012 – im Alter von 21 Jahren – erstmals eine Single mit 2 Tracks veröffentlicht: Drift. Seine erste EP mit 4 Tracks veröffentlichte er am 31. März 2014 mit dem norwegischen Label Brilliance Records. Woodgate, NY lautet der Titel der Platte, die von zahlreichen englischsprachigen Musikblogs besprochen und gefeiert wurde.
»Darin erklingt die sprießende Saat stilistischer Erfindungsgabe«, schreibt The 405 in fast ebenso erdiger, naturnaher Sprache, wie Novo Amor sie in seinen Songs verwendet. Er singt in Woodgate, NY von brennenden Betten und über die Ufer tretenden Seen, von exhumierter Liebe und gefrorenen Füßen. Mit den poetischen Lyrics und den erwartungsvollen Reviews, die großes Potential wittern, erreicht er bereits eine globale Hörerschaft.
Etymologie: Der Name Novo Amor leitet sich vom Lateinischen (novus amor) ab und bedeutet »Neue Liebe«. Nach eigenen Angaben durchlebte Ali Lacey im Jahr 2012 gerade eine Trennung, als er sich mit seinem Musikprojekt sozusagen einer neuen Liebe zuwendete.
Schon im Januar hatte Novo Amor eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem englischen Produzenten und Songwriter Ed Tullett (1993 geboren) begonnen. Nach dem Erfolg von Woodgate, NY brachten die beiden Musiker am 23. Juni 2014 ihre erste gemeinsame Single heraus: Faux. Schon zu diesem Song drehte der Regisseur Josh Bennett (Storm & Shelter) ein Musikvideo, hier zu sehen. Ein weiteres, frühes Musikvideo gibt es zu From Gold, ebenfalls aus dem Jahr 2014, hier zu sehen. Mittlerweile finden sich auf YouTube zahlreiche, bemerkenswert unterschiedliche, oft stark naturverbundene Musikvideos zu Songs von Novo Amor. Dass dessen Musik eine filmische Interpretation geradezu anregt, ist kein Zufall.
Ich schrieb den Song From Gold für einen Film, der von einem Freund von mir produziert wurde – und das Feedback war wirklich gut, also entschied ich, ein paar Tracks zu sammeln und als EP zu veröffentlichen. Filmmusik ist also quasi, wo meine Musik herkommt. Ich möchte Musik produzieren, die ein wirklich visuelles Element hat. Das fühlt sich für mich wie eine natürliche Evolution an. | Novo Amor im Interview mit Thomas Curry (The Line of Best Fit)
Nun wollte Novo Amor, der inzwischen ein Album veröffentlicht und ein weiteres in Arbeit hat, ein weiteres Musikvideo entstehen lassen – zu seinem Song Birthplace. Dazu wendete er sich an die Niederländer Sil van der Woerd (Regisseur) und Jorik Dozy (VFX-Artist), mit denen er 2017 bereits das Musikvideo zu Terraform (in Kollaboration mit Ed Tullett) umgesetzt hatte. Sil und Jorik setzten sich hin, um inspiriert von Novo Amors Birthplace eine Idee für ein Musikvideo niederzuschreiben. Hier kommt jenes Problem ins Spiel, dass die beiden niederländischen Filmemacher zu dieser Zeit beschäftigte: Das Problem mit unserem Plastikmüll in den Meeren.
Lasst uns mit ein paar Fakten starten. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastik werden in den Ozean gekippt – jedes Jahr. 1,3 Millionen Plastiktaschen werden auf der ganzen Welt benutzt – jede einzelne Minute. Die United States allein benutzen mehr als 500 Millionen Strohhalme – jeden einzelnen Tag. Und im Jahr 2050 wird mehr Plastik im Meer schwimmen, als Fische. Für all das sind wir verantwortlich. Du. Ich. Alle von uns. Als wir dabei waren, uns Wege zu überlegen, ein öffentliches Bewusstsein für diese globale Krise zu schaffen, sprach uns Novo Amor an, für ein neues Musikvideo. | aus: The Story Of Birthplace
Und so entstand eine symbolische Geschichte, über einen Mann, der auf einer perfekten Erde eintrifft und auf seine Nemesis stößt: unsere Vernachlässigung der Natur in Form von Meeresmüll.
Im Herzen unserer Idee stand unsere Vorstellung eines lebensgroßen Wales aus Müll – in Anlehnung an die biblische Geschichte von Jona und dem Wal, in der Jona vom Wal verschluckt wird und in dessen Bauch Reue empfindet und zu Gott betet. Es gibt zahlreiche Berichte über Tiere, die große Mengen Plastik schlucken und daran verenden – einschließlich Wale. Obwohl wir von einem Visual-Effects-Background kommen (also viel mit Computer-Effekten arbeiten), wollten wir, dass unser Wal echt ist, authentisch. | s.o.
