Der Beitrag MY BEST FRIEND’S BIRTHDAY von Quentin Tarantino | Film 1987 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Bevor Tarantino sich 1992 auf dem Sundance Film Festival mit seinem mäßig budgetierten, aber professionell produzierten offiziellen Erstlingswerk Reservoir Dogs einen Namen machte, drehte er My Best Friend’s Birthday. Zusammen mit Freunden aus der Videothek, in der er arbeitete. Und aus dem Schauspielunterricht, den er besuchte, noch auf Amateurbasis. Genau genommen handelt es sich dabei auch nicht um Tarantinos erstes Spielfilmprojekt.
Bereits 1983 – im Alter von 20 Jahren – arbeitete Tarantino mit Scott McGill an Love Birds in Bondage. Das war eine schwarzen Komödie über ein Mädchen, das durch einen Autounfall einen Hirnschaden erleidet. Infolge unberechenbarer Stimmung-Schwankungen wird sie in eine Anstalt eingewiesen. Dicht gefolgt von ihrem devoten Freund, der sich aus freiem Willen einweisen lässt, um dem Mädchen nah zu sein.
Neben seiner Beteiligung an Buch und Regie wollte Tarantino sich schon in diesem Film als Schauspieler beweisen. Stattdessen wurde das Filmprojekt aufgegeben und das bereits abgedrehte Material vernichtet. Ob von Scott McGill selbst oder von dessen Mutter, wer weiß das schon?
Zurück ins Jahr 1987: Tarantinos Kumpel Scott McGill begeht Selbstmord. Seine Gründe bleiben im Dunkeln. Rückblickend wirkt es makaber, dass My Best Friend’s Birthday damit beginnt, dass Tarantino ausgerechnet Späße über Suizid macht. Der Film in diesem Jahr wird vor einem kleinen Publikum uraufgeführt. Zumindest das, was nach einem Laborbrand von dem bereits abgedrehten Film übrig geblieben ist. 36 von ehemals 70 Minuten. Dieser unvollendete Streifen wurde inzwischen auf etlichen Filmfestivals gezeigt. Er weist schon eindeutig die Markenzeichen Tarantinos auf, obwohl die ursprüngliche Idee zum Film von Craig Hamann kam.
Bereits 1984 begann Hamann, der wie Tarantino den Schauspielunterricht von Allen Garfield besuchte, ein teils autobiografisches Drehbuch zu verfassen. Dieses baute Tarantino später als Co-Autor auf 80 Seiten aus. Damit waren die Startvoraussetzungen gegeben. Mit einem Budget von 5.000 US-Dollar begannen 1985 die Dreharbeiten unter der Regie des 22-jährigen Tarantino. Zu der Zeit arbeitete er hauptberuflich in der Videothek „Video Archives“ in Manhattan Beach. So viel zur Entstehungsgeschichte von My Best Friend’s Birthday – man sollte sie bei der Betrachtung des Films im Hinterkopf behalten. Worum es geht, lässt der Titel schon erahnen.
Weil Mickey (Craig Hamann) an seinem Geburtstag von seiner Freundin (Linda Kaye) verlassen wird, versucht sein bester Kumpel Clarence (Quentin Tarantino), den Geburtstag irgendwie zu retten. Er sucht nach dem perfekten Geschenk. Klingt nicht nach den Geschichten, mit denen Tarantino die jüngere Filmgeschichte bereichert hat – und in der Tat handelt es sich bei diesem halbfertigen Werk praktisch um seine einzige, waschechte Komödie (mal abgesehen von seiner Episode in Four Rooms). Tarantino selbst nannte den Film »a Martin and Lewis kind of thing« und »amateurish, and not in a charming way« – eine lobenswerte Selbstkritik und nicht ganz unangebracht.
My Best Friend’s Birthday ist eben ein Amateurfilm, den Tarantino gerne als seine Filmschule bezeichnet. Vielleicht hat er aus diesem Film gelernt, dass sein Schauspiel ein bisschen over the top und er besser auf dem Regiestuhl aufgehoben ist. Oder, dass die Dramaturgie, soweit sie sich anhand des ersten Aktes beurteilen lässt, mehr Feinschliff vertragen hätte. Bei der Dialog-Lastigkeit, die für Tarantino typisch ist, steht und fällt die Güte einer Szene mit dem Timing und der Dosis des verbalen Schlagabtausches.
Schon in diesem Amateurprojekt reden sich die Protagonist*innen (der Cast umfasst 8 Männer und 3 Frauen) um Kopf und Kragen. Doch was Tarantino später zur Charakterisierung einsetzt, dient hier ausschließlich der Besprechung popkultureller Themen. Dafür ist der Plot des Films, die Suche nach einem Geburtstagsgeschenk, nicht packend genug. Über ein Jahrzehnt später schlug Tarantino mit seinen Dialogen in Death Proof (2007) wieder über die Stränge, allerdings sind hier die exzessiven Smalltalks eingeflochten in ein Roadmovie um einen eiskalten Muscle-Car-Killer – sowas hält das Publikum schon eher bei der Stange.
Da man My Best Friend’s Birthday eher als Fragment, denn als fertigen Film betrachten muss, entzieht sich dieser Streifen jedoch geradezu einer Rezension. Viel zu dankbar sind Tarantino-Begeisterte für einen Einblick in das frühe Schaffen des heutigen Altmeisters – immerhin legt er damit quasi den Grundstein für sein Filmuniversum. Einige der sogenannten Tarantino-Brands gehen auf diesen Film zurück. Zum Beispiel das K-Billy Radio, das auch in Reservoir Dogs läuft. Die Protagonist*innen plaudern über den Schauspieler Aldo Ray, der später als Namensvetter für Brad Pitts Rolle in Inglorious Basterds (2009) herhalten wird und Clarence alias Tarantino sagt (O-Ton):
See, I look at him, I’d wanna be him so bad, I mean, Elvis looked good – I mean, I’m no fag, but Elvis was good-lookin’… I always said, you know, if I ever, I – had to fuck a guy? I mean, had to ‘cause like, my life depended on it? I’d fuck Elvis.
Sinngemäß dasselbe lässt die Rolle von Christian Slater in True Romance (1993) vom Stapel, einem Film von Tony Scott, zu dem Tarantino das Drehbuch schrieb. Er verarbeitete darin damals eine ganze Reihe weiterer Ideen aus My Best Friend’s Birthday. Bemerkenswert ist noch die musikalische Untermalung, die einen passenden Auftakt zu Tarantinos Werk bietet, in dem Musik immer eine große Rolle spielt. Unter anderem Johnny Cash und Elvis Presley sind im Hintergrund zu hören.
Der Film My Best Friend’s Birthday ist in voller Länge auf YouTube verfügbar:
Übrigens: Mickeys Exfreundin wird von Linda Kaye gespielt, der Frau, die in Reservoir Dogs vom Auto weggeschubst wird und in Pulp Fiction (1994) einen Schuss ins Bein abbekommt (hier ist sie als Stuntfrau im Interview). Das ist nur einer von zahlreichen Cameos, die sich die Schauspieler*innen aus My Best Friend’s Birthday in späteren Tarantino-Filmen liefern würden. Augen auf – dieser Streifen ist der inoffizielle Startpfiff einer sehenswerten Filmografie!
Weiterer 80er-Jahre-Film gefällt? Hier geht’s zu einem Blogbeitrag über Hairspray (1988) mit Ricki Lake.
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]]>Der Beitrag LOLA RENNT mit Franka Potente | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>[…] diesem Projekt wäre es ganz sicher nicht gut bekommen, wenn man das Drehbuch immer wieder überarbeitet hätte. Denn schließlich ist Lola rennt ein auf Film gebannter Geistesblitz.
Tom Tykwer im Interview mit Lars-Olav Beier (SPIEGEL Online)
Zum Inhalt: Manni hat eine Tasche mit 100.000 D-Mark in der Bahn liegen lassen. Aber das kann er seinem Boss, der auf die Kohle wartet und keinen Spaß versteht, schlecht erzählen. 20 Minuten Zeit bleiben bis zur Übergabe. Was tun? Woher so schnell so viel Geld auftreiben? Manni ruft Lola an, seine Freundin… denn Lola tröstet, Lola grübelt, Lola rennt…
Der Clou: Nach 20 Minuten fängt der Film nochmal von vorne an – gleicher Ausgangspunkt, ganz anderer Verlauf…
Hinweis: Dieser Text enthält keine Spoiler zu Lola rennt. Aktuelle Streaming-Angebote gibt’s bei JustWatch.
Als Lola rennt am 20. August 1998 ins Kino kam, da war der Titel schon Programm – dank Wish. Nein, nicht Wish, die App aus der Serie Wishlist, die in diesem Jahr von einer anderen Wuppertaler Wundercrew aus der Betaphase geboxt wurde. Sondern Wish (Komm Zu Mir), das Musikvideo mit Thomas D. feat. Franka Potente und Ausschnitte aus dem Next-to-be-Kultfilm. Mehrmals täglich lief es ’98 auf dem inzwischen eingestampften Musiksender und machte heiß auf diesen Film… Komm zu mir… kon-su-mier… rein ins Kino also!
Als ich das Video das erste Mal gesehen habe, habe ich gedacht: »Geil, daraus könnte man einen guten Film machen!« Als dann wirklich ein entsprechender Film in die Kinos kam, war klar, daß der besucht wird, denn er könnte ja eigentlich nur gut sein.
Astrofrank auf YouTube
I wish I was a hunter in search of different food,
I wish I was the animal which fits into that mood,
I wish I was a person with unlimited breath,
I wish I was a heartbeat that never comes to rest
Die Jagd, das Tier, der Atem und ein rastloses Herz, ich wünsch mir was und wünsch mir mehr, so gehen die Lyrics aus dem Titelsong.
I wish I was a stanger who wanders down the sky,
I wish I was a starship in silence flying by,
I wish I was a princess with armies at her hand,
I wish I was a ruler who’d make them understand
Eine Prinzessin mit Armeen in ihrer Gewalt, eine Herrscherin, die um Verständnis wirbt. Heute denkt man an die silberhaarige Daenerys Targaryen, die sich willensstark und ähnlich ungebremst wie rothaarige Lola ihren Weg bahnt. Doch Khaleesi reitet auf Drachen – Lola ist zu Fuß. Lola hat keine Verbündeten. Lola will auch keine 7 Königreiche. Sie braucht nur ein bisschen Kohle. Kein episches Set-up, trotzdem ganz großes Kino, wenn Lola rennt. Woher, wohin und warum so oft? Ein Rückblick.
Man könnte sagen, »Die Wahrheit ist eine Frage der Perspektive«, was eher ein Element von Rashomon (1950) ist – aber darum geht’s hier nicht wirklich. Es geht vielmehr um die Frage: »Was hätte aus deinem Leben werden können, und warum ist es eben diesen Weg gegangen?«
Tom Tykwer im Interview mit Gary Dretzka (Chicago Tribune), 1999
Erst war da Der Zufall möglicherweise (1987) des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski, der als berühmtes Vorbild von Lola rennt diese Idee bereits auf Celluloid festhielt: Eine Geschichte, die nochmal und nochmal von vorne beginnt, mit kleinen Unterschieden im Auftakt, die zu gewaltigen Auswirkungen im weiteren Verlauf führen. Später hat auch Jaco van Dormael diese Idee mit Mr. Nobody (2009) zu einem spektakulären Multiversum aufgebläht. Doch während Kieślowskis Werk vorrangig ein politisches Drama über das kommunistische Polen ist und van Dormaels Film durch seinen wundersam assoziativen Schnitt im chronologischen Durcheinander besticht, ist Tom Tykwers Lola rennt in erster Linie ein Konzeptfilm im Dienste der Idee, was wäre wenn… eine Frage, der sich Tykwer übrigens schon in seinem Kurzfilm Because (1990) angenommen hat: Eine Ausgangssituation, erzählt in 3 Variationen.
Fun Fact: Es gibt noch (mindestens) eine vierte Variante dessen, was Lola so erlebt. Allerdings rennt sie darin nicht durch die Hauptstadt Berlin, sondern meine Heimatstadt Bocholt – und nicht 20 sondern 4 Minuten lang. Wir hatten halt kein Budget… und keine Schauspieler*innen… keine Ahnung sowieso… aber einen Camcorder und die Deutsch-Hausaufgabe: »Dreht eine vierte Variante des Films Lola rennt.« Das war 2007. Wir waren alle etwa 18 Jahre alt. Und aus einem unerfindlichen Grund haben wir einen Eimer Blut aus der Metzgerei angekarrt und ein heiter-ekliges Szenario gedreht, in dem sowohl Lola als auch Manni das Zeitliche segnen. Fand der Lehrer eher so mittel.
Seitdem jedenfalls bin ich ein großer Fan von Lola rennt.
Randnotiz: Das Goethe-Institut hat Arbeitsmaterialien für den Unterricht zu dem Film Lola rennt online verfügbar gemacht. Und von Neue Wege des Lernens e.V. gibt es jetzt ein didaktisches Angebot mit interaktiven Aufgaben zum Film – ziemlich cool aufgemacht!
Wir lassen nie vom Suchen ab,
T. S. Eliot
und doch, am Ende allen unseren Suchens,
sind wir am Ausgangspunkt zurück
und werden diesen Ort zum ersten Mal erfassen.
Mit diesem bedeutungsschwangeren Zitat als schlichte Texteinblendung beginnt Lola rennt – gefolgt von:
Nach dem Spiel
S. Herberger
ist vor dem Spiel.
