Buch – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de Kinderbücher, Kinofilme und mehr! Thu, 04 Oct 2018 10:18:48 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 http://www.blogvombleiben.de/wp-content/uploads/2017/03/Website-Icon-dark.png?fit=32,32 Buch – Blog vom Bleiben http://www.blogvombleiben.de 32 32 138411988 EINE KURZE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT | Buch 2013 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/eine-kurze-geschichte-der-menschheit-buch-2013-kritik/ http://www.blogvombleiben.de/eine-kurze-geschichte-der-menschheit-buch-2013-kritik/#respond Thu, 30 Aug 2018 06:00:55 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=5197 In Die Gutenberg-Galaxis (1962) beschreibt der Medientheoretiker Marshall McLuhan eine Zeit, in der das Buch als…

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In Die Gutenberg-Galaxis (1962) beschreibt der Medientheoretiker Marshall McLuhan eine Zeit, in der das Buch als Leitmedium die Welt beherrschte. Später wurde sein Werk in Kontrast zur »Internet-Galaxis« gesetzt, als das World Wide Web damit begann, unser Weltwissen zu archivieren. McLuhan scheint das Internet vorhergesehen zu haben und sprach auch bereits – 30 Jahre, bevor alle damit anfingen – vom »Surfen« als Metapher für die Bewegung »auf der elektronischen Welle«. Heute rollt die Welle über einen gewaltigen Ozean des Wissens – und obwohl wir alle surfen, gehen viele darin unter. In solch einer Zeit zeigt Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari, dass das Buch, wenn nicht mehr Leitmedium, so doch mindestens ein Brett sein kann, auf dem wir Stand halten – und ein Kompass sowieso, in der digitalen Ära.

Weltherrschaft der bewaffneten Schafe

Inhalt: Wie sind die Menschen zu dem geworden, was sie heute sind? Wie kam es, dass wir Zehntausende von Jahren als affenartige Tiere unser Dasein in der afrikanischen Wildnis fristeten, nicht bemerkenswerter als »Gorillas, Libellen oder Quallen» – doch uns dann geradezu plötzlich anschickten, den Planeten zu erobern? Was hat es mit der »kleinen Verschiebung in der Struktur des Gehirns« auf sich, die wir die Kognitive Revolution nennen – und was geschah seitdem in der wirklichen und imaginären Welt des Homo sapiens, der in vergleichsweise kurzer Zeit an die Spitze der Nahrungskette geklettert ist? Yuval Noah Harari liefert eine Zusammenfassung der Menschheitsgeschichte – in 20 Kapiteln, auf rund 500 Seiten.

Andere Raubtiere wie Löwen oder Haie hatten sich über Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasst. Die Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf den anderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit, sich darauf einzustellen. Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichte lassen sich mit dieser überhasteten Entwicklung erklären […]. Die Menschheit ist kein Wolfsrudel, das durch einen unglücklichen Zufall Panzer und Atombomben in die Finger bekam. Die Menschheit ist vielmehr eine Schafherde, die dank einer Laune der Evolution lernte, Panzer und Atombomben zu bauen. Aber bewaffnete Schafe sind ungleich gefährlicher als bewaffnete Wölfe. | S. 21 1

Das Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit, im Hintergrund menschliche Schädel.

Regalfach: Das Werk im Zusammenhang

Literarischer Kontext | zum Autor des Buchs

Yuval Noah Harari ist 1976 in der israelischen Küstenstadt Haifa geboren und wuchs in einer jüdischen Familie mit libanesischen und osteuropäischen Wurzeln auf. Seit seinem 30. Lebensjahr lehrt er an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zu dieser Zeit kannte er bereits seinen späteren Manager und Ehemann Itzik Yahav, den er in Kanada heiratete, da in Israel gleichgeschlechtliche Eheschließungen untersagt sind. Im Ausland geschlossene, gleichgeschlechtliche Ehen werden jedoch anerkannt – anders als schräg gegenüber am saudi-arabischen Ufer des Roten Meeres, wo auf gleichgeschlechtliche Eheschließungen die Todesstrafe steht. Harari über schwulenfeindliche Gesetze:

Die Kultur behauptet gern, sie verbiete »unnatürliche« Dinge. Aber aus biologischer Sicht ist nichts unnatürlich. Alles was möglich ist, ist definitionsgemäß auch natürlich. Eine unnatürliche Verhaltensweise, die den Gesetzen der Natur widerspricht, kann es gar nicht geben, weshalb es völlig sinnlos ist, sie verbieten zu wollen. Keine Kultur hat sich je die Mühe gemacht, Männern die Photosynthese oder Frauen die Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit zu verbieten. | S. 184

Gespickt mit spitzen Bemerkungen wie diesen ist Eine kurze Geschichte der Menschheit 2011 zunächst in Israel erschienen, auf Hebräisch. 3 Jahre später folgte eine Übersetzung ins Englische – und inzwischen liegt das Buch in über 45 Sprachen vor. Als Amerika noch einen Präsidenten hatte, der Bücher las, fand dieser für Hararis Werk lobende Worte: »Interessant und provokant« nannte Obama das Buch gegenüber Fareed Zakaria (CNN).

Es bespricht einige Kernelemente, die uns ermöglicht haben, diese außerordentliche Zivilisation aufzubauen, die wir für gegeben hinnehmen.

Barack Obama

Ja, ja, für gegeben hinnehmen… wie heißt es so schön? »Vieles lernt man erst zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat.« – und nein, das ist kein Trump-Tweet.

Persönlicher Kontext

Es war im November 2016 – nach jenem traurigen Wednesday Morning nach der US-Wahl, den Macklemore später mal wieder weit besser in Worte fasste, als ich mich hätte artikulieren können – als ich unter dem frischen Eindruck meines Glaubensverlustes an die Menschheit (Trump, Brexit und London Has Fallen, dieser Schrottfilm des Jahres!) nach Antworten suchte. Unterm Strich auf die Frage: Sind wir immer schon so blöd gewesen? Auf globale Krisen mit nationaler Isolation reagieren, ernsthaft, das ist gerade Phase – schon wieder!? Aus dieser (schlechten) Laune heraus tätigte ich einen Lustkauf. Der Name Harari war mir noch unbekannt, bloß Cover und Titel sprachen mich an und ich hatte eine lange Autofahrt vor mir, also her mit dem Hörbuch!

Was seither geschah: Ich habe Eine kurze Geschichte der Menschheit erst gehört, dann gelesen, dann Hararis nächstes Buch Homo Deus noch im Original verschlungen, ehe es im April 2017 endlich auf Deutsch herauskam, um es auch dann noch einmal in deutscher Übersetzung zusammen mit einem syrischen Kumpel zu lesen und zu diskutieren – von zwei unterschiedlichen kulturellen Standpunkten aus, das machte die Lektüre umso spannender. Mit Sonia besuchte ich die Ausstellung in Bundeskunsthalle in Bonn, Eine kurze Geschichte der Menschheit – 100.000 Jahre Kulturgeschichte, basierend auf Hararis Veröffentlichungen. Ach ja, und seither ist (Spoiler-Alert!) jedes Geburtstagspräsent, das ich verschenke, entweder das eine oder das andere Buch von Yuval Noah Harari.

Ein Blick hinter die Kulissen der Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle – auch der Autor Yuval Noah Harari kommt hier zu Wort:

Die Experten-Falle

Bin ich ein Fan? Ja und nein. Ich habe durchaus die Befürchtung, dass dem Autor sein Kultstatus zu Kopf wachsen könnte und er in die »Experten-Falle« tappt, was etwaige Interviews und Gesprächsrunden über die Zukunft angeht.

Bei der Bewertung der intuitiven Urteile von Experten sollte man immer erwägen, ob der Experte hinlänglich Gelegenheit hatte, seine Fähigkeit zur Mustererkennung zu üben, auch in einem regelmäßigen Umfeld.

Daniel Kahneman, in: Schnelles Denken, langsames Denken (2017), S. 300

Es gibt kein unregelmäßigeres Umfeld, als die menschliche Geschichte und Gesellschaft, was nunmal Hararis Themen sind. Gewiss, er schreibt sehr Fakten-orientiert und betont immerzu, dass man keine sicheren Vorhersagen treffen kann; andererseits geht er zuweilen leichtfertig mit großen Begriffen und Fragen um. Daniel Kahneman hat in Schnelles Denken, langsames Denken (2017) überzeugend dargelegt, wie schnell Menschen, denen man einen Experten-Status zuspricht, zu voreiligen oder verfehlten Urteilen neigen, weil alle (sie eingeschlossen) schnell mal ihre Expertise überschätzen. Trotzdem bin ich sehr gespannt auf Hararis nächstes Buch!

Aktuell: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert von Yuval Noah Harari ist ab heute (30. August) auf Englisch verfügbar und ab dem 18. September dann auch in deutscher Übersetzung.

Leselupe: Das Werk im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Buchs

Ob es uns gefällt oder nicht, wir gehören der großen und krawalligen Familie der Menschenaffen an. | S. 13

Nach einem kurzen biologischen Diskurs kommt Harari recht zügig auf das Thema seines Buchs zu sprechen. Denn das ist weder die Geschichte des Universums (Physik), noch die Geschichte der Atome und Moleküle (Chemie), oder die Geschichte der Organismen (Biologie), wie den besagten Menschenaffen in tierischer Hinsicht. Stattdessen geht es ihm um die Geschichte der menschlichen Kulturen – von den Techniken und Wissenschaften über die Religionen und künstlerischen Erzeugnisse bis hin zu den Funktionsweisen und Ideologien, die unseren Gesellschaften im Laufe der Geschichte zugrunde lagen und liegen.

Eine Menschheitsgeschichte, die sich nicht in Antike, Mittelalter, Neuzeit gliedert – das ist für notorische Geschichtsmuffel doch schonmal hochsympathisch! Statt der üblichen Epochengliederung fächert sich Eine kurze Geschichte der Menschheit in 4 Teile auf, überwiegend benannt nach Revolutionen, die einen anderen Charakter haben, als etwa die Französische Revolution von 1789 oder die Russische Revolution von 1917. Vielmehr geht es um schleichende, übergeordnete Veränderungen wie die Industrielle Revolution – doch auch dieser ist kein Kapitel explizit, namentlich gewidmet. Die Gliederung schaut im Groben wie folgt aus:

Gliederung nach Revolutionen

  • Teil 1: Die kognitive Revolution (der Mensch wird fähig, in größeren Gruppen von über 150 Individuen zu kommunizieren und Pläne zu schmieden – es geht darum, wie unsere urzeitlicher Alltag ausgesehen hat und wie wir uns ausbreiteten, über den gesamten Planeten)
  • Teil 2: Die landwirtschaftliche Revolution (der Mensch wird sesshaft und entwickelt die Schrift – wir bauen Pyramiden, behandeln einander jedoch ungerecht; hier rücken Sklaverei und Geschlechterrollen in den Fokus)
  • Teil 3: Die Vereinigung der Menschheit (der Mensch erschafft Geld, Götter und andere große Ideen, die Gemeinschaften zusammenhalten – aber warum funktioniert Geld überhaupt? Und was ist ein Imperium? Solche Fragen werden in diesem Teil beantwortet)
  • Teil 4: Die wissenschaftliche Revolution (der Mensch schaut über den Horizont hinaus, entdeckt Kontinente und Keimzellen – die Weltbeherrschung durch Homo sapiens nimmt an Fahrt auf; legendäre Entdeckungsreisen und der Siegeszug des Kapitalismus stehen im abschließenden Teil im Mittelpunkt)

Geschichte als Abenteuerroman

Hararis Erzählung beginnt in grauer Urzeit – und nimmt zum Beispiel die ersten Menschen in den Fokus, die einen Fuß auf australischen Boden setzten. Harari beschreibt die verheerenden Folgen für die dortige Fauna in so schlichter und schöner Sprache, als lese man einen Abenteuerroman:

Auf ihrem Weg trafen die Menschen auf eine sonderbare Welt voller unbekannter Lebewesen: Sie stießen auf Kängurus, die 200 Kilogramm wogen und zwei Meter hoch aufragten, und auf Beutellöwen, die so groß waren wie die heutigen Tiger und die größten Raubtiere des Kontinents darstellten. […] Und in den Wäldern hausten das Zygomaturus trilobus, das gewisse Ähnlichkeit mit einem Zwergnilpferd hatte und eine halbe Tonne wog, und das gigantische, zweieinhalb Tonnen schwere Diprotodon. […] Innerhalb weniger Jahrtausende verschwanden diese Riesen. Von den 24 australischen Tierarten, die über 50 Kilogramm wogen, starben 23 aus. | S. 88

Der Autor wird nicht müde zu betonen, dass er bei seiner Beweisführung oft auf Indizien zurückgreift und dass es, je weiter man zurückschaut, desto weniger Gewissheiten gibt – und doch sind Hararis Argumente, die Homo sapiens etwa als Massenmörder und Artenvernichter darstellen, sehr überzeugend.

