Der Beitrag FERNSTUDIUM, ist das was für mich? | Vorteile, Nachteile erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Was heißt »in-so-dumm«? Zunächst ein kleiner Schwank aus der Kindheit – wer darauf keinen Bock hat, einfach direkt zum Abschnitt »5 Gründe« scrollen.
Meine kleinen Geschwister und ich, wir haben unsere Kindheit in den 90er Jahren verbracht. Also ohne Handy und Internet, dafür mit jeder Menge Langweile und dummen Ideen. In der Regel waren das Ideen für irgendwelche Spiele, meist Rollenspiele. Wann immer wir in unseren Kinder-Hirnen selber gemerkt haben, dass die eine oder andere Idee (nach Maßstäben der Erwachsenenwelt) dumm war, dann haben wir das natürlich entsprechend reflektiert. Wir spielten also »in-so-dumm«. Zum Beispiel eine Partie Mein Land:
Alle sitzen in verschiedenen Ecken einer Matratze (im Kindesalter hatte man zu dritt auf einer handelsüblichen Bettmatratze noch jede Menge Platz) und diese Matratze ist ein Land. Aber nur »in-so-dumm« (mit diesem Zusatz haben wir das einander erklärt, um zu zeigen, dass wir selbstverständlich checken, dass die Matratze kein echtes Land ist). Im Folgenden ging es darum, die jeweils anderen Geschwister mit reichlich Gerangel von der Matratze zu schubsen, um diese für »Mein Land« zu erklären. Dämliches Spiel, wenn man bedenkt, dass der junge Mozart in unserem Alter schon seine ersten Auftritte gab. Kann man noch weiter vom Genie entfernt sein, als beim begeisterten Sich-Gegenseitig-vom-Bett-schubsen?
Ein paar Jahre später (okay, 20 Jahre später) habe ich gemerkt, dass unser kindisches »in-so-dumm« in der Erwachsenenwelt gang und gäbe ist. Wenn wir ein Stück Papier hochhalten und behaupten, das sei jetzt so viel wert wie ein Fahrrad, dann natürlich nur »in-so-dumm« und solange alle mitspielen. Und wenn wir einen bestimmten Bereich abstecken und ein »Land« nennen, dann checken wir selbstverständlich, dass es ein Land gar nicht gibt. Es gibt vielleicht das Land, wenn man dem Trockenen zwischen den Wassermassen, die wir als »Meer« bezeichnen, auch einen Namen geben möchten.
Aber »ein Land« (neben anderen Ländern) gibt es nur in der Vereinbarung sehr vieler Menschen, die sich irgendwie miteinander arrangieren wollen. Denn das tun Menschen, wenn sie zu alt sind, um zu spielen. Sie »arrangieren« sich miteinander. Ist man einmal in einem ehrwürdigen Alter, wie etwa, sagen wir, 69 Jahre (Glückwunsch nachträglich, Horst! Und jetzt geh mal in Rente), dann hat »Mein Land« als Spiel seinen Charme eingebüßt. Es gibt nur noch Verlierer*innen.
2015 war’s, als ich mich zunehmend fragte, was noch alles »in-so-dumm« ist, also nur in-den-Köpfen. Ist dafür einmal das Bewusstsein geschärft, dann wird die Dummheit riesengroß. Sie ist überall und laut und bedrohlich. Wie kann man sich vor diesem Monstrum schützen? Wie kann man Wirklichkeit von Dummheit unterscheiden? Gibt es Wirklichkeit überhaupt? Und wenn ja (oder nein), was ist wirklich wichtig im Leben?
Aus dieser Verzweiflung heraus habe ich mich Anfang 2016 nach einer Möglichkeit der Weiterbildung umgeschaut. Denn der Impuls »weg von der Dummheit« führt im logischen Umkehrschluss erstmal »hin zum Wissen« (wo oder was das auch immer sein mag).
Klarstellung: Wenn ich hier von »Dummheit« spreche, ist dieser Begriff nicht als Beleidigung gemeint. In diesem Blogbeitrag benutze ich »dumm« in Anlehnung an oben erläuterten, unbewussten Neuwort-Schöpfung »in-so-dumm« aus Kindheitstagen. In diesem Sinne heißt »dumm«: von nicht zureichender Intelligenz, um mit Gewissheit sagen zu können, was Wirklichkeit ist.
Im Jahr 2016 war ich noch fest angestellt in einer Redaktion und habe von montags bis freitags meine 35 Stunden geschoben. Nine to Five. Damals hatte ich noch nicht den Arsch in der Hose, diese solide Wochenstruktur aufzugeben. (Der Arsch fehlt mir heute noch – was okay ist, wenn man den Gürtel enger schnallt. Ha ha. Witze aus dem Leben eines frisch gebackenen Selbständigen; da kann man nur selbst drüber lachen, und zwar ständig.) Jedenfalls hätte mein Arbeitgeber mich damals bei einer Weiterbildung sicher unterstützt, wenn ich A) gefragt hätte und es B) ein Bezug zum Verlagswesen gegeben hätte. Aber da ich Letzteres nicht wollte, konnte ich mir Ersteres auch sparen. Wie also dann weiterbilden, neben dem Beruf?
Private Fernlehrgänge: Schon früher hatte ich mal – andere Stadt, andere Arbeit – das Bedürfnis, nebenbei noch was zu lernen. Da war meine Wahl auf den ILS-Fernlehrgang »Filmproduktion – professionell gemacht« gefallen. Der schneidet im Fernstudium-Check richtig gut ab, ist aber inhaltlich mager. Mit Blick aufs Preis-Leistungs-Verhältnis kann man die Kohle besser in ordentliche Lektüre zum Thema Film investieren. Wann immer ich mich heute auf irgendetwas im Bereich Film bewerbe, lasse ich diesen Fernlehrgang aus meinem Lebenslauf raus, weil es mit professioneller Filmproduktion nichts zu tun hat. Ist ein bisschen so, als würde man in einer Bewerbung als Architekt*in angeben, welche Anwesen man in SimCity gebaut hat.
Kurzum: Weder wollte ich berufsbezogene Möglichkeiten der Weiterbildung wahrnehmen, noch etwaige Programme privat-wirtschaftlicher Fernschulen, auf den Verdacht hin, dass man da mehr Geld als Grips investiert. Eine Alternative fand ich in der einzigen staatlichen Fernuniversität in Deutschland, die gleichzeitig mit rund 76.000 eingeschriebenen Student*innen die größte Uni Deutschlands ist.
Die Zahl entspricht etwa der Bevölkerungszahl meiner Heimatstadt, was mich anfangs ziemlich beeindruckt hat. Aber man muss einfach bedenken, dass das quasi nur »der große Rest« derjenigen ist, die nicht schon sonstwo irgendwas studieren. Und gemessen an den Zugangsvoraussetzungen und der deutschen Bevölkerungszahl ist 76.000 angesichts der Zahl der Menschen, die dort ein Fernstudium machen könnten, eher erstaunlich gering. Dieses Staunen nimmt bei mir über die Semester hin immer weiter zu, weil die Qualität dieser Universität – in so ziemlich jeder Hinsicht – echt stark ist. Allerdings, klar, muss man halt ein Interesse an den Inhalten eines Fernstudiums haben.
Zulassungsvoraussetzungen für Bachelor-Fernstudiengänge an der FernUniversität in Hagen:
Interesse an den Inhalten also… das sagt sich so leicht. Als ich mich erstmals durch das Angebot der Bachelor-Fernstudiengänge scrollte, da dachte ich noch: nö, nö, nöhöhööö! Informatik, Mathematik, Politik- oder Wirtschaftswissenschaft? Warum nicht gleich Jura? Fuck. Ich hab in Mathe damals aus Sinus-Kurven Dinosaurier gemacht und im Computerraum nur mit Paint gespielt und über Google die Earth bewundert. Und Wirtschaft? In meiner Ausbildung zum Kaufmann dienten mir T-Konten eher dazu dazu, die Vor- und Nachteile vom Berufsschulunterricht aufzulisten. Vorteile: Die Lehrer*innen sind weniger streng. Du bist jetzt erwachsen. Nachteile: Die Lehrer*innen sind weniger streng. Du bist jetzt erwachsen. Ach, wer braucht schon Buchhaltung? Konnte ich doch nicht wissen, dass ich mich mal selbständig mache.
Selbständige brauchen Buchhaltung.
Existenzgründung 101
Ja, ich habe in meinen Interessen (oder Desinteressen) oft geirrt. Dass meine Wahl für ein Bildungsangebot letztendlich auf den Studiengang B.A. Kulturwissenschaften fiel, das war die Folge von zu viel Desinteresse. Ausschlussverfahren. Das eine, das noch übrig war, nachdem ich den Rest der Liste von Studiengängen für ein mögliches Fernstudium im Geiste noch durchgestrichen hatte. Und Kulturwissenschaften war zunächst nur deshalb vor dem Rotstift sicher, weil ich ehrlich gesagt nicht wusste, »wat dat is«, wie man in der Heimat so schön sagt.
Der Studiengang B.A. Kulturwissenschaften umfasst an der FernUniversität verschiedene Module aus 3 Fachrichtungen: Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. In Letzterer geht es zuweilen ganz ausdrücklich darum, was eigentlich Wirklichkeit und was nur in unseren Köpfen ist. Riesenthema. Und genau das, was ich suchte. Na endlich, gefunden.
Einige Themen, mit denen man (je nach eigenem Interesse) durch diesen Studiengang in Berührung kommen kann – nur eine winzige Auswahl, für einen ersten Eindruck:
Das weiß ich wohlgemerkt erst jetzt – also, dass Kulturwissenschaften das ist, was ich 2016 suchte. Anfangs dachte ich nur: Joa, Geschichte interessiert dich und hilft bestimmt bei dem Hobby »Geschichten schreiben«. Und zack, hatte ich mich für ein Fernstudium eingeschrieben. Was genau Philosophie ist und alles dahintersteckt, das entfaltet sich mir seit nunmehr zwei Jahren, learning by doing. Worauf ich mit dem ganzen Blah hinaus möchte:
Auch wenn dein Interesse an Weiterbildung eher vage ist und du besser sagen kannst, was du alles nicht willst, als was du eigentlich willst – gib einfach Irgendetwas die Chance, dieses »eigentlich« zu sein. Denn man kann sich nur für Dinge interessieren, von denen man weiß. Und man weiß verdammt wenig, solange das Desinteresse überwiegt. Und danach eigentlich auch. Aber dazu gleich mehr, Stichwort: Land der Wahrheit…
Jetzt geht’s erstmal ans Eingemachte! Im Folgenden habe ich 5 Gründe für ein Fernstudium aufgeführt – und 5 Gründe dagegen (am Beispiel der Kulturwissenschaften, aber auch übertragbar auf andere Studiengänge):
Klingt ein bisschen nach Wellness-Werbung. Bei »Mehr Zeit für dich« denkst du vermutlich an eine Badewanne, Sonnenstunden und Rumlümmeln auf der Couch. Das kannst du auch. Stell dir einfach nur ein Buch dazu vor (oder über welches Endgerät auch immer du zu lesen bevorzugst). Die meiste Zeit in einem Fernstudium der Kulturwissenschaften verbringt man mit Lesen – und das Gelesene zusammenfassen, und über das Zusammengefasste nachdenken. Lesen, Schreiben, Denken, das ist – Inhalte hin oder her – Zeit für dich.
Ob man es als quality time oder Verschwendung betrachtet, ist Einstellungssache, aber das Fernstudium zwingt dich regelrecht dazu, mehr Zeit mit dir selbst zu verbringen. Ohne Spiegel, ohne Selfie-Stick. Keine Likes für jede gelesene Seite. Kein Interesse an dem, was du gerade tust, von irgendwem. Nur du, das Weltwissen und deine Gedanken dazu.
Diese althergebrachte Art der Einsamkeit kann ganz schön bedrückend sein, in Tagen wie diesen, in denen wir gerne 24/7 interconnected sind. Zumindest mir geht’s so, dass ich dann manchmal eine schreiende Leere in mir fühle. Nicht selten flüchte ich in soziale Medien, wo eh alle schreien und man weniger allein ist. Wenn es mir hingegen hin und wieder gelingt, der Einsamkeit mit mir selbst Stand zu halten, einfach nur zu lesen, zu notieren, zu grübeln, dann spüre ich, wie sich die Leere mit Inhalten füllt. Blumige Sprache, ich weiß. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass »mehr Zeit für dich« etwas Gutes sein kann.
Es geht nicht darum, »mehr Zeit mit sich« zu verbringen, damit, sich nur um die eigene Achse zu drehen, in Selbstzweifel oder Narzissmus zu zergehen. Es geht vielmehr darum, mehr Zeit damit zu verbringen, etwas für sich als Person zu tun. Für den Geist, der deinem Körper innewohnt (auch wenn das in der Philosophie ein streitbares Thema ist, das mir manche*r jetzt um die Ohren hauen würde).
Dazu braucht man kein Mathe zu studieren: Mehr Zeit für dich = weniger Zeit für alles Andere. Ein Tag hat nur 24 Stunden und du kannst deine Schlafzeiten nicht allzu sehr reduzieren. Vielleicht willst du das auch gar nicht, weil Schlafen großartig ist. Am Ende sind die meisten von uns 14 bis 18 Stunden zwischen zwei Sonnenaufgängen wach und haben ehrlich gesagt immer genug zu tun.
Als 90er-Jahre-Kind bei ländlicher Wohnlage hatte man quasi keine andere Wahl, als sich eigene Spiele auszudenken, um irgendwie die ganze Zeit »zu vertreiben« (schrecklicher Ausdruck eigentlich). Die 3 Videokassetten waren schnell mal durchgeguckt. Die Gameboy-Batterien regelmäßig leer. Das Wetter manchmal schlecht. Und unterwegs im Internet konnte man während dem Aufbau einer Seite das Alphabet rülpsen, vorwärts und rückwärts und die Bilder waren immer noch nicht zu sehen.
Heute kann man nicht an einem Nachmittag Netflix durchschauen. Dafür muss man sich schon mehr Zeit nehmen. Und Entdeckungsreisen in den Tiefen des World Wide Web fressen auch mehrere Menschenleben. Die Schlaumeier*innen aus vergangenen Jahrhunderten, die über jede Wissenschaft ihrer Zeit genau Bescheid wussten, die hatten ja keine Ahnung. Charles Darwin würde heute vielleicht weniger Tiere auf den Galapagosinseln finden – aber der Junge soll nur mal ne Runde mit Pokémon Go drehen. Die Welt ist irre geworden, irre vielfältig.