Mystische Musik setzt ein, begleitet vom enervierenden Ticken einer Uhr, deren goldenes, ungeheuerlich verziertes Pendel in das schwarze Bild schwingt – hin und her und dazwischen die Vorspanntitel, bis das Pendel stehenbleibt. Die Kamera fährt daran hoch zu der monströsen Uhr, deren Zeiger im Gegensatz zum Pendel durchdrehen. Darüber schwebt die Kamera hinweg und taucht ab in das sich öffnende Maul eines Fabelwesens, dessen Kopf die Uhr ziert. (Diese Kamerafahrt hinein in den offenen Mund mutet wie eine kleine Verneigung an Kieślowski Przypadek / Der Zufall möglicherweise an, in dessen erster Einstellung die Kamera im Mund des schreienden Helden verschwindet.
Weiter geht es mit Silhouetten von Menschen, die in einem großen Pulk wie Zombies herumlaufen, Zeitraffer. Franks Stimme haucht aus dem Off: »Ich wäre so gern…«, ihr Echo schreit es auf Englisch heraus: »I wish I was… !« – und stimmt damit auf besagten Titelsong ein. Eine männliche Off-Stimme sinniert:
Der Mensch. Die wohl geheimnisvollste Spezies unseres Planeten. Ein Mysterium offener Fragen. Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Woher wissen wir, was wir zu wissen glauben? Wieso glauben wir überhaupt etwas?
Aus dem unscharfen Menschengedränge rücken ein paar Einzelne in den Fokus. Ein Frau, die uns später als Bankangestellte mit Fetisch-Affäre wiederbegegnet. Ein Mann, im roten Trikot, auf dem der Name »Gott« geschrieben steht. Dieser Mann will der rennenden Lola später quasi im Vorbei-Radeln ein Fahrrad verticken. Und dieser Mann wird viel später, lange nach Lola rennt, selbst einen Film über eine junge Frau drehen, die Berlin zu Fuß erlebt, wenn auch nicht so flott unterwegs: Victoria (2015), den zweistündigen One-Shot. Denn es handelt sich bei diesem Mann, der in Lola rennt eine winzige Rolle spielt, um einen Regie-Kollegen Tom Tykwers: den Filmemacher Sebastian Schipper (Absolute Giganten).
Doch ist es am Ende nicht immer wieder die gleiche Frage – und immer wieder die gleiche Antwort?
Die Kamera fliegt schließlich hoch über die Menschenmenge hinaus, deren Körper zusammen den Schriftzug bilden: LOLA RENNT. Davon geht’s über in eine Zeichentrick-Sequenz, dann eine Mugshot-Parade zur Vorstellung des Casts, allen voran: Franka Potente als Lola. An ihrer Seite: Moritz Bleibtreu als verpeilter Freund Manni, der die Kohle für seinen Gangsterboss Ronnie verliert, gespielt von Heino Ferch – das auslösende Ereignis dieses Films, von dem man schon weiß, dass er ein besonderes Seherlebnis wieder, noch bevor die Handlung überhaupt begonnen hat.
Der Vorspann zum Film Lola rennt:
Ein Instant Classic, ein viel gefeiertes Meisterwerk, schon damals, als Lola rennt ins Kino kam. Wenige Jahre später zollte sogar die Serie The Simpsons dem Film Tribut, in der Folge Trilogy of Error (Episode 266, 2001), die mit einer Renn-Sequenz zur Musik aus Tykwers Film eine deutliche Referenz an denselben eingebaut hat. In Amerika wurde Lola rennt übrigens unter dem Titel Run Lola Run vermarktet – eine Referenz an die schon damals berühmte Zeile »Run, Forrest, Run!« (»Lauf, Forrest, lauf!«) aus Forrest Gump (1994)? Oder handelt es sich gar um eine Fortsetzung? Bei Yahoo! Answers wurde tatsächlich die Frage gestellt, ob Lola rennt das Sequel zu Forrest Gump sei? Beste Antwort:
Ja… genau genommen ist es eine Trilogie, die mit Marathon Mann (1976) begann. Heutzutage nennt man diese Filme die »Trilogie über ziellos herumrennende Menschen«.
Yahoo! Answers, da wo dir nicht geholfen wird
Bullshit Deluxe. Damit ist bewiesen, dass Lola rennt seinen festen Platz im popkulturellen Diskurs hat. Um den Film ernstlich zu kritisieren, muss man sich schon ein bisschen Mühe geben…
Die Zukunftsflashes angerempelter Passanten sind monströs einfallslos: Lottogewinn, Drogentod, Liebesgeschichten […]
Ekkehard Knörer (Jump Cut)
Was darf’s denn sein, Herr Knörer? Noch ein bisschen mehr Inception-Feeling in den sekundenlangen Foto-Serien, die kurz über die Leinwand flackern? Diese »Zukunftsflashes« sind in sich nicht einfallsreich genug? Mann, die sind ein Einfall für sich und in einem Blinzeln vorbei – wer denkt denn in diesem Zeitfenster denn schon »gääähn, wie einfallslos«? Generation Vine vielleicht, dieses Portal für 6-Sekunden-Videos, das 2013 mit Hype an den Start ging und 2017 – Hype vorbei – eingestellt wurde. In diesem Sinne: Ein Hoch auf 20 Jahre Lola rennt!
Wie alt dieser Film (und man selbst) inzwischen ist, das merkt man dieser Tage daran, dass in Inhaltsangaben zu Lola rennt zuweilen von »100.000 D-Mark (also etwa 51.000 Euro)« die Rede ist (siehe: Gregor Tholl, BBV). Tatsächlich: Telefonzelle statt Smartphone, Bares statt Bitcoin und Berlin als leer gefegte Hauptstadt statt multikulturelle Metropole – Lola rennt wurde in mancher Hinsicht vom Zeitgeist überholt.
Doch die Mucke, die Schnitte, das Tempo, der Plot – genauso werden flotte, coole Filme gemacht, heute wie damals, da war Lola rennt seiner Zeit voraus. Und als Bindeglied zwischen dem Überholten und dem Vorauseilenden liegt die Nostalgie im Angesicht des Looks dieses Films; die Liebe für die späten 90er Jahre, die Lola rennt ganz ohne historische Bezüge trotzdem als ein Werk der Erinnerungskultur erscheinen lässt. Na ja, erinnerungswürdige Popkultur auf jeden Fall.
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]]>Mit Der Zufall möglicherweise hat Krzysztof Kieślowski nicht nur möglicherweise, sondern ganz gewiss einige spätere Filme inspiriert. Bekanntestes Beispiel dürfte für das deutsche Publikum Lola rennt (1998) sein. Mit der Kamerafahrt in den Mund, zu Beginn von Lola rennt, spielt der Regisseur Tom Tykwer – der mit Heaven (2002) inzwischen ein Kieślowski-Drehbuch verfilmt hat – inszenatorisch elegant auf das Vorbild an. Ebenso mit dem Anrempeln einer prompt pöbelnden Passantin durch die rennende Lola (Franka Potente). Nehmen wir im Folgenden das Original unter die Lupe – Witek statt Lola.
Info: Zu der Zeit, da ich diesen Film suchte [Juli 2018], war Der Zufall möglicherweise (Original: Przypadek, Englisch: Blind Chance) im polnischen Original mit englischen Untertiteln in der Mediathek von Eastern European Movies verfügbar – eine empfehlenswerte Website für alle, die Interesse am osteuropäischen Kino haben. Allerdings wurde Der Zufall möglicherweise im Jahr 2017 vom Studio Filmowe TOR auch auf YouTube hochgeladen und ist dort in voller Länge zu sehen. (siehe unten)
Was den Film für ein internationales Publikum schwer zugänglich macht, ist seine Verankerung in der polnischen Geschichte vom Ende des 2. Weltkriegs bis Anfang der 80er Jahre. Der Zufall möglicherweise spielt vor dem Hintergrund des kommunistischen Polens, das scheinbar in zwei Lager zerfallen ist: Man ist entweder für oder gegen die Partei. Der Werdegang des fiktiven Studenten Witek Długosz dient als Beispiel, an dem gezeigt wird, wie ein Leben in diesem Polen laufen kann. Mal ist er als kommunistischer Funktionär in die Geschichte gestrickt, mal als Oppositioneller – und mal versucht er sich ganz aus dem Politischen rauszuhalten.
Obwohl der Film bereits 1981 gedreht wurde, lief er auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und in den polnischen Kinos erst 1987. Anfang der 80er Jahre war Der Zufall möglicherweise – in einer Zeit, da in Polen aufgrund der Solidarność-Unruhen Kriegszustand herrschte – von der Zensur zunächst verboten worden. Zu unbequem war dem Regime der Inhalt dieses Films.
Möglicherweise war’s der Zufall, der dafür sorgte, dass ich durchaus filmbegeisterter Mensch bis vor kurzem den Namen Krzysztof Kieślowski nicht kannte. Möglicherweise war’s aber auch blöde Ignoranz, weil mein Hirn den Namen nichtmal in Gedanken auszusprechen wusste. Inzwischen lerne ich – durch Zufall, möglicherweise – seit ein paar Jahren polnisch und möchte die Annäherung all denjenigen erleichtern: Man spricht ihn Kschischtof Kschlowski aus (hier sagt’s ein Muttersprachler: ).
Ein stimmungsvoller, wenn auch nur visueller Teaser zum Lebenswerk dieses großen Filmemachers vermittelt ein Bilderreigen, den das Museum of the Moving Image im Jahr 2016 veröffentlicht hat:
Wer Lola rennt kennt und mag, möchte vielleicht sehen, welchem Film Tom Tykwer die Kernidee entnommen hat. Mir jedenfalls ging es so.
»This is the 1981 version of the film, with censored fragments restored.«
Mit dieser Texttafel begann die Version, die ich gesehen habe. Dabei stimmt der Hinweis nicht ganz. Es gab noch immer eine Stelle im Film, in der das Bild schwarz wurde und nur die Tonspur weiterlief. In dieser zensierten Szene ging es um Polizeigewalt. Fast entschuldigend wies hier eine erneute Texteinblendung darauf hin, dass dieses Fragment das einzige gewesen sei, dass sich nicht habe restaurieren lassen.
Der Film beginnt mit einer Großaufnahme des Helden, Witek Długosz, der nervös dasitzt, den Mund aufreißt und »Nieee!« ruft. Die Kamera ist zu nah dran, als dass wir zuordnen könnten, wo er da sitzt. Und sie fährt noch näher heran, diese Kamera, fährt in den aufgerissenen Mund, ins Schwarz. In gelben Großbuchstaben erscheint der Name des Hauptdarstellers, der diesen Film über seine gesamte Laufzeit trägt: Bogusław Linda.
Nach den Vorspanntiteln folgt eine Kollage an Bildern, deren Sinn sich auf die Schnelle nicht erschließt: Ein blutiges Bein in einem Korridor, durch den eine Leiche geschleift wird. Ein dumm dreinschauendes Kind, das sich erst im Spiegel betrachtet, dann den Blick zu den Mathe-Hausaufgaben senkt. Neben dem Jungen sitzt der Vater, sieht ihm in die Augen?. Schnitt. Ein grüner Hang, auf dem ein Auto steht. Ein anderer Junge, der sich verabschiedet. Schnitt. Der voyeuristische Blick ins Lehrerzimmer, durchs Fenster. All diese Ausschnitte aus Kindheitstagen sind aus der Subjektiven gefilmt, Point of View ist jenes Kind, das sich im Spiegel betrachtet hat.
Aus der Kindheit geht’s in die späte Jugend oder das frühe Erwachsenenalter, auf jeden Fall raus aus der Subjektiven: Witek turtelt mit einer kurzhaarigen Frau an einem Gleis. Ein paar Typen rufen Obszönes, Witek rennt ihnen nach. Schnitt zu einem nackten, grauen Leichnam, der aufgeschnitten wird. Von der gelben Fettschicht schwenkt die Kamera hoch zu den herabschauenden Medizinstudent*innen. Eine von ihnen sticht hervor, durch ihren angewiderten Blick. Witek erzählt sie, die Tote sei ihre Lehrerin gewesen. Es folgt ein Schnitt zum gealterten Vater, der Witek erzählt, wie froh er war, als der Junge damals seinen Lehrer geschlagen habe. Denn Streber möge er nicht.
So geht es eine Weile. Kurze Szenen, chronologisch zwar und auf einen Helden fokussiert, doch durch die unüberschaubar großen Zeitsprünge unterbrochen. In diesem Prolog geht es Kieślowski nur um eine Art Quintessenz dessen, was aus dem Vorleben Witek erinnert werden soll. Bis zur schicksalhaften Szene am Bahnhof. Diese sehen wir zum ersten Mal nach 7 Minuten. So gerade eben erwischt Witek den Zug und der Film beginnt, endlich in gemäßigtem Tempo, mit verfolgbarer Handlung.