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Buchs

Am Ende von Eine kurze Geschichte der Menschheit läuft alles auf eine »permanente Revolution« hinaus. Eine solche sieht Harari gegeben in unserer stetig im Wandel begriffenen Gegenwart, zu der er immer wieder einen Bezug herstellt, wenn er auch längst vergangene Geschehnisse und Systeme bespricht. Ausgerechnet eines meines liebsten Beispiel dafür ist aus der deutschen Übersetzung gestrichen worden (!?) – nämlich der letzte Satz aus diesem Abschnitt (den ich jetzt mal notdürftig selbst ins Deutsche übersetzt habe):

Imperien bringen in der Regel Mischkulturen hervor, die dem Einfluss der eroberten Völker viel zu verdanken haben. Die Kultur des Römischen Reichs war beispielsweise fast so griechisch wie römisch. Die Kultur des Abbasidenreichs speiste sich aus persischen, griechischen und arabischen Quellen. Und das Mongolenreich war eine Kopie des chinesischen Kaiserreichs. In den imperialen Vereinigten Staaten kann ein amerikanischer Präsident mit kenianischem Blut eine italienische Pizza mampfen, während er seinen britischen Lieblingsfilm Lawrence von Arabien anschaut, über die arabische Rebellion gegen die Türken. | S. 243

Warum ist dieser letzte Satz nicht in der deutschen Übersetzung von Eine kurze Geschichte der Menschheit? Nicht mehr aktuell, oder was? Bitte schön:

In den imperialen Vereinigten Staaten kann ein amerikanischer Präsident mit deutsch-schottischem Blut einen mexikanischen Taco mampfen, während er seinen italienischen Lieblingsfilm The Good, The Bad, The Ugly anschaut, über den Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten.

Man muss ja nicht dazuschreiben, dass dieser Präsident ein debiler Nationalist ist, der nach dem Film sein (vermutlich in China produziertes) Handy zückt und »BUILD THE WALL!!! AMERICA FIRST!!!« an die Weltbevölkerung hinauszwitschert. (Kann man aber ruhig dazuschreiben. Finde ich.)

Apropos Menschen mit sehr kurzer Aufmerksamkeitsspanne: Eine noch kürzere Geschichte der Menschheit bietet die Animationsschmiede Kurzgesagt aus München. In Ergänzung zum Buch sehr sehenswert, das Webvideo: Woher kommen wir?

Er und Sie – und zu kurze Schlüsse

In einem Punkt möchte ich Harari vehement widersprechen. In dem Kapitel »Die Geschichte ist nicht gerecht« schreibt der Autor über die Geschlechterrollen im Laufe der Menschheitsgeschichte. Vorweg bringt er in Eine kurze Geschichte der Menschheit zwei prägnante Beispiele für den tradierten Frauenhass: Sei es, dass die ältesten chinesischen Texte aus dem 12. Jahrhundert die Geburt eines Mädchens als Unglück bezeichnen, oder dass in der Bibel die Vergewaltigung einer Jungfrau damit »gebüßt« wird, dass der Vergewaltiger dem Vater die entjungferte Frau zur Strafe abkaufen und sein Leben lang behalten muss. Nach diesen Beispielen wirft Yuval Noah Harari eine Frage auf:

Ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen ein Fantasieprodukt […]? Oder handelt es sich um einen natürlichen Unterschied? Anders gefragt, gibt es biologische Gründe für die Privilegien, die Männer gegenüber Frauen genießen? | S. 182

Anders gefragt: Gibt es das schwache Geschlecht? Eine Beantwortung aus biologischer Sicht haben wir vor kurzem Mithilfe von Simone de Beauvoir vorgenommen. Hier zu lesen.

Harari kommt da ziemlich rasch auf eine ziemlich flache Antwort: 

Das biologische Geschlecht ist Kinderkram […] Nichts ist einfacher, als biologisch ein Mann zu werden: Man wird mit einem X- und einem Y-Chromosom geboren, und fertig. Eine Frau zu werden, ist nicht schwieriger: Ein Paar von X-Chromosomen reicht vollkommen aus. | S. 187

Wilde Spekulation, statt weiterführender Literatur

So weit, so vereinfacht. In sozialer, respektive gesellschaftlicher Hinsicht eine Frau oder ein Mann zu werden, das ist ungleich schwieriger – darin sind Harari und Beauvoir d’accord. Als Harari dann zu ergründen versucht, warum die Frau zu allen Zeiten und in allen Kulturen unterdrückt wurde, geht er die klassischen Argumente durch: Muskelkraft, Aggressivität, Patriarchat. Nach ein paar Seiten zieht Harari sein Fazit:

Wie kam es, dass in einer Art, deren Erfolg vor allem von der Kooperation abhängt, eine vermeintlich kooperativere Gruppe, nämliche die Frauen, von einer vermeintlich weniger kooperativen Gruppe, nämlichen [sic!] den Männern, beherrscht wird? Das ist die große Frage in der Geschichte der Geschlechter, und auf sie haben wir bislang keine überzeugende Antwort. | S. 197

Doch, haben wir. Ziemlich überzeugend sogar, finde ich – nur eben viel zu ausführlich, als dass sie in Eine kurze Geschichte der Menschheit passt. Die Philosophin Simone de Beauvoir erklärt in ihrem Standardwerk Das andere Geschlecht (1949) sehr detailliert, wie es kam, dass die Männer die Frauen beherrsch(t)en. Es ist eine komplexe Mischung aus besagten Argumenten, der Muskelkraft, der Aggressivität und (vor allem) des Patriarchats. Statt aber auf weiterführende Literatur zu verweisen, spekuliert Harari:

Zufällige Sensibilität für Schwachstellen

Vielleicht ist ja schon die Grundannahme falsch. Könnte es sein, dass sich die männlichen Angehörigen der Homo sapiens gerade nicht durch überlegene Körperkraft, Aggressivität und Konkurrenzfähigkeit auszeichnen, sondern durch überlegene Sozialkompetenz und größere Kooperationsbereitschaft? | S. 197

Es tut mir ein bisschen weh, dieses Zitat aus Eine kurze Geschichte der Menschheit hier zu platzieren – weil es mir mein Loblied auf dieses (trotzdem…) großartige Buch kaputt macht. Eine beschämend hanebüchene Behauptung ist das, die aus dem Nichts kommt und ohne Erläuterung stehen gelassen wird. Es drängt sich der Verdacht auf, dass mir diese Schwachstelle nur deshalb auffällt, weil ich in Sachen Gender Studies aktuell wegen einer anstehenden Philosophie-Prüfung bloß zufällig ein bisschen tiefer im Thema bin – und mir andere Schwachstellen deshalb nicht auffallen, weil mein Allgemeinwissen schlicht zu oberflächlich ist. Andere Schwachstellen, wie Hararis »Nazis sind Humanisten«-Gleichung vielleicht?

Ein kurzes Statement zur Ver(w)irrung

Googelt man »Harari«, stolpert man recht schnell über Die große Harari-Ver(w)irrung – ein Text des Philosophen und Schriftstellers Michael Schmidt-Salomon, veröffentlicht auf der Website des Humanistischen Pressedienst. Es handelt sich dabei um einen gnadenlosen Zerriss beider Bücher von Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit und Homo Deus werden darin anhand eines einzigen (aber wichtigen) Aspekts vernichtend abgefrühstückt. Dieser Aspekt ist Hararis Humanismus-Auffassung. Der Auftakt zu Schmidt-Salomons »Warnung« vor Harari mutet etwas banal an:

In beiden Büchern meint Harari auch, den Humanismus als eine »Religion« charakterisieren zu müssen (eine Differenzierung zwischen »Religionen«, »Weltanschauungen« oder »Philosophien« sucht man vergeblich) […]

Michael Schmidt-Salomon, in: Die große Harari-Ver(w)irrung | 01. August 2017

In Homo Deus nennt Harari den Humanismus zwar auch mal eine »Weltsicht« (S. 336), aber egal, interessanter ist seine Bemerkung in Eine kurze Geschichte der Menschheit:

Die Moderne erlebte den Aufstieg zahlreicher neuer Naturgesetz-Religionen, zum Beispiel des Liberalismus, des Kommunismus, des Kapitalismus, des Nationalismus und des Nationalsozialismus. Die Anhänger dieser Religionen reagieren zwar sehr allergisch auf das Wort »Religion« und bezeichnen sie lieber als »Ideologien«. Doch das ist lediglich ein Wortspiel […] | S. 277-278

Für und gegen ein und dieselbe Sache?

Dass sich Schmidt-Salomon auf dieses Wortspiel einlässt und daran stößt, den Humanismus (der in der eben zitierten Aufzählung fehlt, aber im selben Kapitel diskutiert wird) als »Religion« bezeichnet zu sehen, macht Sinn: Michael Schmidt-Salomon ist seinerseits dezidierter Humanist und Religionskritiker. Er hat sogar ein Manifest für den Humanismus und ein Kinderbuch gegen Religionen geschrieben – da wäre ich auch stinkig, wenn jemand sagen würde: »Ist doch dasselbe.«

Harari zählt in Eine kurze Geschichte der Menschheit ein paar »wichtige Splittergruppen« des Humanismus auf – namentlich: den liberalen, sozialistischen und evolutionären Humanismus. Gemeinsam sei ihnen die Ansicht, dass der Mensch über eine einmalige Natur verfügt, die ihn wesentlich von allen anderen Organismen unterscheidet. Ihr höchstes Gut sei das Wohl des Menschen. Der evolutionäre Humanismus im Speziellen besagt, so Harari:

Die menschliche Natur unterliegt Veränderungen. Die Menschen können zum Untermenschen degenieren oder sich zum Übermenschen entwickeln. […] Das oberste Gebot ist der Schutz der Menschheit vor der Degeneration zum Untermenschen und die Züchtung des Übermenschen. | S. 283

Da schrillen alle Alarmglocken, verständlicherweise. Ausgerechnet der evolutionäre Humanismus muss in Eine kurze Geschichte der Menschheit herhalten, um die Ideologie der Nazis in Relation zu anderen Glaubensvorstellungen darzustellen, mit historisch aufgeladenen Begriffen wie dem »Übermensch«, den man auch dieser Tage noch weniger auf Nietzsche als die Nazis zurückführt. Das rückt den evolutionären Humanismus in ein sehr schlechtes Licht.