Als Einzelne, mit unseren je eigenen Expertisen und Erfahrungen, wissen wir zu viel und zu wenig; also überlassen wir uns der Verzweiflung oder der Hoffnung, obwohl weder das eine noch das andere eine kluge Haltung ist. Weder Verzweiflung noch Hoffnung sind auf Sinnlichkeit, auf von Geist erfüllte Materie, […] oder auf sterbliche Erdlinge in dichter Kopräsenz gestimmt.
Donna Haraway, in: Unruhig bleiben (2018), S. 13
Brauchst du wirklich noch etwas, das dir deine Zeit wegfrisst? Und selbst wenn du xy Wochenstunden zur Verfügung hättest, würdest du sie wirklich mit Studieren verbringen wollen? Denn machen wir uns nichts vor: Du kannst bei einem Fernstudium natürlich in der Badewanne oder auf der Couch lesen. Aber viel öfter wirst du dich vermutlich am Schreibtisch wiederfinden. Hurra.
Na ja, also erstmal gibt man Geld aus, natürlich. Bei einem Fernstudium bezahlt man die Studienhefte, die man halbjährlich zugeschickt bekommt. Das sind, je nach dem, ob man in Teilzeit oder Vollzeit oder in Teilzeit mit Vollzeitpensum studieren möchte, etwa 200-350 Euro im Halbjahr. Gegenüber privaten Fernlehrgängen ist das günstig. Und kaum beginnt das Semester, beginnt die fröhliche Challenge, die Ausgaben durch Vergünstigungen wieder reinzuholen. Es gibt etliche Möglichkeiten, insbesondere bei kulturellen Veranstaltungen, mit einem Studierenden-Ausweis günstiger »reinzukommen«.
Außerdem hat man freie Zugänge zu Online-Archiven und -Datenbanken voller interessanter Inhalte sowie Lernplattformen, über die man sich alles Mögliche beibringen lassen kann. Ich nutze diese zum Beispiel, um mit meinen Adobe-Programmen fitter zu werden (Lightroom, Photoshop, Premiere) – aber es gibt auch Lehrmaterial zu Social Skills, anderen Computerfragen, oder Dingen, die man eher im Hobby-Bereich verorten würde. Solche Lerninhalte sind oft (weil aufwändiger und mehr in die Tiefe gehend als viele YouTube-Videos) hinter Bezahl-Schranken versteckt. Fernstudierende können über manche drüber hopsen. Allein: Zeit müsste man wieder investieren…
Vorweg: Geld wird überbewertet. Meist versuchen wir, an mehr davon zu kommen, als wir festhalten können. Oder wie Uwe Seeler einst sagte:
Ich kann ja doch nicht mehr als ein Schnitzel am Tag essen.
Andererseits ist das natürlich First-World-Gelaber. Bezeichnenderweise kursieren von Uwe Seelers Aussage zwei Versionen im Internet. Die andere lautet: »Mehr als ein Steak am Tag kann man nicht essen.« Ach was?
Ich sehe was das du nicht sieht und das ist Geld! […]
K.I.Z.
Keine Schwielen an den Händen – das ist Geld!
Sagen »Geld ist nicht alles« – das ist Geld!
Aber trotzdem, verarschen wir uns nicht selbst. Überall, wo man »vergünstigt reinkommt«, gibt man im Endeffekt zusätzlich Geld aus. Hinzukommt, dass Fernstudierende dazu neigen, sich viel mehr Bücher anzuschaffen, als man normalerweise kaufen oder leihen würde. Das kommt auf die Semestergebühren nochmal oben drauf. Dann die Fahrtkosten zu den Prüfungen und manchen Präsenz-Seminaren plus die Teilnahme-Gebühren für besondere Praxis-Seminare. Nicht zu vergessen: das Budget für die Nervennahrung. Ein paar Kilo Nüsse sind in der Prüfungsphase rasch verdrückt.
Allerdings, wenn du wirklich mit dem Gedanken spielst, hey, so ein Fernstudium, das könnte eine sinnstiftende Maßnahme sein – dann ist Geld offenbar nicht deine größte Sorge im Leben. Ist doch gut so. Zurück zum Wesentlichen:
Warum Geschichte studieren? Anders als in Physik oder Chemie geht es nicht darum, Vorhersagen zu treffen. Wir beschäftigen uns mit der Vergangenheit, um unseren Horizont zu erweitern und zu erkennen, dass unsere gegenwärtige Situation weder unvermeidlich noch unveränderlich ist, und dass wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben, als wir uns gemeinhin vorstellen.
Yuval Noah Harari, in: Eine kurze Geschichte der Menschheit (2013), S. 294
Unser Vorstellungsvermögen, das kann man leicht unterschätzen. Meist reicht schon die Vorstellung von »Ideen« als etwas, das uns unseren Hirnen irgendwie magisch entspringt, in der sich dieses Vermögen erschöpft. Nach dem Motto: »Man hat halt Fantasie oder eben nicht«. Stattdessen sind alle großen Ideen der Menschen die kleinen Babys verschiedenster Einflüsse und Inspirationen. Vor denen kann man sich gar nicht wehren – aber je weniger Übung, desto eher verpufft eine Inspiration, ohne neue Ideen hervorzubringen.
Der umgekehrte Weg ist die gezielte Suche nach Einflüssen und Inspirationen in einem gigantischen, Jahrtausende alten Kulturkosmos, aus dem wiederum Ideen fürs Hier und Jetzt hervorgehen. Dazu ist so ein Fernstudium fantastisch, in Kulturwissenschaften auf jeden Fall. Da kommen immer wieder Themen auf den Tisch, die heute »im öffentlichen Diskurs« (wenn man die eigene Social-Media-Bubble denn überhaupt so bezeichnen mag) völlig untergehen. Es ist gut, zuweilen mit solch unscheinbaren oder unpopulären Themen konfrontiert zu werden – das rückt manche Phänomene der Gegenwart in Relation und eröffnet einen zuversichtlicheren Blick in die Zukunft.
Zuletzt habe ich mich mit Helmuth Plessner und dessen Hauptwerk beschäftigt, das sich um das Wesen des Menschen dreht. Plessner kommt zu dem Schluß, dass die fortwährende Beschäftigung mit Kultur (als unsere zweite Natur) für uns Menschen ganz grundlegend ist, um die Welt um uns herum überhaupt wahrnehmen zu können – und zwar nie unmittelbar, sondern immerzu vermittelt durch unser Bewusstsein. Deshalb sei es auch, dass jede Generation auf ein Neues kulturelle Schöpfungen hervorbringen muss. Weil wir gar nicht anders können. Das ist vielleicht nicht der Grund für den x-ten Spider-Man-Film (das ist Geld), aber der Grund, warum überhaupt noch Bücher geschrieben werden.
»Die Welt ist voller Bücher. Warum um Himmels willen musst du da mit einem weiteren ankommen?«
Louise Doughty zitiert einen Buchhändler, in: Ein Roman in einem Jahr (2007), S. 10
Die Antwort auf die Frage, warum neue Bücher, neue Filme, neue Apps und Ideen uns immer wieder auf Trab halten, ist so kindisch wie wundervoll: Darum. Wir können nicht anders. Es ist ein Wesensmerkmal von uns Menschen.
Doch jede unserer Errungenschaften, jedes Kulturgut und jede Antwort ist bestenfalls nur eine Schaufel Sand an dem Strand, der unsere Insel umgibt. Immanuel Kant beschrieb sie als »Land der Wahrheit«. Es sei…
[…] umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane […], indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.
Immanuel Kant, in: Kritik der reinen Vernunft, Kapitel 68
Wir mögen den Strand mit schaufelweise Sand anhäufen und die Insel vergrößern. Doch damit wächst nur die Uferlinie entlang des Ozean dessen, was wir nicht wissen. Ausflüge hinaus auf hohe See eröffnen bloß immerzu neue Horizonte, keine neuen Ufer. Im Studium wird Leser*innen diese Tatsache immer wieder eindrucksvoll vor Augen geführt, wenn sie in einem x-beliebigen Buch die Literaturhinweise aufschlagen. Jedes große Werk ist nur ein Nadelöhr zu einem neuen Universum an Wissen… das kann faszinieren oder deprimieren, je nach dem, ob man sich gerade abenteuerlich oder einfach nur klein und dumm fühlen möchte.
[Insbesondere bei einem Fernstudium, da man mit einer Lektüre oft alleine ist und nicht sieht, dass andere Student*innen auch hart daran zu knacken haben, überwiegt zuweilen dieses »klein und dumm«-Gefühl. Der vielleicht spürbarste Nachteil eines Fernstudiums.]
Bei kaum einem Fach wird man wohl so häufig mit der Frage konfrontiert: »Wozu brauchste das später mal?« Gemeint ist natürlich Philosophie (also das große Gedankenspiel der vergangenen Jahrtausende, aus dem nur so Pillepalle wie unsere Demokratie und unser Rechtsstaat hervorgegangen sind). Doch selbst, wenn du dich für ein Studienfach entscheidest, dessen konkrete Inhalte du in seiner Relevanz manchmal anzweifelst: Ein Fernstudium schult weit mehr als die Expertise in einem bestimmten Fach.
Man hat zum Beispiel kaum eine andere Wahl, als sich mal bewusst mit dem Thema »Zeitmanagement« zu beschäftigen, um so ein Studium mit Arbeits- und/oder Familienalltag unter einen Hut zu kriegen. Was diese Beschäftigung konkret bringt, muss jede*r für sich selbst sehen. Mir persönlich hat das Thema »Zeitmanagement« den Weg gebahnt zu neuen Workflows und Perspektiven – und unterm Strich eben: mehr Zeit.
Struktur in Alltag und Arbeitsweise; die Fähigkeit, sich auf neue Inhalte mit vertrauten Methoden und Mitteln zu stürzen; Übung darin, Internet und Bücherwelt nach relevanten Informationen (also Daten, dem Gold des 21. Jahrhunderts!) zu durchforsten – all solche Skills schult ein Fernstudium jenseits der eigentlichen Studieninhalte.
Vorbei sind die Zeiten, in denen man einen Beruf lernt und drei bis vier Jahrzehnte lang ausleben kann. Selbst neue Berufsbilder mögen eine vergleichsweise kurze Halbwertszeit haben und wieder in Bedeutungslosigkeit versinken. »Times are changing, Kitty« – das stellte schon Red Forman in den Wilden Siebzigern fest…
Der rassistische, sexistische Amerikanische Traum hat ausgedient, das ist begrüßenswert. Was am ehesten gefragt sein wird, in den kommenden Jahrzehnten, das sind keine konkreten Kenntnisse, sondern spezielle Skills – vor allem die Fähigkeit, in Bewegung zu bleiben. Wer Übung darin hat, sich Neues beizubringen, ist gut aufgestellt in unruhigen Zeiten.
Ständig in Bewegung bleiben, das heißt: ins Schwitzen geraten. Auch mal außer Puste sein. Keine Lust mehr haben. Und zu viel Druck. Gerade in Leistungsphasen, wenn man zu einem bestimmten Termin, für eine schriftliche oder mündliche Prüfung unverhältnismäßig viel Wissen in den eigenen Schädel stopfen soll. Vier Klausur-Stunden lang über wissenschaftliche Themen schreiben oder 40 Minuten lang ein fachspezifisches »Frage-Antwort-Spiel« durchstehen – das sind Ausnahmesituationen, die man eigentlich nicht braucht. Das Wissen verpufft danach eh wieder.
Andererseits… eine mündliche Prüfung ist die beste Übung für Vorstellungsgespräche oder andere Situationen im Leben, in denen man eine gute »Live-Performance« machen möchte. Und das Hochgefühl nach einer bestandenen Prüfung ist wie ein Kick, der alle sechs Monate mal eine sehr schöne Abwechslung im Alltag sein kann. Leistungsdruck vs. Erfolgsgefühle.
Gibt es irgendeine neue Aktivitäten, die du aufnehmen kannst, ohne neue Leute kennenzulernen? Selbst beim Angeln gehen trifft man hin und wieder andere kauzige Seelen… wenn du dich aber in die größte Uni Deutschlands einschreibst, dann lernst du unweigerlich jede Menge neuer Leute kennen. Dabei ist der Querschnitt der Leute in einer Fernuniversität mindestens so bunt, wie an Präsenz-Universitäten. Natürlich trifft man sich, physisch, seltener.
Aber was sind heutzutage schon Distanzen? Die Student*innen kommen aus verschiedensten Städten und Ländern zusammen – und aus unterschiedlichen Lebenslagen: Menschen, die gerade eine Familie oder ein Unternehmen gegründet haben, oder deren Kinder just aus dem Haus sind, oder deren Ruhestand begonnen hat. Andere wiederum, die mittendrin stehen, im Geschäfts- und/oder Familienleben, die einfach noch ein bisschen Rest-Energie kanalisieren wollen. Interessante, aufgeweckte Individuen. Kontakt hält man via Mails und Messengern. Und ist man zufällig in derselben Stadt, geht man zusammen Mittagessen.
Nichts ist ätzender, als irgendwelche Schlaumeier*innen, die glauben, Anderen die Welt erklären zu müssen. Außer vielleicht, wenn man sich selbst als solch ein Schlaumeier überführt. Zu Beginn eines Philosophie-Seminars hat es ein Dozent mal geradeheraus gesagt: »Sie werden den Leuten auf die Nerven gehen, mit dem, was Sie tun…« – jepp. Selbst die eigene Familie erkundigt sich höflich nach Prüfungsergebnissen, solange man bloß nicht loslegt mit irgendwelchen poststrukturalistischen Gender-Theorien – für dich gerade der neuste Shit und superduper spannend. Für Andere das, was doch schon seit Jahren in irgendwelchen drögen Büchern steht und da ganz gut aufgehoben ist.
Das Problem bei einem Fernstudium ist, dass du öfter mal Gesprächsbedarf zu Themen hast, die Menschen aus deiner unmittelbaren Umgebung gerade eher nicht so vom Hocker hauen. Schön und gut, dass man jederzeit mit aller Welt schreiben und skypen kann. Doch das Offline-Leben ist meist immer noch das wichtigere Leben – und da will man nicht die Nervensäge sein, die dauernd über ihre neuesten Erkenntnisse blubbert. Dafür gibt’s doch Blogs.