Die Herausforderung bestand also darin, einen lebensgroßen Wal aus Müll zu bauen, der im Ozean schwimmen sollte. Die Erscheinung dieses Wales wurde dem Buckelwal nachempfunden, der bis zu 60 Meter lang und 36 Tonnen schwer werden kann.
Wir brachten unser Design des Wals in ein kleines Dorf im wundervollen Dschungel von Bali an den Hängen des Agung (ein Vulkan auf Bali). Hier arbeiteten wir mit den Dorfbewohnern an etwas zusammen, dass sich zu einem Gemeinschaftsprojekt entwickeln würde. Rund 25 Männer haben ihre Handwerkskunst im Umgang mit Bambus beigetragen, um den Wal zum Leben zu erwecken. Doch ebenso, wie die überwältigende Schönheit des Dschungels, haben wir hier die ersten Spuren des Antagonisten unserer Geschichte. | s.o.
Dem Müll, der überall in Bali zu finden ist – einem Urlaubsort, der vom Massentourismus und den Mülllawinen, die damit einhergehen, zu ersticken droht. 7 Gründe, nicht nach Bali zu reisen hat die Reisebloggerin Ute von Bravebird im April 2018 zusammengefasst.
Der Wal wurde zunächst in Form eines gewaltigen Skeletts aus Bambus gebaut. Dabei musste der Wal sogar die Location wechseln, weil er aus seinen ersten Werkstätten »herauswuchs«. Zusammengesetzt wurde das Skelett schließlich in der lokalen Stadthalle – wobei die Aktivitäten dort wie gewohnt weitergeführt wurden, Musikunterricht zum Beispiel. Wie die Fertigstellung des Wals vonstatten ging und er seinen Weg ins Meer fand, das dokumentiert dieses liebevoll erstellte Making-of zum Musikvideo in großartigen Bildern:
Der Mann, der dem Wal aus Müll schließlich im Meer begegnet, ist der britische Rekord-Free-Diver Michael Board. Er beherrscht dieselbe Kunst, wie die Free Diverin Julie Gautier, deren Kurzfilm AMA (2018) wir hier vor kurzem vorgestellt haben: Das lange und tiefe Tauchen ohne Atemmaske. Michael Board bezeichnet 2018 als sein bis dato erfolgreichstes Jahr, was das Tauchen im Wettbewerb angeht. Sein tiefster Tauchgang ging 108 Meter hinab ins Meer, 216 Meter, wenn man den Rückweg mit einrechnet – und das mit nur einem Atemzug.
Das Musikvideo war eine Herausforderung, weil es nicht die Art von Free Diving ist, die ich normalerweise mache. Im Free Diving geht’s eigentlich immer um Entspannung. (…) Normalerweise trägt man einen Flossen und einen Anzug, der vor der Kälte schützt. | Michael Bord in The Story Of Birthplace
Stattdessen trägt er in dem Video nur eine Jeans und ein Shirt. Mangels Tauchbrille war Michael Board bei den Dreharbeiten zudem praktisch blind und konnte den Wal nur sehr schwammig wahrnehmen – und nicht, wir wie als Publikum, in seiner ganzen bizarren Pracht. Hier ist das Musikvideo zu dem Song Birthplace von Novo Amor:
Es mutet seltsam an: Der Wal aus Müll hat etwas sehr Schönes an sich. Ich frage mich, ob diese Ästhetisierung des Problems von dem Schaden ablenkt, den der Müll anrichtet. Doch von der subversiven Kraft mal abgesehen: Künstlerisch ist das Musikvideo Birthplace zu dem Song von Novo Amor in jedem Fall ein starkes Statement und ein beeindruckendes Projekt.
Die Lyrics zu dem Song hat Novo Amor selbst unter dem Musikvideo gepostet. Hier der Versuch einer angemessenen, deutschen Übersetzung der poetisch vagen Sprache im Songtext:
Be it at your best, it’s still our nest,
unknown a better place.
// Gib dein Bestes, es ist noch immer unser Nest,
da wir keinen besseren Ort kennen.
Narrow your breath, from every guess
I’ve drawn my birthplace.
// Schmäler deinen Atem, mit jeder Vermutung
habe ich meinen Geburtsort gezeichnet.
[Refrain] Oh, I don’t need a friend.
I won’t let it in again.
// Oh, ich brauche keinen Freund.
Ich werde es nicht wieder hineinlassen.
Be at my best,
I fall, obsessed in all its memory.
/ Ich gebe mein Bestes,
falle, besessen von all den Erinnerungen.
Dove out to our death, to be undressed,
a love, in birth and reverie.
// Ich tauchte hinaus zu unserem Tode, um entblößt zu werden,
eine Liebe, in Geburt und Tagträumerei.
[Refrain]
Here, at my best, it’s all at rest,
‘cause I found a better place.
// Hier, in meiner Bestform, ist alles in Ruhe,
denn ich habe einen besseren Ort gefunden.