Dabei ist (ausgerechnet!) dieser Humanismus doch das Steckenpferd von Michael Schmidt-Salomon. Sein Manifest heißt: Manifest des evolutionären Humanismus: Plädoyer für eine zeitgemässe Leitkultur (2006). Ich hatte keine Zeit (und Muße) es vor diesem Blogbeitrag noch zu lesen, weshalb ich hier vielmehr auf Schmidt-Salomons Kritik hinweisen, als Harari gegen ihn verteidigen möchte – nichtsdestotrotz:

Der evolutionäre Humanismus der Gegenwart

Als Yuval Noah Harari zu Besuch in Facebook’s Buchclub war (das klingt romantischer, als es ist: Eine Facebook-Gruppe mit dem Titel A Year of Books, benannt nach der entsprechenden Website), fragte Mark Zuckerberg den Historiker, ob der evolutionäre Humanismus eine zunehmend verbreitete Philosophie werde – angesichts des technologischen Fortschritts. Harari antwortete:

In der Gegenwart scheint der evolutionäre Humanismus zurück im Rennen zu sein. Nachdem es nach dem Zweiten Weltkrieg in Verruf geraten war, kommt es plötzlich wieder in Mode, über das Upgraden von Menschen zu sprechen. Natürlich sind die Methoden und die Ethik heute grundverschieden. Ich habe überhaupt keine Intention, den evolutionären Humanismus der Gegenwart mit den Nazis zu vergleichen. Aber ich tippe, dass irgendeine Variante des evolutionären Humanismus die dominierende neue Religion des 21. Jahrhunderts sein wird.

Yuval Noah Harari, in: A Year of Books, Q&A | 30. Juni 2015

Hararis Begriffsverwirrung

Mal abgesehen davon, dass Harari hier wieder von »Religion« spricht (Dude!) – zieht er sich mit dieser Antwort (die übrigens schon 2 Jahre vor Schmidt-Salomons Artikel durchs Internet schwirrte) denn aus der Affäre? Nein, die Kritik Schmidt-Salomons ist grundlegender: Er wirft Harari eine »Begriffsverwirrung« vor, dafür, dass der Historiker den »evolutionären Humanismus« als Begriff überhaupt bemüht. Und Schmidt-Salomon ist insofern recht zu geben, als der evolutionäre Humanismus begrifflich schon aus der Gegenposition des Rassismus kommt (1935 verwendete ihn der Begründer des Begriffs, Julian Huxley, in dem Buch We Europeans: A Survey on Racial Problems).

Fakt ist jedoch, dass es für ihn einige dramaturgische Vorteile mit sich brachte, den evolutionären Humanismus kontrafaktisch mit Hitler und den sozialistischen Humanismus kontrafaktisch mit Stalin zu verbinden. Denn ohne diesen Kniff hätte die Geschichte, die Harari seinen Leserinnen und Lesern verkaufen wollte, nämlich die Geschichte vom nahenden Untergang des Humanismus, gar nicht funktioniert.

Michael Schmidt-Salomon, in: Die große Harari-Ver(w)irrung | 01. August 2017

Nun hat Harari – wie zitiert – nicht für den nahenden Untergang, sondern vielmehr den Aufstieg des (evolutionären) Humanismus getippt. Dieses Hin und Her lasse ich an dieser Stelle so stehen: Die Gefahr, dass eine (sehr) kurze Geschichte der Menschheit mit einigen Kürzungen und notwendigen Vereinfachungen danebengreift, ist groß. Auch in der »Ver(w)irrung«-Kritik drängt sich wieder der Verdacht auf, dass Schmidt-Salomon diese Schwachstelle bei Harari gerade deshalb entdeckt hat, weil es zufällig sein eigenes Fachgebiet ist, auf dem Schmidt-Salomon sich entsprechend auskennt. Ich kann nicht beurteilen, wie viele weitere Schwachstellen in dem Buch schlummern – doch nach jetzigem Kenntnisstand, unter Berücksichtigung der gegeben Kritikpunkte, behalte ich dennoch eine hohe Meinung von Eine kurze Geschichte der Menschheit: Die großen Vorzüge der Lektüre überwiegend die Schwächen.

Fazit zu Eine kurze Geschichte der Menschheit

In Der futurologische Kongreß (1977) beschreibt der Science-Fiction-Autor Stanisław Lem eine Zukunft, in der man seinen Wissensdurst stillen kann, indem man Bücher schluckt. Das liest sich im Tagebuch des Raumfahrers Ijon Tichy so: 

04.09.2039. Endlich habe ich erfahren, wie man sich Enzyklopädie beschafft. Ja, noch mehr, ich besitze schon eine. Sie füllt drei gläserne Ampullen. Im wissenschaftlichen Bauchladen gekauft. Bücher liest man jetzt nicht mehr; man verschlingt sie. Sie bestehen nicht aus Papier, sondern aus einer Informationssubstanz mit Hülle von Zuckerguß.

Stanisław Lem, in: Der futurologische Kongreß (1977)

Wer ebenfalls gerne ein Buch verschlingen möchte, das beinahe die Informationswucht einer Enzyklopädie in sich bündelt, auf jeden Fall aber den Unterhaltungswert eines Abenteuerromans, der oder die ist mit Eine kurze Geschichte der Menschheit gut bedient. Harari macht uns durch seinen ausdrucksstarken Schreibstil die Geschichte der eigenen Spezies schmackhaft.

Ein völlig neues Wesen

Die Auswahl seiner Beispiele und das Aufzeigen von Sinnzusammenhängen – auch wenn man nie versäumen darf, diese trotz oder gerade wegen ihrer unmittelbaren Überzeugungskraft für sich nochmal zu hinterfragen – machen komplexe Vorgänge und Strukturen begreifbar. Am Ende seiner kurzen Geschichte, die mit der Kognitiven Revolution begann, stellt Yuval Noah Harari in Aussicht, was auf dieses Werk folgen muss:

Die kognitive Revolution, die den Homo sapiens von einem unbedeutenden Affen in den Herrn der Welt verwandelte, erforderte keinen körperlichen Umbau und keine Vergrößerung des Gehirns. Ein paar kleinere Verschiebungen in der Struktur des Gehirns genügten offenbar schon. Vielleicht ließe sich mit einer weiteren kleinen Veränderung eine zweite kognitive Revolution anstoßen und eine neue Form des Bewusstseins erzeugen, die den Homo sapiens in ein völlig neues Wesen verwandelt. | S. 492

Homo Deus, so heißt Hararis nächstes Buch – mit dem Untertitel: Eine kurze Geschichte von morgen. Es knüpft direkt an Eine kurze Geschichte der Menschheit an und handelt, nach dem Blick in unsere Vergangenheit, von der näheren und fernen Zukunft der Menschen.

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Weibliche Errungenschaften scheinen in der Menschheitsgeschichte eher rar. Haben denn nur Männer die Welt verändert? Das Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls von Elena Favilli und Francesca Cavallo räumt mit dem antiquierten Geschlechter-Verständnis auf. Es zeigt großen und kleinen Leser*innen, dass Heldentaten und Vision von Persönlichkeiten und nicht von Geschlechtern realisiert werden.

Prinzessin? Mach die Augen auf!

Blicke ich auf meine Kindheit zurück, muss ich zugeben: meine Emanzipation ging recht schleppend vonstatten. Neben Einflussfaktoren wie familiäres und soziales Umfeld lag das am Einfluss und der Rezeption von Kindermedien. Allen voran meiner geliebte Walt Disney Classic Collection. Die dort dargestellten Geschlechterrollen prägten mich maßgeblich mit. Dornröschen als in Not geratene Schönheit, Schneewittchen als gutgläubige, in Not geratene Schönheit oder Belle als in Gefangenschaft genommene Schönheit.

Dieses Jungfrau in Nöten-Bild zieht sich durch die so oft zugrunde liegenden Grimmschen Märchen. So dass Mädchen vor dem Zubettgehen eingetrichtert wurde, das weibliche Geschlecht sei zwar schön, aber nun mal schwach. Und deshalb angewiesen auf den starken Prinzen. Doch um Disney gegenüber fair zu bleiben: Mit den späteren Frauenfiguren Mulan, Pocahontas und (meiner Favoritin) Meg in Hercules flimmerten auch Persönlichkeiten auf dem Bildschirm, die durchsetzungsstärker waren. Oder eben: rebellisch! (Ach, und wer Rotkäppchen als Aktivistin erleben will, kann sich die Rotkäppchen-Version der Bocholter Märchenoma Ursula Enders anschauen.)

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Es waren einmal… 100 starke Frauen

Zum Inhalt: In 100 Kurzgeschichten und künstlerischen Illustrationen präsentieren Elena Favilli und Francesca Cavallo 100 Mädchen und Frauen, die unsere Gesellschaft zu Höherem verholfen haben. Ob Rennfahrerin Lella Lombardi, Modeschöpferin Coco Chanel (hier geht’s zur Filmkritik über das Biopic zu Coco) oder Aktivistin Malala Youzafzai. Die Protagonistinnen in diesem Buch sind Vorbilder. Nicht nur für Mädchen, sondern natürlich auch für Jungen. Schließlich geht es um Geschichten, die Geschichte geschrieben haben. Um starke Menschen, die mutig waren, zu scheitern, aufzustehen und weiter nach ihren Zielen zu greifen.

Ein Crowdfunding-Projekt gegen Geschlechter-Klischees

Das geplante Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls der beiden italienischen Autorinnen Elena Favilli, Journalistin, und Theaterregisseurin und Schriftstellerin Francesca Cavallo traf einen internationalen Nerv. Als Reaktion auf das Video If you have a daughter, you need to see this (siehe unten) beteiligten sich Menschen aus über 70 Ländern mit mehr als 1 Million Euro bei der Crowdfunding-Kampagne. Sie halfen dabei, dass die Geschichten von 100 beeindruckenden Frauen in die Buchläden, die Kinderzimmer und in die Köpfe der Menschen einziehen konnten. Dank ihres Erfolgs gilt Good Night Stories for Rebel Girls als erfolgreichstes Kinderbuch im Bereich Crowdfunding.

Auch die Pressestimmen unterstreichen die Relevanz und den Erfolg dieses feministischen Kinderbuchs. Hier eine Auswahl:

Entgegen dem Titel sind die pointierten, auf je eine Doppelseite verdichteten Kurzporträts zu jeder Tageszeit ein Genuss. So viel geballte Girlpower ist eine Ermunterung und Bestätigung für jede Heranwachsende, große Träume und hohe Ziele zu haben. 

Verena Hoenig (Neue Zürcher Zeitung), 11.12.17

Bei Good Night Stories for Rebel Girls ließe sich die Botschaft so zusammenfassen: Wie ein Leben sich gestaltet, kann man nicht wissen; aber wer für seine Träume und Ideen einsteht, integer lebt und aufbegehrt, der trägt zu seinem eigenen Glück und meistens auch zum Wohlergehen anderer bei.

Yalda Franzen (SPIEGEL Online), 29.10.17

Elena Favilli und Francesca Cavallo liefern mit heroischen, die Selbstermächtigung in sämtlichen Spielarten feiernden Kurzbiografien ein Prägungsmodell für Heldinnen der Zukunft.

Jamal Tuschick (Der Freitag)

Frage: Gibt es das schwache Geschlecht? Einer Antwort darauf sind wir in diesem Blogbeitrag auf den Grund gegangen: Bio mit Beauvoir.