Wir werden zu jenem Bahnhof zurückkehren, ähnlich wie Mr. Nobody (2009) des Regisseurs Jaco van Dormael immer wieder zum Bahnhof zurückkehrt. Der Ort, an dem die Zeitstränge wie sich trennende Waggons auf unterschiedlichen Gleisen weiterfahren… Auf die Frage, ob er Der Zufall möglicherweise von Kieślowski gesehen habe, antwortet Jaco van Dormael in einem polnischen Interview:
Selbstverständlich. Unsere Filme entstanden zur selben Zeit [hier bezieht sich van Dormael auf seinen Kurzfilm È pericoloso sporgersi (1984), der wie ein früher Rohentwurf zu Mr. Nobody wirkt]. Offenbar waren wir von denselben Dilemmata beunruhigt. Und die Vorstellung verleiht mir heute noch eine gewisse Unruhe: Wir sitzen hier zusammen und reden, doch wie wenig muss man nur tun, damit Ihr oder mein Leben in völlig neuen, anderen Bahnen verläuft. Jede unserer Entscheidungen determiniert die nächste […]
Jaco van Dormael im Gespräch mit Barbara Hollender (aus dem Polnischen)
Bei Jaco van Dormael artet diese Idee wohlgemerkt in ein fantastisches Multiversum aus. Bei ihm eröffnet jede kleine Geste einen völlig neuen Zeitstrang. Bei Kieślowski ist der deterministische Gedanke von einer unausweichlichen Vorbestimmung hingegen wesentlich präsenter – und der Weg zum vorgezeichneten Schicksal bleibt in jedem Fall realistischer und näher an der Lebenswelt seines Protagonisten und der politischen Situation seiner Zeit.
Eine gewisse Faszination für die Zeit und den rätselhaft verstrickten Gang der Dinge ist wichtig. Zumindest, um als deutsche*r Zuschauer*in unter (grob über den Daumen gepeilt) 50 Jahren einen Zugang zu dem Film zu finden. Der Zufall möglicherweise bedient nicht unsere mit aufpolierten Bildern konditionierten Sehgewohnheiten. Er nimmt uns im Storytelling nicht bei der Hand (wie wir es vom Hollwood-Mainstream-Kino kennen, damit auch ja jede*r alles versteht) und setzt historisches Wissen voraus, das man ohne Bezug zu Polen kaum mitbringen wird.
Ich persönlich habe beschämend wenig Ahnung von der polnischen Geschichte. Dafür ist meine Faszination für die Zeit-Thematik im Film umso größer. Unabhängig von beidem ist das Schauspiel des Ensembles in Der Zufall möglicherweise wirklich stark. Und das Drehbuch ist so gut, dass es einen Sog entwickelt. Auch wenn man nicht alles verstehen mag, was in diesem Film vor sich geht, erlaubt er bestimmte Einblicke doch sehr klar und deutlich: Einblicke in die Zerrissenheit des Helden im Strudel des Zeitgeschehens. Egal, für welches politische Lager oder um welche Liebe Witek kämpft, man fiebert mit, wenn Witek rennt.
Hier gibt es den Film Der Zufall möglicherweise in voller Länge zu sehen (im polnischen Original mit englischen Untertiteln):
Übrigens: Der Zufall möglicherweise ist Teil der Criterion Collection. Hier gibt es weitere Informationen.
Der Beitrag DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE von Krzysztof Kieślowski | Film 1987 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.
In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.
Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.
Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.
Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.
Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.
Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«
Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.
Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?
Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.
Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13
Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center
Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.
Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.
Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:
Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)
Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.
Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.
Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):
In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.
[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70
Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.
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Die Novelle lebt von prägnanten Sprachbildern und dem gelungenen Wahrnehmungswechsel, dem Sprung von seiner in ihre Gedankenwelt und zurück. Ein Großteil der Handlung dreht sich um eine bestimmte Szene, in der weniger gehandelt als gegrübelt und gezweifelt und gefürchtet wird. Wie setzt man so etwas als Film um? »Ich habe keine Problem damit, Änderungen einzubauen, die cineastisch interessant sind«, sagt Ian McEwan im Interview mit Andrew Collins (RadioTimes). Doch bevor wir einen Blick auf die Änderungen werfen, worum geht’s überhaupt?
Inhalt: Florence und Edward haben geheiratet. Alles lief gut soweit. Erst als die frisch Vermählten im Hotel am Chesil Beach ihre Hochzeitssuite betreten, schnürt sich ihnen je die Kehle zu… der erste Satz der Novelle beschreibt es so: Sie waren jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräch über sexuelle Probleme unmöglich waren. Am Strand spielt in Südengland, 1962.
Hinweis: Liebe Leser*innen, im folgenden Text werden einige Szenen aus Buch und Film besprochen, ohne jedoch wichtige Wendungen und etwaige Geheimnisse der Figuren preiszugeben. Allein der Absatz »Gedanken zum Ende« enthält, na ja, Gedanken zum Ende, inklusive Spoiler.
Am 1. Januar 1900 trat der sogenannte Kranzgeld-Paragraph in Kraft. Er besagte, dass eine »unbescholtene Verlobte« (eine Jungfrau), wenn sie aufgrund eines Eheversprechens »die Beiwohnung gestattet« (erstmals Sex hat) im Nachhinein eine finanzielle Entschädigung für den ideellen Schaden an ihrer Person verlangen konnte, sollte der Mann das Verlöbnis nach dem Sex noch lösen. Denn mit der ersten Liebesnacht hatte die Frau als Braut an Wert verloren, für zukünftige Anwärter.
Anfang der 60er Jahre wurde »vorehelicher Sex« schon lockerer gesehen. Man hatte bereits Kondome im Gepäck und von sowas wie der »Pille« gab es selbst in der Provinz schon Gerüchte. Dass Geschlechtsverkehr kein Hexenwerk ist, vor der Ehe, das weiß auch Florence, die weibliche Hauptfigur des 1962 in England spielenden Am Strand (im Buch »kräftig gebaut«, im Film Saoirse Ronan). Doch die junge Frau will den Moment der Beiwohnung so lange wie möglich hinauszögern. Sie sitzt schon auf der Bettkante, da verrät der Roman:
Einige ihrer Freundinnen […] wären schon seit Stunden nackt im Bett und hätten die Ehe lang vor der Hochzeit lautstark und mit Freuden vollzogen. Wohlmeinend und großzügig, wie sie waren, glaubten sie, Florence habe genau dies ebenfalls längst getan. | Ian McEwan, Am Strand, S. 103 (hier geht’s zur Leseprobe)
Doch die 22-jährige Florence ist nicht nur unerfahren. Ihre Not mit dem Sex ist anderer Natur. Im Buch wird diese Not schon früh beim Namen genannt und ausführlich beschrieben. Im Film gibt Florences Verhalten den Zuschauer*innen Rätsel auf. Edward indes mag wenig Erfahrung mit Mädchen haben. Der körperliche Akt, so an sich, seinerseits, der ist ihm wohlvertraut.
Wie die meisten jungen Männer seiner Zeit – aber auch aller anderen Zeiten, denen es an Toleranz oder sexueller Freizügigkeit mangelte – gab er sich immer wieder dem hin, was von fortschrittlicher Seite als »Selbstverwöhnung« bezeichnet worden war. Edward hatte sich gefreut, als er auf diesen Ausdruck stieß. | S. 28
Ich hab mal kurz ein Online-Wörterbuch für Jugendsprache konsultiert. Inzwischen sagt man »pellewemsen«, »nudelwürgen«, oder ganz fesch: »fappieren« (das hätte sogar der Engländer verstanden). Im Film indes erfahren wir nichts über die Masturbationsgewohnheiten unserer Hauptfiguren. Was okay ist.
Wie das Leben so spielt: Sonia und ich gingen am Sonntag ins Apollo Kino in Aachen, mit einer Freundin. Letztere suchte den Film aus, Am Strand. Ich wusste nichts darüber, sah mir keinen Trailer an. Überrascht wurde ich dann von einem faszinierenden Filmpaar in einem Szenen-Arrangement, das aus jedem Winkel: Literaturverfilmuuung! schrie. Montag saß ich am Laptop und dachte: Puuuh, wie willste darüber schreiben? War tatsächlich ne Literaturverfilmung, basierend auf einer dünnen Novelle. Also klick, Novelle bestellt. Kam Dienstag an. Hab sie Mittwoch und Donnerstag gelesen. Jetzt sitze ich hier, am Freitagmorgen, und schreibe endlich über dieses Werk, das von einer völlig verkorksten Hochzeitsnacht handelt. Und morgen, am Samstag, da heiraten Sonia und ich. Die schönen kleinen Truman-Show-Momente des Lebens.
Während das Buch damit beginnt, dass das Paar bereits am Tisch Platz nimmt und zu Abend isst, entführt uns der Film in seinen ersten Einstellungen an den Strand. Das fiktive Hotel aus dem Buch liegt direkt am Chesil Beach in Südengland, On Chesil Beach lautet der Originaltitel des literarischen und cineastischen Werks. Obwohl der Schriftsteller Ian McEwan gerade am Beginn und Ende seiner Geschichte signifikante Änderungen vorgenommen hat, bleibt er der gekonnt heraufbeschworenen Atmosphäre treu. Denn die ist ziemlich angepasst, zuweilen unangenehm. In die Stille hinein dringen die leisesten Geräusche wie Baustellenkrach.
[…] Edward und Florence waren Gefangene ihrer Zeit. Selbst unter vier Augen galten tausend unausgesprochene Regeln. Und gerade weil sie nun erwachsen waren, taten sie nichts so Kindischen wie von einem Mahl aufzustehen, das man mit viel Mühe eigens für sie angerichtet hatte. Schließlich war Abendessenszeit. | S. 26
Schon im Filmauftakt im Kino nahm ich das markante Sounddesign wahr, angefangen mit den Kieseln am Strand. Im Hotel knarzen die Dielen, klappert das Besteck… und siehe da: Schon in der literarischen Vorlage drängen sich immer wieder Geräusche in die Zeilen. Von Eichendielen, die »komisch knarrten« ist da die Rede, und Löffel, die »über Platten schaben«. Manche Details hat der Autor sorgfältig bewahrt und ins neue Format übertragen. Doch ausgerechnet die besten Bilder sind es, die sich nicht übertragen lassen. Bilder, die sich ins Hirn brennen. Bilder, in denen Bedeutungen mitschwingen, die sich später erst entschlüsseln. Florence Furcht etwa, ein »hilfloser Widerwille so heftig wie die Seekrankheit.«
Ein Danny Boyle (127 Hours) oder Jaco van Dormael (Mr. Nobody) hätte sich vielleicht um visuelle Entsprechungen für die Sprachbilder bemüht. Vielleicht auch (wobei es schon weniger seinem Stil entspräche) Sam Mendes, der zunächst als Regisseur im Gespräch war. Nicht jedoch der Debütant Dominic Cooke, der mit Am Strand seinen ersten Spielfilm inszeniert hat. Seine langjährige Erfahrung im Erzählen von Geschichten bezieht sich auf das Theater. Und so ist auch sein first feature film in Sachen Kamera und Schnitt, beides sehr konventionell, beinahe ein Bühnenstück. Das ist in Ordnung, etwas Eigenes, etwas Anderes. Es lohnt sich, zunächst den Film zu sehen und dann das Buch zu lesen, um diese Hochzeitsnacht noch einmal mit der Gedankenebene zu durchleben. Sie gibt den Figuren (trotz der hervorragenden Schauspieler) einen Mehrwert.
Florence spürte seine Berührung so deutlich, wie Wärme und den Druck seiner verschwitzten Hand auf ihrer Haut, daß sie sich den langen, gekrümmten Daumen im bläulichen Dämmer unter ihrem Kleid vorstellen, daß sie ihn sehen konnte, wie er da lag, geduldig wie ein Rammbock vor den Stadtmauern […]
Das Buch ist, im Übrigen, stellenweise so explizit bezüglich des Sexuellen, dass Ian McEwan Sorge, eine Verfilmung könne quasi-pornografisch geraten, nicht aus der Luft gegriffen ist. Überhaupt besteht die größte Kunst des Films Am Strand darin, dass die filmische Umsetzung der intimsten Szenen zwischen den beiden Verliebten nicht unfreiwillig komisch geraten sind.
Mich persönlich hat tatsächlich die letzte Einstellung sehr gestört: Edward steht am Strand, abgewendet, Florence geht fort. Die Kamera fährt dabei den Hang hinab, immer auf die beiden Schauspieler gerichtet, zwischen denen die Distanz größer wird. Bis sie aus dem Bild ist und er allein am Strand steht. Die Kamera nun von so tief unterhalb des kiesigen Hangs zu ihm hinaufschauend, das wir vom Hintergrund nichts mehr sehen. Nur noch Himmel, Strand und der junge Mann am rechten Bildrand. Ein schönes Bild, eigentlich.
Doch auf dem Weg dorthin, auf der sanften Kamerafahrt während der bedeutsamen Trennung der beiden Protagonisten, schneidet die Kadrage, der Bildausschnitt den Schauspieler Billy Howle immer wieder am rechten Bildrand an. Vielleicht war es der Projektion im Kino geschuldet, dass das Bild dort unschön abgeschnitten schien. In einer letzten Einstellung ist so ein Detail, wem es ins Auge sticht, ein ziemlicher Abtörner. Zieht just dann raus aus der Handlung, wenn man am tiefsten drinstecken sollte.
Hinzu kommen die letzten Szenen des Films, der gen Ende von 1962 ins Jahr 1975 und dann ins Jahr 2007 springt. Im Gegensatz zu allen Rückblenden sind diese »Zukunftsblenden« mit Jahreszahlen versehen. Für mich, der ich nichts über Buch und Film wusste und ohne Zeitgefühl im Kino saß, ergab sich der Eindruck, jetzt folge der dritte Akt. Das konkrete Datieren der Szenen verleiht ihnen ein Gewicht, das sie schließlich nicht auf die Waage bringen. Zu kurz, zu ausschnitthaft bleiben sie. Angesichts des liebevoll gestalteten Drumherums – Make-up, Mode, Kulisse – hätte man getrost auf die Einblendung der Jahreszahlen verzichten können. Ich denke, dass hätte die Schlussszenen angemessener ins Gesamtwerk eingefügt.