Der Beitrag Novo Amor, BIRTHPLACE und der Wal aus Müll | Musikvideo 2018 | Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag GHOSTLAND, Horror von Pascal Laugier, Set-Unfall | Film 2018 | Kritik, Spoiler erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Deadline Hollywood spricht von der Ironie, dass das Kinoplakat zum Film Ghostland das Gesicht einer jungen Frau wie von Scherben zerschmettert zeigt. Die Anklageschrift spricht von mangelnden Industriestandards und wirft der Produktionsfirma vor, die Schauspielerin Taylor Hickson in eine absehbar gefährliche Situation gebracht hat. Regisseur Pascal Laugier wird indes in dieser Anklageschrift nicht erwähnt, obwohl er bei dem Unfall eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint. Mehr dazu im Absatz »Set-Unfall mit Taylor Hickson«.
Zum Inhalt: Eine Mutter und ihre zwei Töchter beziehen das Haus einer verstorbenen Verwandten. Doch schon in der ersten Nacht werden sie in dem düsteren Anwesen von üblen Gewaltverbrechern attackiert, die das Leben der Frauen grundlegend verändern.
Hinweis: Dieser Text enthält Spoiler zu allen Filmen von Pascal Laugier, aber nur im Absatz »Misogynistischer Folter-Porno?«, bis dahin, schönes Lesen! Eine weitere Rezension zu Ghostland, mehr auf den Inhalt als auf den Kontext bezogen, habe ich für kinofilmwelt.de geschrieben.
Pascal Laugiers erster Film (Haus der Stimmen) handelte von einer jungen Frau, die sich in ein spukendes Waisenhaus zurückzieht, um in aller Heimlichkeit ihr Kind auf die Welt zu bringen. Laugiers zweiter Film (Martyrs) erzählte die Geschichte von zwei jungen Frauen, die im Rahmen eines Racheakts eine ganze Familie hinrichten, ehe sie selbst bluten müssen. Sein dritter Film (The Tall Man) handelte von einer jungen Frau in einer Stadt, in der Kinder von einem »großen Mann« entführt werden – ein sehr (eher: zu) wendungsreicher Wannabe-Polit-Thriller mit Horrorelementen.
Im vierten Film sind nun zwei Frauen (mal als Jugendliche, mal als Erwachsene, also vier Schauspielerinnen) der rohen Brutalität zweier Gewaltverbrecher ausgesetzt. Es verwundert nicht, dass Filmkritikerin Antje Wessels den Regisseur bei einem Interview im April 2018 also auf seine Wahl immerzu weiblicher Hauptfiguren angesprochen hat. Und er so:
Für mich sind Mädchen »das große Andere«. Sie sind alles, was ich niemals sein werde. Und ein paar Wochen auf einem Set zu verbringen und Schönheiten, ich meine, Gesichter zu filmen, die mich faszinieren – auch das ist für mich ein Grund, Filme zu machen. Vielleicht war ich in der Schule einer der von den Mädchen zurückgewiesenen Jungs – und ich mache Filme, um geübt darin zu werden, ihnen zu gefallen. Um ihnen zu zeigen, dass ich selbst ein liebenswerter Typ bin.
Pascal Laugier im YouTube-Interview mit Filmkritikerin Antje Wessels
Ich persönlich finde, der heute 46-jährige Pascal Laugier hat sich nicht das beste Genre ausgesucht, um den »girls« zu gefallen. Aber hey, wo die Liebe hinfällt… und dass seine Liebe dem Horror-Genre gilt, das hat der Mann ja nun auf vierfache, sehr unterschiedliche Weise in Spielfilmlänge unter Beweis gestellt. Dabei ist sein Œuvre von solch wechselhafter Qualität, dass ich dem Herrn Laugier aktuell keine Träne nachweinen täte, wenn er sich vom Regiestuhl wieder aufs heimische Sofa begäbe.
In einem Abgesang über den »Retro-Wahn des Gegenwartskinos« schreibt Georg Sesslen (DIE ZEIT, N° 31, 26. Juli 2018) anlässlich des Remake von Papillon über ein »System der Selbstreferenz«.
Die Filme beziehen sich nicht mehr auf eine Art von äußerer Wirklichkeit, sondern auf andere Filme und andere Ereignisse innerhalb der Popkultur. Das heißt natürlich nicht, dass sie sich nicht auf das Leben ihrer Konsumenten beziehen würden, dann das besteht ja in der Regel zur Hälfte aus Popkultur-Konsum.
Dabei habe ich (nach kurzer Empörung: Wie herablassend schreibt dieser Typ bitte über mein Leben!?) an Ghostland denken müssen. Wie viele Zeilen, Szenen, Kulissen, Ideen, ja ganze Versatzstücke dieses Films sind (bewusst oder unbewusst) nicht Referenzen an etwaige namhafte Vertreter*innen der Horror-Genres? Tobe Hooper und Rob Zombie als nur prominenteste Beispiele.
Noch vor dem ersten Bild serviert Ghostland bereits die erste Referenz in aller Deutlichkeit, eine, die sich durch den gesamten Film zieht. Der Streifen fängt mit einem Zitat an.