Zur Wirkung des Buchs

Mit ihrem feministischen Kinderbuch haben die Autorinnen einen wertvollen Sammelband diverser Frauen- und Mädchengeschichten aus dem echten Leben kreiert. Das gehört in jedes Kinderzimmer. In knappen Texten, die fast alle klassisch mit »Es war einmal…« eröffnen, werden statt Klischee-Märchen Lebensgeschichten erzählt. Diese dürften sowohl Kindern auch als Erwachsenen Inspiration und Mut einflößen. Hierzu gehören besagte Coco Chanel, Schriftstellerin Astrid Lindgren, Michelle Obama und 97 mehr. Jede*s der Mädchen und Frauen wird sowohl textlich als auch künstlerisch porträtiert und so zu einer Gute-Nacht-Heldin. So facettenreich die Protagonistinnen selbst erscheinen, so imponieren auch die mitwirkenden 60 Künstlerinnen aus aller Welt mit ihrem eigenem Stil.

Ein schöner Bonus: Das Kinderbuch wurde 2018 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Wien als Sieger in der Kategorie Junior-Wissensbücher ausgezeichnet.

Einen Einblick ins Kinderbuch gibt’s hier:

Blick ins Kinderbuch Good Night Stories for Rebel Girls

Fazit zu Good Night Stories for Rebel Girls

Ein Hoch auf die mutigen und unerschrockenen Frauen und Mädchen in diesem Kinderbuch (und in der Welt)! Und ein Hoch auf die beiden Autorinnen und die 60 Künstlerinnen. Mit den wahren Geschichten motivieren sie Mädchen, aktiv zu werden und für ihre Werte einzustehen. Dieses Verständnis muss gefördert werden. Denn immer noch herrscht ein veraltetes Rollenbild, das Medien wie Menschen reproduzieren und an den Nachwuchs weitertragen. Die immense Teilnahme an diesem Crowdfunding-Projekt macht deutlich, wie relevant und dringend das Thema Geschlechter-Verständnis ist. Mit ihren echten Märchen vermittelt das Kinderbuch Good Night Stories For Rebel Girls auf kindgemäße Weise ein differenzierteres Bild vom weiblichen Geschlecht. Ich vergebe 10 Sterne.

TitelGood Night Stories for Rebel Girls 
Erscheinungsjahr2017
Autor*in, Illustrator*inElena Favilli (Autorin) 
Francesca Cavallo (Autorin)
VerlagHanser Verlag
Umfang224 Seiten
Altersempfehlungab 12 Jahren
ThemaMut, Gender, Frauenbild

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MIT EINER KATZE NACH PARIS von Angelika Glitz | Kinderbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-mit-einer-katze-nach-paris-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-mit-einer-katze-nach-paris-2017/#respond Sun, 05 Aug 2018 07:00:00 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4478 Ein kleiner Mäuserich wird von einer Miezedame nach Paris verschleppt. Damit die Katze bloß nicht hungrig…

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Ein kleiner Mäuserich wird von einer Miezedame nach Paris verschleppt. Damit die Katze bloß nicht hungrig wird, gilt es ihr das Maul mit Leckereien zu stopfen. Doch irgendwie scheint ihr Hunger nach dieser süßen Maus nicht abzuklingen. Über das Bilderbuch Mit einer Katze nach Paris von Angelika Glitz und Illustratorin Joëlle Tourlonias.

Was sich liebt, das frisst sich

Meine Eltern haben seit Kurzem Katzenbabys. Für mich ein triftiger Grund, sie mal wieder zu besuchen. Gedacht, geschehen, geflasht. Diese kleinen flauschigen Knutschkugeln hätte ich fressen können. Ein sonderbares, obsessives Gefühl, das eine gewisse Katzendame dazu verleitet, ihr Objekt der Begierde (in diesem Fall eine Maus) nach Paris zu entführen.

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Kinderbuch Mit einer Katze nach Paris

Die Liebe ist niemals satt

Zum Inhalt: »Baguette kaufen geht pupsieinfach«, denkt der kleine Mäuserich Ronald. Doch dazu kommt er erst gar nicht. Denn die Dame Miezekatze hat andere Pläne mit dem Mäusezahn. Um sie von ihrem Hunger nach Mauseschmaus abzulenken, kauft Ronald ihr eine Ladung saftiger Sauerkirschen. Das müsste den Katzenmagen erstmal stopfen.

Doch zu früh gefreut. Miezekatze Rosalie verspürt einen unbändigen Löwenhunger nach Delikatessen und süßer Mäuseliebe. Ehe sich Ronald versieht und seine Schwestern alarmieren kann, entführt sie den Kleinen in die Stadt der Liebe, Paris. Kein glücklicher Zustand für Ronald. Doch als sich ihm eine Möglichkeit bietet, der hungrigen Katze zu entkommen, entscheidet er sich anders und überrascht damit nicht nur seine Schwestern. Über Ronalds Reise zwischen Bangen und Hoffen und dem Auskosten der Liebe.

Zur Wirkung des Buchs

Ohne Konflikt kein Drama, kein spannendes Storytelling, kein Spaß. Und Kinder lieben, ja brauchen Spaß. Syd Fields Konflikt-Regel, die wir uns im Fachseminar Drehbuchschreiben für Kinder- und Jugendfilme hinter die Ohren schreiben durften, befolgt auch Angelika Glitz in ihrem neuen Bilderbuch Mit einer Katze nach Paris. Denn was könnte die Luft mehr zum Brutzeln bringen, als die Figuren Katz und Maus, das Traumpaar für Gegensätze. Tom und Jerry ist nicht ohne Grund die meist-ausgezeichnete Trickfilmserie weltweit. Somit gelingt es der Autorin, bereits durch das Buchcover die Kinder neugierig aufs Lesen zu machen. Der erste Schritt zur Leseförderung.

Geschwisterliebe

Ob Geschwister oder dominante Freund*innen, jedes Kind kommt einmal in die Situation, sich behaupten zu müssen. Hätte ich als Kind nicht so einen lieben und verständnisvollen Bruder gehabt, hätte ich jetzt vermutlich auch ein dickeres Fell. (Dafür haben wir jetzt einen Psychologen in der Familie – mit Elefantenhaut.) Dass sich Ronald in Mit einer Katze nach Paris gegenüber seinen älteren Mäuse-Schwestern beweisen will, indem er sich ohne dämliche Warn-Tröte zum Bäcker aufmacht, passt zur kindlichen Lebenswelt. Jüngere Geschwister möchten ernst genommen werden, nicht unter den Scheffel gestellt. So bietet die Eröffnungsszene Identifikationspotential für all jene Kinder, die mit (älteren) Geschwistern aufwachsen.

So geht kindgerechtes Storytelling

Neben dieser lebensnahen Einleitung punktet das Kinderbuch Mit einer Katze nach Paris durch schnelles und kindgerechtes Storytelling. Obwohl das Werk in der Autor*innen-Zeitschrift Federwelt (August 2018) als »Bilderbuch mit viel Text« beschrieben wird, schreibt Angelika Glitz nicht um den heißen Brei herum, ohne langweiliges Blah oder schwierige Wortakrobatik. Stattdessen inszeniert sie den ehrfürchtigen Auftritt der Katzendame direkt auf den Anfangsseiten und treibt beide Figuren zur Aktion an. Ronald muss handeln, sonst könnte Rosalie noch auf die Idee kommen, ihn womöglich zu verspeisen.

Drum lässt die Autorin die beiden Fellwesen in Mit einer Katze nach Paris gemeinsam Kirschen essen, eine Spritztour machen und Paris mit seiner Mona Lisa, dem Eiffelturm und Käse erkunden. Und zwischen den Zeilen hämmert das kleine Mäuseherz, denn Rosalie hat Ronald immer noch zum Fressen gern. So spielen die Emotionen in dem Kinderbuch zwischen Fürchten und Freude ebenfalls das Katz- und Mausspiel. Ein Storytelling und einfacher Sprachstil, bei dem Kinder ihre Lesefreude haben.

Zur Visualität von Mit einer Katze nach Paris

Die Illustrationen von Joëlle Tourlonias sind für mich wahre Buchöffner. Der Blick aufs Cover und ihr Name haben mich in der Bücherei dazu gebracht, noch ein 9. Kinderbuch auf den schon schweren Stapel zu legen. Und habe ich es bereut? Pustekuchen. Joëlle Tourlonias überzeugt auf ganzer Buntstiftlinie. Etwas Anderes hätte ich auch nicht erwartet. Ihr bekannter, niedlicher und sanfter Zeichenstil ist für Kinderherzen wie geschaffen. Und wenn man genau hinsieht, entzückt sie mit solch einer Präzision wie etwa die feinen Katzenhaare, dass sich das Können dieser Künstlerin zweifellos nicht auf Kinderbücher beschränken lässt.

Auch der Stilmix zwischen liebreizenden Tierzeichnungen und detailreichen Architekturen lässt Groß und Klein staunen. Das Einzige, das den Glanz der Panoramabilder etwas schmälert, ist die Text-Bild-Integration. Nach meinem ästhetischen Empfinden wäre ein visuell harmonischerer Text-Bild-Übergang in Form eines verspielteren Schriftsatzes wünschenswert gewesen. Aber das ist sicher eine Geschmacksfrage und wird als Extrawurst verbucht.

Fazit zu Mit einer Katze nach Paris

Mit ihrem neuesten Kinderbuch hat Angelika Glitz eine unterhaltsame und spannende Liebesgeschichte zwischen Katz und Maus erschaffen, die den Kindern kindgemäß nahelegt, Vorurteile über Bord zu werfen und erst einmal mit jemanden Kirschen zu essen. Mit wunderbaren Illustrationen von Joëlle Tourlonias erzählt die Autorin von der Angst vor dem Fremden, die besser klein und klug wie eine Maus sein, und die Chance auf Freundschaft und Liebe offenhalten sollte. Für so eine runde Kindergeschichte, die sich auch gut zum Vorlesen eignet, vergebe ich 9 Sterne.

TitelMit einer Katze nach Paris
Erscheinungsjahr2017
Autor*in, Illustrator*inAngelika Glitz (Autorin)
Joëlle Tourlonias (Illustratorin)
VerlagS. Fischer Verlag
Umfang32 Seiten
Altersempfehlungab 4 Jahren
ThemaFreundschaft, Liebe, andere Länder

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Das schwache Geschlecht: Schicksal oder Mythos? | Bio mit Beauvoir http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/ http://www.blogvombleiben.de/das-schwache-geschlecht-schicksal-oder-mythos/#respond Wed, 01 Aug 2018 07:00:42 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4607 Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar!…

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Wie viele Geschlechter gibt es? Zwei. Welche beiden? Männlein, Weiblein. Welches ist stärker? Männlein. Alles klar! Jetzt könnte man mit kindlicher Neugier noch weiter stochern: Warum ist das denn so? Und ist das wirklich so? Gibt es das »schwache Geschlecht«? Erwachsene Skepsis funkt dazwischen: Ob Kinder im 21. Jahrhundert diese Verunglimpfung überhaupt noch kennen, »das schwache Geschlecht«? Doch für Kinder hat der folgende Beitrag ohnehin zu wenig Bilder. Und zu viel versaute Sprache. Also bitte, liebe erwachsene Leser*innen, muntere Ein- und Mehrzeller da draußen, lasst uns über Geschlechter sprechen.

Ein Porträt von Simone de Beauvoir und die Frage: Gibt es das schwache Geschlecht?

Von Einfältigkeit und Entfaltung

Ich ziehe für die etwas plakative Frage – Gibt es das schwache Geschlecht? – ein Buch zurate, das schon ein wenig in die Jahre gekommen ist. Das andere Geschlecht (1949) von Simone de Beauvoir. Eine französische Philosophin und ihr monumentales Standardwerk über die Rolle der Frau von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis heute. Ja, okay, heute vor rund 70 Jahren – doch vieles von dem, was Beauvoir schreibt, hat nicht an Gültigkeit verloren.