Während dem Schreiben dieses Blogbeitrags habe ich eine Pause eingelegt. Ein Tag ist vergangen, die Welle der Euphorie über jene Prüfung ist abgeflaut… während sich auf meinem Schreibtisch neue Studienhefte türmen. Manche davon tragen echt langweilige Titel. Und ich weiß jetzt schon, dass die paar Monate bis Februar oder März wie im Flug vergehen werden. Dann reißt mich das Studium wieder für ein paar Wochen ein bisschen raus aus der Routine, woraus auch immer die dann gerade bestehen mag. Ich bin jetzt gerade erst knapp über die Hälfte, was das Fernstudium betrifft – ein bisschen früh dran für den Lobgesang hier.
Insofern bezieht sich mein Fazit auf ein sehr situatives, gegenwärtiges Gefühl: Das Fernstudium der Kulturwissenschaften, das ich vor zwei Jahren begonnen habe, bereichert seither mein Leben. Natürlich möchte ich es ausnahmslos allen ans Herz legen, aus dem impulsiven Gedanken heraus, dass es unsere Gespräche spannender, unsere Stimmung optimistischer, unser Miteinander vielseitiger machen würde. Gut möglich, dass eben diese Dinge aber auch auf tausend anderen Wegen zu erreichen sind.
Und weiter gedacht, wenn wirklich alle das Gleiche täten, ob sich daraus ein vielseitigeres Miteinander ergäbe? Vielseitiger als unsere Welt hier und heute, mit ihren technologischen Tentakeln und sozial-medialen Spektakeln? Den Vorwärts- und Rückwärts-Gewandten, den Felsenfesten und den völlig Verdrehten? Natürlich nicht. Alles gut so, wie es ist. So unendlich quirlig.
Ein paar Schriften, die ich im Rahmen des Fernstudiums gelesen und auf diesem Blog besprochen habe:
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]]>Logline: Während auf dem Balkan der Bosnien-Krieg tobt, treffen am Wiener Nordrand junge Menschen aus Österreich und Osteuropa zusammen – Flüchtlinge, Träumende und zwei junge Frauen, die sich aus der Kindheit kennen und in einer Abtreibungsklinik wieder begegnen.
Hinweis: Folgender Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle Streaming-Angebote lassen sich, wenn vorhanden, bei JustWatch finden. Diese Filmkritik basiert auf der der DVD-Edition von Der Standard.
Als der Bosnien-Krieg zu Ende war, begann eine junge Filmschaffende zu schreiben – im Jahr 1995. In Paris unterzeichneten die Vertreter der Kriegsparteien (unter anderem der später zum Völkermord verurteilte serbische Präsident Slobodan Milošević) den Friedensvertrag, während Barbara Albert erste Notizen dessen schrieb, dass später Nordrand werden sollte – ein mit eigenen Erfahrungen angereicherter Film über junge Menschen in Wien zur Zeit des Bosnien-Krieges. 1996 fuhr Albert mit ihrer Kamerafrau Christine Maier für die Dokumentation Somewhere else (1998) nach Sarajevo, in die Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina.
Ich wollte wissen, wie die Situation dort während und nach dem Krieg war. Zur gleichen Zeit begann ich, an der Figur des Senad [für den Film Nordrand] zu arbeiten. Zu dieser Zeit war es sehr schwierig, in Sarajewo zu drehen. Manchmal schämte ich mich richtiggehend dafür, »Kriegs-Tourist« zu sein. Krieg ist etwas, das ich nie verstanden habe.
Barbara Albert im Interview (FAMA FILM AG)
Warum Krieg? Dieser Frage widmen wir uns ein einem Beitrag über den Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud.
Schon während der Entwicklungsphase zu Nordrand verschärfte sich dann der Kosovo-Konflikt. Albert überlegte, ihr Drehbuch auf die aktuellen Geschehnisse umzumünzen und aus dem bosnischen Flüchtling etwa einen Kosovo-Albaner zu machen. Sie entschied sich dagegen (im Film wir die Figur des Senad zwar von einem Kosovo-Albaner gespielt, seine Rolle blieb aber ein bosnischer Flüchtling – und der Film handelte, wie geplant, vom Bosnien-Krieg).
Als der Kosovo-Konflikt zu einem offenen Krieg wurde, war Nordrand bereits im Schnitt. Während der Postproduktionsphase flog die NATO unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr ihre Angriffe auf Jugoslawien und warf Bomben auf die Bevölkerung ab – bis in Frühjahr 1999.
Der Beginn der Synchronisation war am ersten Tag, an dem keine Bomben mehr fielen und viele der Darsteller waren da. Tudor hat gerufen »Hey, the war is over!« aber letztlich war der Krieg noch nicht vorbei.
Barbara Albert im Interview (FAMA FILM AG)
Letztlich ist der Krieg nie vorbei. Während der Kosovokrieg der erste war, den ich als Kind bewusst wahrgenommen habe, nahm ich den Syrienkrieg durch Begegnungen mit Flüchtlingen in Deutschland erstmals in einer Weise wahr, wie sie vielleicht Barbara Alberts langjährige Beschäftigung mit dem Bosnienkrieg und seinen Folgen für bestimmte Einzelschicksale in Gang setzte.
So wird jede*n von uns dieser oder jener Krieg näher beschäftigen, als andere – grauenvoll sind sie im Kern alle. Albert hat gut daran getan, ihren Film nicht an aktuelle Geschehnisse anzupassen. Man merkt Nordrand ihren persönlichen Bezug zu der konkreten Zeit und dem konkreten Ort des Films an. Der Krieg ist letztlich austauschbar, die Schicksale sind zeitlos. Doch im Einzelnen und Persönlichen entfaltet sich die ganze emotionale Wirkung, die ein Film haben kann.
Hier ein paar Stimmungsbilder aus Nordrand:
Nordrand beginnt mit Stimmen aus dem Off. Aus dem wirren Flüstern von Kindern heben sich hörbare Sätze ab, Berufswünsche. Dazu sehen wir die ersten Bilder des Films – gemalt von Kinderhand. Berufsbilder. Ein Mädchen möchte Seiltänzerin werden. Ein Junge Astronaut. Typische Berufsbilder.
– Wenn ich groß bin, werd‘ ich ganz viele Kinder haben. Jasmin
– Wenn ich groß bin, will ich Krankenschwester werden. Tamara
Die Flüsterstimmen gehen über in Gesang. Eine Schulklasse singt gemeinsam die Österreichische Bundeshymne:
Land der Berge, Land am Strome,
Land der Äcker, Land der Dome,
Land der Hämmer, zukunftsreich!
Heimat bist du großer Söhne! […]
…und »großer Töchter«, doch diese Ergänzung im Hymnentext wurde erst 2011 vorgenommen, in Absprache mit dem kreativen Kopf hinter der einst 1946 geschriebenen Fassung. Dieses Original österreichischen Bundeshymne stammt übrigens von der Tochter eines kroatischen Nationaldichters.
Randnotiz: Albert betont in mehreren Interviews, dass sie es nicht mag, wenn Nordrand als »Frauenfilm« bezeichnet wird, bloß weil zwei Frauen im Mittelpunkt stehen und eine im Regiestuhl sitzt. Niemand käme auf die Idee, ein Drama wie Die Truman Show (1998) von Andrew Niccol als »Männerfilm« zu bezeichnen, weil mit Jim Carrey und Ed Harris zwei Männer im Mittelpunkt stehen (weiße Männer übrigens, wie – immer noch – in der großen Mehrheit aller Filme). Das stimmt. Trotzdem ist der Nordrand reich an Andeutungen und Momenten, die eine nach wie vor bestehende Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft schmerzhaft spürbar machen.
Zurück in den Klassenraum: Wir sehen ein blondes Mädchen im grünen Pulli, Jasmin, die später mal »ganze viele Kinder« will. Dann ein brünettes Mädchen mit Zöpfen, das Jasmin heimlich einen Zettel reicht: »Lernst du mir der Zauberwürfel? Bittet Tamara« – das ist die zukünftige Krankenschwester, die in Serbien geboren wurde und als Kind noch kein Österreichisch spricht, so richtig. Die anderen Mädchen lachen, über sie, wie es aussieht. Dazwischen geschnitten die Hände Jasmins, die im Zeitraffer den Zauberwürfel knackt. Vom Klassenzimmer geht’s – harter Schnitt – zu einem Papierdrachen (eigentlich: Schmetterling), den die Mädchen steigen lassen. Tamara schaut nur vom Rande aus zu, Jasmin hält die Schnur – alle anderen Kinder laufen ihr nach, die den Drachen führt.
Rot flattert er am blauen Himmel, rot hebt sich auch der Titel vom Hintergrund ab: NORDRAND. Dazu setzt mit ordentlich Wums der Song Modrice (zu Deutsch etwa: Blaue Flecken) der Band Zana aus Belgrad – ein Song, der 1995 herauskam.
Das Drama, zu dem die damals knapp 30-jährige Regisseurin auch das Drehbuch verfasste, besticht durch seine präzise örtliche und zeitliche Situierung.
Nicole Hess, Filmkritikerin und -publizistin
1995, in eben diesem Jahr landen wir, nach dem Prolog mit Ausschnitten aus Kindheitstagen. Die Mädchen sind jetzt erwachsen. Tamara trägt nur noch einen Zopf und ein Baby im Arm, während sie den Krankenhaus-Korridor entlang läuft – als Krankenschwester. Wir sehen sie von vorne mit dem Kind an der linken Schulter, in genau der Ansicht und Haltung wie auf dem kindlich gekritzelten Bild aus dem Vorspann. Sie bleibt vor einem Wartezimmer stehen, schaut durch die Scheibe auf einen Fernseher in der Ecke – Aufnahmen von Panzern und Soldaten. Aufnahmen aus Tamaras Heimat, Serbien.
Schnitt zu den Fernsehbildern in Großaufnahme, mit der Stimme eines Nachrichtensprechers aus dem Off:
Der Abzug der serbischen Truppen aus Teilen von Bosnien-Herzegowina hat gestern unter Kontrolle der UNO-Friedenstruppe begonnen. Nur vereinzelt kommt es an den Fronten noch zu Schießereien. Dabei starben […]
…ich musste an ein Zeile aus Im Rausch der Stille (2002) von Albert Sánchez Piñol denken: Es heißt, dass kein Soldat der letzte Tote in einem Krieg sein will… die Nachrichten schneiden auf Bilder einer Parade, rollende Panzer zwischen feiernden Menschen:
[…] Wien. anlässlich des 40-jährigen Bestehens der 2. Republik findet heute auf der Wiener Ringstraße eine großere Militärparade statt.
Schnitt von den Nachrichten zurück ins Zeitgeschehen:
Wir sehen eine blonde Frau in grüner Jacke – Jasmin, das blonde Mädchen in grünem Pullover von damals. Mit einem ihrer vielen Geschwisterkinder treibt sie sich auf der Militärparade herum. Irgendwo nicht weit von dort ist auch Tamara unterwegs, am Bahnhof – doch Jasmins und Tamaras Wege überschneiden sich erst später wieder. Tamara erblickt einen Mann mit langen Haaren. Ein flüchtiger Blickwechsel zwischen Fremden. Diesen Mann lernen wir (und Tamara) auch erst später kennen. Jasmin trifft indes auf alte Bekannte, während Militärflugzeuge über sie hinwegbrausen. Sie schauen hoch – und Schnitt zu Tamara, die ebenfalls hochschaut, unter demselben Stück Himmel wie Jasmin.
Schnitt zu einem anderen Stück Himmel, von einem dichten Vogelschwarm besiedelt. Zu diesem hoch schaut ein Grenzsoldat, der an einem Lagerfeuer vor sich hinfriert. Mitten auf einer Wiese im grünen Nirgendwo. Durch ein Fernglas sucht der die Landschaft ab, sieht nichts. Die Zuschauer*innen aber schon: Schnitt zu Close-ups von Flüchtlingen, die sich im Dickicht verstecken, sich erst im Morgengrauen die Flucht über die Wiese trauen, Richtung Wien. Einen dieser Flüchtlinge, einen Bosnier, lernen wir (und Jasmin) später in der Hauptstadt kennen…
Ich könnte noch ewig so weitermachen, die vielen durchdachten Details und Übergänge zu beschreiben. Na, nicht ewig – das waren die ersten 6 von 106 Minuten eines Films, der über seine gesamte Dauer derart kunstvoll verstrickt ist. Gespickt mit kleinen Szenen aus verschiedensten Leben und zeitgenössischer Musik, gekrönt von einem Kuss, bei dem die Welt scheinbar den Atem anhält, beendet mit einer letzten Sequenz, die dem Film einen wundervollen Rahmen verleiht.
Am Ende haben wir einen Einblick in die Welt junger Menschen bekommen, die mit der kalten Schönheit des Seins konfrontiert werden, mit der Zerrissenheit der Dinge zwischen den Gegensätzen, die in unseren Hirnen spuken: Gut und böse. Richtig und falsch. Vergangenheit, Zukunft. Diese Generation und die nächste. Aus Kindern, die Drachen im Wind tanzen lassen, werden Erwachsene, die nach Halt im Wirbel des Lebens suchen. Das Drama beginnt immer wieder von Neuem.
Über 3 Jahre hat Barbara Albrecht an dem Drehbuch gearbeitet und ein Sammelsurium von Erinnerungen, Ideen und Notizen zu einem (teils autobiografischen, größeren teils einfach vom Leben inspirierten) Puzzle zusammengesetzt. Verschiedene Sprachen werden gesprochen, neben dem Österreichischen, und viele große Themen tangiert, von Migration und Miteinander bis hin zu Missbrauch und Abtreibung.
Jasmin: Sing ma en Weihnachtslied.
Tamara: I kann keins.
Jasmin: Was woaiß ich, »ihr Kinderlein kommet«
Tamara: Nicht so angebracht.
Die zentrale Handlung des Films umfasst einen Zeitraum von mehreren Monaten. Das Schaufenster der Bäckerei, in der Jasmin arbeitet, dekoriert sie erst weihnachtlich, später mit Oster-Gebäcken. Dazwischen wird Silvester gefeiert, voller Zuversicht: Willkommen im Jahr 1996.
Die herausragende Qualität von Nordrand zeigt sich […] vor allem in der Leichtigkeit, mit der die Regisseurin der düsteren Alltagsrealität auch lichte Momente abgewinnt.
Nicole Hess, Filmkritikerin und -publizistin
Neben einer Filmkritik von Nicole Hess enthält die DVD-Edition von Der Standard noch ein 10-minütiges, unmoderiertes Making-of mit Stimmungsbilder vom Dreh sowie deutsch- und englischsprachige Interviews von Barbara Albert.