Zu Beginn des Films Ghostland sehen wir einen Schwarzweiß-Porträt des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft (1890-1937). Darunter – in Schreibmaschinen-Lettern getippt, erscheint die Zeile:
Freakin‘ awesome horror writer. The best. By far. | Elizabeth Keller
Wie aus der Zeit gefallen: Ein schwarz gekleideter Junge mit einem Hut rennt über einen Acker. Hin zu einer Straße, auf der gerade ein Wagen vorbeifährt. Mitten auf der Straße bleibt der Junge stehen und schaut dem Wagen nach. Aus dem Wagen, von der Rückbank aus, begegnet ein Mädchen (Taylor Hickson) seinem Blick. Ihre Schwester (Emilia Jones), auf dem Beifahrersitz, liest derweil eine selbst geschriebene Grusel-Geschichte vor. Anschließend wird sie von ihrer Mutter, am Steuer, für die Geschichte gefeiert und von ihrer Schwester beleidigt. Typisches Familiengezanke also, bis sich ein wild hupender Candy Truck von hinten nähert und den Wagen überholt.
Im Truck sieht man nur zwei dunkle Silhouetten, die den irritierten Frauen zuwinken. Spooky shit. Dann zieht der Wagen vorbei und der Titel erscheint: Incident in a Ghostland (der etwas längere, alternative Titel des Films)
An einer Tanke kauft die schriftstellerisch ambitionierte Tochter etwas zu knabbern. Draußen fährt jener Candy Truck vorbei, gruselig langsam, das Licht in der Tanke flackert, als hätte der Sicherungskasten Angst bekommen. Besagte Tochter wirft einen Blick auf die Titelseite einer Zeitung, die da rumliegt: »Familien-Killer schlagen zum fünften Mal zu!« (wenn man später erlebt, wie auffällig und unvorsichtig diese Killer unterwegs sind… dann muss man sich schon sehr wundern: Wie genau hat die Polizei denn bisher versucht, sie aufzuhalten?)
All die üblen Vorzeichen führen rascher als gedacht zur Konfrontation zwischen den Familien-Killern und der Familie. Dabei geht es brutal zur Sache. Die Gewalt-Eskalation zum Auftakt des Films ist derartig heftig in Szene gesetzt, dass sich schon hier die Spreu vom Weizen trennen wird: die Zuschauer*innen, die solche Filme lieber meiden, und diejenigen, die bleiben. Letztere bekommen einen Film zu sehen, der handwerklich sehr gut gemacht ist. Vieles, was an Pascal Laugiers vorausgegangenem Werk The Tall Man mies war (die Computer-Effekte, die unglaubwürdigen Twists, die politische Message) fallen weg. Stattdessen: Absolut solides Genre-Kino, dass zur Entspannung zwischen den Gewalt-Exzessen gekonnt Zeit- und Wirklichkeits-Ebenen wechselt. Samt Cameo-Auftritt von H. P. Lovecraft.
Die Kritik zum Film fällt sehr gemischt aus (siehe: englischer Wikipedia-Beitrag). Manch Filmrezensent*innen schlagen mit ihrem Lob ein bisschen über die Stränge. So schreibt Simon Abrams (The Village Voice):
[Ghostland] ist eine verstörende, effektvolle Kritik an misogynistischen Folter-Pornos. […] Der Film mag zuweilen daherkommen wir ein blutrünstiger Slasher-Klon, aber Laugiers gefolterte Mädchen erweisen sich immer wieder stärker als ihre brutal entstellten Körper.
In Haus der Stimmen stirbt die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen im Arm. Im Laufe von Martyrs schlitzt sich die eine Hauptfigur selbst auf, die andere wird gehäutet – und stirbt elendig. Am Ende von The Tall Man wird die weibliche Hauptfigur auf Lebenszeit weggesperrt, nachdem man ihr die Scherben aus dem Gesicht gepickt hat. In Ghostland, das stimmt, da überleben die beiden Mädchen die schier endlosen Gewalt-Attacken in den vorausgegangenen anderthalb Stunden.
Man kann nicht behaupten, ein Film sei nicht misogynistisch oder gar feministisch, nur weil die weiblichen Protagonistinnen am Ende irgendwie mit dem Leben davon kommen. Ghostland ist ein Folter-Porno, der Misogynisten gefallen wird. Ebenso, wie Der Soldat James Ryan kein Antikriegsfilm, sondern ein Kriegsfilm ist, der all denen gefällt, die Lust auf Kriegs-Action haben.
[Die Gewalt] dient als Mittel zum Zweck, um Zuschauer*innen daran zu erinnern, dass Traumata die menschliche Psyche schädigen können. Doch darüber hinaus scheint Ghostland nichts zu sagen zu haben. Der Mittel zum Zweck führt zu keinem tieferen Sinn oder einer größeren Idee, so dass die Unmenschlichkeit sich wirklich lohnt. Die Story ist zu hauchdünn, um zu rechtfertigen, was ihre Charaktere durchleben müssen. Dadurch wirkt die Gewalt als Ziel gesetzt und misogynistisch.