Doch vorweg: Wer war Simone de Beauvoir? Zu dieser Frage hat ARTE einen amüsanten Film produziert – eine Art »Beauvoir kompakt«, 3 Minuten knackig kurzes Kennenlernen jener Frau, aus deren Werk hier fleißig zitiert wird:

In einem Meer vor unserer Zeit…

Wie es sich für ein Standardwerk gehört, fängt Beauvoir mit ihrer Untersuchung der Geschlechter-Verhältnisse ganz vorne an. Oh nein, nicht bei Adam und Eva – noch weiter vorne: Bei den namenlosen Einzellern, die sexlos durchs urgeschichtliche Meer wabern und lange vor Darwin denken: könnt‘ langsam mal weitergehen, die Evolution…

Ungeschlechtliche Fortpflanzung

Einzellige Lebewesen sind zur selbständigen Teilung fähig, da geht die Vermehrung ganz ohne Sex vonstatten. Diese ungeschlechtliche Fortpflanzung nennt man auch Schizogonie.

Vielzellige Lebewesen können sich ebenfalls ungeschlechtlich vermehren. Dazu gehören etwa die Süßwasserpolypen, winzige Nesseltiere, an denen Knospen wachsen, aus denen dann neue Nesseltiere entstehen.

Beobachtungen haben gezeigt, daß die ungeschlechtliche Vermehrung sich unbegrenzt fortsetzen kann, ohne daß irgendeine Form von Degeneration auftritt. 1

Mit diesem Kommentar möchte Beauvoir der naheliegenden Reaktion entgegenwirken, evolutionären Fortschritt per se mit Überlegenheit gleichzusetzen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung »primitiver« Organismen nutzt sich nicht ab, schadet nicht den Individuen oder ist irgendwie »schlechter« als geschlechtliche Fortpflanzung. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Denkkategorien »besser« und »schlechter« mal für eine Weile abzuschalten. Das Leben ist erstmal nur.

Eingeschlechtliche Fortpflanzung

Unter dem Fachbegriff Parthenogenese (oder auch: Jungfernzeugung) fällt die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Dabei gehen etwaige Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen hervor. Die Parthenogenese ist bei manchen Pflanzen zu beobachten. Ebenso bei Blattläusen (die häufig über mehrere Generationen nur Weibchen hervorbringen), sowie gewissen Schnecken, Fischen, Schlangen und Eidechsen. Bestimmte Hormone sind es, die deren Eizellen vorgaukeln, sie seien befruchtet. Darauf folgt die Teilung und ein neuer Organismus entsteht – ohne, dass andersgeschlechtliche, befruchtende (von Menschen gemeinhin als »männlich« bezeichnete) Artgenossen dazu beigetragen hätten.

Es sind immer zahlreichere, immer kühnere Experimente mit Parthenogenese durchgeführt worden, und bei vielen Arten hat das Männchen sich als vollständig unnütz erwiesen. 2

Zweigeschlechtliche Fortpflanzung

Kommen wir zum nächsten Szenario: 2 Gameten verschmelzen miteinander. Gameten sind in einem Körper diejenigen Zellen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen – auch Geschlechtszellen genannt. Es gibt Algen, bei denen diese miteinander zu einem Ei verschmelzenden Gameten äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das nennt man Isogamie. Es zeigt, dass Gameten (die wir später »männlich«, »weiblich« differenzieren) grundsätzlich gleichwertig sind. Das schwache Geschlecht? Bis hierher: keine Spur.

Nun sind im Laufe der Evolution aus ursprünglich identischen Zellen voneinander zu unterscheidende hervorgegangen: Eizellen (Oozyten, auch »weibliche Geschlechtszellen« genannt) und Samenzellen (Spermatozyten, oder »männliche Geschlechtszellen«).

Zwei in Eins

Doch Achtung! Hier leitet uns die Sprache bereits auf naheliegende Irrwege. Tatsache ist, dass es verschiedenartige Gameten gibt, aus deren Verschmelzung ein Ei entsteht. Diese verschiedenartigen Gameten jedoch unterschiedlichen Geschlechtern (»weiblich«, »männlich«) zuzuordnen, mutet etwas voreilig an. Beide Ausprägungen von Gameten, also sowohl Ei- als auch Samenzellen, können gemeinsam in ein- und demselben Lebewesen vorkommen. Das kennt man zum Beispiel von bestimmten Pflanzen oder auch Ringelwürmern. Wenn Individuen  mehrere Arten von Geschlechtsausprägungen haben, die verschiedenartige Gameten hervorbringen (jene Eizellen und Samenzellen), dann sprechen wir von Zwittrigkeit.

Hermaphroditismus ist ein Fachbegriff für Zwittrigkeit, die sich aus der griechischen Mythologie ableitet – genauer: Aus Ovids Metamorphosen. Darin erzählt der Dichter die Geschichte vom gemeinsamen Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, nach seinen Eltern Hermaphroditos benannt. Dieser wurde eines Tages von einer Nymphe derart fest umarmt, dass ihre Körper miteinander verschmolzen. Fortan trug Hermaphroditos seine eigenen Geschlechtsmerkmale sowie die der Nymphe – auch, wenn er schlief, wie diese großartige Skulptur zeigt (sie geht auf eine Bronzeplastik aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurück):

Schlafender Hermaphrodit

Statue des »Schlafenden Hermaphrodit«

Intersexuell statt »unecht«

Zwar kommt es beim Menschen vor, dass ein Körper unterschiedliche Geschlechtsmerkmale (etwa einen Penis und Brüste) offensichtlich ausprägt. Nicht jedoch, dass in einem Menschen verschiedenartige Gameten (also Ei- und Samenzellen) produziert werden. Deshalb spricht man bei Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen von »Pseudohermaphroditen« oder »unechten Zwittern«. »Pseudo« respektive »unecht« sind jedoch sehr wertende Begriffe, in denen eine Vorstellung von richtig und falsch mitschwingt, die nicht von der Natur, sondern von uns Menschen kommt. Wir sind es, die diese Ausprägung eines Körpers als »Störung« klassifizieren und behandeln.

Menschen, die solch unterschiedliche Geschlechtsmerkmale haben, empfinden solche Begriffe – verständlicherweise – als diskriminierend. Viele bevorzugen die Bezeichnung intersexuell. Und ja, intersexuelle Menschen können schwanger werden (siehe: Diskussion bei Quora), je nach dem, wie die jeweiligen Geschlechtsmerkmale ausprägt sind. Das ist Tatsache. Doch von der Möglichkeit zur Fortpflanzung auf einen »erfüllten Sinn« zu schließen, der eine etwaige Störung wettmacht, das ist wieder der Mensch. Die Natur ist irgendwie und wir Menschen deuten sie. Wie ein Kunstwerk. (Wobei wir bei einem Kunstwerk gerne mal hinnehmen, dass es einfach keinen Sinn macht.)

Was mit Sicherheit behauptet werden kann, ist, daß beide Fortpflanzungsmodi [Getrenntgeschlechtlichkeit und Zwittrigkeit] in der Natur nebeneinander vorkommen, daß einer wie der andere die Arterhaltung sichert und daß die Verschiedenartigkeit der gonadentragenden Organismen [Gonaden sind die Geschlechtsorgane, in denen die Ei- oder Samenzellen gebildet werden] ebenso wie die der Gameten akzidentell [also zufällig] scheint. Die Trennung der Individuen in Männchen und Weibchen stellt sich also als eine unreduzierbare und kontingente Tatsache dar. 3

Platon, Hegel und Konsorten

Mit »kontingent« meint Simone de Beauvoir »beliebig« im Sinne einer möglichen aber nicht notwendigen Trennung. Zu Beginn ihres Buchs Das andere Geschlecht (1949) führt die Autorin beeindruckend vor Augen, wie namhafte Denker diese Trennung zwischen »männlich« und »weiblich« seit jeher entweder erklärungsfrei hingenommen oder logisch zu begründen versucht haben. Dabei schlägt sie den Bogen von der griechischen Antike (Platon, Aristoteles) vor rund 2500 Jahren über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit (Hegel) und ihre unmittelbare Gegenwart (Merleau-Ponty, Sartre).

Auch die Ansichten über die jeweiligen Rollen der Geschlechter beleuchtet Beauvoir im Wandel der Zeit. Angefangen mit frühgeschichtlichen Mythen bis hin zur ersten Beobachtung einer Samenzelle, die in die Eizelle eines Seesterns eindringt – im Jahr 1877. Damit war die Gleichwertigkeit dieser verschiedenartigen Geschlechtszellen, die zu einem Ei verschmolzen, eigentlich bewiesen. Und doch wurde das quirlige Verhalten der Spermien und die geruhsam wartende Eizelle vielfach von altklugen Köpfen interpretiert: Als Zeichen für männliche Aktivität und weibliche Passivität. Beauvoir erlaubt sich hier noch einmal einen Verweis auf die eingeschlechtliche Fortpflanzung (Parthogenese), bei der Eizellen durch bloße Einwirkung körpereigener Hormone beginnen, neues Leben hervorzubringen.

Es hat sich gezeigt, daß bei manchen Arten die Einwirkung einer Säure oder eine mechanische Reizung ausreichen kann, um die Eifurchung und die Entwicklung des Embryos auszulösen. Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes an der Fortpflanzung eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher Frauen. Nichts aber berechtigt zu einer so gewagten Vorwegnahme, denn nichts berechtigt zu einer Verallgemeinerung spezifischer Lebensprozesse. 4

Von der Eizelle zum heimischen Herd

Eine Verallgemeinerung wie die vom Verhalten unserer Geschlechtszellen auf die Verhaltensnormen unserer Geschlechtsrollen, wenn man sagt: »Eizellen sind passiv, also gehören Frauen an den Herd.« Beauvoir warnt überhaupt vor der Freude an Allegorien, während sie auf die genauen biologische Vorgänge bei der Befruchtung eingeht. (Und bevor sich jemand räuspert: ja, ich weiß, ich stelle in diesem Blog selbst eine unverhohlene Vorliebe für Allegorien zur Schau…). Im Moment der Zeugung, so die Quintessenz von Beauvoirs Ausführungen jedenfalls, stellt sich keines der Geschlechter als dem jeweils anderen überlegen dar. Aber ab wann gibt es das schwache Geschlecht denn dann?

Aus befruchteten Eiern gehen beim Menschen – wie bei den meisten Tieren – in etwa gleich viele Individuen zweier verschiedenartiger Geschlechter hervor, von uns »Männchen« und »Weibchen« genannt. Für beide vollzog sich die embryonale Entwicklung identisch, bis zu einem Reifestadium, da sich Hoden oder Eierstock zu bilden begannen. Bis zur neunten Woche hat ein Embryo einen sogenannten Genitalhöcker, aus dem sich Penis oder Vagina bilden. Was beim Penis größer wächst und zur Eichel wird, rutscht bei der Vagina weiter hoch und heißt Klitoris. Quasi das gleiche Ding, etwas anders positioniert. Etwaige Zwischenformen – wie eine zu große Klitoris oder ein zu kleiner Penis, wie sie die Natur manchmal hervorbringt – werden von uns als Störungen bezeichnet und zuweilen operativ angepasst.

Die Sexualtheorie zu Zeiten Beauvoirs ging bereits davon aus, dass das Einwirken bestimmter Hormone auf den Zellhaufen Mensch dazu führt, dass dieser Zellhaufen diese oder jene Geschlechtsmerkmale bekommt. Hormonelles Ungleichgewicht hat dabei Formen der oben beschriebenen Intersexualität zur Folge. Wie genau die Gewichtung zustande kommt? Der Titel von Beauvoirs erstem Kapitel sagt es schon: Schicksal.