Eine lesenswerte Filmkritik zu Nordrand hat Veronika Rall (Der Tagesspiegel) geschrieben, unter dem Titel: Zu genau, um Klischee zu sein (August 2000)
Ein ausführliches Interview mit Barbara Albert, inbesondere über ihre Erfahrungen bei der Entstehung zum Drehbuch, veröffentlichte Martin Betz unter dem Titel: Die Wirklichkeit, die glaubt dir keiner (Februar 2000)
Ein Zeitdokument, fest verankert in den 90er Jahren – wie eine Konserve im Filmregal, die auch nach dem Öffnen nie abläuft: Mit Nordrand kann man eintauchen, in diese konservierte Zeit. Um dann festzustellen, wie wenig sie doch ändert, über die Jahrzehnte. Die Menschen plagen sich immer noch mit denselben von Menschen gemachten Problemen. Nordrand ist ein wirklich sehenswerter Film über urmenschliche Themen, lebensnah erzählt, stark gespielt und grandios zu einem runden Gesamtwerk arrangiert.
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Gastbeitrag von Markus Hurnik
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Beitrag enthält keine Spoiler. Aktuelle legale Streamingangebote finden sich bei JustWatch.
Asterix im Land der Götter: Topaktuell und spannend. Er garniert die weltpolitische Lage mit einer Prise Humor, zeigt einem aber auch die aktuellen Probleme und Missstände auf. Sei es Flüchtlinge, Migration, Gentrifizierung, Integration und Widerstand.
Der Film Asterix im Land der Götter wurde bereits 2014 veröffentlicht. Er ist der erste 3D-Animationsfilm der Reihe. Viele haben vermutlich in den letzten Jahren irgendwann aufgehört zu verfolgen, wann neue Asterix-Filme veröffentlicht wurden, da die Filme mit echten Schauspieler*innen teilweise doch einigen Missmut hinterlassen haben. Sie konnten das asterix‘sche Flair nie richtig einfangen. Wer erinnert sich nicht an das Fiasko Asterix und Obelix gegen Caesar, in dem der Humor auf der Strecke blieb? Doch der neue Film der Reihe gibt einem wieder einen Grund ins Kino zu gehen bzw. die Blu-ray zu erwerben. Asterix im Land der Götter basiert auf dem 17. Comic der Reihe – der Trabantenstadt
Ansehnliche Animationen, ein schönes Farbbild und eine typische Asterix Geschichte sind zu erwarten.
Zum Inhalt: Der Film ist in Gallien angesiedelt. Caesar hegt wieder einmal Pläne, wie er das Dorf der Gallier*innen sich zu eigen machen kann. Ein kaltblütiger Plan soll her und man entscheidet sich zu dem Bau einer Trabantenstadt – dem Land der Götter (und Göttinnen). Das gallische Dorf wiederum soll dadurch in die Defensive gerückt werden und nach und nach zum unbedeutenden Vorort verkommen, welcher sich nach und nach integriert. Dabei wird die Bevölkerung des gallischen Dorfes auf eine harte Probe gestellt. Seine gesellschaftlichen Strukturen drohen zu zerfallen beziehungsweise die Dorfbewohner*innen die Feinde ihrer selbst zu werden.
Alles findet seinen Platz Asterix im Land der Götter und wird wunderbar humorvoll und amüsant in Szene gesetzt.
Dem neuen Animationsstil ist es auch zu verdanken, dass die Keilereien zwischen Römer*innen und Gallier*innen (*und eigentlich kloppen sich doch nur die Kerle) endlich wieder so sind, wie man Sie aus den alten Filmen kennt. Mal ragt eine Hand aus dem Gemenge, ein Römer fliegt über das Feld oder ein Wildschwein kommt zwischen die Fronten. Und alles wirkt schön unrealistisch und verspielt, wie es sein muss!
Man kann sagen, Asterix ist endlich im 21. Jahrhundert angekommen! Dafür ist vermutlich der zweite Regisseur Louis Clichy verantwortlich, der bereits einige Pixar-Filme prägte, wie WALL·E (2008) oder Oben (2009).
Leider gibt es aber auch unschöne Aspekte. So ist die deutsche Synchronisation zum Teil etwas gewöhnungsbedürftig. Milan Peschel gefällt mir einfach nicht als Asterix. Der Charakter kommt einem teilweise so fremd vor, als würde die eigene Stimme nicht an Ihn glauben.
Der Humor kommt dagegen überhaupt nicht zu kurz. Schöne Szenen im römischen Dampfbad und auch szenische Darstellung holen sowohl das ältere Publikum, als auch den jungen Filmfan ab. Viel Witz spielt sich auch zwischen den Zeilen ab, hier muss man vermuten, dass durch die Synchronisation eventuell noch mehr verloren gegangen ist, dies bleibt aber vorerst Spekulation. Genug Ironie und dialogischen Feinschliff hat die Übersetzung auf alle Fälle mitgebracht. Passierschein A38 lässt grüßen.
Die 3D-Umsetzung kann leider nicht weiter bewertet werden. Ich durfte den Film im heimischen Heimkino genießen und war daher auf 2D angewiesen. Jedoch ist anzunehmen, dass die 3D-Umsetzung nur für Hardcore-3D-Fans absolut notwendig ist, der durchschnittliche Zuschauer dürfte mit der 2D-Variante sehr gut versorgt sein.
Holt Euch daher Euren Lieblingszaubertrank auf die Couch und fallt zurück in Eure Kindheit. Ihr werdet es nicht bereuen und viel Spaß und Freude mit Asterix im Land der Götter haben.
Und wem das alles nicht genug ist, der kann sich auf 2019 freuen. Der Regisseur Alexandre Astier arbeitet bereits an seinem neuen Asterix – The Secret of the Magic Potion, welcher 2019 in Deutschland erscheinen wird.
Markus Hurnik (28), langjähriger Berliner und Vorortbewohner, den es beruflich inzwischen zunehmend in sächsische Gefilde verschlägt. Er hat in seinen frühen Jahren für die Verlagsgruppe Randomhouse Jugendbücher rezensiert. Anfang der 2000er kam er vermehrt ins Kino und wurde filmabhängig. Studiert hat Hurnik etwas vollkommen Kunstfernes, vis-à-vis der Filmstudios Babelsberg.
Stammkino: Cineplex Titania Palast, Berlin
Lieblingskinos: Programmkino Ost, Dresden Thalia, Potsdam
Lieblingsfilme (eine Auswahl): La Grande Bellezza, Metropolis, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, WALL·E, Train to Busan
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Sonia: In Polen geboren und in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen, habe ich die Etappen Taufe, Kommunion und Firmung zeremoniell und traditionell durchlaufen. Zum Stolz meiner Verwandten. Doch je älter ich wurde und je seltener wir in die Kirche gingen, in der ich Kirchenfenster wie Schäfchen zählte, desto mehr befasste ich mich mit anderen Welt- und Glaubensanschauungen: Reinkarnation, Engel und Lichtwesen. Menschen, die als Medien zwischen den Welten vermitteln. Nahtoderfahrungen verschiedenster Art.
Was am Ende blieb, war der Gedanke, dass wir unter diesem Himmel alle gleichen Ursprungs sind und mit unseren Gedanken, Worten und Taten unser Leben und das unseres Planeten gestalten. Und dass wir nicht unbedingt eine institutionalisierte Religion brauchen, um zu glauben und gut zu sein. Und geht es nicht letztendlich darum, gut zu sein, um am Ende seiner Tage zufrieden zurück und nach vorne zu blicken?
David: Was ist denn »gut«? Als im Familiengottesdienst damals vom »guten Gott« erzählt wurde, der das Meer hinter Moses schloss, damit all die bösen Ägypter im Wasser umkamen, da flüsterte mein Paps mir zu, dass er sich da auch nicht ganz sicher sei, ob das »gut« ist. Ich habe auch früh gelernt, nicht unbedingt jedes Wort des Papstes »gut« zu heißen – und das sowas wie das Zölibat nicht »gut«, sondern Tradition war. »Man kann ja nicht alles ändern.« Zumal gewisse Werte der römisch-katholischen Kirche sich ja nicht überholen oder so wichtig und sinnvoll sind, wie eh und je: Nächstenliebe, um das prominenteste Beispiel zu nennen. Immer eine gute Idee.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Das Zitat kommt aus dem Evangelium nach Markus, Neues Testament. Und es kommt aus der Tora, der hebräischen Bibel. Diese hat das Christentum auch für sich übernommen, als Altes Testament, in etwas anderer Anordnung.
Im Islam nennt man die gelebte, soziale Wohltätigkeit Zakat und im Buddhismus hat Karuna als Mitgefühl und Erbarmen eine ähnlich hohen Stellenwert, ist da jedoch nicht an eine Gottesvorstellung geknüpft. Die Verhaltensbiologie beobachtet Moral-ähnliches Verhalten im Übrigen zwar auch bei Tieren, doch in der neuzeitlichen Philosophie appelliert Immanuel Kant explizit an den menschlichen Verstand:
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.
Das finde ich »gut« – ein Maßstab, der in meinem Kopf geschlossen Sinn ergibt. Mit mir selbst als Verantwortung tragende Instanz, ohne Berufung auf ein Höheres Wesen oder etwaigem Aberglauben.
Sonia: Zugegeben, ich habe einen Hang zum Aberglauben. Auf Holz klopfen, das Brautkleid vor dem Bräutigam verstecken, oder den Rosenkranz meiner Oma bei Prüfungen in der Tasche verstauen. Mach. Ich. Alles. Doch ich mogele, wenn’s mir nicht passt, was ein wenig an meiner Seriosität kratzt. Wenn mein Glaube ein Tier wäre, dann wohl ein Vogel.
Etwas flatterhaft, aber himmelsnah. In einer Sache aber bin ich umso geerdeter: Dem Universum oder dem Höheren ist es, denke ich, ganz gleich, ob wir am Strand, in der Kirche oder sonst wo und wie heiraten. Solange man seine Liebe so bekennt und besiegelt, wie man es auch meint.
So zu heiraten, wie man es meint, das war mir wichtig. Was ist nun, wenn die eigenen Wurzeln nicht mehr ganz zu den Flügeln passen? Um unsere traditionellen Hintergründe und meine spirituellen Einflüsse mit den jeweils individuellen Überzeugungen zu verbinden, entschieden wir uns für die freie Trauung. Was ist das eigentlich?
…aber vorweg: Kleiner Exkurs
David: Wann immer wir in binären Gegensätzen denken, also solchen mit zwei klaren Positionen, da sollten wir hellhörig werden. Wir Menschen. Die Studien des Völker-Forschers Claude Lévi-Strauss haben das menschliche Denken schon vor Jahrzehnten als universell und uniform entlarvt. Überall auf der Welt, egal ob in New York City oder dem Amazonasgebiet, denken die Menschen in Gegensatzpaaren. Sowas wie »heiß – kalt«, »oben – unten«, »hell – dunkel«, soweit, so gut. Weiter: »Natur – Kultur«, »wild – zivilisiert«, »Frau – Mann«, und vielleicht am gewichtigsten: »schlecht – gut«. Denn beim Denken in Gegensatzpaaren geht eine Gewichtung dieser Paare in »gut« oder »schlecht« oft automatisch mit einher, bewusst oder unterbewusst.
So haben sich Denkweisen, die »Kultur über Natur« oder »Mann über Frau« erhoben, über Jahrhunderte fortgesetzt. Wie auch immer du zur Kirche oder freien Trauung stehst: Wenn du dir das Gegensatzpaar »Kirche – freie Trauung« denkst, findest du vermutlich eines besser, eines schlechter. Ich persönlich assoziere »Kirche« etwa mit einer nicht mehr zeitgemäßen Institution mit arg verbrecherischer Historie (die nicht abgeschlossen ist). Andere assoziieren mit »freie Trauung« ein beliebiges Wunschkonzert, das sich an den schönsten Ritualen der kirchlichen Liturgie bedient und daraus ihr eigenes Ding dreht. Mal abgesehen davon, dass viele Religionen ihre Rituale auch nicht originär selbst erdacht und patentiert haben, liegt ein weiteres Problem mit dem Denken in Gegensatzpaaren darin, dass damit suggeriert wird, es gäbe nur zwei Kategorien.
Gibt es nur »männlich – weiblich« als mögliche Geschlechtsidentitäten? Nein. Es sind nur die einzigen beiden Möglichkeiten, auf die uns unser Hirn und unsere Sprache festlegt, wenn wir nicht daran rütteln. Und ebenso sollte man freie Trauung nicht als das einzig mögliche Gegenstück zur kirchlichen Trauung verstehen. Das Adjektiv »frei« macht es unserem Denken hier immerhin leichter, die eigentliche Vielfalt zu sehen: Eine freie Trauung kann alles sein, was ihr euch wünscht. Auch in Verbundenheit zu einem Gottesbild, wie es in der Bibel beschrieben wird.
Sonia: Eine freie Trauung kann frei nach den Vorstellungen des Brautpaares gestaltet werden. Dabei sind der Zeremonie keine Grenzen gesetzt (außer natürlich denen des Rechtsstaates). Die gute Nachricht an alle Pinterest-Suchtis: Ablauf und Ort der Trauung könnt ihr euch selbst überlegen – mithilfe von tausenden Inspirationen da draußen. Hier eine kleine Pinnwand zur Gestaltung unserer Hochzeit.
Dank der freien Trauung konnten wir die standesamtliche (bürokratisch gehaltene) Eheschließung um eine Komponente ergänzen, die weit aus romantischer und feierlicher war. In der Zeremonie bekannten wir im Kreise unserer Lieben und Verwandten unsere Werte, unsere Liebe und Entscheidung füreinander, nach unseren Vorstellungen. Sogar nach meinen Mädchentraum, einmal wie Forrest und Jenny unter freiem Himmel zu heiraten, in der Geborgenheit der Bäume, wurde wahr.
Der Vorteil einer kirchlichen Trauung – rein pragmatisch betrachtet – ist die per se feierliche Kulisse, der romantische Orgelmusikeinsatz, die geringeren Kosten. Für Paare, die sich jedoch weniger mit der Kirche und/oder dem Glauben identifizieren, bedeutet dies eine Trauung unter dem Mantel der Kirche und deren Vorstellungen der Ehe, Familienplanung, Kindererziehung. Hier gibt es deutliche Unterschiede in der katholischen und evangelischen Zeremonie, wobei Letzteres mehr Gestaltungsraum für das Brautpaar bietet.