Was es auch nicht gebraucht hätte, meinethalben, war das tränenreich pathetische Filmfinale. Es ist völlig anders als im Buch und wohl das, was Ian McEwan offenbar »cineastisch interessant« findet. Im Buch hingegen bleibt der Epilog extrem schlicht und viel kühler. Cooler. Florence und Edward sehen sich nach der Trennung am Strand einfach nie wieder. Eiskalt.
Randnotiz: Ein paar Wochen nach unserem Kinobesuch – im Juli 2018 – sind wir übrigens am Chesil Beach gewesen. Sonia und ich haben auf unserer Hochzeitsreise nach Cornwall einen kleinen Zwischenstopp eingelegt, um die Sonne einmal an dieser schönen Kieselbank untergehen zu sehen.
Während der Abspann lief, im Kinosaal, da war ich enttäuscht. Zu abrupt und zugleich ausschweifend erschien mir das Ende, ganz komisch. Ich hätte es mir anders oder einfach nur weggewünscht. Doch lässt man den Film sacken, enthält er viele starke Szenen, die sich im Gedächtnis wieder an die Oberfläche spielen. Nachdem ich mich nun eine Woche lang intensiv mit dem Werk beschäftigt habe, muss ich sagen:
Am Strand gewährt einen seltenen und relevanten Einblick in die Lebenswelten zweier Kinder einer anderen Zeit, von deren Sorgen und Ängsten trotzdem noch vieles in Köpfen unserer Zeit verborgen liegen mag. Ein Film der dafür sensibilisiert, dass Sex nie nur im Kontext einer mehr oder weniger sexuell freizügigen Gesellschaft lebt. Am Ende kommt es immer auf ein paar einfache Individueen und ihre ganz persönlichen Erfahrungen an.
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Hinweis: Liebe Leser*innen, über Good Will Hunting und alle Themen, die mit dem Film und allen Beteiligten einhergehen, könnte man ein Buch schreiben. Im Folgenden gehe ich nur auf eine kleine Auswahl an Namen und Themen ein. Spoiler voraus!, wohlgemerkt. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie immer via JustWatch.
Inhalt: Besagter fiktive geniale Typ namens Will verbringt seine Tage als Bauarbeiter oder Hausmeister, seine Abende mit Kumpels in Kneipen – und nachts liest er Lehrbücher von Historikern wie Howard Zinn oder andere akademische Schinken. Schließlich wird ein Professor auf das verkappte Genie aufmerksam und will sich seiner annehmen. Einzige Bedingung: Will muss sich auf eine Therapie einlassen.
Jene junge Männer hatten eine Stolperfalle in ihr Drehbuch eingebaut, ehe sie es irgendwelchen Filmproduzent*innen gaben. Bei der Falle handelte es sich um eine völlig zusammenhangslose homoerotische Liebesszene zwischen Will und seinem besten Freund. Wer diese Szene nicht bemerkte, war reingetappt: Diese Person hatte das Skript offenbar nicht gelesen. Die beiden Drehbuchautoren, das waren die inzwischen weltbekannten Schauspieler Ben Affleck und Matt Damon (Der Marsianer). Nur ein einziger Produzent sprach sie auf die Liebesszene an – also setzten sie das Projekt mit diesem Produzenten um. Ausgerechnet Harvey Weinstein.
Um die Zeit, zu der Good Will Hunting herauskam, im Jahr 1997, da soll Harvey Weinstein unter anderem Asia Argento, Rose McGowan und Ashley Judd (einst für die Rolle von Minnie Driver in Good Will Hunting im Gespräch) belästigt haben – um nur drei der prominentesten Frauen aus einer langen Liste von Namen zu nennen, die gegen Weinstein ihr Wort erhoben haben. Aus dem aktuellen Heist-Movie Ocean’s 8 wurde der Cameo von Matt Damon herausgeschnitten, man munkelt, der Grund sei eine Unterschriftensammlung gegen ihn, nachdem er einen relativierend Kommentar bezüglich sexueller Belästigung abgelassen hat. Im Kern: ein Tätscheln auf den Po und eine Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch seien nicht dasselbe und man dürfe nicht überreagieren mit den Verurteilungen.
Tatsächlich kann dem Schnitt eine andere, künstlerische Entscheidung zugrunde liegen – doch die Debatte um Damons Kommentar ist nicht wegzureden. Mit am lautstärksten hat darauf Minnie Driver reagiert, die Matt Damon schon aus Zeiten von Good Will Hunting kennt, in dem sie die einzige relevante Frauenrolle spielte.
Ich merke, dass die meisten Männer – gute Männer, Männer, die ich liebe – dass deren Fähigkeit begrenzt ist, es zu verstehen. Sie können einfach nicht verstehen, wie sich Beleidigung und Missbrauch auf einem täglichen Level anfühlen. […] Du kannst Frauen nicht einfach etwas über den von ihnen erlebten Missbrauch erzählen. Ein Mann kann das nicht tun, niemand kann das. Es ist so individuell und persönlich […]
So individuell wie der körperliche Missbrauch, der dem verschlossenen Protagonisten Will Hunting widerfahren ist – in diesem Film, der thematisch zur MeToo-Debatte durchaus einen gewissen Bezug hat. Tatsächlich sollte man Matt Damons Bemerkungen nicht vorschnell aus dem Kontext seines ganzen Lebens reißen, das sowohl On- also auch Off-Screen stark von feministischem Engagement geprägt ist. Mehr darüber kann man in einem ausführlichen Porträt von Matt Damon auf Bitch Flicks nachlesen (englisch). Darin schreibt die Autorin Lady T auch über besagte einzige relevante Frauenrolle:
Skylar, gespielt von Minnie Driver, ist eine der am besten ausgearbeiteten supporting characters, die ich in Filmen gesehen habe. Weil sie ein supporting character ist, dient sich – bei Definition – dazu, Will’s Entwicklung im Film mit voranzutreiben. Trotzdem ist sie ein voll ausgestalteter Mensch. Abseits vom obligatorischen »Girlfriend«-Archetypen, der nur im Film ist, um dem weiblichen Publikum eine Identifikationsfigur zu bieten. […] Während ein Großteil der Wirkung von Skylars Charakter in der Performance von Minnie Driver liegt, muss man Damon und Affleck etwas Anerkennung dafür zollen, dass sie eine Frau mit Hintergrundgeschichte geschrieben haben. Mit einer größeren Ambition als bloß: »Hey, da muss ein Mädchen im Film sein.«
Lesetipp: Anlässlich seines 20. Jubiläums hat die TV-Journalistin und Filmproduzentin Ivana Imoli im Dezember 2017 einen lesenswerten Artikel über den Film Good Will Hunting geschrieben.
Zuletzt: Auch Ben Affleck (der Will Huntings besten Freund Chuck spielt) ist derweil beschuldigt worden, Fehlverhalten gegenüber Frauen an den Tag gelegt zu haben. Hier ist seine reumütige, rücksichtsvolle Antwort darauf, im Gespräch mit Stephen Colbert (ab Minute 02:30 geht es um Harvey Weinstein und die MeToo-Debatte).
Good Will Hunting war einer der Filme, der wie Forrest Gump (1994), Gilpert Grape – Irgendwo in Iowa (1993) und Titanic (1997) mit als erster in meine Wahrnehmung als »richtige Filme mit Erwachsenen und für Erwachsene« rückte und von meiner Mutter als »super« eingestuft wurde. Das war nach meiner Disney-geprägten Kindheit. Und bevor ich mit dem systematischen DVD-Sammeln und Kultfilm-Suchten anfing. Kultfilme, die »cooler« waren als Good Will Hunting, was in ein paar meiner Jugendjahre leider synonym war mit: gewalttätiger. Bevor ich Good Will Hunting das erste Mal sah, war ich im Übrigen der Meinung, der Titel lasse sich übersetzen mit der »Jagd nach dem guten Willen«.
Good Will Hunting beginnt nach einem Schlaue-Bücher-im-Kaleidoskop-Vorspann mit einer kurzen Szene von Will Hunting (Matt Damon) beim Speedreading in seiner heruntergekommenen Bude. Er blättert durch die schlauen Bücher durch, als seien es Fotobände, kleiner Hinweis auf sein fotografisches Gedächtnis. Dann rollt eine rostige Karre vor seine Haustür in eher ärmlicher Nachbarschaft. Ein Typ im Jogging (Ben Affleck) steigt aus. Wills Kumpel, der ihn von zu Hause abholt – dieses Ritual soll noch eine wichtige Rolle im Film einnehmen, in symbolischer und dramaturgischer Hinsicht.
Lesetipp: 14 verrückte Fakten über Good Will Hunting (von Mental Floss)
Mit jedem Mal Sehen gewinne ich dem Film neue kleine Entdeckungen ab und mag ihn dafür sehr. Jüngst etwas sensibilisiert für feministische Sichtweisen, war ich bei der jüngsten Sichtung arg erschrocken darüber, wie wenige Frauen darin vorkommen. Good Will Hunting mag krasse Mathe-Aufgaben packen, aber er rasselt mit Karacho durch den Bechdel-Test, in allen Punkten, angefangen damit, dass nicht einmal drei Frauenfiguren mit Namen darin vorkommen. Überrascht war ich, dass der Film in feministischen Reviews erstaunlich gut abschneidet. So schreibt Ashley Woodvine:
Es klingt kindisch, aber Good Will Hunting hat mich gelehrt, tiefe Gefühle für einen Film zu entwickeln, der ausschließlich von männlichen Problemen handelt. Es ist nicht ungewöhnlich für mich, dass ich Filme über Männer mag (wie könnte man auch nicht, wenn 90 Prozent der Filme von Männern handeln), aber ich erwische mich oft bei dem Gedanken »das hier wäre besser, wenn es über Frauen wäre« […] – jedenfalls bin ich froh, dass Good Will Hunting ein Film über Männer ist. Wieso? […]
Good Will Hunting zeigt eine Männerfreundschaft auf eine Art und Weise, die sich nicht um Sexismus gegenüber Frauen dreht. Der Film vermeidet solche Stereotypen rund um junge Männer der Arbeiterschicht – und fordert sie dadurch heraus. Vor allem aber ist Good Will Hunting eine fantastische Kritik an der Idee von ultimativem männlichen Erfolg und dem »Streben nach Größerem«. | Ashley Woodvine (Screen Queens)
Gleichzeitig finden Männer-Portale, die ihre maskuline Vormachtstellung in Gefahr sehen, »powerful ideas« in diesem Film (»Wird alle brauchen einen Mentor, der uns bei der Seelenarbeit auf dem Weg zur Reife assistiert« … geht auch Mentorin? Wohl eher nicht.) Der Blogger Luke O’Neil schreibt indes als Mann einen feministisch-kritischen Artikel, während die Bloggerin astriaicow (unter Berücksichtigung anderer Artikel eher anti-feministisch eingestellt) einen ganz anderen Aspekt an dem Film kritisiert, als das Männer/Frauen-Verhältnis: die Fehldarstellung des Genies.
Mit Hinweis auf ihren chinesischen Hintergrund (China, »wo Anstrengung und harte Arbeit von hoher gesellschaftlicher Bedeutung sind«) schreibt sie:
Der Film scheint sagen zu wollen, dass jemand, der ein Thema nicht tiefgreifend erarbeiten will, der es einfach als Hobby nebenbei macht, einfach so komplexe mathematische Beweise erbringen kann. Als ginge es um Brettspiele für Kinder. Es stimmt, dass es Genies gibt, die kein formales Training zu einem bestimmten Thema brauchen (formal im Sinne beständig geschult) und gewisse Dinge besser verstehen, als die meisten Menschen. Doch es gibt kein Genie, dass Dinge einfach am Rande als Hobby macht und trotzdem Leute aussticht, die ihr ganzes Leben diesen Dingen verschrieben haben. Selbst [der berühmte Mathematik-Autodidakt] Ramanujan, der in diesem Film erwähnt wird, hat sich in Mathematik abgeschuftet. Er ging nicht einfach zu seinem Alltags-Job und nächtlichen Partys und kam dann heim, boom!, um komplexe Probleme zu lösen. Diese Menschen widmen ihr Leben einem Thema, ob im Rahmen beständigen Unterrichts oder auch nicht. DAS IST, was den Unterschied macht.
Good Will Hunting legt den Fokus, wie viele amerikanische Filme, allzu sehr auf Talent und nicht auf die Anstrengung. Das macht ihn unglaubwürdig und setzt Genies […] herab.
Good Will Hunting ist ein Film, der versucht, Genies auf das Level normaler Leute abzusetzen. Damit normale Leute sich wohler damit fühlen können, keine Genies zu sein. Die Wirklichkeit funktioniert so nicht, Leute! Genies mögen kein perfektes Leben haben, aber sie entzünden ein Leuchtfeuer für uns Normalos, um aus der Dunkelheit unserer simpel gestrickten Gedankenwelten zu tappen. DAS IST ES, was sie zu etwas Besonderem macht. Aber Good Will Hunting will dich in dem Glauben lassen, dass dieses Leuchtfeuer nichts weiter als eine Taschenlampe ist – und die Dunkelheit das, wo’s am sichersten ist. | astriaicow, in: Why Good Will Hunting is a bad movie, hier im Original nachzulesen (englisch)
Ich denke, selbst mit aller Kritik im Hinterkopf, kann man Filme wie Good Will Hunting noch mit Gewinn sehen. Bestenfalls entdeckt man darin einmal mehr neue Facetten. Dramaturgisch ist der Film absolut gewöhnlich, aber gut gemacht. Und er lässt sein Publikum (na ja… uns normale Nicht-Genies halt, als die wir entlarvt wurden…) mit einem Gefühl angenehmer Genugtung zurück. Zu erwähnen ist auch noch die Performance von Robin Williams. Der hat mit Charisma und Improvisation diesen Film bereichert und damit seinen ersten und einzigen Oscar gewonnen – für seine Rolle als Will Huntings Therapeut.