»Das schwache Geschlecht« bei Tier und Mensch

Die Philosophin klettert im Folgenden die evolutionäre Stufenleiter des tierischen Lebens hinauf, mit Blick auf das schwache Geschlecht. Wir passieren Stechmücken, von denen das Männchen nach der Befruchtung stirbt, und Schmetterlinge, deren Weibchen nicht einmal Flügel haben, während Männchen mit Flügeln, Fühlern und Scheren ausgestattet sind, sowie allerlei anderes Getier.

Sehr häufig legt [das Männchen] bei der Befruchtung mehr Initiative an den Tag als das Weibchen: es sucht das Weibchen auf, greift es an, betastet es, packt es und zwingt ihm die Paarung auf; […]

Auch wenn das Weibchen provozierend oder willig ist, ist es in jedem Fall das Männchen, das es nimmt: es wird genommen. Das trifft oft buchstäblich zu: entweder weil das Männchen entsprechende Organe hat oder weil es stärker ist, packt es das Weibchen und hält es fest; ebenso vollführt es aktiv die Kopulationsbewegungen. Bei vielen Insekten, bei den Vögeln und den Säugetieren dringt es in das Weibchen ein. Dadurch erscheint das Weibchen als eine vergewaltigte Interiorität. 5

Die Fortpflanzungsfunktion

Zu dieser äußerlichen Fremdherrschaft kommt eine innere Entfremdung durch das befruchtete Ei, dass sich im Uterus festsetzt und zu einem anderen Organismus heranwächst. Simone de Beauvoir beleuchtet die vorwiegend belastenden Auswirkungen von Schwanger- und Mutterschaft, von Zyklus und Wechseljahren auf den weiblichen Körper und kommt zu dem Schluss:

[…] von allen weiblichen Säugern ist die Frau am tiefsten sich selbst entfremdet, und sie lehnt diese Entfremdung am heftigsten ab; bei keinem ist die Unterwerfung des Organismus unter die Fortpflanzungsfunktion unabwendbarer, und bei keinem wird sie mit größeren Schwierigkeiten angenommen. 6

Wir werdende Wesen

Die in Beauvoirs Buch ausführlich beschriebenen Gegebenheiten des Körpers sind deshalb so wichtig, weil der Körper als »Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« maßgeblich ist. Trotzdem lehnt Beauvoir die Vorstellung ab, dass all die Belastungen für den weiblichen Körper mit einem festgelegten Schicksal einhergingen. Das bringt uns zu unserer Ausgangsfrage:

Gibt es das schwache Geschlecht?

Diese Frage stelle sich für die Frau nicht in derselben Weise, wie für andere Weibchen irgendwelcher Tierarten, die beobachtet und einigermaßen statisch beschrieben werden könnten. Denn, so betont Beauvoir: Menschen sind stetig im Werden begriffen, niemals fertige Wesen. Beauvoir schreibt in den späten 1940er Jahren:

Die Frau ist keine feststehende Realität, sondern ein Werden, und in ihrem Werden müßte man sie dem Mann gegenüberstellen, das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen: was so viele Diskussionen verfälscht, ist, daß man die Frau, wenn man die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt, auf das beschränken will, was sie gewesen ist, was sie heute ist. Tatsache ist doch, daß Fähigkeiten nur sichtbar werden, wenn sie verwirklicht worden sind. 7

Und eben, dass eine Untersuchung der Fähigkeiten niemals abgeschlossen wäre. Fähigkeiten, die beim Mensch nicht von körperlichen Gegebenheiten abhängig sind.

Die Weltreisende und Journalistin Nellie Bly, hier im Alter von etwa 26 Jahren (1890)

Beauvoir appelliert an den Kontext:

Schwäche zeigt sich als solche nur im Licht der Ziele, die der Mensch sich setzt, der Instrumente, über die er verfügt, und der Gesetze, die er sich auferlegt. […] Wo die Sitten Gewaltanwendung verbieten, kann die Muskelkraft keine Herrschaft begründen: existentielle, ökonomische und moralische Bezüge sind nötig, damit der Begriff Schwäche konkret definiert werden kann. 8

Mit Tiefgang gegen den Mythos

Diese Bezüge stellt Simone de Beauvoir her. In ihrem 900 Seiten umfassenden Werk Das andere Geschlecht nimmt sie die Kunst- und Kulturgeschichte unter die Lupe, die kindliche Entwicklung und Erziehung. Sie untersucht etablierte Argumente und Klischees und liefert damit eine Lektüre, die über Jahrzehnte Bestand hat und noch heute Antworten auf Fragen gibt, die manchmal eben nicht in einem 30-sekündigen Facebook-Video zu beantworten sind. Es sei denn, man heißt Frauke Petry. Das schwache Geschlecht? Abgenickt.

Ich habe nichts dagegen, dass Frauen weiterhin das schwache Geschlecht sind, weil wir objektiv anders sind als Männer.

Frauke Petry (Quelle)

»Das schwache Geschlecht« ist ein Mythos. Eine polemische Formel, die helfen soll, eine Autorität zu etablieren, wo es an Rechtfertigung für diese Autorität fehlt. »Objektiv anders« ist jeder Mensch von seinem Nächsten, »anders« mit »schwach« gleichzusetzen ist irgendwie absurd, für eine Partei, die sich selbst als »Alternative« (also: anders!) bezeichnet – und in dieser Absurdität schon wieder passend. Doch bevor ich mich dazu hinreißen lasse, hier auf den letzten Zeilen das Thema zu wechseln, überlasse ich die Kommentierung von Frauke »weiterhin das schwache Geschlecht« Petry dieser YouTuberin:

Das schwache Geschlecht spricht:

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MEHR SCHWARZ ALS LILA von Lena Gorelik | Jugendbuch 2017 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-mehr-schwarz-als-lila-2017/ http://www.blogvombleiben.de/buch-mehr-schwarz-als-lila-2017/#respond Sun, 29 Jul 2018 06:23:03 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4441 Sei es Wahrheit oder Pflicht, Never have I ever oder simples Flaschendrehen. Es sind Spiele, die…

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Sei es Wahrheit oder Pflicht, Never have I ever oder simples Flaschendrehen. Es sind Spiele, die uns an Grenzen locken, uns mit Adrenalin berauschen und eben auch hinbrettern lassen. Es geht um Lena Goreliks für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiertes Jugendbuch Mehr Schwarz als Lila über rote Linien, hinter denen keiner mehr lacht. Und Freundschaften, die Risse zeichnen.

Bloggerin Sonia Lensing mit dem Buch Mehr Schwarz als Lila

Ein Kuss in Auschwitz

Zum Inhalt: Mehr Schwarz als Lila ist die Geschichte der 17-jährigen Alex, die lieber Schwarz als Lila trägt und im Beisammensein mit ihren besten Freunden Paul und Ratte (eigentlich Nina) auf das Leben wartet. Seitdem ihre Mutter an einem Hirnschlag verstorben ist, gibt es außer ihrer innigen Freundschaft zu Paul und Ratte nicht viel, das die Heranwachsende mit Glück erfüllt. Dann tritt eines Tages der attraktive wie interessante Herr Spitzing als Referendar in Alex‘ Leben.

Und aus dem gähnenden Unterricht, der alltäglichen Wartezeit und den leeren Gesprächsfetzen wird ein lebendiges Staunen, Hoffen und Spüren. Gefühlsregungen, die bei Alex emporklettern, als sich dem Dreierteam »Johnny« Spitzing privat anschließt. So beginnt das Chaos: Alex verliebt sich in Johnny, Ratte in ein unbeliebtes Mädchen und dann geht es auch noch auf die Abschlussfahrt nach Auschwitz, wo die Leichtigkeit ihrer Freundschaft endgültig aus den Fugen gerät.

Randnotiz: Hier findet ihr einen Blogbeitrag zu Davids Besichtigung der Frauen-KZ-Gedenkstätte in Ravensbrück im Spätsommer 2016.

Skandal um Alex und Paul

Unter dem Hashtag #auschwitzkuss wird die virtuelle Welt Augenzeuge, wie sich Alex und Paul vor einem Galgen in Auschwitz küssen. An einem Ort, wo Millionen Menschen skrupellos ermordet worden. Der Skandal ist enorm, so dass Abtauchen angesagt ist. Was dieser Kuss tatsächlich bedeutet, weiß nur Alex. Doch die spricht nicht mehr, seitdem sie mit einem Spiel alles zerstört hat, das ihr wichtig war. Lena Goreliks Coming-of-Age-Roman über die Freundschaft in allen Facetten, die junge Liebe und das böse Spiel mit dem Ernst.

Urlaubslektüre, aber bitte mit Tiefe

Für unseren Cornwall-Urlaub mit gewissem Niederschlagsrisiko entschied ich mich für ein Jugendbuch, das mich mit mehr Lesestoff als die Kinderbuchsparte und mit stärkerem Identifikationspotential versorgen würde. Wie man schnell die richtige Buchauswahl im Jugendbereich trifft? Eine bewährte Quelle für Buchempfehlungen im aktuellen Kinder- und Jugendbuchmarkt sowie für den Deutschen Jugendliteraturpreis Nominierte bietet der Arbeitskreis für Jugendliteratur e. V. Von den diesjährigen Nominierungen sprach mich das in diversen Medien gehypte Buch The Hate U Give von Angie Thomas, aber eben auch Lena Goreliks Mehr Schwarz als Lila an. Die Jurybegründung, insbesondere die »ästhetische Literaturerfahrung«, und die flotte Buchlieferung waren es schließlich, die Lena Goreliks Mehr Schwarz als Lila den Platz in meinem Handgepäck sicherten (hier geht’s zur Website der Autorin).

Zur Wirkung des Buchs

Ungeachtet des überraschend paradiesischen Wetters und unseren zahlreichen Tagesausflügen hab ich Mehr Schwarz als Lila in knapp 3 Tagen durchgelesen. Mein Antrieb galt vor allem dem ästhetischen Schreibstil von Lena Gorelik und der Sätze, die sich Poeten einrahmen können. Als da wären:

Sie leben in Pausen, deren ganzes Leben, als fände das Leben in Zwischenzeiten statt. | S. 53

 

Eines Tages rettet Paul die Welt. Und ich stehe dann daneben. | S. 98

 

Liebe, in Berührungen verpackt, und man gibt ihnen eine Bedeutung, wie man Zucker in den Kaffee gibt. | S. 127

 

Sind nicht alle Geschichten Liebesgeschichten? | S. 105

Letzteres Zitat bringt das Wesen von Goreliks Roman auf den Punkt. So handelt es sich im Wesentlichen um eine Liebesgeschichte, in Freundschaft verpackt, im Spiel ausgezogen, aus der Hand gefallen und Scherben aufsammelnd. Womit die aus St. Petersburg stammende Autorin ein Themenkollektiv bedient, mit dem sich die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt beschäftigt und identifizieren kann.

Bloggerin Sonia Lensing liest Mehr Schwarz als Lila

Monologe aus der Ferne

In abgehakten Sätzen beziehungsweise Alex‘ gern eingesetzten Ellipsen tauchen die Leser*innen von Mehr Schwarz als Lila in die Gedankenwelt der 17-Jährigen ein. Darin beschreibt, reflektiert, kommentiert und bewertet sie sowohl ihr eigenes Handeln und Denken als auch das Verhalten ihrer Freunde. Durch die Ich-Perspektive und die Monologe hören wir Alex zwischen unseren Ohren denken und beschreiben. Aber eben auch schweigen. Denn ihre Gedankenschnipsel, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit und ihren Gefühlen hin und her flippen, sich wiederholen und weigern, lassen oftmals Fragen offen. Fragen, die Alex teilweise unnahbar und deshalb umso lesenswerter machen.