Day Ebaben (BloodyDisgusting), aus dem Englischen übersetzt
Pascal Laugier wurde am 16. Oktober 1971 geboren. Er begann seine Karriere als Assistent des Regisseurs und Filmproduzenten Christophe Gans (Silent Hill, Die Schöne und das Biest). So drehte Laugier zu dessen Pakt der Wölfe (2001) mit Vincent Cassel eine Making-of-Dokumentation (und er trat selbst in dem Film auf).
Später schrieb und inszenierte Pascal Laugier nach seinem Debüt Haus der Stimmen (2004) den Horror-Schocker Martyrs (2008), seit dem er dem New French Extremism zugeordnet wird. Das Gewalt-Spektakel brachte dem Regisseur einige Kontakte in Hollywood ein, wo er nach eigenen Aussagen, »drei oder vier verschiedene Projekte« unterzeichnete. Eines davon war ein Remake zu dem Horror-Klassiker Hellraiser (1987), von dem er jedoch wieder zurücktrat (oder zurückgetreten wurde). Hier ist Laugiers Sicht der Dinge:
Ich hatte das Gefühl, dass die Produzenten hinter dem neuen Hellraiser keinen wirklich seriösen Film machen wollten. Nun, für mich wäre ein neuer Hellraiser vor allem ein Film über die SadoMaso-Schwulen-Kultur, weil es von einem homosexuellen Begehren herrührt – und Hellraiser handelt von solchen Dingen. Ich wollte nicht die ursprüngliche Version von Clive Barker [Hellraiser-Schöpfer] betrügen.
Pascal Laugier im Interview mit Ambush Bug (AICN)
Die Produzenten hingegen seien eher an einem kommerziell erfolgreichen Remake für Teenager*innen als Zielgruppe interessiert gewesen. Statt eines Hellraiser-Remakes drehte Laugier stattdessen den Mystery-Thriller The Tall Man (2012). Im Jahr 2015 inszenierte außerdem er das Musikvideo zu City Of Love über gefallene (gruselig ausschauende) Engel und die Faszination für den menschlichen Körper. Die französische Popsängerin und Schauspielerin Mylène Farmer, die City Of Love sang, übernahm 6 Jahre nach Pascal Laugiers letztem Spielfilm die Rolle der Mutter in Ghostland. (Die lange Dauer zwischen seinen Projekten schreibt er Finanzierungsschwierigkeiten zu.)
Nun ist für einen Star für Mylène Farmer dieser Film nur eines von vielen Werken in einer langen Karriere. Für die meisten Cast- und Crew-Mitglieder*innen und Zuschauer*innen wird Ghostlandnur ein weiterer Horror-Film sein. Einer, der manchen mehr, manchen weniger gefällt, aber kaum das Zeug hat, lange von sich reden zu machen.
Allein für Schauspielerin Taylor Hickson stellt dieser Film eine Zäsur dar. Ein Schnitt, der ihr Leben in ein »Davor« und »Danach« unterteilt. Grund ist eine Szene, in der Hickson gegen eine Glastür hämmern sollte, härter, wie es der Regisseur Pascal Laugier wollte, so hart, bis das Glas brach und die junge Frau hindurch fiel. Dabei schlitzte eine Scherbe ihr Gesicht so sehr auf, dass Taylor Hickson mit 70 Stichen genäht werden musste. Die Narbe wird die Schauspielerin für den Rest ihres Lebens im Gesicht tragen. Zitat des Regisseurs:
Manchmal war ich der Bösewicht am Set. Die Crew verhielt sich sehr beschützend gegenüber den Schauspielerinnen und ich musste sie davon abhalten. Ich wollte, dass sich die Schauspielerinnen einsam und sozusagen miserabel fühlen – damit sie fähig waren, das darzustellen, was das Skript abverlangte. Also, yeah, hin und wieder fühlte ich mich wie der Bösewicht, aber die einzige Sache, woran ich dabei dachte, war der finale Film.
Pascal Laugier im Interview mit Darren Rae (Review Graveyard), 17. März 2009
Dieses Zitat bezieht sich gar nicht auf Ghostland. Sondern auf Martyrs, dem anderen Gewalt-Schocker, den Laugier 10 Jahre zuvor gedreht hat. Als die Schauspielerinnen aus dem Film damals, Morjana Alaoui und Mylène Jampanoï, ein Interview gaben, kam dieser Gesprächsfetzen zustande (aus dem Englischen übersetzt):
Rob Carnevale (Indie London): Pascal scheint ein wirklicher netter, sanfter Typ zu sein… wie war er als Regisseur? MJ: Das ist nicht wahr… MA: Er hat eine sehr sanfte Seite und eine sehr gewaltsame Seite. Er hätte diesen Film nicht gemacht, wenn es diese gewaltsame Seite nicht gäbe. Und ich denke, dass er eine sehr gewaltsame Haltung gegenüber der Welt hat. RC: Würdet ihr wieder mit ihm arbeiten? MJ: Niemals! [Lacht.] MA: Ich ebenfalls nicht. MJ: Kann ich noch sagen, dass wir uns zwar darüber beschwert haben, aber das wir trotzdem eine exzellente Zeit dort hatten? Und auf professioneller Ebene, als Schauspielerinnen, haben wir viel über uns gelernt.