Die Kosten einer freien Trauung hängen natürlich ganz von der Trauung selbst ab. Dafür müsst ihr euch überlegen, wen und was ihr gerne integrieren möchtet. Der erste Kostenfaktor, der den Kern jeder freien Trauung darstellt, ist der oder die Zeremonienmeister*in respektive freie*r Hochzeitsredner*in. Natürlich gibt es auch die Option, freie Theolog*innen anzufragen, die unabhängig von der Kirche arbeiten und ebenfalls ein Honorar erhalten (hier eine Übersicht freier Theolog*innen).
Wie hoch die Honorare sind, hängt stark von den Redner*innen ab. Diese bieten in der Regel Vorab-Gespräche mit dem Brautpaar an, wo die persönliche Geschichte und die eigenen Vorstellungen kommuniziert werden. Mit Kosten ab 500 Euro sollte man für professionelle Hochzeitsredner*innen wohl rechnen.
Alternativ bietet sich auch die Friends-Variante an: Gibt es einen Menschen, der euch gut kennt und gerne und gut vor Publikum spricht (muss nicht in Soldatenuniform sein)? Dann ab dafür!
Wir hatten das Glück, den Theater- und Film-Schauspieler Jesse Albert in unserem Bekanntenkreis zu haben, der sich gerne bereit erklärte, uns durch die Trauung zu führen. Die Herausforderung bei semiprofessionellen Hochzeitsredner*innen: Den Text zur freien Trauung muss das Brautpaar selbst austüfteln. Wer selten schreibt und textet, kann hier ebenfalls im Bekannten- und Freundeskreis fragen, ob es helfende Hobbyschreiber*innen-Hände gibt? Denn wie gesagt, fragen schadet nicht. Und dann ladet eure Schreiberling-Freund*innen zu einem Essen ein und lasst euer Herz sprechen.
Ein weiterer Kostenfaktor ist die Ausstattung. Je nachdem wie ihr euch trauen lasst und in welcher Location ihr dies vollzieht, könnt ihr auf Stühle, Bänke, Heuballen und vieles mehr zurückgreifen. Unsere Location (die Gaststätte Wintergarten in Bocholt) hatte zum Glück alles parat und übernahm die Aufstellung der Stuhlreihen. Für das Rednerpult stellten wir ein eigenes auf, samt selbst gehäkelter Gardine meiner Großmutter. Als kleinen Hingucker stellte uns die Blumenbinderei Flores für den Flur ein paar schöne Blumentöpfchen auf. Hier liegt es wieder ganz an euch, was ihr euch wünscht.
Der musische Rahmen kann auch all denen Tränen in die Augen treiben, die sonst eher keine Miene verziehen. Nicht, dass bei einer Hochzeit geweint werden muss (muss es nicht 😊). Manche Brautpaare lassen sich professionelle Musiker*innen einfliegen, andere über die Anlage ihre Lieblingssongs abspielen, nur Sänger*innen singen oder befreundete Musiker*innen spielen. Hier müsst ihr entsprechend Angebote einholen. Da wir es irgendwie mit Friends haben, freuten wir uns riesig, dass Davids Schwester und ihre Freunde mit Engelstrompeten, Gitarre, Keyboard und Sheeran-Gesangsstimme sowohl den Einzug als auch die Zeremonie in rührende Atmosphäre tauchten.
Nehmt ihr Profis für die freie Trauung in Anspruch (freie Theolog*innen, Hochzeitsredner*innen), müsst ihr nichts weiter tun, als euch ein- bis zweimal mit dieser Person zu treffen und dort alles Wichtige zu besprechen (etwa Symbole, die ihr einsetzen möchtet, eure persönliche Geschichte oder Musikwünsche). Falls ihr euch zutraut, die Zeremonie aus eigener Feder zu verfassen, dann ist es hilfreich, sich zunächst eine kleine »Dramaturgie« zu überlegen. Diese könnte für eine freie Trauung so aussehen:
Dann könnt ihr ein paar Kerndaten sammeln, die euch wichtig erscheinen. Bei uns waren es das erste Kennenlernen und die Meilen- und Stolpersteine unserer Freundschaft, aus der im verflixten siebten Jahr mehr wurde. Inhaltlich habt ihr also viel Spielraum, was vielleicht die Krux ist. Um es nicht steif ablesen zu lassen, ist es hilfreich, dem oder der Hochzeitsredner*in nicht Wort für Wort in den Mund zu legen und ihm oder ihr durchaus auch eigene Ideen oder Formulierungen zuzutrauen.
Etwas, das für uns das Highlight war, und weshalb wir so derart nervös waren: unsere beiden Eheversprechen. (Wieder so ein Brauch aus Friends – ja, vielleicht sind wir dieser Sitcom ein bisschen zu sehr erlegen.) Die persönlichen Worte, aneinander gerichtet, vor den Augen und Ohren unserer Liebsten und Nächsten, waren das Herzstück unserer Trauung. Sicherlich nicht jedes Brautpaars Sache. Aber für mich war es der schönste Moment, meine Liebe so offen preiszugeben und zu bekennen.
Ihr allein entscheidet, was ihr euch sagen und versprechen wollt, so dass es auch da kein Richtig oder Falsch gibt. Um keine Peinlichkeiten entstehen zu lassen, haben wir uns abgesprochen, wie lang unsere Versprechen werden sollen. Bei Paaren mit sehr unterschiedlichem Redebedarf eine sinnvolle Angelegenheit. Mein Tipp: Setzt euch hin und schreibt einfach eine Minute darauf los, ohne eine Pause zu machen. Einfach herunterschreiben, welche Gedanken euch gerade durch den Kopf schießen, wenn ihr an euren Partner denkt.
David: Mein Tipp: Das Eheversprechen auf einem Spickzettel in der Trauung bei sich tragen. Mal drauf lünkern heißt ja nicht, dass man vergessen hat, warum man mit dieser Person da gegenüber sein Leben verbringen möchte. Nur, dass einen das Publikum arg nervös macht und die wenigsten Menschen viel Übung darin haben, ein Eheversprechen vorzutragen.
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]]>Der Beitrag GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.
In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.
Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.
Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert. Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.
Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.
Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.
Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«
Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.
Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?
Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.
Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13
Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center
Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.
Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.
Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:
Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)
Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.
Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.
Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):
In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.
[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70
Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.
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Nach den ersten 3 Filmen – Jurassic Park (1993), Vergessene Welt: Jurassic Park (1997) und Jurassic Park III (2001) – wurde es lange still um die Dino-Filmreihe. Ganze 7 Godzilla-Filme erblickten seit 2001 weltweit das Licht der Kinosäle (oder landeten direkt im DVD-Regal). Auch ansonsten wurden die ehrwürdigen Urtiere eher für schändliche filmische Zwecke wiedererweckt. Als da wären: Dinocroc vs. Supergator (2010) oder Age of Dinosaurs – Terror in L.A. (2013, von Joseph J. Lawson, auch bekannt für Nazi Sky – Rückkehr des Bösen!).
Nun hätte, ehrlich gesagt, ein Jurassic Park 4 (wie er lange im Gespräch war) nicht weniger trashig geklungen. Die Zahl 4 ist schlichtweg nicht sexy. Welche Filmreihe liebt man denn bitte für ihren Teil 4? Die 3 trifft bei uns Menschen einen Nerv, vom flotten Dreier bis zu allen (anderen) sprichwörtlich guten Dingen. Aber die 4 suggeriert den Abstieg in die Belanglosigkeit. Das erklärt auch die Unbeliebtheit vieler Politiker. Legislaturperioden von 4 Jahren sind einfach eines zu lang…
Schockierender Hinweis (um den Teil-4-Trash-Faktor nochmal zu unterstreichen): Für Jurassic Park 4 wurden zeitweise Mensch-Dino-Hybride in Erwägung gezogen. Wesen also, die halb Homo Sapiens, halb Tyranno Saurus Sonstwas sind. Davon haben wir doch nun wahrlich genug…
Trilogien hingegen sind sexy – und wie! Nachdem die Planung für Jurassic Park 4 nach dem Tod des Drehbuch- und Romanautors Michael Crichton im Jahr 2008 auf Eis gelegt wurden, besinnten sich auch die Jurassic-Park-Produzenten auf diese altbekannte Gewissheit. Im Januar 2010 hieß es dann, die Vorbereitungen für eine Fortsetzung sollen wieder aufgenommen werden, doch völlig anders als geplant: Teil 4 werde der Beginn einer neuen Trilogie.
Nach Jurassic World (2015) wurde das Budget für den neuen Teil 2 nochmal um über 100 Millionen Dollar aufgestockt. Damit konnte neben den CGI-Effektfeuerwerken wieder verstärkt auf state of the arts Puppenspieler und Animatroniker gesetzt werden. Es wurden extra Szenen ins Drehbuch geschrieben, die es ermöglichten, Dinos nur teilweise (siehe: das T-Rex-Weibchen im Fahrzeug-Laderaum) und/oder in langsamen Bewegungen (siehe: die gefesselte, betäubte Velociraptorin) zu zeigen. Diese wurden nicht am Computer animiert, sondern »in echt« gebaut und gesteuert. Für diese Rückbesinnung zu den Wurzeln (Animatronik sorgte schon im allerersten Jurassic Park für die denkwürdigsten Szenen) wird Jurassic World: Das gefallene Königreich gebührend gefeiert.
Auch sonst gibt es nennenswerte Reminiszenzen an die 90er-Jahre Jurassic-Park-Filme. Von verfütterten Ziegen über zerdrückte Geländewagen, fliehende Urviecherherden und Türöffno-Saurus bis hin zu Dino-OPs gibt es einige Motive, die Jurassic-Fans Krokodilstränen der Freude in die Augen treiben.
Ich hatte das Vergnügen, Jurassic World: Das gefallene Königreich im OH·KINO in Wrocław (Breslau) zu sehen. Englisches Original mit polnischen Untertiteln und Karamell-Popcorn, yay! Auf dem Roadtrip nach Polen hatten wir zuvor eine Nacht in Dresden verbracht, inklusive Besuch im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr. In der dortigen Dauerausstellung kreuzte – zu unserer Überraschung – ein imposanter Elefant unseren Weg. Lebensgroß, ausgestopft. Er führte eine Parade von Tieren an, die von Menschen über die Jahrhunderte für ihre kriegerischen Zwecke missbraucht wurden. Von Sprengstoffspürhunden und Brieftauben über Schafe, deren traurige Bestimmung es war, Minenfelder zu erschließen. Sogar ein Löwe ist in dem Museum zu sehen, mit der Info, dass sich NS-Mann Hermann Göring einen solchen gehalten hat, auf seinem feudalen Anwesen in Carinhall. Einfach nur, um seine Gäste zu beeindrucken. Da hatte wohl jemand etwas zu kompenisieren…
Dass Jurassic World: Das gefallene Königreich also von Bonzen handelt, die Dinosaurier für Millionenbeträge ersteigern möchten, erscheint absolut logisch und sinnvoll. Manche der grimmig dreinschauenden Herren im Film wollen sicher nur ein fettes Urzeit-Haustier, um ihr zartes Ego zu streicheln. Andere denken (natürlich) an Dinosaurier für militärische Einsätze. Es gibt gar einen Dialog, in dem explizit davon gesprochen wird, dass Menschen im Krieg immer Tiere eingesetzt hätten. Da werden sogar Elefanten genannt! Und das nur 2 Tage, nachdem ich erstmals über Elefanten im Krieg gelernt habe! Das ist die fiese Art des Universums, mir zu sagen: »Na, du kleiner Wurm? Genießt du die Matrix?«
Jurassic World: Das gefallene Königreich beginnt Unterwasser, mit Lichtern eines U-Boots, die sich aus der Dunkelheit abheben. Ebenso, wie die Rahmenhandlung von Titanic (1997) anfängt. Bloß, dass der Tauchgang keinem Schiffswrack gilt, sondern dem Skelett eines Dinosauriers. Doch nicht irgendein Skelett! So wie es in Titanic um das größte Schiff im Jahre 1912 geht, dreht sich die Fortsetzung von Jurassic World zunächst um den furchterregendsten Saurier, der im Jahr 2015 noch gewütet hat. Wir erinnern uns an den epischen Kampf zwischen Tyrannosaurus Rex, ein paar Raptorinnen und besagtem Superlativ-Saurier, dem aus verschiedenen Spezies gezüchteten Hybriden Indominus Rex. Der Kampf endete damit, dass das Mosasaurus-Weibchen (die gut bezahnte Unterwasser-Echse, Rex Machina) aus ihrem Becken sprang und Indominus Rex mit zu sich in die Tiefe riss.
Dort unten also sägt nun – 3 Jahre nach dem Untergang von Jurassic World – ein U-Boot mit zwielichtigen Männern an dem Indominus-Skelett herum, um einen Knochen zu bergen. Dieser Knochen ist für die Männer ungefähr so wertvoll, wie das »Herz des Ozeans« für die ihrerseits zwielichtigen Wrack-Plünderer in Titanic. Nur dass Letztere halt in Ruhe den Tresor an die Oberfläche hieven können, während Erstere im Mosasaurus-Becken die Bekanntschaft von Mosasaurus machen. Blöder Zufall, bei so einem großen Becken…
Was hat Mosasaurus die 3 Jahre seit dem letzten Film gefressen, um in ihrem Becken nicht zu verrecken? Achtung, Achtung! Wer so früh mit Logikfragen anfängt, wird in Jurassic World: Das gefallene Königreich Kopfschmerzen kriegen. Stattdessen lieber zurücklehnen, entspannen und die Dino-Action genießen. Über 2 Stunden lang gibt’s die volle Dröhnung, ab dem Vulkanausbruch sogar ziemlich pausenlos: Auf der Insel, Unterwasser, im Schiffsbauch, Keller, Kinderzimmer, auf Dächern und in Käfigen. Neben den üblichen Verdächtigen unter den Dinos natürlich auch wieder mit einem neu gezüchteten Hybrid-Horror-Viech, das die Saurier-Sause erst so richtig in Schwung bringt!
Ich hab’s genossen, keine Frage. Jurassic World: Das gefallene Königreich ist ein Action-geladenes Dino-Spektakel mit ordentlich Schauwerten. Tatsächlich hätte ich mir gar etwas weniger Action gewünscht. Nur einmal stapft ein Brachiosaurus gemächlich durchs Bild. Diesem schönen Tier und seinen herbivoren Homies ein Weilchen beim Grasen zuschauen, das wär auch schön gewesen. Stattdessen konzentriert sich Jurassic World: Das gefallene Königreich auf die Idee vom »Dino als Kriegswaffe«. Das nimmt teilweise wirklich bescheuerte Züge an.