Zuletzt habe ich Good Will Hunting zufällig mit einem studierten Psychologen und Therapeuten gesehen. Der hat die Therapiestunden in Good Will Hunting mit einem milden Lächeln als »na ja, sehr unkonventionell halt« kommentiert. Sie seien allenfalls durch ihren Erfolg gerechtfertigt. Szenen wie der körperliche Übergriff des Therapeuten, der Will einmal wortwörtlich an die Kehle srpingt, zeugten zumindest nicht von Professionalität.
Zu guter Letzt, wie man aus Good Will Hunting einen Trailer für einen völlig anderen, aber irgendwie auch ziemlich coolen Film schnipseln kann, zeigt dieser grandiose Fake Trailer:
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]]>Der Beitrag ROMEO UND JULIA im Wandel der Zeit | Filme 1968, 1996, 2013 | Vergleich erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Normalerweise schreibe ich zunächst eine kleine Inhaltsangabe zu der Geschichte, um die es geht, und/oder einen Hinweis, ob im nachfolgenden Text Spoiler enthalten sind. Das kann man sich bei Romeo und Julia getrost schenken, da der große Meister einem beides abnimmt: Im Prolog (der in jeder hier aufgeführten Filmadaptionen mehr oder weniger getreu zitiert wird) fasst William Shakespeare sein Stück zusammen und haut dabei selbst die dicksten Spoiler raus! Die Zeichnerin Mya L. Gosling (von Good Tickle Brain) hat diesem fragwürdigen Auftakt mal einem Comic gewidmet:
In diesem Sinne werde ich im Folgenden nicht en detail auf die Story eingehen. Die könnte ohnehin nicht besser zusammengefasst werden, als in dem Video Romeo und Julia to go (Shakespeare in 11,5 Minuten) von Michael Sommer.
William Shakespeare schrieb Romeo und Julia Ende des 16. Jahrhunderts, unter anderem unmittelbar inspiriert und beeinflusst von Arthurs Brookes Epos The Tragical History of Romeus and Juliet (1562). Ein fiktives Liebespaar mit diesen Namen geisterte längst durch die Werke europäischer Literaten – und das Motiv zweier tragisch Verliebter an sich ist natürlich noch viel, viel älter. Schon Hero und Leander, zwei Gestalten der griechischen Mythologie, mussten ihre glühende Liebe mit dem Leben bezahlen… kurzum: Bereits Shakespeare erfand das Rad nicht neu. Doch er schrieb eine sehr runde Version von Romeo und Julia, vom Arrangement der Szenen bis zur Sprache der Protagonisten, dazu starke Dialoge und nicht wenig Humor – ein Meisterwerk war geboren!
So wilde Freude nimmt ein wildes Ende,
Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu’r und Pulver
Im Kusse sich verzehrt. Die Süßigkeit
Des Honigs widert durch ihr Übermaß… | Lorenzo in Romeo und Julia (hier online zu lesen)
Apropos Übermaß: Kaum wurde rund 300 Jahre nach Shakespeares Tragödie das Kino erfunden, gaben sich Romeo und Julia als Filmpaar die Ehre. Von einem Kurzfilm im Jahr 1908 (der heute als verschollen gilt) bis in die Gegenwart zählt die Liste von Filmen basierend auf Romeo und Julia weit über 30 Werke. Hier wollen wir uns nur drei der populärsten oder jüngsten Verfilmungen annehmen:
In der Schule habe ich das Stück tatsächlich nicht gelesen. Stattdessen sah ich vor kurzem erst aus einer Laune heraus bei Netflix die Adaption von Baz Luhrmann und dachte, huch, so ein flippiges Spektakel im MTV-Look, DAS ist also Romeo und Julia, diese uralte Romanze, um die ich mich bis dato herumgedrückt habe? Mein Weltbild stand Kopf. Also las ich dann doch mal die Tragödie und sah mir zwei weitere Filme an, um wieder auf mein Leben klarzukommen. Nun haben wir schon Sommer 2018 und ich kann endlich mitreden, wenn es um das große Schmachten am Balkon geht. Jetzt, da die wohl wichtigste Verfilmung des Stoffs genau 50 Jahre her ist.
1968 wurde Romeo und Julia erstmals mit jugendlichen Schauspielern in den Hauptrollen umgesetzt. In Shakespeares Stück sind die beiden Verliebten zwischen 13 und 14 Jahren alt. Arg jung aus heutiger Sicht, wenn man an die Leben-und-Tod-Duelle und das Hals-über-Kopf-Heiraten denkt. Als der Regisseur Franco Zeffirelli im Rahmen einer weltweiten Suche nach unbekannten Jungdarsteller*innen fündig wurde, waren Leonard Whiting 17 und Olivia Hussey 15 Jahre alt. Trotz Husseys Minderjährigkeit enthält der Film eine Szene, in der das Paar nackt im Bett liegt (nicht: rummacht, wohlgemerkt!) und für einen Moment Julias Brüste zu sehen sind. »Soft Porn«, pönte darüber ein Pastor der amerikanischen Grace Christian Fellowship und forderte eine Kürzung des Films, der im Englischunterricht seiner Gemeinde behandelt wurde. Zeffirellis Reaktion darauf:
Wenn er in ein Museum kommt, dreht sich dieser Mann auch von Aktgemälden weg? […] Ich weiß nicht, wie jemand Anstoß an dieser Szene nehmen könnte! | Franco Zefferelli, in: Pitch Weekly (März 1999)
Die Kirche störte sich wohlgemerkt offenbar mehr an der Nacktheit an sich, als am Alter der Jugendlichen. Apropos: Hier ein Filmtipp zu Spotlight (2015) über den Missbrauchs-Skandal in der römisch-katholischen Kirche in Boston.
Aufgrund der amerikanischen Gesetzeslage war es Olivia Hussey wegen der Nacktszene nicht erlaubt, ihren Film in amerikanischen Kinos zu sehen. Der Jugendschutz hat sie vor dem Anblick ihrer eigenen Brüste bewahrt, well done, Amerika. Auf diesen absurden Umstand wurde die (dann 16-jährige) Hussey bei einem Interview im Veröffentlichungsjahr des Films – 1968 – angesprochen. Hier der entsprechende Ausschnitt aus dem Interview, während dem sie ganz entspannt ihre Zigarette raucht. Hach ja, andere Zeiten…
1997 nahm sich Baz Luhrmann des Stoffes an und inszenierte ihn in einer Art und Weise, die für ihn bald zum Markenzeichen werden sollte: bunt und schrill, Theater für die Leinwand. Sein Romeo + Julia gilt inzwischen als zweiter Teil seiner Roter-Vorhang-Trilogy / Red-Curtain-Trilogy, zusammen mit Strictly Ballroom (1992) und Moulin Rouge (2001).
Luhrmann behält die Sprache Shakespeare bei, verpackt dessen Stück jedoch in neuem Gewand, mit Knarren statt Schwertern in einer Mafia-Stadt der Gegenwart. Kluger Schachzug – verbietet sich damit doch jeder Vergleich mit der meisterlichen Adaption von 1968.
Was ich mit Romeo + Julia machen wollte, war einen Blick darauf zu werfen, auf welche Weise Shakespeare selbst einen Film aus einem seiner Stücke gemacht hätte, wenn er Regisseur gewesen wäre. Wie hätte er es angestellt? […] Wir wissen vom elisabethanischen Theater und dass er für 3.000 betrunkenen Zuschauer*innen gespielt hat, vom Straßenkehrer bis zur Königin von England – und seine Konkurrenz waren Bärenjagd und Prostitution. […] Er war also ein unermüdlicher Entertainer und Anwender unglaublicher Techniken und theatralischer Tricks. […] | Baz Luhrmann im Interview (19. Dezember 1996)
Der wohl interessanteste Charakter in Baz Luhrmanns Adaption ist aber weder Romeo (gespielt von Leonardo DiCaprio) noch Julia (Claire Danes), sondern Romeos Freund Mercutio (Harold Perrineau, Jr.). Der Wissenschaftler Anthony Johae schreibt:
Mercutio, die Drag-Queen, wird [während des Karnevals] »gekrönt« mit einer Frauenperücke und in ein weißes Kleid gehüllt. Außerhalb [des Karnevals] in der wirklichen Welt bacchalanischer Exzesse, da ist er ein schwarzer Mann, der weder zum hispanischen Haus der Capulets noch zum kaukasischen Haus der Montagues passt. Er wäre ein Außenseiter, wenn er nicht (platonisch oder anders) mit Romeo befreundet wäre.
Ist diese Freundschaft homoerotischer Natur? Einen Hinweis darauf bespricht Blogger*in lilymargaretjones in einem Beitrag über Mercutios Darstellung als queer in Luhrmanns Adaption. Es geht um die Szene, in der Tybalt gegenüber Romeo und Mercutio eine sexuelle Beziehung zwischen eben diesen beiden andeutet und Mercutio daraufhin erbost sein »Schwert« zieht. (Eigentlich eine Schusswaffe, doch die phallische Wortwahl bleibt bestehen).
Da das Gegenteil von Liebe nicht Hass sondern Gleichgültigkeit ist, könnte Mercutio’s empfindliche und defensive Reaktion auf den Vorwurf der Homosexualität andeuten, dass er selbst schwul ist.
Abgesehen davon: Interessant ist nicht nur Mercutios Freundschaft mit Romeo, der unberührt bleibt von Mercutios offener Darstellung von Weiblichkeit, sondern auch Mercutios Verhältnis zu Benvolio und den anderen Montague-Jungs. Niemand zeigt sich homophobisch gegenüber Mercutio. Das zeigt, dass Mercutio entweder gar nicht (in welcher Art auch immer) queer ist, oder dass es in Luhrmanns Verona-Beach-Universum schlicht »okay« ist, queer zu sein – oder beides.
Apropos queer und das Spiel mit Geschlechtsidentitäten, hier gibt’s einen Filmtipp zu Female Trouble (1974) sowie weiterführende Literatur zum Gender-Thema: Eine Einführung in Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter (1990).
2013 dann das: Eine Neuverfilmung der Tragödie wieder im historischen Gewand, so wie der Klassiker von 1968 nur unendlich prunkvoller. Co-Produziert wurde Romeo und Julia (2013) von Swarovski – dem Kristallglas-Hersteller.
Von zahlreichen Kritiker*innen wurde diese Adaption regelrecht zerrissen. Zum Einen werde Shakespeares Sprache nicht angemessen vorgetragen (dazu kann ich mangels Fachkenntnis nix sagen). Zum Anderen, weil das Original-Stück in großem Maße umgeschrieben worden sei. Tatsächlich fließen in Shakespeare Tragödie plötzlich Floskeln ein, wie »mit guten Vorsätzen ist die Hölle gepflastert«. Witzig, dass nun dieser Film selbst als so ein Pflasterstein gesehen werden kann, der die Hölle dekoriert. Denn die Geschäftsfrau Nadja Swarovski meinte es nur gut:
Wir dachten, es sei sehr wichtig, Romeo und Julia auch der jüngeren Generation auf eine sehr angenehme Weise zu übermitteln.
Der Film sieht grandios aus in Sachen Kulissen, Kostümen, Lichtsetzung – und fährt prominente Schauspieler*innen auf. Etwa Natascha McElhone, Paul Giamatti oder Ed Westwick, der Zielgruppe dieses Films sicher bekannt aus der Jugendserie Gossip Girl. Nun, wenn der Film jugendlichen Zuschauer*innen gefällt und (auf neumodische Weise) an Shakespeare heranführt, dann kann’s doch herzlich egal sein, was ach so gestandene Filmkritiker*innen von der Umsetzung halten. Sie sind einfach nicht gemeint.
Kritiker wie Ty Burr (The Boston Globe) zum Beispiel, der doch ernsthaft ins Felde führt, der Film verstoße gegen die Kardinal-Regel von Romeo-und-Julia-Verfilmungen, dass der Romeo (gespielt von Douglas Booth) »niemals hübscher sein dürfe als die Julia« (Hailee Steinfeld). Das meint auch Justin Chang (Variety). Shame on you, guys. Mit solch oberflächlichen, irrelevanten Bemerkungen wollt ihr eure tiefgründige Kritik untermauern, die neumodische Verfilmung aus 2013 werde dem großen Shakespeare nicht gerecht? Pah. Über solchen Sexismus hätte Shakespeare seine verkokste Nase gerümpft.
Nun, welcher der drei Filme ist denn nun der Beste?
Wie gesagt, Baz Luhrmanns Romeo + Julia (1996) läuft außer Konkurrenz. Das Ding funktioniert als eigenwilliges Kind seiner Zeit, den videoästhetisch trashigen 90er Jahren. Romeo und Julia aus dem Jahr 2013 ist bei aller Kritik ein Augenschmaus, ein wirklich schöner Film, dessen Soundtrack mir persönlich sehr gefällt (Filmkritikerin Susan Wloszczyna hingegen gar nicht, »Fahrstuhl-Musik«). Was ich an der Tonspur auszusetzen hätte: dass Romeo in der deutschen Synchronisation wie Bart Simpson klingt. Macht das Reinfühlen in die Romanze ein kleines bisschen unmöglich. Dann doch lieber auf Englisch schauen, nix verstehen und einfach die schönen Bilder genießen.