Horrorfilme sind heute, was öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter waren: Ein Spektakel für Menschen, die von Gewalt fasziniert sieht (mich eingeschlossen). Und so wie Henker*innen damals sicher eine »gewaltsame Seite« hatten, haben sie heute Filmemacher*innen. Indem sie ihre Gewaltfantasien inszenieren und damit die Gewaltfantasien etlicher Anderer bedienen, schaffen sie ein Ventil für sadistischen Voyeurismus. Oder sie fördern ihn damit nur, so kann man es auch sehen. Ich persönliche gehöre eher der ersteren Meinung an. Doch mir graut es bei einem Regisseur, der sein filmisches Ergebnis höher wertet, als das Wohlbefinden aller Beteiligten.
Erst recht, wenn die Story derart dünn ist. Auch die Charaktere des Films bleiben substanzlos. Bloße Täter-/Opfer-Schablonen, wie man sie aus x-beliebigen Horrorfilmen kennt, die man sieht und wieder vergisst. Da warte ich doch lieber auf das nächste Werk des Meisters popkultureller Referenzen, zuweilen gar mit Wirklichkeitsbezug: Quentin Tarantino. Dessen nächster Streich soll vom mörderischen Treiben der Manson-Familie handeln.
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Hinweis: Liebe Leser*innen, über Good Will Hunting und alle Themen, die mit dem Film und allen Beteiligten einhergehen, könnte man ein Buch schreiben. Im Folgenden gehe ich nur auf eine kleine Auswahl an Namen und Themen ein. Spoiler voraus!, wohlgemerkt. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie immer via JustWatch.
Inhalt: Besagter fiktive geniale Typ namens Will verbringt seine Tage als Bauarbeiter oder Hausmeister, seine Abende mit Kumpels in Kneipen – und nachts liest er Lehrbücher von Historikern wie Howard Zinn oder andere akademische Schinken. Schließlich wird ein Professor auf das verkappte Genie aufmerksam und will sich seiner annehmen. Einzige Bedingung: Will muss sich auf eine Therapie einlassen.
Jene junge Männer hatten eine Stolperfalle in ihr Drehbuch eingebaut, ehe sie es irgendwelchen Filmproduzent*innen gaben. Bei der Falle handelte es sich um eine völlig zusammenhangslose homoerotische Liebesszene zwischen Will und seinem besten Freund. Wer diese Szene nicht bemerkte, war reingetappt: Diese Person hatte das Skript offenbar nicht gelesen. Die beiden Drehbuchautoren, das waren die inzwischen weltbekannten Schauspieler Ben Affleck und Matt Damon (Der Marsianer). Nur ein einziger Produzent sprach sie auf die Liebesszene an – also setzten sie das Projekt mit diesem Produzenten um. Ausgerechnet Harvey Weinstein.
Um die Zeit, zu der Good Will Hunting herauskam, im Jahr 1997, da soll Harvey Weinstein unter anderem Asia Argento, Rose McGowan und Ashley Judd (einst für die Rolle von Minnie Driver in Good Will Hunting im Gespräch) belästigt haben – um nur drei der prominentesten Frauen aus einer langen Liste von Namen zu nennen, die gegen Weinstein ihr Wort erhoben haben. Aus dem aktuellen Heist-Movie Ocean’s 8 wurde der Cameo von Matt Damon herausgeschnitten, man munkelt, der Grund sei eine Unterschriftensammlung gegen ihn, nachdem er einen relativierend Kommentar bezüglich sexueller Belästigung abgelassen hat. Im Kern: ein Tätscheln auf den Po und eine Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch seien nicht dasselbe und man dürfe nicht überreagieren mit den Verurteilungen.
Tatsächlich kann dem Schnitt eine andere, künstlerische Entscheidung zugrunde liegen – doch die Debatte um Damons Kommentar ist nicht wegzureden. Mit am lautstärksten hat darauf Minnie Driver reagiert, die Matt Damon schon aus Zeiten von Good Will Hunting kennt, in dem sie die einzige relevante Frauenrolle spielte.