Es gibt eine Szene, in der ein Auktionär (verkörpert von Schauspieler Toby Jones) seinem vor Geld stinkenden Publikum vorführen will, wie übelst krass der genmodifizierte Hybrid-Dino namens Indoraptor im Käfig neben ihm drauf ist. Dazu richtet der Auktionär ein Gewehr auf einen Mann im Publikum. Als der rote Laserpunkt der Zielvorrichtung auf der Brust des (jetzt nervösen) Mannes flackert, drückt der Auktionär einen bestimmten Knopf am Gewehr. Sofort rastet der Indoraptor in Richtung des nervösen Mannes aus – nur der Käfig hält den Dino davon ab, den Mann zu zerfetzen.
Das soll also effiziente Kriegsführung sein? Mit einer Waffe auf einen Mann zielen, um dann per Knopfdruck einen wütenden Dino auf diesen Mann loszulassen? Um den Mann zu töten, oder was? Und dazu hätte man nicht einfach den guten alten Abzug neben dem fancy Dino-Knopf betätigen können!? »Raptoren auf Menschen loslassen« ist Hollywoods Pendant zu »mit Kanonen auf Spatzen schießen«. Immerhin: Wesentlich bildgewaltiger, als die Spatzen-Variante.
Übrigens hat Colin Trevorrow, Drehbuchautor der beiden Jurassic-World-Filme angekündigt, im dritten Teil werde man sich wieder auf reale Dinosaurier konzentrieren, ohne die genmodifizierten Neuschöpfungen. Jurassic World 3 soll tatsächlich ein »science thriller« werden. Zur Erinnerung daran, wie weit die Dinos in Jurassic World nach heutigem Kenntnisstand von ihren urtümlichen Vorfahren entfernt sind: In Münster gibt es seit 2014 das erste befiederte Velociraptor-Modell in Deutschland zu sehen. Schaut dezent anders aus, als die coole Raptorin Blue:
Apropos Teil 3: Nach dem Abspann lieferte Jurassic World: Das gefallene Königreich noch ein Schmankerl für alle Kinobesucher*innen, die bis zum Ende sitzen geblieben sind und gewissenhaft die Namen aller Beteiligten durchgelesen haben. Fun Fact: Ich heiße David, weil meine Eltern solche Leute sind, die sich Filmcredits durchlesen. Um 1989 herum dachten sie dabei eines schönen Filmabends: »Hey, David, der Name ist gut.« Ich persönlich hoffe ja, es war David Fincher.
NACH DEM ABSPANN jedenfalls gibt es noch ein letztes Bild von ein paar Pteranodons, die um das Eiffelturm-Dublikat in Las Vegas kreisen.
Denn: Die Dinos sind am Filmende ja ausgebüxt, alle miteinander. Und jetzt streunen sie frei durch die Welt. Die Flugsaurier an Amerikas Eiffelturm zu zeigen ist eine schönes Sinnbild für diese Dino-Klone, die ja ihrerseits »nachgemacht« sind von den urzeitlichen »Originalen«. Gleichzeitig stellt der Eiffelturm ein Symbol für Europa dar und eröffnet damit neue Dimensionen. Die Dinos haben nicht nur ihre Insel verlassen, nein, sie könnten auch den Kontinent verlassen. Jurassic WORLD eben.
Sehr, sehr coole Vorstellung. Den Film möchte ich gerne sehen. Es gibt sogar schon einen Starttermin. Am 11. Juni 2021 kommt Jurassic World 3 in die Kinos. Einfach schonmal freihalten. ABER: Ich hoffe sehr, die Macher*innen finden für die weltweite Ausbreitung der Dinos eine glaubwürdige Erklärung. Denn ein paar Dutzend große Echsen einzufangen, die im weiteren Umkreis der Villa rumlaufen, aus der sie entflohen sind, das sollte mit heutigen Mitteln doch zu händeln sein? Für den glaubwürdigen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation braucht es bitteschön ein bisschen mehr, als die Szene von einer Velicoraptorin, die sich ihren Weg durch eine City beißt.
Ach, das war ein großer Spaß! Die Spannung ist natürlich mäßig, weil man nie wirklich damit rechnen muss, dass die Dinos das kleine Mädchen zerreißen. Wann immer die junge Schauspielerin Isabella Sermon um ihr Leben bangt, können sich die Zuschauer*innen entspannt zurücklehnen: Ist immer noch Jurassic World, nicht Game Of Thrones. Hier ist die Welt noch in Ordnung, Dinos hin oder her. Abgesehen davon, dass sich Jurassic World: Das gefallene Königreich im Vergleich zum ersten Teil der neuen Trilogie zwar Mühe gibt, erneuten Sexismus-Vorwürfen auszuweichen, dies aber nur bedingt gelingt. Die weibliche Hauptrolle Claire Dearing (gespielt von Bryce Dallas Howard) bleibt im Schatten von Chris Pratt und dort trotz anderen Schuhwerks (die Stöckelschuhe aus dem ersten Jurassic World sind gewichen) eher im ständigen Opfer/Beute-Modus.
Die Journalistin Anne Cohen (Refinery29) kann tatsächlich nur der Rolle von besagter Isabella Sermon etwas Positives abgewinnen. Ansonsten findet sie erschreckend viele gute Argumente dafür, dass Jurassic World bis dato sexistischer ist, als der erste Jurassic-Park-Film in den 90er Jahren. In diesem Sinne überlasse ich der fiktiven Paläontologin Dr. Ellie Sattler mal das letzte Wort:
Über Sexismus in Überlebenssituationen können wir diskutieren, wenn ich zurück bin. | Ellie Sattler, in: Jurassic Park (1997)
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Am Dienstag, 5. Juni trat die israelische Band theAngelcy um 20.30 Uhr im zakk – Zentrum für Kultur und Kommunikation – in Düsseldorf auf. Erst fünf Tage vorher hat Sonia via Facebook Wind davon bekommen. Und das, obwohl die Band schon Mitte Mai ihre aktuelle kleine Deutschland-Tour via Post angekündigt hat. Mit einem Bild von fünf der sechs Musiker*innen beim Fotoshooting mit Selfie-Stick, dazu kurz und knackig die Ansage: »Wir herüberkommen!« Gebrochenes Deutsch, das könnte Frontsänger Rotem Bar Or selbst geschrieben haben. Vor über zehn Jahren reiste er als Straßenmusiker durch Europa, lebte monatelang obdachlos in Frankreich und Deutschland, übernachtete in Parks, nur er und seine Gitarre im Schlafsack.
Von Mai bis November war das. Im November wurde es zu kalt. Also fand ich eine Freundin in Hamburg und blieb erstmal bei ihr. | Rotem Bar Or im Gespräch mit Jule Seibel, David Zimmermann (Philipp, aus dem Englischen übersetzt)
Von der Freundin in Hamburg lernte Rotem – das erzählte er beim Konzert in Düsseldorf – deutsche Wörter wie »Penner« oder »Saftsack« (»sack of juice«, übersetzte er für seinen Drummer Udi Naor, »sack of jews!?«, »no!«). Später am Abend fragte Flötist, Klarinettist (und so viel mehr) Uri Marom das Publikum, ob man noch »vielen Dank« sage, oder das altmodisch sei? Oder »Dankeschön« vielleicht? Es werde schon keine »Danke-Polizei« geben, meinte Udi, seinerseits im gebrochenen Deutsch. Die Band hat schon viele Abende hierzulande verbracht. Gesehen habe ich sie zum ersten Mal vor zwei Jahren, im Druckluft in Oberhausen. Damals standen wir, das Publikum, in einem überschaubaren Halbkreis um die Bühne verteilt und erlebten ein wundervoll intimes Konzert, erst von dem belgischen Indie-Pop-Duo Douglas Firs als Vorband, dann von dem erstklassigen Ensemble, das sich theAngelcy nennt. Schon damals mit heiterem Smalltalk und ruppigen Humor zwischen den Liedern.
Hier mein Konzertbericht vom 5. März 2016: Sechs Engel in Oberhausen
Dieses Mal kam theAngelcy ohne Vorband auf die Bühne, und in etwas anderer Besetzung: Den Kontrabass spielte, statt wie bei meinen bisherigen theAngelcy-Konzerterlebnissen (neben Oberhausen sah ich die Band am 21. April 2017 im Treibsand, Lübeck) nicht die Musikerin Gal Maestro, sondern der Mann, der hier kurz dem Konzert rechts neben Drummer Udi in die Kamera lächelt. Nicht.
Übrigens: Udi Naor ist auch als Fotograf unterwegs, hier geht es zu seiner Foto-Website.
Zum Auftakt an diesem Abend im gut besuchten zakk spielte die Band den Song Rebel Angel, der vermutlich speziell als Auftakt-Song für Live-Auftritte geschrieben wurde. Rotem Bar Or singt in seiner unverkennbaren Stimme:
I work for the angelcy,
can’t you see how sweet I can be?
I’m a killer,
I kill with words […]
Der selbsternannte Killer ist tatsächlich ein eher pazifistisch anmutender Poet, der in Texten von bemerkenswerter Klarheit seiner Traurigkeit kundtut. Sei es über die Politik des Staates Israel, sei es über den Krieg oder die menschliche Dummheit im Allgemeinen. Neben Liedern ihres Albums Exit Inside (2016) – etwa meinem Lieblingssong Secret Room oder auch People of the Heavens, das mit an Klapperschlangen in Wüsten erinnert – gaben theAngelcy viele neue Stücke zum Besten. Das zweite Album ist in Arbeit, »im Januar kommen wir wieder«, versprach Rotem. In einem der neuen Lieder sang er (sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiert):
We don’t need no holy land
We just need a home
Und dass, wenn Menschen ein Land wären, er selbst ein Fluss sein wolle. Zeilen und Bilder wie diese sind es, die dem instrumentalen Feuerwerk, das die sechs großartigen Musiker*innen auf der Bühne abliefern, das Krönchen aufsetzen. Neben Rotem, Udi, Uri und dem Mann am Kontrabass singen und spielen noch Maya Lee Roman als tanzlustige Streicherin und Mayaan Zimry mit. Letztere steht die meiste Zeit mit Udi hinterm Drumset. Wenn sie nach vorne kommt und an Rotems Seite tritt, dann für ein wundervolles Duett: Giant Heart. Die Band kommt als derart eingespieltes, kongeniales Team daher, dass man kaum glauben mag, dass sich diese Konstellation erst vor ein paar Jahren so gefunden hat.
2010, als Rotem Bar Or nach seinen vier Lehr- und Wanderjahren als Straßenmusiker in Europa (und Asien, laut Deutschlandfunk Kultur) in die Heimat Tel Aviv zurückkehrte, nahm sein Schaffensdrang eine Richtung an. Mithilfe von Freunden und seines damaligen Managers Yaron Gan machte er sich an die Zusammenstellung einer Band. Wer theAngelcy live erlebt, merkt ziemlich deutlich, dass die Ansprüche an die Mitglieder dieser Band-to-be nicht eben niedrig waren. Im Jahr 2011 gab es sie dann endlich, die Band theAngelcy (so übrigens auch die seitens der Künstler*innen gewünschte Schreibweise).
Der Begriff stand lange davor für einen Song-Zyklus, für ein lyrisches und musikalisches Universum des noch obdachlosen und unbekannten Rotem Bar On, ehe daraus der Name seiner Band werden würde. Zwei der sechs Musiker*innen verließen über die vergangenen sieben Jahre das Ensemble und wurden ersetzt, doch im Kern und Klang blieb theAngelcy sich bis heute treu, was auch immer das heißt. Die Musikvideos der Band zum Beispiel könnten stilistisch unterschiedlicher kaum sein. Besonders aus dem Rahmen fällt das Video zum neusten Lied I worry. Es sorgen sich: Ein Mädchen und ein Kampffisch. Oder ein Mädchen über den Kampffisch? Oder nur das Mädchen und der Kampffisch ist ein Symbol für… ach, schaut doch selbst.
Im Interview mit Noemi Schneider (Deutschlandfunk Kultur) gab Rotem Bar On einen für seine Musik bezeichnenden Kommentar ab:
Die Leute haben gesagt: Ich sei talentiert aber, ehrlich gesagt, wenn du jemandem einen Song vorspielst und der sagt dann: »Wow du hast Talent, dass muss im Radio laufen«, dann ist das genau die falsche Reaktion, die richtige Reaktion wäre, wenn die Person weint.
Bevor Sonia und ich gemeinsame Wege gingen, pflegten wir eine Brieffreundschaft und eine Spotify-Playlist. Darüber führten wir einen Gedankenaustausch, der sich mal im Prosa der Briefe, mal in den Lyrics der Lieder ausdrückte. Für Letzteres stöberten wir nach Songtexten und Stimmungen, um die Zeilen und Rhythmen der oder des Anderen aufzugreifen…
We don’t have to talk, let’s dance | aus: Edward Sharpe’s Better Days, hinzugefügt von mir, eines Tages
Give me touch, cause I’ve been missing it | aus: Daughter’s Touch, hinzugefügt von ihr, am darauffolgenden Tage
Und so weiter. Man muss es sich wie ein musikalisches Ballspiel vorstellen, hin und her und hinhören, welche Botschaft wohl im neuen Lied mitschwingt. Schrecklich romantischer-kitschiger Kram natürlich, aber so stolpert man eben über ein Kollektiv von Musiker*innen, die sich Agentur der Engel nennen. Sonia hat mir ihren Spotify-Fund über das Lied Secret Room näher gebracht, vor ein paar Jahren. Seitdem feiern wir diese Perle von einer Band – und freuen uns auf das nächste Album!
If you want my future, take my painful memories,
if you want my beauty, take my disease,
and if you want my passion, take my violence,
if you want to be with me, take my loneliness,
take it all. | aus: Secret Room
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]]>Der Beitrag THE NICE GUYS mit Angourie Rice | Film 2016 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Ryan Gosling – der liebenswerte Jazz-Griesgram aus La La Land – kriegt aufs Maul. Und das nicht zu wenig. Er stürzt oft und tief und leidet quietschend wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Und wenn er zwischendurch mal munter ist, erweist er sich als ziemliche Niete in seiner Profession als Privatdetektiv. Ja, für Verehrer von Ryan Gosling ist The Nice Guys ein hartes Brot. Mir persönlich hat dieser Streifen den Schauspieler nur sympathischer gemacht. Nehmen wir das Actionfest mal unter die Lupe.