Absoluter Favorit in Sachen großartiger Adaption ist und bleibt Romeo und Julia (1968). Der Film ist grandios gespielt von allen Beteiligten, mit jeder Menge Temperament und Humor. Das gegenseitige Anhimmeln der jungen Liebenden ist so übertrieben wie glaubwürdig. Wenn Romeo (Leonard Whiting) den Baum zu Julias Balkon hochklettert oder im nebligen Morgengrauen freudig springend durch Wald und Wiese rennt, dann strahlt die Figur ein jugendliches Verliebtsein aus, an dass Leonardo DiCaprio und Douglas Booth nicht herankommen. Auch Olivia Hussey spielt die Rolle der Julia so vielseitig, dass sie weit mehr ist, als ein begehrenswertes love interest. Hussey schmachtet und schwärmt und scherzt und schimpft und schluchzt und reißt die Zuschauer*innen in jeder ihrer Emotionen mit. Chapeau!
Besonders stark ist auch die Schwertkampf-Szene rund um Mercutio, Tybalt und Romeo auf den leergefegten, glühenden Plätzen Veronas. Voller Spannung und Witz inszeniert, wandelt sich ein anfangs harmloses Duell zu einem packenden Kampf um Leben und Tod. Mit wilden Schlägen und Wälzen im Staub, unschön, aber umso echter. Dagegen können DiCaprios tränenreicher Schuss und das bisschen Schwert-Kling-Kling der 2013er-Verfilmung einpacken. Als Erzähler in der italienischen Fassung ist übrigens Vittorio Gassman zu hören, bekannt aus: Il sorpasso / Verliebt in scharfe Kurven.
Romeo und Julia als junge Verliebte, die sich trotz ihrer verfeindeten Familien in die Arme fallen – das kann man übrigens auch in der Adaption von 1968 als Kinder ihrer Zeit beschreiben. Sie funktionierten prima als Identifikationsfiguren für die 68er-Generation, die nichts mit den Kriegen ihrer Eltern am Hut haben wollte. Make love, not war.
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Diese Budget-Spritze (mutmaßlich, mal wieder, solche Zahlen lassen sich schwerlich verifizieren: 18 Millionen US-Dollar) verdankt Pascal Laugier der Schauspielerin Jessica Biel (Eine himmlische Familie, Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre). Durch ihre Begeisterung für Martyrs und Zusage, in Laugiers neuem Projekt die Hauptrolle zu übernehmen, bekam er den finanziellen Support, den es brauchte. Für spektakuläre Drehorte, Kamera-Tricks und -Flüge und Auto-Stunts und Steven McHattie und, und, und…
Ich liebte Martyrs. Es war hart und brutal, ihn zu sehen, aber er war elegant – macht das Sinn? Ich war so beeindruckt von Pascals Schaffen, dass ich einfach mit ihm zusammenarbeiten musste. | Jessical Biel im Interview mit Ryan Turek (comingsoon.net)
Das Drehbuch hat Laugier, wie in seinem Erstlingswerk Haus der Stimmen (2004) und Martyrs wieder selbst verfasst. Also, worum geht’s in The Tall Man?
Zum Inhalt: In einer kanadischen Kleinstadt gehen Armut und Schrecken um. Nicht nur, dass nach Schließung der Bergbauminen die Männer ihre Arbeit verlieren – jetzt werden auch noch Kinder entführt! Eine ganze Reihe hat es schon erwischt. Angeblich wurden sie verschleppt von einer Gestalt, den man im Ort nur den »großen Mann« nennt…
Hinweis: Ab dem Abschnitt »Bleibender Eindruck« wird fleißig gespoilert, bis dahin, entspanntes Lesen! Aktuelle Streamingangebote gibt’s bei JustWatch.
Ich wollte etwas völlig anderes machen, als in Martyrs. Das habe ich von Ruggero Deodate gelernt. […] Er hat mich eingeladen, in Rom, hat mir Pasta gemacht und sagte: »Pascal, du hast dasselbe Problem, das ich mit Cannibal Holocaust hatte. Dein Film ist so schockierend, dass die Leute noch in 20 Jahren nur über Martyrs reden werden. Mir ging es genauso, ich war halb glücklich, halb traurig darüber. Ich hab nach Cannibal Holocaust immerhin 15 andere Filme gemacht!« Mir war also die Falle, in die ich als Regisseur tappen konnte, sehr bewusst. | Filmemacher Pascal Laugier beim Film4 FrightFest-All Nighter in London, 27. Oktober 2012
Ich kenne Cannibal Holocaust (1980, hierzulande auch bekannt als: Nackt und zerfleischt). Danach hatte ich erstmal nicht das Bedürfnis, noch weitere Filme von Ruggero Deodate zu sehen. Insofern weiß ich nicht, was dieser Regisseur nach seiner kontroversen Kannibalen-Pseudo-Doku noch so gemacht hat… ist er damals in eine Falle getappt, indem er versucht hat, sich selbst im selben Genre zu übertreffen? Und worin genau – Brutalität? Blutzoll? Oder hat er damals schon, wie Laugier jetzt, erstmal etwas völlig anderes gemacht? Und entgeht man damit der Falle? Oder kann man trotzdem eine große Enttäuschung abliefern?
[Enttäuschung in einem weniger persönlichen Sinne. Schon Martyrs hat mir zu wenig gefallen, als dass ich meine Erwartungshaltung an The Tall Man mit »Vorfreude« beschreiben würde. Stattdessen also bitte in einem filmkritisch-sachlichen Sinne verstehen, diese ENTTÄUSCHUNG!]
Los geht’s mit einer Texttafel: »In den USA werden jedes Jahr 800.000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten werden nach ein paar Tagen gefunden. 1000 Kinder verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.« Als Zuschauer*in rechne ich natürlich (nach Martyrs) mit einem derben Horrorfilm, keiner Doku. Auf mich persönlich wirkt es angesichts besagter Erwartungshaltung arg pietätlos, eine solche Statistik einzublenden. Hinter blanken Zahlen stehen schließlich echte Schicksale, aber naja… warum guck ich denn nicht gefälligst ne Doku, anstatt mich hier mit Horrorkino einzulullen?
Ein Kommissar kommt aus einer Höhle. Umgeben von Polizisten, die alles absperren sollen. Schnitt zu Detailaufnahmen vom Gesicht einer weinenden, zitternden Frau. Mit einer Pinzette werden ihr Scherben aus der blutenden Stirn entfernt. Der Kommissar kommt rein, schaut grimmig, sagt, man habe ihn nicht gefunden, die anderen Kinder auch nicht. Die Frau wirkt benommen… Schnitt zu einer Luftaufnahme über kanadische Wälder und die Kleinstadt Cold Rock, in der sich abspielen soll, was wie ein Thriller beginnt. Zu Stimmungsbildern aus der verwahrlosten Kleinstadt spricht ein Mädchen aus dem Off:
Unsere Stadt ist seit 6 Jahren tot. Zunächst dachten wir, die Schließung der Mine sei daran schuld. Am Verlust der Arbeitsplätze, an dem Fehlen von Geld, dem Fehlen von allem. Doch dann mussten wir etwas viel Schlimmerem die Schuld geben, denn es war etwas nach Cold Rock gekommen, etwas Böses, das unsere Stadt von innen heraus auffrass…
Knapp 10 Minuten von The Tall Man sind um, als der Vorspann eingeschoben wird. Einmal mehr: Kameraflüge über die Stadt und die Einblendung der Namen aller Beteiligten… An dieser Stelle hat mich dieser Film leider verloren. Die visuelle Art und Weise, wie die Vorspann-Schrift in die Filmaufnahmen eingebracht ist, bricht mit der bis dahin aufgebauten ernsten, düsteren Stimmung. Überhaupt bricht sie mit meinen Sehgewohnheiten, weil ich für gewöhnlich nicht gern Trash schaue – und der Vorspann schreit vom Look her so sehr nach TRASH!, dass man statt der Namen auch einer »Trash, Trash, Trash« hätte einblenden können.
Echt ey, als hätte da jemand gerade coole Tools bei After Effects entdeckt, die auf Teufel komm raus in den nächsten Film rein müssen… Gewiss, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber ich spreche ja auch nur von meinem Sinn für Ästhetik, der von diesem Vorspann gefoltert wurde.
Sprechen wir also, statt über Ästhetik (über die ich noch viel zu meckern hätte, Stichwort: alberne Schnitte, schlechte CGI), einfach über den Inhalt von The Tall Man. Manche User des Internets empören sich unter Negativkritiken zu dem Film, dass man diesen intelligenten Thriller doch nicht einfach mit Martyrs vergleichen dürfe, und überhaupt-
Stop! Was das »Intelligente« des Films angeht, möchte ich ihn dessen gerne berauben. Weil sich das »Intelligente« in meinem Schädel regelrecht beleidigt fühlte von dem, was es da zu verarbeiten bekam. (Und dazu brauche ich keinen Vergleich zu Martyrs!) Als »intelligent« wird noch am ehesten die Komposition der Story bezeichnet, mit ihren Twists and Turns, den 180-Grad-Wendungen, die bei den Zuschauer*innen für Verwirrung sorgen. Angenehme Verwirrung. Mindfuck-Filme halt, wie The Game (1997). Doch aufgepasst! Manche vermeintliche Mindfuck-Filme entlarven sich als »Fuck the mind!«-Mumpitz. Da wird die Logik der Story schon im Produktionsprozess so wenig hinterfragt, dass sich Zuschauer*innen fragen müssen: Bin ich der/die Erste, dem/der das dumm vorkommt?
Um die Leser*innen in die Diskussion miteinzubeziehen, hier mal die Story des Films The Tall Man in chronologischer Reihenfolge, ohne inszenatorische oder dramaturgische Tricks:
The Tall Man handelt von einem Ehepaar – er Arzt, sie Krankenschwester – das viel von der Welt gesehen hat. Afrika, arme Kinder. Das Paar entscheidet sich, etwas gegen die Kinderarmut zu tun. Aber nicht in Afrika, sondern in Kanada, da gibt’s ja auch arme Kinder. Etwas weniger arm, etwas besser behütet, aber sei’s drum. Das Paar will auf jeden Fall diesen Kindern helfen. Und zwar, indem sie die Kinder aus armen Familien klauen und an reiche Familien übergeben. Kid-Robbin‘ Hood.
Das ist die Prämisse des Films: Ein Paar will Kindern helfen, indem es sie auf eigene Faust aus armen Familie entfernt und in reiche Familie gibt. Das ist intelligent? Mir fallen spontan ein paar andere Ideen ein, wie ein Arzt und eine Krankenschwester armen Kindern helfen könnten. Diese spezielle Idee würde ich dabei, auf einer Intelligenzskala, eher unter »extrem dumm« einordnen, direkt unter: Arme Kinder mit Drogen versorgen, damit sie sich damit einen Kundenstamm aufbauen und finanzielle Unabhängigkeit erlangen können. Ach, lächerlicher Vorschlag?
Kommen wir zur Umsetzung der Prämisse: Um den Plan zu verwirklichen, bezieht das Ehepaar ein Haus über einem Minenstollen. In einem Städtchen, in dem augenscheinlich jede*r jede*n kennt. Dann fängt das Paar an, Kinder zu kidnappen. In dieser kleinen Stadt, in der sie wohnen, Kinder von Familien, die sie kennen. Alle paar Wochen entführen sie ein armes Kind und halten es in ihrem Haus (unter für das Kind angenehmsten Umständen) gefangen, bis sie es durch das Tunnelsystem aus der Stadt schleusen und an reiche Menschen verschenken.
Denn Geld wollen der Arzt und die Krankenschwester damit nicht verdienen. Ihr Motiv ist schlicht, das sie gute Menschen sind (und dass die Frau keine Kinder kriegen kann, das wird nebenbei auch erwähnt). Der Mann hält sich während dieses ganzen Treibens übrigens versteckt und gilt als verstorben, damit die Frau als Witwe ihr Dasein fristen kann, was irgendwie von Vorteil zu sein scheint, für ihre Strategie…
Am Ende zeigt sich, dass sie nicht nur alle Kinder aus ein- und demselben Städtchen entführen, sondern zuweilen auch in dieselbe Stadt vermitteln. So dass sich die Kinder dort begegnen. Kinder, die übrigens durchaus schon so alt sind, dass man von einem Erinnerungsvermögen sprechen kann. WTF!? Wie kann dieses Ehepaar nicht längst aufgeflogen sein?
Zu aller aller Letzt wird dann noch – mit einem dramatischen Bruch durch die vierte Wand – die moralische Frage aufgeworfen, ob die Kinder in ihren neuen, reichen Familien denn wirklich glücklicher sind? Oder nicht? Oder doch?
Was soll man denn als Wahrscheinlichkeitskrämer zu so einer Geschichte sagen? Ja, gut, danke, kauf ich dir ab!? Wie schon bei Martyrs lässt sich natürlich jede noch so dumme Aktion in einem Film entschuldigen, indem man die Protagonisten als irre abtut. Das Paar handelt zwar irgendwie rational und einigermaßen organisiert. Aber wenn schon die Prämisse derart idiotisch und deren Umsetzung so kompliziert wie möglich daher kommt, dann doch wohl, weil die Story im Dienste eines Filmes steht, der unbedingt Haken schlagen möchte.