Ich merke, dass die meisten Männer – gute Männer, Männer, die ich liebe – dass deren Fähigkeit begrenzt ist, es zu verstehen. Sie können einfach nicht verstehen, wie sich Beleidigung und Missbrauch auf einem täglichen Level anfühlen. […] Du kannst Frauen nicht einfach etwas über den von ihnen erlebten Missbrauch erzählen. Ein Mann kann das nicht tun, niemand kann das. Es ist so individuell und persönlich […]
So individuell wie der körperliche Missbrauch, der dem verschlossenen Protagonisten Will Hunting widerfahren ist – in diesem Film, der thematisch zur MeToo-Debatte durchaus einen gewissen Bezug hat. Tatsächlich sollte man Matt Damons Bemerkungen nicht vorschnell aus dem Kontext seines ganzen Lebens reißen, das sowohl On- also auch Off-Screen stark von feministischem Engagement geprägt ist. Mehr darüber kann man in einem ausführlichen Porträt von Matt Damon auf Bitch Flicks nachlesen (englisch). Darin schreibt die Autorin Lady T auch über besagte einzige relevante Frauenrolle:
Skylar, gespielt von Minnie Driver, ist eine der am besten ausgearbeiteten supporting characters, die ich in Filmen gesehen habe. Weil sie ein supporting character ist, dient sich – bei Definition – dazu, Will’s Entwicklung im Film mit voranzutreiben. Trotzdem ist sie ein voll ausgestalteter Mensch. Abseits vom obligatorischen »Girlfriend«-Archetypen, der nur im Film ist, um dem weiblichen Publikum eine Identifikationsfigur zu bieten. […] Während ein Großteil der Wirkung von Skylars Charakter in der Performance von Minnie Driver liegt, muss man Damon und Affleck etwas Anerkennung dafür zollen, dass sie eine Frau mit Hintergrundgeschichte geschrieben haben. Mit einer größeren Ambition als bloß: »Hey, da muss ein Mädchen im Film sein.«
Lesetipp: Anlässlich seines 20. Jubiläums hat die TV-Journalistin und Filmproduzentin Ivana Imoli im Dezember 2017 einen lesenswerten Artikel über den Film Good Will Hunting geschrieben.
Zuletzt: Auch Ben Affleck (der Will Huntings besten Freund Chuck spielt) ist derweil beschuldigt worden, Fehlverhalten gegenüber Frauen an den Tag gelegt zu haben. Hier ist seine reumütige, rücksichtsvolle Antwort darauf, im Gespräch mit Stephen Colbert (ab Minute 02:30 geht es um Harvey Weinstein und die MeToo-Debatte).
Good Will Hunting war einer der Filme, der wie Forrest Gump (1994), Gilpert Grape – Irgendwo in Iowa (1993) und Titanic (1997) mit als erster in meine Wahrnehmung als »richtige Filme mit Erwachsenen und für Erwachsene« rückte und von meiner Mutter als »super« eingestuft wurde. Das war nach meiner Disney-geprägten Kindheit. Und bevor ich mit dem systematischen DVD-Sammeln und Kultfilm-Suchten anfing. Kultfilme, die »cooler« waren als Good Will Hunting, was in ein paar meiner Jugendjahre leider synonym war mit: gewalttätiger. Bevor ich Good Will Hunting das erste Mal sah, war ich im Übrigen der Meinung, der Titel lasse sich übersetzen mit der »Jagd nach dem guten Willen«.
Good Will Hunting beginnt nach einem Schlaue-Bücher-im-Kaleidoskop-Vorspann mit einer kurzen Szene von Will Hunting (Matt Damon) beim Speedreading in seiner heruntergekommenen Bude. Er blättert durch die schlauen Bücher durch, als seien es Fotobände, kleiner Hinweis auf sein fotografisches Gedächtnis. Dann rollt eine rostige Karre vor seine Haustür in eher ärmlicher Nachbarschaft. Ein Typ im Jogging (Ben Affleck) steigt aus. Wills Kumpel, der ihn von zu Hause abholt – dieses Ritual soll noch eine wichtige Rolle im Film einnehmen, in symbolischer und dramaturgischer Hinsicht.
Lesetipp: 14 verrückte Fakten über Good Will Hunting (von Mental Floss)
Mit jedem Mal Sehen gewinne ich dem Film neue kleine Entdeckungen ab und mag ihn dafür sehr. Jüngst etwas sensibilisiert für feministische Sichtweisen, war ich bei der jüngsten Sichtung arg erschrocken darüber, wie wenige Frauen darin vorkommen. Good Will Hunting mag krasse Mathe-Aufgaben packen, aber er rasselt mit Karacho durch den Bechdel-Test, in allen Punkten, angefangen damit, dass nicht einmal drei Frauenfiguren mit Namen darin vorkommen. Überrascht war ich, dass der Film in feministischen Reviews erstaunlich gut abschneidet. So schreibt Ashley Woodvine:
Es klingt kindisch, aber Good Will Hunting hat mich gelehrt, tiefe Gefühle für einen Film zu entwickeln, der ausschließlich von männlichen Problemen handelt. Es ist nicht ungewöhnlich für mich, dass ich Filme über Männer mag (wie könnte man auch nicht, wenn 90 Prozent der Filme von Männern handeln), aber ich erwische mich oft bei dem Gedanken »das hier wäre besser, wenn es über Frauen wäre« […] – jedenfalls bin ich froh, dass Good Will Hunting ein Film über Männer ist. Wieso? […]
Good Will Hunting zeigt eine Männerfreundschaft auf eine Art und Weise, die sich nicht um Sexismus gegenüber Frauen dreht. Der Film vermeidet solche Stereotypen rund um junge Männer der Arbeiterschicht – und fordert sie dadurch heraus. Vor allem aber ist Good Will Hunting eine fantastische Kritik an der Idee von ultimativem männlichen Erfolg und dem »Streben nach Größerem«. | Ashley Woodvine (Screen Queens)
Gleichzeitig finden Männer-Portale, die ihre maskuline Vormachtstellung in Gefahr sehen, »powerful ideas« in diesem Film (»Wird alle brauchen einen Mentor, der uns bei der Seelenarbeit auf dem Weg zur Reife assistiert« … geht auch Mentorin? Wohl eher nicht.) Der Blogger Luke O’Neil schreibt indes als Mann einen feministisch-kritischen Artikel, während die Bloggerin astriaicow (unter Berücksichtigung anderer Artikel eher anti-feministisch eingestellt) einen ganz anderen Aspekt an dem Film kritisiert, als das Männer/Frauen-Verhältnis: die Fehldarstellung des Genies.