Hinweis: Liebe Leser*innen, der Plot ist mir zu kompliziert, als dass ich hier im Detail darauf eingehen werde (keine Bange, sooo kompliziert ist er nicht, nur halt… durcheinander?) – dementsprechend ist der nachfolgende Text spoilerfrei. Aktuelle Streamingangebote finden sich wie immer bei JustWatch.
The Nice Guys spielt unverkennbar in den 70er Jahren, genauer: 1977. Während in Deutschland der RAF-Terror Schlagzeilen macht, wird in den USA die erste Hinrichtung seit über einem Jahrzehnt durchgeführt. Die Todesstrafe feiert ihr unrühmliches Comeback. Aber darum geht’s nicht. 1977 sind auch andere große US-Geschichtsthemen mit Popkultur-Potential schon gelaufen. Die Watergate-Affäre (längst!), der Vietnamkrieg (abgesehen von Millionen von Landminen, die noch rumliegen – aber die USA können sich ja nicht um alles kümmern, immerhin haben sie schon die zwei- bis dreifache Bombenmenge über Vietnam abgeworfen, wie im Zweiten Weltkrieg über Deutschland), ja selbst die Hippie-Ära ist passé. Vorbei der erneute Ruf nach »freier Liebe«. Stattdessen machen im Film The Nice Guys nur ein paar Umweltaktivisten auf die schlechte Luft aufmerksam – eine Randnotiz, die im Laufe der Handlung an erstaunlicher Relevanz gewinnen soll.
Kurzum: Die 70er Jahre schlagen sich in The Nice Guys vor allem im coolen Gewand nieder. Die Autos, die Klamotten, die Mucke, das bietet sich alles sehr gut eine für eine knallbunte, actionreiche Buddy-Komödie. Irgendwo hängt ein Kinoplakat für Jaws 2 in der Kulisse. Irgendwann treten Earth, Wind and Fire live auf, das sind so die nennenswerten 70er-Referenzen. (Wen’s interessiert: Hier geht es zum Casting-Aufruf, mit dem die 70er-Jahre-Band für den Film neu zusammengestellt werden sollte.)
Mal in den Soundtrack reinhören? Bitteschön:
Ach ja, und der pornöse Schnurrbart darf beim 70er-Jahre-Feeling natürlich auch nicht fehlen. Den trägt Ryan Gosling unter der Nase. Und obwohl Sonia den Film gerne sehen wollte (wegen Ryan Gosling, darf ich aus Erfahrungswerten annehmen), hat sie bei der Plakat- und Trailerwerbung wohl nicht so ganz hingeschaut. Denn dieser dominante Schnurrbart schaffte es doch glatt, meiner lieben Partnerin das Ryan-Gosling-Erlebnis madig zu machen.
So kam’s dass nur ich, der ich den Film in maximaler Selbstlosigkeit nur Sonia zuliebe anklickte, am Ende auf meine Kosten kam. Zumindest wurde ich gut unterhalten. Mehr wollte dieses Action-Spektakel mit relativer Gagdichte gar nicht, glaub ich… hoff ich.
The Nice Guys beginnt mit einem Kameraflug über Los Angeles bei Nacht, beginnend von hinter dem Hollywood-Schriftzug in den Hills (mäßige CGI), endend bei einem Hund, der in ein Haus reindackelt. Schnitt, die Kamera folgt dem Hund, bis sie an einem Jungen hängen bleibt, der ins Schlafzimmer seiner Eltern schleicht. Offenbar der Sohn des Hauses. Er mopst sich das Porno-Blättchen seines Vaters von unterm Bett und stöbert darin, bis plötzlich ein Auto mitten durchs Haus rast. Ja, das kommt etwas unerwartet. Krachender Einstieg. Der Junge inspiziert das Autowrack und findet in der Nähe einer halbnackte Frauenleiche, die einer Dame aus dem Porno-Blättchen ziemlich ähnlich sieht.
Man kann den Anfang des Films auch verkürzt zusammenfassen: Langsame Kamerafahrt über einen nackten Frauenkörper in einem Porno-Magazin + langsame Kamerafahrt über einen nackten, blutigen Frauenkörper nach einem Autounfall. Genug für Hilary, die nach drei Minuten erkannte, dass sie »offenbar nicht die Zielgruppe für den Film war«, wie die Leserin der Bechdel Test Movie List es sympathisch formuliert.
Dabei hat der Streifen den Bechdel-Test bestanden, was man bei einem Film wie The Nice Guys jetzt nicht unmittelbar erwarten würde. Der Bechdel-Test stammt aus dem Comic Dykes to Watch Out For (zu deutsch: Bemerkenswerte Lesben) und dient dazu, auf die Stereotypisierung weiblicher Figuren in Filmen hinzuweisen. Er ist ganz einfach:
Zack, so simpel lassen sich die schlimmsten Macho-Movies (von denen es erschreckend viele gibt) aussortieren. Obwohl in The Nice Guys zwei ziemliche Macho-Typen die Hauptrollen spielen (Russell Crowe und Ryan Gosling ermitteln als Privatschnüffler-Duo im Porno-Business) gibt es in dem Film ne Menge bemerkenswerter Frauenrollen.
Die gesuchte Tochter einer Politikerin entpuppt sich als meinungsstarke Aktivistin. Die korrupte Mutter plottet den ganzen Coup, der die Handlung überhaupt ins Rollen bringt. Deren knallharte Gehilfin macht es den Privatermittlern ein ums andere Mal schwer. Eine alte Dame bringt besagte Ermittler überhaupt erst auf die richtige Spur… wenn man so den Fokus drauf richtet, sind die Männer in diesem Film nur ne Bande gewalttätiger/betrunkener Dicks und Doofs, die ohne weibliche Anleitung gar nicht wüssten, worum sie sich kloppen sollen.
Im Gedächtnis bleibt dabei vor allem eine weibliche Rolle, die ob ihres Alters anfangs irritiert: Tochter Holly des von Ryan Gosling gespielten Detektivs. Keine Ahnung, wie alt sie im Film sein soll. Schauspielerin Angourie Rice (*2001) war bei den Dreharbeiten (beginnend im Oktober 2014) etwa 13 Jahre alt. Augenscheinlich noch ein liebes Kind, dass in Kreises rabiater Kerle und Porno-Partys nichts zu suchen hat. Tatsächlich erlebt man Holly jedoch als diejenige, die ihren Vater zur Disziplin ruft, einen miserablen Detektiv schimpft, ihn nach Hause fährt und ihm den Arsch rettet, öfter mal. Auch dem anderen Nice Guy, Russell Crowe, redet sie selbstbewusst ins Gewissen.
Mit The Nice Guys hatte Angourie Rice, im Real Life die Tochter eines Regisseurs und einer Autorin, ihren Durchbruch als Schauspielerin. Aktuell ist sie in Letztlich sind wir dem Universum egal zu sehen (mehr dazu im Interview mit Sarah Schindler) und bespricht selbst Filme auf ihrem WordPress-Blog Thoughts to keep me sane. Ob Angourie Rice eine Rolle im geplanten Nice-Guys-Reboot mit weiblichen Hauptrollen – The Nice Girls soll’s heißen – spielen wird? Wird sich zeigen.
Ein netter Film. Die Hard trifft Laurel & Hardy trifft Fuck for Forest, oder so. Nur Ryan Gosling zu mögen reicht eher nicht, um Gefallen an dem Film zu finden. Sonia ist nach einer Stunde ausgestiegen, fand den Film letztlich lahm, zu viel Geballer, zu wenig Emotionen. Längen hat er, da stimme ich zu, aber die Actionszenen sind ideenreich choreografiert und ein paar gute Lacher gibt’s auch. Reicht doch für ’n okayen Film.
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]]>Der Beitrag AUSLÖSCHUNG mit Natalie Portman | Film 2018 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Eine angenehme Abwechslung, einen Film über eine quasi-militärische Operation ohne Macho-Gehabe zu sehen. Stattdessen sind es fünf Frauen, die sich in die Area X vorwagen (nachdem alle Männer gescheitert sind, muss man wohl dazu sagen). Obwohl die Schauspielerinnen Natalie Portman, Jennifer Jason Leigh, Gina Rodriguez, Tessa Thompson und Tuva Novotny jede für sich eine tolle Performance abliefern, wurde Auslöschung für seine Besetzung kritisiert. Und außerdem sei der Film zu kompliziert. Was hat es mit dieser Kritik auf sich? Schauen wir mal.
Hinweis: Liebe Leser*innen, im Absatz »Erklärungen« wird auf einige Szenen respektive das Setting genauer eingegangen. Ansonsten gibt’s keine Spoiler. Der Film ist aktuell (Sommer 2018) exklusiv nur bei Netflix zu sehen.
Noch ist es eine Besonderheit, aber sie sollte Kinobesitzer*innen mulmig stimmen. Der visuell hervorragende, starbesetzte Science-Fiction-Film Auslöschung lief nur in Amerika, Kanada und China in den Lichtspielhäusern an, am 23. Februar 2018. In allen anderen Ländern übersprang die internationale Auswertung das Kino. Stattdessen hat das verantwortliche Studio, Paramount Pictures, die Rechte an den Streamingdienst Netflix verkauft. Dieser machte Auslöschung schon am 12. März 2018 online verfügbar. Somit war der Film in Deutschland nicht im Kino zu sehen, sondern direkt auf heimischen Endgeräten. Sei es auf dem Tablet, dem Fernseher, oder eben einem Beamer, der dem Kinoerlebnis beachtlich nahe kommt (abzüglich Negativerfahrungen wie klingelnden Handys oder quatschenden Sitznachbarn).
Man kann diese Entwicklung gut oder schlecht finden, das hält den Gang der Dinge nicht auf. Alles, was marktwirtschaftlich Sinn macht, bahnt sich in unserer Gesellschaft seinen Weg und wird auf Dauer angenommen. Auch die Filmindustrie ist ein Ökosystem – und wie Jurassic Park uns lehrte: Das Leben findet immer einen Weg.
Der Grund dafür, dass ausgerechnet dieser Film diesen Weg ging, ist ziemlich banal. Aber auf gewisse Weise ein herrlich ironischer Wink des Schicksals. Was ist passiert? Die Hintermänner der beteiligten Produktionsfirmen haben sich verkracht. Bei einem Testscreening im Sommer 2017 wurde der Film als zu intellektuell und kompliziert empfunden. Zwar konnte verhindert werden, dass der Regisseur sein Werk zu einer gefälligeren Fassung umschneiden musste. Der Kompromiss lief aber darauf hinaus, dass Paramount Pictures keinen kostspieligen Flop an internationalen Kinokassen riskierte.
So sehr der Regisseur Alex Garland diese Entscheidung bedauert – etwa im Interview mit Tommy Cook (Collider) – macht dies vonseiten des Studios nur Sinn. Paramount Pictures hat bereits zahlreiche Projekte von berüchtigt genialen (respektive vermeintlich erfolgsversprechenden) Filmemachern finanziert. Das Ergebnis: oft künstlerisch wertvoll, aber kommerziell katastrophal. Im Jahr 2017 waren etwa Darren Aronofskys mother! und Alexander Paynes Downsizing zwei vergleichbare Vorhaben, die an den Kinokassen eine Schlappe erfuhren. Statt Paramount für den Verkauf an Netflix also zu kritisieren, sollte man das Studio dafür achten, dass es visionären Regisseur*innen überhaupt noch die Möglichkeit gibt, ihre Ideen zu verwirklichen – auch wenn sie am Mainstream vorbei zielen.
Sucht man für das Aussterben der Kinos einen Schuldigen, muss man wohl auf die Kinogänger*innen selbst zeigen. Diejenigen, die dieser Tage lieber daheim bleiben. Nicht vergessen: Professionelle Streaming-Dienstleister waren die Folge von illegalen Streaming-Machenschaften. Die Leute bleiben nicht zu Hause, weil es Netflix gibt. Netflix gibt es, weil die Leute zu Hause bleiben.
Es zerstörte nichts, sondern veränderte alles. Es erschuf etwas Neues. | Lena (Natalie Portman) in Auslöschung
Was den ironischen Wink des Schicksals anbelangt: In Auslöschung geht es darum, wie Organismen – also bestehende Strukturen – zersetzt und neu formiert werden. Nichts Anderes passiert aktuell (mal wieder) in der Filmindustrie. Dass Auslöschung am Kino vorbei den Weg direkt ins Wohnzimmer findet, ist eine Auslöschung der etablierten Kinos und die Etablierung neuer Kinos daheim. Na, wenn das dem Film nicht eine besondere Würze verleiht.
Der Science-Fiction-Streifen Auslöschung basiert auf dem gleichnamigen Buch von Jeff VanderMeers, der sein literarisches Werk inzwischen zu einer Trilogie ausgebaut hat. Wie gern würde ich mich vor jeder filmischen Interpretation erst einmal mit der zugrunde liegenden Romanvorlage beschäftigen. Dafür ist ein Menschenleben leider zu kurz. Trotzdem stellte ich mir die Frage:
Sollte man im Fall von Auslöschung den Roman von Jeff VanderMeer kennen, ehe man den Film von Alex Garland sieht?
Antwort: nicht unbedingt. Zum Einen hat der Drehbuchautor und Regisseur Alex Garland selbst das Skript basierend auf seinen Erinnerungen an die Lektüre des Romans geschrieben und bewusst nicht streng gemäß der Vorlage. Zum Anderen ist der Film auch (vermutlich: eben deswegen) völlig anders als das Buch. Der YouTuber Brockrin vermutet eine Schnittmenge von 8 Prozent, die Buch und Film gemeinsam haben. Indiewire findet den Film sogar besser als das Buch und führt dazu etliche Gründe auf (englisch).
Kritisiert wurde das Casting von Natalie Portman und Jennifer Jason Leigh übrigens dafür, dass deren Charaktere in der literarischen Vorlage als asiatisch beziehungsweise halb-indianisch beschrieben werden. Allerdings erst im zweiten Buch der Trilogie, das Alex Garland beim Schreiben des Drehbuchs noch nicht vorlag. So sehr ich es persönlich also ätzend finde, wenn amerikanische Schauspieler in Rollen besetzt werden, die eigentlich für andere Ethnien bestimmt sind: Hier kann ich die Argumentation des Regisseurs noch verstehen.