Mein liebster Aufreger in The Tall Man ist übrigens die Szene, in der sich die Frau – als Kidnapperin entlarvt – mit einem entführten Kind in ihr Haus begibt. Ein großes Haus mit großes Fenstern und so. Ihr folgt ein Mob, der sich quasi aus der halben Stadt zusammensetzt. Sehr wütende Menschen, wütend darüber, dass die Kinder aus ihren Familien entführt wurden, Schicksal ungewiss. Leben sie noch? Oder nicht? Doch diese wütenden Menschen bilden den wohl harmlosesten Mob der Filmgeschichte. Stundenlang hält er sich vor dem Haus auf und brüllt rum. Ohne die Tür aufzubrechen oder wenigstens ein Fenster einzuschmeißen – obwohl ein Kind aus ihrer Gemeinschaft in dem Haus gefangen halten wird!
Wir sehen den Mob nicht, stattdessen vollzieht der Herr Regisseur in dieser Szene einen schönen kleinen Trick, in dem die Kamera einmal von der Protagonistin, die auf dem Bett sitzt, einmal langsam durch den Raum schenkt, während die Zeit vergeht und Tag zu Nacht wird. Aber der wilde, wütende, tobende Mob, der ist immer noch da. Das sehen wir, als die Frau bei Tageslicht abgeführt wird und sich im Polizeiauto sogar ducken muss, weil die Scheiben des Polizei-Autos SOFORT eingeworfen werden.
Es wäre vermutlich unfreiwillig komisch gewesen, den tobenden Mob in den nächtlichen Stunden vor dem Haus zu zeigen. Ein Haufen richtig wütender Menschen, die einfach nur ihre Fäuste recken und Flüche rufen! Dass sie nicht ins Haus eindringen dürfen, um das Kind vielleicht noch zu retten, das steht halt so im Drehbuch. Und ans Drehbuch hält man sich, ob es Unsinn ist, oder nicht…
Mein zweitliebster Aufreger ist der Zirkelschluss, den der Film vollzieht. Wie oben zitiert, begründet die Off-Stimme die Verzweiflung in Cold Rock nicht nur mit der Schließung der Mine. Sondern damit, dass etwas Böses gekommen sei, um die Kinder zu klauen. Aber »das Böse« (das kid-robbin‘ hoodsche Ehepaar) ist ja gekommen, um die Kinder aus ihrer verzweifelten Lage zu holen. Die Lage aber ist ja verzweifelt, weil die Kinderräuber gekommen sind… also… mir wird schwindelig – und ich drohe, mich viel zu lange mit einem Film aufzuhalten, der mich schon jetzt zu viel Lebenszeit gekostet hat.
Ja, hat mich wohl nicht so gerockt.
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Nach den ersten 3 Filmen – Jurassic Park (1993), Vergessene Welt: Jurassic Park (1997) und Jurassic Park III (2001) – wurde es lange still um die Dino-Filmreihe. Ganze 7 Godzilla-Filme erblickten seit 2001 weltweit das Licht der Kinosäle (oder landeten direkt im DVD-Regal). Auch ansonsten wurden die ehrwürdigen Urtiere eher für schändliche filmische Zwecke wiedererweckt. Als da wären: Dinocroc vs. Supergator (2010) oder Age of Dinosaurs – Terror in L.A. (2013, von Joseph J. Lawson, auch bekannt für Nazi Sky – Rückkehr des Bösen!).
Nun hätte, ehrlich gesagt, ein Jurassic Park 4 (wie er lange im Gespräch war) nicht weniger trashig geklungen. Die Zahl 4 ist schlichtweg nicht sexy. Welche Filmreihe liebt man denn bitte für ihren Teil 4? Die 3 trifft bei uns Menschen einen Nerv, vom flotten Dreier bis zu allen (anderen) sprichwörtlich guten Dingen. Aber die 4 suggeriert den Abstieg in die Belanglosigkeit. Das erklärt auch die Unbeliebtheit vieler Politiker. Legislaturperioden von 4 Jahren sind einfach eines zu lang…
Schockierender Hinweis (um den Teil-4-Trash-Faktor nochmal zu unterstreichen): Für Jurassic Park 4 wurden zeitweise Mensch-Dino-Hybride in Erwägung gezogen. Wesen also, die halb Homo Sapiens, halb Tyranno Saurus Sonstwas sind. Davon haben wir doch nun wahrlich genug…
Trilogien hingegen sind sexy – und wie! Nachdem die Planung für Jurassic Park 4 nach dem Tod des Drehbuch- und Romanautors Michael Crichton im Jahr 2008 auf Eis gelegt wurden, besinnten sich auch die Jurassic-Park-Produzenten auf diese altbekannte Gewissheit. Im Januar 2010 hieß es dann, die Vorbereitungen für eine Fortsetzung sollen wieder aufgenommen werden, doch völlig anders als geplant: Teil 4 werde der Beginn einer neuen Trilogie.
Nach Jurassic World (2015) wurde das Budget für den neuen Teil 2 nochmal um über 100 Millionen Dollar aufgestockt. Damit konnte neben den CGI-Effektfeuerwerken wieder verstärkt auf state of the arts Puppenspieler und Animatroniker gesetzt werden. Es wurden extra Szenen ins Drehbuch geschrieben, die es ermöglichten, Dinos nur teilweise (siehe: das T-Rex-Weibchen im Fahrzeug-Laderaum) und/oder in langsamen Bewegungen (siehe: die gefesselte, betäubte Velociraptorin) zu zeigen. Diese wurden nicht am Computer animiert, sondern »in echt« gebaut und gesteuert. Für diese Rückbesinnung zu den Wurzeln (Animatronik sorgte schon im allerersten Jurassic Park für die denkwürdigsten Szenen) wird Jurassic World: Das gefallene Königreich gebührend gefeiert.
Auch sonst gibt es nennenswerte Reminiszenzen an die 90er-Jahre Jurassic-Park-Filme. Von verfütterten Ziegen über zerdrückte Geländewagen, fliehende Urviecherherden und Türöffno-Saurus bis hin zu Dino-OPs gibt es einige Motive, die Jurassic-Fans Krokodilstränen der Freude in die Augen treiben.
Ich hatte das Vergnügen, Jurassic World: Das gefallene Königreich im OH·KINO in Wrocław (Breslau) zu sehen. Englisches Original mit polnischen Untertiteln und Karamell-Popcorn, yay! Auf dem Roadtrip nach Polen hatten wir zuvor eine Nacht in Dresden verbracht, inklusive Besuch im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr. In der dortigen Dauerausstellung kreuzte – zu unserer Überraschung – ein imposanter Elefant unseren Weg. Lebensgroß, ausgestopft. Er führte eine Parade von Tieren an, die von Menschen über die Jahrhunderte für ihre kriegerischen Zwecke missbraucht wurden. Von Sprengstoffspürhunden und Brieftauben über Schafe, deren traurige Bestimmung es war, Minenfelder zu erschließen. Sogar ein Löwe ist in dem Museum zu sehen, mit der Info, dass sich NS-Mann Hermann Göring einen solchen gehalten hat, auf seinem feudalen Anwesen in Carinhall. Einfach nur, um seine Gäste zu beeindrucken. Da hatte wohl jemand etwas zu kompenisieren…
Dass Jurassic World: Das gefallene Königreich also von Bonzen handelt, die Dinosaurier für Millionenbeträge ersteigern möchten, erscheint absolut logisch und sinnvoll. Manche der grimmig dreinschauenden Herren im Film wollen sicher nur ein fettes Urzeit-Haustier, um ihr zartes Ego zu streicheln. Andere denken (natürlich) an Dinosaurier für militärische Einsätze. Es gibt gar einen Dialog, in dem explizit davon gesprochen wird, dass Menschen im Krieg immer Tiere eingesetzt hätten. Da werden sogar Elefanten genannt! Und das nur 2 Tage, nachdem ich erstmals über Elefanten im Krieg gelernt habe! Das ist die fiese Art des Universums, mir zu sagen: »Na, du kleiner Wurm? Genießt du die Matrix?«
Jurassic World: Das gefallene Königreich beginnt Unterwasser, mit Lichtern eines U-Boots, die sich aus der Dunkelheit abheben. Ebenso, wie die Rahmenhandlung von Titanic (1997) anfängt. Bloß, dass der Tauchgang keinem Schiffswrack gilt, sondern dem Skelett eines Dinosauriers. Doch nicht irgendein Skelett! So wie es in Titanic um das größte Schiff im Jahre 1912 geht, dreht sich die Fortsetzung von Jurassic World zunächst um den furchterregendsten Saurier, der im Jahr 2015 noch gewütet hat. Wir erinnern uns an den epischen Kampf zwischen Tyrannosaurus Rex, ein paar Raptorinnen und besagtem Superlativ-Saurier, dem aus verschiedenen Spezies gezüchteten Hybriden Indominus Rex. Der Kampf endete damit, dass das Mosasaurus-Weibchen (die gut bezahnte Unterwasser-Echse, Rex Machina) aus ihrem Becken sprang und Indominus Rex mit zu sich in die Tiefe riss.
Dort unten also sägt nun – 3 Jahre nach dem Untergang von Jurassic World – ein U-Boot mit zwielichtigen Männern an dem Indominus-Skelett herum, um einen Knochen zu bergen. Dieser Knochen ist für die Männer ungefähr so wertvoll, wie das »Herz des Ozeans« für die ihrerseits zwielichtigen Wrack-Plünderer in Titanic. Nur dass Letztere halt in Ruhe den Tresor an die Oberfläche hieven können, während Erstere im Mosasaurus-Becken die Bekanntschaft von Mosasaurus machen. Blöder Zufall, bei so einem großen Becken…
Was hat Mosasaurus die 3 Jahre seit dem letzten Film gefressen, um in ihrem Becken nicht zu verrecken? Achtung, Achtung! Wer so früh mit Logikfragen anfängt, wird in Jurassic World: Das gefallene Königreich Kopfschmerzen kriegen. Stattdessen lieber zurücklehnen, entspannen und die Dino-Action genießen. Über 2 Stunden lang gibt’s die volle Dröhnung, ab dem Vulkanausbruch sogar ziemlich pausenlos: Auf der Insel, Unterwasser, im Schiffsbauch, Keller, Kinderzimmer, auf Dächern und in Käfigen. Neben den üblichen Verdächtigen unter den Dinos natürlich auch wieder mit einem neu gezüchteten Hybrid-Horror-Viech, das die Saurier-Sause erst so richtig in Schwung bringt!
Ich hab’s genossen, keine Frage. Jurassic World: Das gefallene Königreich ist ein Action-geladenes Dino-Spektakel mit ordentlich Schauwerten. Tatsächlich hätte ich mir gar etwas weniger Action gewünscht. Nur einmal stapft ein Brachiosaurus gemächlich durchs Bild. Diesem schönen Tier und seinen herbivoren Homies ein Weilchen beim Grasen zuschauen, das wär auch schön gewesen. Stattdessen konzentriert sich Jurassic World: Das gefallene Königreich auf die Idee vom »Dino als Kriegswaffe«. Das nimmt teilweise wirklich bescheuerte Züge an.
Es gibt eine Szene, in der ein Auktionär (verkörpert von Schauspieler Toby Jones) seinem vor Geld stinkenden Publikum vorführen will, wie übelst krass der genmodifizierte Hybrid-Dino namens Indoraptor im Käfig neben ihm drauf ist. Dazu richtet der Auktionär ein Gewehr auf einen Mann im Publikum. Als der rote Laserpunkt der Zielvorrichtung auf der Brust des (jetzt nervösen) Mannes flackert, drückt der Auktionär einen bestimmten Knopf am Gewehr. Sofort rastet der Indoraptor in Richtung des nervösen Mannes aus – nur der Käfig hält den Dino davon ab, den Mann zu zerfetzen.
Das soll also effiziente Kriegsführung sein? Mit einer Waffe auf einen Mann zielen, um dann per Knopfdruck einen wütenden Dino auf diesen Mann loszulassen? Um den Mann zu töten, oder was? Und dazu hätte man nicht einfach den guten alten Abzug neben dem fancy Dino-Knopf betätigen können!? »Raptoren auf Menschen loslassen« ist Hollywoods Pendant zu »mit Kanonen auf Spatzen schießen«. Immerhin: Wesentlich bildgewaltiger, als die Spatzen-Variante.
Übrigens hat Colin Trevorrow, Drehbuchautor der beiden Jurassic-World-Filme angekündigt, im dritten Teil werde man sich wieder auf reale Dinosaurier konzentrieren, ohne die genmodifizierten Neuschöpfungen. Jurassic World 3 soll tatsächlich ein »science thriller« werden. Zur Erinnerung daran, wie weit die Dinos in Jurassic World nach heutigem Kenntnisstand von ihren urtümlichen Vorfahren entfernt sind: In Münster gibt es seit 2014 das erste befiederte Velociraptor-Modell in Deutschland zu sehen. Schaut dezent anders aus, als die coole Raptorin Blue:
Apropos Teil 3: Nach dem Abspann lieferte Jurassic World: Das gefallene Königreich noch ein Schmankerl für alle Kinobesucher*innen, die bis zum Ende sitzen geblieben sind und gewissenhaft die Namen aller Beteiligten durchgelesen haben. Fun Fact: Ich heiße David, weil meine Eltern solche Leute sind, die sich Filmcredits durchlesen. Um 1989 herum dachten sie dabei eines schönen Filmabends: »Hey, David, der Name ist gut.« Ich persönlich hoffe ja, es war David Fincher.