Wir spielten Spiele, um zu spüren und zu fliehen, aber wir sagten fliegen dazu. Wir spielen, um zu fliegen. So war das, bevor du kamst und bevor wir wussten, wer wir waren. | S. 33

Alex und ihre Freunde fliehen gerne in Spiele. Denn im Spiel fühlen sie sich lebendig und können abtasten, wer sie sind und wie weit sie gehen. Während sie sich gegenseitig herausfordern, ob in provokanten Taten oder Gedankenspielen, nimmt die sonst eher ruhige Handlung Fahrt auf. Dieser aufgeweckte Geist, der in zwanglosen Dialogen zwischen den Freunden durchschimmert, erinnert daran, wieso Wahrheit oder Pflicht oftmals so einen Reiz auf das junge Ich ausübt. Sind solche Experimente doch eine wichtige Form der Identitätsstiftung.

»Jedes Spiel hat ein Ende«

Letztlich ist es eben dieser verhängnisvolle Spieltrieb, der in einer Katastrophe endet. Unbeholfen mit ihren Emotionen für »Johnny« und ihren Verlustängsten gegenüber ihren Freunden verspielt Alex das, was ihr lieb ist. Lässt sich das wieder gut machen? Wo uns die Geschichte doch lehrt, dass manche Dinge nicht repariert werden können.

Fazit zu Mehr Schwarz als Lila

Lena Gorelik erzählt in poetischer und kluger Sprache von Alex, ihren Sehnsüchten, ihren Freunden und den Konsequenzen von Spielen, die Leid statt Spaß evozieren. Lässt man die in Mehr Schwarz als Lila dargestellte, etwas altbacken wirkende jugendliche Mediennutzung außer Acht (wer unternimmt heute ohne Vorab-Messages Überraschungsbesuche und bevorzugt analoge Spiele als das eigene Smartphone-Universum?), ist der Roman ein moralisch wie stilistisch anregender Jugendroman, durchaus auch für ältere Leser*innen. Mit seiner melancholischen und verspielten Note bereitet das Buch nicht nur Lesefreude, sondern zeigt auch, wie Kurzschlussreaktionen in virtuellen Zeiten zum Verhängnis und Affront werden können. Ich vergebe 8 Sterne.


Infobox
Titel Mehr Schwarz als Lila
Erscheinungsjahr 2017
Autor/Illustrator Lena Gorelik (Autorin)
Verlag Rowohlt Berlin
Seiten 256 Seiten
Altersempfehlung Ab 14 Jahre
Thema Freundschaft, Heranwachsen, Verliebtsein

 

 

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GATTACA über Designer-Babys und Gentechnologie | Film 1998 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/ http://www.blogvombleiben.de/film-gattaca-1998/#respond Fri, 27 Jul 2018 07:00:35 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4397 Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman…

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Der Neuseeländer Andrew Niccol war noch keine 30 Jahre alt, als er das Drehbuch zu Die Truman Show (1998) schrieb und an einen Produzenten verkaufte. Der junge Mann bekam »extra money« dafür, dass er von seinem Wunsch, auch die Regie zu führen, zurücktrat und einen erfahreneren Regisseur walten ließ. Niccol stimmte zu, zog sich zurück und schrieb das Drehbuch zu Gattaca. Dieses Mal ließ er sich die Regie nicht nehmen und setzt sein Skript selbst um. Schließlich kam Gattaca sogar noch ein Jahr vor Die Truman Show in die amerikanischen Kinos.

Mutter Natur und ihre Beta-Babys

Die Truman Show entpuppte sich als cineastisches Verbindungsglied zwischen orwellschen Überwachungsdystopien und dem Big-Brother-Realitätsfernsehen der 2000er Jahre. Inzwischen, im Jahr 2018, hat sich Die Truman Show überholt. Die Vorstellung, dass wir von Geburt bis Tod als Teil eines medialen Spektakels mit globalem Publikum geworden sind, ist gelebte Wirklichkeit geworden. Mit YouTube-Kanälen, auf denen Eltern die ersten Schritte ihrer Kinder dokumentieren, zelebrieren und für höhere Klick- und Abo-Zahlen inszenieren.

In den 2010er Jahren können wir sagen, dass auch Gattaca zur Gegenwart wird. In seinem jüngsten Report hat das Nuffield Council of Bioethics – eine renommierte, britische Organisation, die sich mit bioethischen Fragen beschäftigt – der Einflussnahme auf das Genmaterial menschlicher Embryos grünes Licht gegeben, es sei »moralisch zulässig«.

Die Schauspieler Uma Thurman und Ethan Hawke in dem Film Gattaca

Inhalt: Gattaca handelt von einem natürlich gezeugten Baby, Jungen, Mann (gespielt von Ethan Hawke) in einer »nicht allzu weit entfernten Zukunft«, in der natürlich Gezeugte bereits die Unterschicht der Gesellschaft darstellen. Unter falscher Identität versucht dieser unperfekte Mensch, seinen Traum zu erfüllen.

Hinweis: Diese Kritik enthält keine konkreten Spoiler zu Gattaca. Allein im vorletzten Absatz, »Zur Position des Films«, wird ein Hinweis darauf gegeben, in welche Richtung das Filmende tendiert.  Aktuelle legale Streamingangebote gibt’s wie gehabt bei JustWatch.

Totale: Gattaca im Zusammenhang

Historischer Kontext

Manche Filme kommen also ins Kino, um vom Tag ihrer Veröffentlichung an immer aktueller zu werden. Manche über die Jahre – das Zukunftsszenario aus Her (2013) von Spike Jonze nähert sich rasant unserer alltäglichen Realität. Andere über die Jahrzehnte. Als Gattaca im Jahr 1997 in die amerikanischen Lichtspielhäuser kam, floppte er an den Kinokassen. Obwohl von Kritiker*innen unmittelbar gut aufgenommen, brauchte es seine Zeit. Bis sein Thema für ein immer breiteres Publikum eine immer größere Toleranz bekam. Heute, 20 Jahre nach seinem Kinostart in Deutschland, genießt der Film Gattaca einen gewissen Kultstatus.

Inzwischen leben wir in einer Zeit, da die Kreation von Designer-Babys keine Frage des »Ob«, kaum einmal mehr des »Wann« ist. Sondern nur noch die »Wie genau«. Und die ethischen Bedenken, von denen es jetzt noch abhängt, haben den Menschen in seiner Geschichte auf lange Sicht noch nie am Fortschritt gehindert.

Weil […] Alter und Tod die Folge von nichts anderem als eben spezifischen Problemen sind (Organversagen etc.), gibt es keinen Punkt, an dem Ärzt*innen und Forscher*innen aufhören und erklären: »Bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir haben die Tuberkulose und den Krebs besiegt, aber wir werden keinen Finger krümmen, um Alzheimer zu bekämpfen. Die Menschen können weiterhin daran sterben.« | Yuval Noah Harari, Homo Deus

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spreche nicht davon, die Menschen hätten ein »Recht auf Leben bis ins Alter von 90 Jahren.«

Sie spricht davon, der Mensch habe ein Recht auf Leben. Punkt. Dieses Recht hat kein Verfallsdatum. | s.o.

Persönlicher Kontext

Mag sein, dass ich zu viel Harari und Haraway gelesen habe oder meine Vorstellungen von Dataismus und Transhumanismus naiv sind. Selbst beim Betrachten eines Films wie Gattaca spüre ich eine angenehme Aufregung im Anbetracht des Potentials, das solch gentechnologischer Fortschritt entfesselt. Unsere Ängste und Sorgen machen Sinn in dieser Übergangsphase, die vielleicht noch 100 Jahre dauern mag (und somit die Lebenszeit von uns und unseren unmittelbaren Nachkommen umfasst) – da wird es gesellschaftliche Konflikte und ethische Verwerfungen geben. Ungerechtigkeiten ohne Ende – aber wenn wir zurückschauen, sehen wir denn ihren Anfang?

Ungerechtigkeit (und damit: Ungleichheit) haben das Leben immer begleitet. Wenn überhaupt, dann stecken in den gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeiten, Ungleichheit zu überwinden. Ob das gut oder schlecht ist, steht als Frage nicht wirklich zur Diskussion, sondern eher als abzuwartende Aussicht im Raum, die von jedem Standpunkt zu jeder Zeit unterschiedlich erscheinen wird.

Close-up: Gattaca im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Films

Betrachte das Werk Gottes; wer kann begradigen, was er krumm gemacht hat? | Buch Kolehet 7,13

Ich glaube nicht nur, dass wir an Mutter Natur herumpfuschen werden. Sondern ich glaube auch, dass die Mutter es will. | Willard Gaylin, Gründer des bioethischen Recherche-Instituts The Hastings Center

Mit diesen beiden Zitaten beginnt Gattaca und schlägt damit noch vor seinem ersten Bild den Bogen über 2000 Jahre Entwicklungsgeschichte des Menschen: Von der gefühlten Ohnmacht, die in der Antike (das Buch Kolehet stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus) wie zu jeder Zeit davor und lange danach im ehrfürchtigen Glauben ans Übermächtige mündete, bis in das Zeitalter, da der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Aus dem simplen Grund, dass Homo Sapiens es jetzt kann. Die Macht und damit des göttlichen wichtigste Eigenschaft – wenn nicht das Göttliche an sich – hat auf des Menschen Seite gewechselt. Homo Deus.

Die Essenz unserer Gene

Das erste Bild ist tiefblau, erinnert an einen Nachthimmel, den Blick ins Weltall – bis Fingernägel fallen und sich die Einstellung als Detailaufnahme entpuppt. In großformatigen Zeitlupenbildern sehen wir die frisch geschnittenen Fingernägel fallen, dann Haare, wuchtig wie gefällte Bäume. Dazu werden die Vorspanntitel eingeblendet, wobei bei den Namen der Schauspieler*innen gewisse Buchstaben hervorgehoben werden: A, C, G, T. Das sind Abkürzungen für Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die vier Nukleinbasen, aus denen sich DNA zusammensetzt. In der menschlichen DNA kann sich eine bestimmte Abfolge dieser Basen besonders häufig wiederfinden lassen: GATTACA.

Als der Titel sich aus dem Nachtblau abhebt, setzt auch der epische Gänsehaut-Score von Michael Nyman ein. Mal reinhören? Here you go:

Gattaca geht so tief, wie ein Film nur gehen kann. […] Gibt es etwa eine perfektere Eröffnungssequenz? Das Abschaben des Körpers, seltsam, schauderlich und wunderschön. Hautpartikel wie Schnee, Haar wie fallende Zedern und Follikeln, die sich in einer Helix kräuseln. […] Diesen Film kann man über eine Lebensspanne immer wieder sehen, denke ich, und immer tiefer eintauchen. | Remy Wilkins mit Joshua Gibbs, in einer ausführlichen Diskussion über den Film Gattaca (aus dem Englischen übersetzt)

Bleibender Eindruck | zur Wirkung des Films

Im Vorspann werden mit präziser Bildsprache die Vorbereitungs-Maßnahmen der Hauptfigur Gerome (Ethan Hawke) gezeigt, bevor sie morgens ihr Haus verlässt und zur Arbeit geht. Witziger Kontrast: Diese Maßnahmen bestehen unter anderem darin, dass sich Gerome einen falschen Fingerabdruck samt winzigem Blutpolster aufklebt. Denn beim Betreten der Arbeitsstelle wird eben keine Karte mehr in einen Schlitz gesteckt, sondern der Finger für einen DNA-Check ausgestreckt. Und dann nimmt Gerome an einem Computer Platz, dessen Tastatur-Tasten immer noch so säulenartig hoch hervorstehen, wie bei unseren klotzartigen PCs der Jahrtausendwende. Bemerkenswert, wie man scheinbar simple Ideen wie flache Tastatur so Vordenker*innen, wie sie definitiv hinter Gattaca stehen, nicht gekommen sind.