Es beginnt mit einer Halbtotale von Natalie Portman. Sie sitzt in weißer Kluft auf einem Stuhl, vor kahler Wand. Neben ihr ein Beistelltisch, darauf ein Glas Wasser. Deprimierend karges Setting. Schnitt auf eine Nahe im Profil, von der Seite. Die Frau trägt kleine Narben im verstört dreinschauenden Gesicht, das Licht gibt ihrer Haut einen gelbgrünen Stich. Jetzt sehen wir, im Hintergrund, die Glaswand neben ihr, hinter der Menschen in blauen Anzügen stehen und sie betrachten wie ein Tier im Zoo. Wieder ein Schnitt in die Halbtotale, dieses Mal in die andere Richtung. Über die Schultern der Frau hinweg sehen wir drei Menschen in weißen Anzügen, die ihr gegenüberstehen. Der mittlere, bullige Mann fragt:
Was haben Sie gegessen? Sie hatten Vorräte für vier Wochen und waren fast vier Monate da drin.
Der Auftakt zu einem Verhör. Die Frau ohne Zeitgefühl und mit brüchiger Erinnerung wird nach ihren Begleitern gefragt. Eine sei tot, vom Verbleib der Restlichen wisse sie nichts. Soweit der bedrückende Auftakt. Die Anfangsszene erinnert an Filme über Epidemien, Contagion (2011) etwa. Portman scheint eine Infizierte oder Kontaminierte zu spielen. Von dieser Rahmenhandlung aus werden wir zurückgeworfen.
Zurück bis zum Urknall, so scheint es. Ein Feuerball schießt aus dem Weltall auf die Erde nieder. Er schlägt in einen Leuchtturm an einem entlegenen Strand ein, stumm. Dazu fast zärtliche, wenn auch monotone Musik. Abstrakte Bilder einer quellenden, dunklen Masse werden zwischen geschnitten, dann wieder der brennende Leuchtturm. Diese letzte Einstellung, kurz vor dem Titel, ist für heute CGI-Standards leider arg flach und künstlich geraten. Das verwundert mich, denn im großen Ganzen ist der Film visuell grandios geraten.
Die folgende, etwas holprige Exposition mit seltsam aufdringlichen Musikeinsatz spielt sich noch in der »normalen Welt« ab, die wir alsbald verlassen werden. Natalie Portman spielt (in der Rückblende) eine Professorin, ihr Fachgebiet ist die Biologie. Sie erzählt ihren Studenten, wie Zellen aus sich immerzu teilenden Zellen hervorgehen und das jede Zelle des Universums auf einen einzigen Organismus zurückzuführen sei. Atemberaubende Tatsache, wenn man drüber nachdenkt, was man selten tut, im Alltag unserer besagten »normalen Welt.
Doch in diese Welt ist ein Meteorit eingeschlagen, drei Jahre vor Beginn der Filmhandlung rund um Natalie Portmans Charakter. Sie wird Teil eines Teams, das das Areal rund um den eingeschlagenen Meteoriten erkunden soll. Dieses Areal breitet sich langsam aus – und niemand, der hineingeraten ist, kam wieder heraus. Umgeben ist das Areal (genannt: Area X) von einem mysteriösen Schimmer. Was sich dahinter abspielt, ist von solcher Schönheit und Spannung, dass es den für mein Empfinden schwachen Filmauftakt wettmacht.
Als »der Schimmer« wird im Film das gesamte Areal genannt, das sich seit dem Einschlag des Meteoriten von dem Leuchtturm auf einem Landzipfel Floridas her ausbreitet. Das Areal ist umgeben von etwas, das wie ein gewaltiger Ölfilm aussieht. Bloß, dass dieser Ölfilm nicht auf Pfützen am Boden schimmert, sondern wie auf einer gigantischen Seifenblase, die »Außengrenze« des Schimmers.
Innerhalb des Schimmers vollziehen sich seltsame Mutationen. Der Charakter von Tessa Thompson – sie spielt die Physikerin – erklärt den Schimmer als eine Art Prisma. Als Prisma kann man etwa kleine Glasgebilde bezeichnen, in denen sich einfallende Lichtstrahlen brechen und in ihre Farben entfalten – beliebt als Brieföffner, die Dinger. Doch in dem Prisma, das der Schimmer darstellt, werden nicht nur Licht- sondern auch Radiowellen gebrochen. Mehr noch, der Schimmer beeinflusst die DNA der Pflanzen und Tiere in ihm, was zu den Mutationen führt.
Einmal ist ein weißer Hirsch zu sehen, an dessen Geweih rosa Blüten wachsen. Hübscher Anblick eigentlich, stünde hinter ihm nicht sein Doppelgänger, also der gleiche Hirsch noch einmal, der jede Bewegung des Ersteren kopiert. Kleiner Unterschied: Der Doppelgänger sieht halb verrottet aus, wie ein Zombie-Hirsch.
Und ja, es wird noch abgefahrener. Das Internet überschlägt sich mit Bedeutungen, interessant sind etwa die Interpretationsansätze von New Rockstars auf YouTube.
Bei dem Schimmer scheint es sich um ein Konglomerat außerirdischer Organismen zu handeln. Unsere gängigen Vorstellungen davon, wie außerirdisches Leben in unsere Welt vordringen würde, entsprechen unserem eigenen Verhalten: eher kriegerisch. Im berühmten Krieg der Welten sogar: plump kriegerisch. Wie oft sind Menschen im Laufe der Geschichte nicht wie Außerirdische an einem Strand gelandet und haben von dort aus alles mit Waffengewalt platt gemacht, was nicht nach Ihresgleichen aussah? Dass wir dieses markant menschliche Verhalten allzu oft irgendwelchen fiktionalen Aliens andichten, hängt wohl mit mangelnder Vorstellungskraft zusammen.
Mangelnde Vorstellungskraft kann man dem Regisseur Alex Garland (28 Days Later) und seinem Team, sowie dem Autor des zugrunde liegenden Buchs, Jeff VanderMeer, nicht unterstellen. Im Gegenteil: Auslöschung ist absolut fantastisch geworden, voller starker Bilder, packender Momente und versteckter Bedeutungen. Wer seine Freude daran hat, mehr in einem Film zu sehen, als die bunte Oberfläche, ist hier genau richtig. Es gibt, wohlgemerkt, nicht nur zum Schwärmen schöne Naturkulissen, sondern auch abartig brutale Gewalt- und Ekel-Szenen mit monströsen Wesen, also… das nur so am Rande.
Mir persönlich war das Ende (wie schon im von Alex Garland geschriebenen Sunshine) etwas zu fantastisch. Doch wenn man rund 120 Minuten gut unterhalten worden ist, sollte man sich nicht daran stören, dass ein Filmende von den eigenen Wunschvorstellungen abweicht.
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Erstmal ein Update zum Upgrade: Der Backstage-Bereich des Club Bahnhof Ehrenfeld mausert sich zu einem wirklich hübsches Plätzchen! Anfang des Jahres war’s noch ein trostloses Loch mit schwach glimmender Funzel, deren bisschen Licht von den schwarzen Wänden wie von Todessern absorbiert wurde. Schon nach der April-Ausgabe des SpokenWordClubs konnte ich die krassen News von der neuen Glühbirne verbreiten, die dort jemand angebracht hat. Seitdem sah man auch die beiden Sessel in der Ecke, schön, schön.
Doch JETZT stieg die bunteste Show Deutschlands (als welche der SpokenWordClub weit über Kölns Grenzen hinaus inzwischen bekannt ist) im buntesten Club Deutschlands – zumindest hinter den Kulissen. Denn die Wände dort haben einen neuen Anstrich bekommen, vom Künstlerkollektiv GuapoSapo. Wohin man sieht, sagenhaft abstruse Gestalten und Messages, alles nach dem Motto »kindness is gangster«. Sehr nice! Rund um die Bühne unterm Brückenbogen geht es kontrastreich los mit weißer Kunst auf schwarzem Grund. Im Backstagebereich hingegen sind die Farbtöpfe explodiert! Und hach, was so Farbe doch ausmacht! Es war immer noch stickig wie im Pumakäfig, die Luft zu dick zum Schneiden, aber umgeben von so großartiger Malerei war man eh seines Atems beraubt.
Der Club Bahnhof Ehrenfeld feiert 2018 übrigens schon sein achtjähriges Bestehen! Gli-Gla-Glückwunsch, du geiler Schuppen!
Die Minuten vor der Show waren wie immer eine Show für sich. Beim letzten Mal verzauberte Moderator Jesse Albert die Künstler hinter der Bühne noch mit seinen Kartentricks. Gestern wurde Jesse selbst ein ums andere Mal verblüfft. Er lernte das »Jugendwort« binge-watchen (und dass man es mit Filmen nicht macht!) und was Delfine, Affen und Geparden mit seinem Wesen zu tun haben. Letzteres war ein Psycho-Trick, den uns der SpokenWordClub-Stammrapper und Best Opener of All Times Dan O’Clock näher gebracht hat. In Schritt 1 soll man sein Lieblingstier, sein Zweit- und dann sein Drittlieblingstier nennen. Schritt 2 möchte ich an dieser Stelle nicht verraten; nur, dass es bei mir Laubfrosch, Baumfrosch und Erdkröte waren. Weiter im Text:
Den Auftakt zum Comedy-Special machte jemand Lustiges! Und zwar jemand, der in fünf Monaten zurückkehren wird, in den Club Bahnhof Ehrenfeld: Jan van Weyde! In seinem Auftritt gestern Abend hat uns der Stand-up Comedian, Synchronsprecher und Familienvater einen kleinen Vorgeschmack auf sein Soloprogramm gegeben, das am 28. Oktober auf derselben Bühne zu sehen sein wird. Immer wieder herrlich, wenn junge Väter ihre Lebenserfahrungen pointenreich aufbereiten.
Doch noch witziger als van Weydes Töchterchen-Death-Metal-Stories waren seine Beobachtungen zum deutschen Synchron-Sprech, einer Sprache für sich. Ich hab mich schlappgelacht und werde nie wieder Jamie Oliver auf Deutsch sehen können (was klappen dürfte, da ich dem Koch nicht mal auf Englisch zuschaue, weil, na ja, frei nach J.K. Simmons in Whiplash: »not quite my topic«).
Auf Jan van Weyde folgte Friedemann Weise. Der poetische Klang des vorausgegangenen Satzes ist vermutlich der Grund für die Reihenfolge im Line-up. Friedemann jedenfalls, ebenfalls Comedian, mutete dem Publikum eine Lesung zu. Mit dabei hatte er sein neues Buch Die Welt von Sicht aus schräg hinten: Premiumquatsch, das sein Lektor liebevoll das »Prädikat: Klolektüre« gab. Carolin Kebekus nennt es: »Todeslustig!« Tatsächlich waren die literarischen Schnipsel von Friedemann Weise ziemlicher lustiger Tobak. Manche Pointe war ein bisschen zu tiefsinnig für mich, aber das ist kein Maßstab. Nebst Lesung gab Weise noch Musik zum Besten, skurril und voller Energie, ein perfekter Übergang –
– zu noch mehr Musik. Den Special-Edition hin oder her, der SpokenWordClub wäre nicht die bunteste Show Deutschlands, wenn’s keine Abwechslung gäbe. So gehörte die Bühne nach den beiden Comedians erst einmal Darius Zander aka DARI. Genau, eben den Kölner Musiker, der es auf die Titelseite des Express geschafft hat, als Songwriter des neuen WM-Hits von Adel Tawil. Vor kurzem war Darius Zander noch mit Mo-Torres on stage, dem Kölner Rapper, der im März den SpokenWordClub als Talkgast beehrte.
Apropos Talk: Dazu wurde dieses Mal die große Leinwand heruntergefahren. Moderator Jesse Albert interviewte den Filmemacher Tobias Schmutzler, der einen bildgewaltigen Trailer zu seinem neuen Projekt mitgebracht hat. Es geht um den Spielfilm Robin – Watch for Wishes , der nach Hollywood-Maßstäben ein Budget von 10 Millionen Dollar gefressen hätte. Tobias und sein Bruder Kevin Schmutzler waren extra in Los Angeles, um sich das vorrechnen zu lassen. Obwohl sie so viel Kohle nicht hatten, hielten sie an ihrem Traum fest und produzierten in Südafrika und Deutschland den Film, der jetzt frei verfügbar auf YouTube zu sehen ist, noch bis zum 19. Mai.
Der Clou: Zahlreiche Beteiligte haben für Kevin und Tobias Schmutzler auf ihre Gage verzichtet und die Auswertung dient einem guten Zweck. Wer sich den Film mit Schauspieler Aiden Flowers (bekannt aus The Big Short) in der Hauptrolle anschaut, sorgt dafür, dass Sponsorengelder in Spendentöpfe fließen. Jeder View bringt 10 Cent für die DKMS, die McDonalds Kinderhilfe und das SOS Kinderdorf. Weitere Infos zu dem außergewöhnlichen Projekt – einem »social impact Film« – findet sich auf Wikipedia. Einen Eindruck vom Trailer sowie die anderen Highlights des Abends findet ihr im…
Video zum SpokenWordClub im Mai:
Weiter ging’s mit Comedy. Micha Marx erzählte aus seiner Kindheit und von seinem Werdegang als Künstler, sehr unaufgeregt und sachlich – und doch ziemlich unterhaltsam, auch dank der Leinwand schräg hinter ihm. Darauf visualisierte Marx seine Anekdoten mit kleinen Kunstwerken aus eigener Hand. Wer sich einen Eindruck von seinem markant-verschrobenen Stil machen möchte, ist auf seiner Facebook-Seite gut aufgehoben.
Und es geht kein SpokenWordClub über die Bühne ohne einen Besuch der Herren von RebellComedy (sind doch alle eine große Familie, die lustigen Kleinkünstler aus Köln und Umgebung). Dieses Mal mit dabei: Benaissa und, als Überraschungsgast, Khalid Bonouar. Perfekter Abschluss für ein Comedy-Special.
Die nächste Ausgabe des SpokenWordClub findet am 8. Juni 2018 statt. Das ist vor der Sommerpause die letzte Gelegenheit, sich diese Perle der Kleinkunst-Programme zu geben, also behaltet die SWC-Website im Blick! Da gibt’s Infos, Tickets, Fotos, Filmchen, Hashtags, Buttons, Impressum, alles, einfach ALLES. Made with ♥ in Cologne, Germany.
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