NACH DEM ABSPANN jedenfalls gibt es noch ein letztes Bild von ein paar Pteranodons, die um das Eiffelturm-Dublikat in Las Vegas kreisen.
Denn: Die Dinos sind am Filmende ja ausgebüxt, alle miteinander. Und jetzt streunen sie frei durch die Welt. Die Flugsaurier an Amerikas Eiffelturm zu zeigen ist eine schönes Sinnbild für diese Dino-Klone, die ja ihrerseits »nachgemacht« sind von den urzeitlichen »Originalen«. Gleichzeitig stellt der Eiffelturm ein Symbol für Europa dar und eröffnet damit neue Dimensionen. Die Dinos haben nicht nur ihre Insel verlassen, nein, sie könnten auch den Kontinent verlassen. Jurassic WORLD eben.
Sehr, sehr coole Vorstellung. Den Film möchte ich gerne sehen. Es gibt sogar schon einen Starttermin. Am 11. Juni 2021 kommt Jurassic World 3 in die Kinos. Einfach schonmal freihalten. ABER: Ich hoffe sehr, die Macher*innen finden für die weltweite Ausbreitung der Dinos eine glaubwürdige Erklärung. Denn ein paar Dutzend große Echsen einzufangen, die im weiteren Umkreis der Villa rumlaufen, aus der sie entflohen sind, das sollte mit heutigen Mitteln doch zu händeln sein? Für den glaubwürdigen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation braucht es bitteschön ein bisschen mehr, als die Szene von einer Velicoraptorin, die sich ihren Weg durch eine City beißt.
Ach, das war ein großer Spaß! Die Spannung ist natürlich mäßig, weil man nie wirklich damit rechnen muss, dass die Dinos das kleine Mädchen zerreißen. Wann immer die junge Schauspielerin Isabella Sermon um ihr Leben bangt, können sich die Zuschauer*innen entspannt zurücklehnen: Ist immer noch Jurassic World, nicht Game Of Thrones. Hier ist die Welt noch in Ordnung, Dinos hin oder her. Abgesehen davon, dass sich Jurassic World: Das gefallene Königreich im Vergleich zum ersten Teil der neuen Trilogie zwar Mühe gibt, erneuten Sexismus-Vorwürfen auszuweichen, dies aber nur bedingt gelingt. Die weibliche Hauptrolle Claire Dearing (gespielt von Bryce Dallas Howard) bleibt im Schatten von Chris Pratt und dort trotz anderen Schuhwerks (die Stöckelschuhe aus dem ersten Jurassic World sind gewichen) eher im ständigen Opfer/Beute-Modus.
Die Journalistin Anne Cohen (Refinery29) kann tatsächlich nur der Rolle von besagter Isabella Sermon etwas Positives abgewinnen. Ansonsten findet sie erschreckend viele gute Argumente dafür, dass Jurassic World bis dato sexistischer ist, als der erste Jurassic-Park-Film in den 90er Jahren. In diesem Sinne überlasse ich der fiktiven Paläontologin Dr. Ellie Sattler mal das letzte Wort:
Über Sexismus in Überlebenssituationen können wir diskutieren, wenn ich zurück bin. | Ellie Sattler, in: Jurassic Park (1997)
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]]>Der Beitrag THE LOBSTER mit Rachel Weisz | Film 2015 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text enthält Spoiler hinsichtlich der Besprechung einzelner Szenen. Obwohl weder Ende noch wichtige Wendungen verraten werden: Es lohnt sich, diesen Film mit möglichst wenig Vorwissen zu sehen! Aktuelle legale Streamingangebote von The Lobster gibt’s bei JustWatch.
Hummer sind bemerkenswerte Wesen. Sie werden über 100 Jahre alt (wenn wir sie nicht bei lebendigem Leibe im Kochtopf zerbrühen) und sie haben blaues Blut (und zwar wirklich, nicht nur so dahergesagt, wie unsere ach so adligen Aristokraten). Außerdem sind Hummer ein Leben lang fruchtbar. Diese 3 Eigenschaften fallen dem Protagonisten David (gespielt von Colin Farrell) ein, als er im Hotel gefragt wird, in welches Tier er sich verwandeln lassen wolle. Denn das ist die Prämisse zu The Lobster: Singles werden in ein Hotel eingewiesen, in dem sie eine bestimmte Zahl an Tagen Zeit haben, eine*n Partner*in zu finden. Wenn dies nicht gelingt, werden die einsamen Seelen in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. Was auch sonst?
Die Reaktion der Hotelmanagerin auf Davids Antwort lautet: Der Hummer sei eine exzellente Wahl! Ja, und The Lobster ist eine exzellente Wahl für einen ausgefallenen Liebesfilm mit Colin Farrell und Rachel Weisz als Paar, das sich nicht haben darf.
Der kanadische Psychologe Jordan Peterson hat im Januar ein Selbsthilfe-Buch veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe erscheint im Oktober unter dem Titel: 12 Rules For Life: Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt. Im ersten Kapitel davon zieht Jordan Peterson ausgerechnet den Hummer heran, um zu demonstrieren, wie wir die fundamentalen Prinzipien der Natur ausnutzen können, um im Leben erfolgreich zu sein.
Lass dich vom siegreichen Hummer inspirieren, mit seinen 350 Millionen Jahren von angewandter Weisheit. Stehe aufrecht, nimm die Schulter zurück. | Jordan Peterson
Das ist der Hummer in Angriffshaltung: Bei Kämpfen plustert er sich auf, um seine Gegner zu beeindrucken. Peterson zielt auf den Dominanz-Trieb von Hummern ab, von dem sich Menschen etwas abschauen sollten, um im Leben zu bestehen. Das kann man auch jetzt schon in einem deutschsprachigen Blogartikel über Petersons berüchtigstes Hummer-Faible nachlesen (siehe: 112-Peterson: Der Hummer in dir).
Es scheint, dass seine Diskussion von Hummern mehr über seine eigene Weltsicht aussagt, als über menschliches Verhalten. Aber er ist der Psychologe, nicht ich.
Das schrieb Anfang dieses Monats, am 4. Juni 2018, die Marine-Forscherin Bailey Steinworth in der Washington Post. Peterson erzähle seinen Leser*innen, sie sollten sich von einem Tier inspirieren lassen, das nicht fähig ist, mit seinen eigenen Artgenoss*innen zu interagieren – außer beim Sex.
Ich sage, das Leben ist so bizarr und wundervoll, dass man Inspiration überall finden kann.
Tatsächlich geht Steinworth dann auch auf eine Reihe von Meeresbewohner*innen ein, die gleichermaßen als Vorbild für uns Menschen dienen können. Wer weiß, wenn der fiktive David diesen Artikel gelesen hätte, vielleicht hätte er sich nicht mehr in einen Hummer verwandeln lassen wollen, sondern eine Seeschnecke oder Seegurke oder Qualle? Hätte der Film The Lobster dann The Jellyfish geheißen?
Wohl kaum. Denn bei all den tiefenpsychologischen Mutmaßungen, die man über den Protagonisten David und seine Wahl für den Hummer anstellen mag, ist die Erklärung – warum ausgerechnet ein Hummer!? – sehr einfach:
Es begann mit einer Story, die wir als ursprüngliches Treatment geschrieben hatten. Darin wird der Hauptcharakter in einen Hummer verwandelt und dann sieht man seine Ex-Frau mit ihrem neuen Lover eben einen Hummer essen. Also, darin liegt die eigentliche Bedeutung des Hummers, noch bevor wir das richtige Drehbuch schrieben. | Regisseur Yorgos Lanthimos im Gespräch mit Emma Myers (Brooklyn)
Kurzum: The Lobster heißt The Lobster, weil Hummer lecker sind. Und das, obwohl diese Wendung letztlich gar nicht mehr Teil des fertigen Films ist. Der Titel ist ein Relikt des kreativen Schaffensprozesses, so einfach. Da geht es nicht doppelbödig über Dominanz-Trieb und soziale Hierarchie. Die Dinge sind manchmal, wie sie sind, aus den dämlichsten Gründen. Das lohnt sich, bei dem Film The Lobster im Hinterkopf zu behalten, bevor man jede Geste und Regung, jeden Schnitt und Schabernack in dieser kunstvoll erzählten Geschichte mit Bedeutung aufladen möchte.
Schon 2015 hat mir ein Kumpel den Film The Lobster ans Herz gelegt. Nun hat ein anderer Kumpel die DVD bei einem Filmabend aus dem Hut gezaubert. Beide kannten wir weder den Film noch den Regisseur, hatten nichts über The Lobster je gehört, außer eben, dass er »ziemlich außergewöhnlich sei«. Na denn, nichts wie rein mit der Scheibe!
Zu Beginn sehen wir eine Frau mit ihrem Auto durch den Regen fahren, auf einer Landstraße. Der Prolog zu The Lobster – vor dem eigentlichen Titel – ist ein One-Take, ein etwa 80-sekündige Szene ohne Schnitt, ohne Musik, ohne Worte. Was darin passiert und wie es zu deuten ist, das wird im Internet fröhlich diskutiert. Manche sehen in dem rätselhaften Prolog »the whole movie in a nutshell«. Yorgos Lanthimos selbst sagt, er mag es, einen Film so zu starten:
Du gibst den Ton an, ohne eine Erklärung zu liefern oder den Einstieg noch einmal aufzugreifen. Wenn der Film zu Ende ist, können die Zuschauer*innen selbst zum Anfang zurückkehren und ihn auf ihre Weise interpretieren.
Nach Einblendung des Titels folgt eine Over-Shoulder-Einstellung eines Mannes (Colin Farrell), auf der Couch sitzend. Zu seinen Füßen ein Hund. Der Mann spricht mit seiner Frau, die wir nicht zu sehen bekommen. Offenbar geht es um einen Anderen, den die Frau kennengelernt hat. Deshalb muss der Mann gehen. Er wird eskortiert, zu einem Wagen, dann deportiert, zu dem Hotel.
An der Rezeption wird der Mann gefragt, ob er homo- oder heterosexuell sei. Bisexualität gibt es in dieser Zukunftsvision ebenso wenig, wie halbe Schuhgrößen. Der Mann überlegt ein wenig hin und her, sein Blick schweift zur Seite, wir sehen nicht, wohin, hören von dort her nur Absatzschuhe über einen harten Boden stöckeln. Er müsse wohl »hetero« angeben, sagt der Mann, dessen letzter Blick laut Audiospur einer Frau galt. Dieses subtile, inszenatorische Detail ist besagtem Kumpel aufgefallen, mit dem ich den Film sah. An mir allein wäre es, fürchte ich, unbemerkt vorbeigegangen.
Schon ab der ersten Szene kommentiert eine Erzählerin aus dem Off gelegentlich das Geschehen. Ihre Stimme soll später ein Gesicht bekommen: das von Schauspielerin Rachel Weisz. Die Erzählerin, die zu handlungstreibenden Figur wird – dieser Kniff kam uns beim Filmabend so ungewöhnlich vor, dass wir eine Literaturverfilmung vermuteten. Es gibt ja Romanvorlagen, deren Umsetzung ein paar besondere Kniffe abverlangt. Doch so sehr sich The Lobster zuweilen so anfühlt – der Film ist keine Literaturverfilmung, sondern basiert auf einem Original-Drehbuch.
Neben Rachel Weisz enthält der Film zahlreiche weitere bemerkenswerte Frauenrollen. Allen voran Léa Seydoux als Anführerin der Einzelgänger*innen in den Wäldern. Sie hält sich einen »Partner« bloß zur Tarnung in der Stadt, in der Menschen nur als Paare auftreten dürfen. Das führt dazu, dass selbst die herzlosesten Zeitgenoss*innen sich verkuppeln lassen, etwa Angeliki Papoulia als (wir lernen sie tatsächlich nur unter diesem Namen kennen) »herzlose Frau«.
Was The Lobster im Vergleich zu anderen, von Männern angetriebenen Film gelingt, ist die Kreation eines Raumes für Frauen. Im Verlauf dieses Films gibt es etliche Szenen, Momente und Konversationen, die weibliche Stärke, Stabilität und Logik unterstreichen. […] In anderen Filmen nehmen Männer diesen Raum mit ihren eifrigen, enthusiastischen und sexuell aufgeladenen Persönlichkeiten ein. Doch The Lobster beschränkt die Männlichkeit und erlaubt Frauen, wütend, traurig, aggressiv, laut, forsch, sexuell, wild und generell »unfeminin« zu sein. | Samantha Ladwig (BUST) über den Film The Lobster (übersetzt aus dem Englischen)
Fun Fact zum Abschluss: Die französische Schauspielerin Ariane Labed, die als »Zimmermädchen« in einer ganzen Reihe starker Szenen von The Lobster auftritt, ist mit dem Regisseur des Films, Yorgos Lanthimos, verheiratet.
Gespickt mit absurd-komischen, tragischen und schockierenden Ideen und Szenen, weiß The Lobster über seine rund 2 Stunden Laufzeit sehr gut zu unterhalten, wenn man bereit ist, sich auf eine ungewöhnliche Welt einzulassen. Und egal ob Single oder in Partnerschaft, dieser Film stimmt nachdenklich über die sozialen Gefüge, in die wir uns wer weiß wie freiwillig oder forciert so begeben. Sehenswert, erlebenswert!
Der Beitrag THE LOBSTER mit Rachel Weisz | Film 2015 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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