Mit Hinweis auf ihren chinesischen Hintergrund (China, »wo Anstrengung und harte Arbeit von hoher gesellschaftlicher Bedeutung sind«) schreibt sie:
Der Film scheint sagen zu wollen, dass jemand, der ein Thema nicht tiefgreifend erarbeiten will, der es einfach als Hobby nebenbei macht, einfach so komplexe mathematische Beweise erbringen kann. Als ginge es um Brettspiele für Kinder. Es stimmt, dass es Genies gibt, die kein formales Training zu einem bestimmten Thema brauchen (formal im Sinne beständig geschult) und gewisse Dinge besser verstehen, als die meisten Menschen. Doch es gibt kein Genie, dass Dinge einfach am Rande als Hobby macht und trotzdem Leute aussticht, die ihr ganzes Leben diesen Dingen verschrieben haben. Selbst [der berühmte Mathematik-Autodidakt] Ramanujan, der in diesem Film erwähnt wird, hat sich in Mathematik abgeschuftet. Er ging nicht einfach zu seinem Alltags-Job und nächtlichen Partys und kam dann heim, boom!, um komplexe Probleme zu lösen. Diese Menschen widmen ihr Leben einem Thema, ob im Rahmen beständigen Unterrichts oder auch nicht. DAS IST, was den Unterschied macht.
Good Will Hunting legt den Fokus, wie viele amerikanische Filme, allzu sehr auf Talent und nicht auf die Anstrengung. Das macht ihn unglaubwürdig und setzt Genies […] herab.
Good Will Hunting ist ein Film, der versucht, Genies auf das Level normaler Leute abzusetzen. Damit normale Leute sich wohler damit fühlen können, keine Genies zu sein. Die Wirklichkeit funktioniert so nicht, Leute! Genies mögen kein perfektes Leben haben, aber sie entzünden ein Leuchtfeuer für uns Normalos, um aus der Dunkelheit unserer simpel gestrickten Gedankenwelten zu tappen. DAS IST ES, was sie zu etwas Besonderem macht. Aber Good Will Hunting will dich in dem Glauben lassen, dass dieses Leuchtfeuer nichts weiter als eine Taschenlampe ist – und die Dunkelheit das, wo’s am sichersten ist. | astriaicow, in: Why Good Will Hunting is a bad movie, hier im Original nachzulesen (englisch)
Ich denke, selbst mit aller Kritik im Hinterkopf, kann man Filme wie Good Will Hunting noch mit Gewinn sehen. Bestenfalls entdeckt man darin einmal mehr neue Facetten. Dramaturgisch ist der Film absolut gewöhnlich, aber gut gemacht. Und er lässt sein Publikum (na ja… uns normale Nicht-Genies halt, als die wir entlarvt wurden…) mit einem Gefühl angenehmer Genugtung zurück. Zu erwähnen ist auch noch die Performance von Robin Williams. Der hat mit Charisma und Improvisation diesen Film bereichert und damit seinen ersten und einzigen Oscar gewonnen – für seine Rolle als Will Huntings Therapeut.
Zuletzt habe ich Good Will Hunting zufällig mit einem studierten Psychologen und Therapeuten gesehen. Der hat die Therapiestunden in Good Will Hunting mit einem milden Lächeln als »na ja, sehr unkonventionell halt« kommentiert. Sie seien allenfalls durch ihren Erfolg gerechtfertigt. Szenen wie der körperliche Übergriff des Therapeuten, der Will einmal wortwörtlich an die Kehle srpingt, zeugten zumindest nicht von Professionalität.
Zu guter Letzt, wie man aus Good Will Hunting einen Trailer für einen völlig anderen, aber irgendwie auch ziemlich coolen Film schnipseln kann, zeigt dieser grandiose Fake Trailer:
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