Doch von solchem Detail-Kram mal abgesehen liegt eine große Kunst darin, ohne gesprochenes Wort einen Charakter und sein Problem zu etablieren und eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die den gesamten Film über gehalten wird. Auch nach 20 Jahren des Wandels, im Bereich der Gentechnologie, sowie hinsichtlich unserer Sehgewohnheiten, ist Gattaca ein Film geblieben, der die Zuschauer*innen zu packen weiß. Vielleicht heute mehr denn je, angesichts der zunehmenden Lebensnähe.

Vor knapp 10 Jahren hat der renommierte Filmkritiker A. O. Scott (The New York Times) sich dem Film im Rahmen eines Critics‘ Picks noch einmal aus Sicht der später Nuller Jahre angenommen. Hier zu sehen (in englischer Sprache):

Zur Position des Films

In dem Buch Angewandte Ethik und Film (2018) wird die Position des Films von Thomas Laubach als eindeutig auf Seiten der »Gotteskinder« beschrieben.

[Gattaca] ergreift Partei für die Unterprivilegierten, die in der grausam-schönen neuen Welt der genetischen Selektion scheinbar keine Chance und keine Perspektiven haben. Am Schluss, so lässt sich Gattaca zusammenfassen, triumphiert der autonome, willensstarke Mensch, und nicht das, was andere aus ihm machen wollen oder wozu sie ihn bestimmen. | S. 70

Fazit zu Gattaca

Ja, dieser Film der späten 90er Jahre zeichnet die Welt der Genmanipulation als beklemmende Sackgasse für alle Unperfekten. Ein abschreckendes Bild für uns schrecklich unperfekten Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. All die gentechnologischen Entwicklungen unserer Zeit werden in Gattaca darin gezeigt, wo und wie sie Grenzen setzen, Wege versperren, Leben bedrohen. Man darf, während man einen solch fantastischen, dystopischen, rundum gelungenen Thriller wie Gattaca sieht, aber nicht vergessen, dass diese Entwicklungen auch eine andere Seite haben. Die Seite der Möglichkeiten, die diese Entwicklungen überhaupt erst anspornen und vorantreiben.


Weitere Filmkritiken:

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AM STRAND über Sex in den Sixties | Buch 2007, Film 2018 | Kritik, Vergleich http://www.blogvombleiben.de/buch-film-am-strand-vergleich/ http://www.blogvombleiben.de/buch-film-am-strand-vergleich/#respond Fri, 06 Jul 2018 06:00:34 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4153 Vor über 10 Jahren erschien die Novelle Am Strand. Im Juni 2018 nun lief der gleichnamige Film…

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Vor über 10 Jahren erschien die Novelle Am Strand. Im Juni 2018 nun lief der gleichnamige Film in den deutschen Kinos an, mit Saoirse Ronan (Abbitte, Lady Bird) und Billy Howle (Dunkirk) in den Hauptrollen. Bei dem Kinoerlebnis handelt es sich, wohlgemerkt, nicht um eine Verfilmung der Novelle – sondern der Drehbuch-Adaption davon. Das Umschreiben vom einen ins andere Format nahm der Schriftsteller Ian McEwan höchstpersönlich vor, denn: »Ich wollte nicht, dass irgendwer anders es vergeigt.« Klare Ansage. Hat’s geholfen?

Rammbock vor den Stadtmauern

Die Novelle lebt von prägnanten Sprachbildern und dem gelungenen Wahrnehmungswechsel, dem Sprung von seiner in ihre Gedankenwelt und zurück. Ein Großteil der Handlung dreht sich um eine bestimmte Szene, in der weniger gehandelt als gegrübelt und gezweifelt und gefürchtet wird. Wie setzt man so etwas als Film um? »Ich habe keine Problem damit, Änderungen einzubauen, die cineastisch interessant sind«, sagt Ian McEwan im Interview mit Andrew Collins (RadioTimes). Doch bevor wir einen Blick auf die Änderungen werfen, worum geht’s überhaupt?

Inhalt: Florence und Edward haben geheiratet. Alles lief gut soweit. Erst als die frisch Vermählten im Hotel am Chesil Beach ihre Hochzeitssuite betreten, schnürt sich ihnen je die Kehle zu… der erste Satz der Novelle beschreibt es so: Sie waren jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräch über sexuelle Probleme unmöglich waren. Am Strand spielt in Südengland, 1962.

Hinweis: Liebe Leser*innen, im folgenden Text werden einige Szenen aus Buch und Film besprochen, ohne jedoch wichtige Wendungen und etwaige Geheimnisse der Figuren preiszugeben. Allein der Absatz »Gedanken zum Ende« enthält, na ja, Gedanken zum Ende, inklusive Spoiler.

Billy Howle überreicht Saoirse Ronan eine Blume, Standbild aus dem Film Am Strand

Totale: Am Strand im Zusammenhang

Historischer Kontext

Am 1. Januar 1900 trat der sogenannte Kranzgeld-Paragraph in Kraft. Er besagte, dass eine »unbescholtene Verlobte« (eine Jungfrau), wenn sie aufgrund eines Eheversprechens »die Beiwohnung gestattet« (erstmals Sex hat) im Nachhinein eine finanzielle Entschädigung für den ideellen Schaden an ihrer Person verlangen konnte, sollte der Mann das Verlöbnis nach dem Sex noch lösen. Denn mit der ersten Liebesnacht hatte die Frau als Braut an Wert verloren, für zukünftige Anwärter.

Anfang der 60er Jahre wurde »vorehelicher Sex« schon lockerer gesehen. Man hatte bereits Kondome im Gepäck und von sowas wie der »Pille« gab es selbst in der Provinz schon Gerüchte. Dass Geschlechtsverkehr kein Hexenwerk ist, vor der Ehe, das weiß auch Florence, die weibliche Hauptfigur des 1962 in England spielenden Am Strand (im Buch »kräftig gebaut«, im Film Saoirse Ronan). Doch die junge Frau will den Moment der Beiwohnung so lange wie möglich hinauszögern. Sie sitzt schon auf der Bettkante, da verrät der Roman:

Einige ihrer Freundinnen […] wären schon seit Stunden nackt im Bett und hätten die Ehe lang vor der Hochzeit lautstark und mit Freuden vollzogen. Wohlmeinend und großzügig, wie sie waren, glaubten sie, Florence habe genau dies ebenfalls längst getan. | Ian McEwan, Am Strand, S. 103 (hier geht’s zur Leseprobe)

Edward mit den Würgehängen

Doch die 22-jährige Florence ist nicht nur unerfahren. Ihre Not mit dem Sex ist anderer Natur. Im Buch wird diese Not schon früh beim Namen genannt und ausführlich beschrieben. Im Film gibt Florences Verhalten den Zuschauer*innen Rätsel auf. Edward indes mag wenig Erfahrung mit Mädchen haben. Der körperliche Akt, so an sich, seinerseits, der ist ihm wohlvertraut.

Wie die meisten jungen Männer seiner Zeit – aber auch aller anderen Zeiten, denen es an Toleranz oder sexueller Freizügigkeit mangelte – gab er sich immer wieder dem hin, was von fortschrittlicher Seite als »Selbstverwöhnung« bezeichnet worden war. Edward hatte sich gefreut, als er auf diesen Ausdruck stieß. | S. 28

Ich hab mal kurz ein Online-Wörterbuch für Jugendsprache konsultiert. Inzwischen sagt man »pellewemsen«, »nudelwürgen«, oder ganz fesch: »fappieren« (das hätte sogar der Engländer verstanden). Im Film indes erfahren wir nichts über die Masturbationsgewohnheiten unserer Hauptfiguren. Was okay ist.

Persönlicher Kontext

Wie das Leben so spielt: Sonia und ich gingen am Sonntag ins Apollo Kino in Aachen, mit einer Freundin. Letztere suchte den Film aus, Am Strand. Ich wusste nichts darüber, sah mir keinen Trailer an. Überrascht wurde ich dann von einem faszinierenden Filmpaar in einem Szenen-Arrangement, das aus jedem Winkel: Literaturverfilmuuung! schrie. Montag saß ich am Laptop und dachte: Puuuh, wie willste darüber schreiben? War tatsächlich ne Literaturverfilmung, basierend auf einer dünnen Novelle. Also klick, Novelle bestellt. Kam Dienstag an. Hab sie Mittwoch und Donnerstag gelesen. Jetzt sitze ich hier, am Freitagmorgen, und schreibe endlich über dieses Werk, das von einer völlig verkorksten Hochzeitsnacht handelt. Und morgen, am Samstag, da heiraten Sonia und ich. Die schönen kleinen Truman-Show-Momente des Lebens.

Close-up: Buch und Film im Fokus

Erster Eindruck | zum Inhalt des Werks

Während das Buch damit beginnt, dass das Paar bereits am Tisch Platz nimmt und zu Abend isst, entführt uns der Film in seinen ersten Einstellungen an den Strand. Das fiktive Hotel aus dem Buch liegt direkt am Chesil Beach in Südengland, On Chesil Beach lautet der Originaltitel des literarischen und cineastischen Werks. Obwohl der Schriftsteller Ian McEwan gerade am Beginn und Ende seiner Geschichte signifikante Änderungen vorgenommen hat, bleibt er der gekonnt heraufbeschworenen Atmosphäre treu. Denn die ist ziemlich angepasst, zuweilen unangenehm. In die Stille hinein dringen die leisesten Geräusche wie Baustellenkrach.

[…] Edward und Florence waren Gefangene ihrer Zeit. Selbst unter vier Augen galten tausend unausgesprochene Regeln. Und gerade weil sie nun erwachsen waren, taten sie nichts so Kindischen wie von einem Mahl aufzustehen, das man mit viel Mühe eigens für sie angerichtet hatte. Schließlich war Abendessenszeit. | S. 26

Schon im Filmauftakt im Kino nahm ich das markante Sounddesign wahr, angefangen mit den Kieseln am Strand. Im Hotel knarzen die Dielen, klappert das Besteck… und siehe da: Schon in der literarischen Vorlage drängen sich immer wieder Geräusche in die Zeilen. Von Eichendielen, die »komisch knarrten« ist da die Rede, und Löffel, die »über Platten schaben«. Manche Details hat der Autor sorgfältig bewahrt und ins neue Format übertragen. Doch ausgerechnet die besten Bilder sind es, die sich nicht übertragen lassen. Bilder, die sich ins Hirn brennen. Bilder, in denen Bedeutungen mitschwingen, die sich später erst entschlüsseln. Florence Furcht etwa, ein »hilfloser Widerwille so heftig wie die Seekrankheit.«

Bleibender Eindruck | zur Wirkung von Buch und Film

Ein Danny Boyle (127 Hours) oder Jaco van Dormael (Mr. Nobody) hätte sich vielleicht um visuelle Entsprechungen für die Sprachbilder bemüht. Vielleicht auch (wobei es schon weniger seinem Stil entspräche) Sam Mendes, der zunächst als Regisseur im Gespräch war. Nicht jedoch der Debütant Dominic Cooke, der mit Am Strand seinen ersten Spielfilm inszeniert hat. Seine langjährige Erfahrung im Erzählen von Geschichten bezieht sich auf das Theater. Und so ist auch sein first feature film in Sachen Kamera und Schnitt, beides sehr konventionell, beinahe ein Bühnenstück. Das ist in Ordnung, etwas Eigenes, etwas Anderes. Es lohnt sich, zunächst den Film zu sehen und dann das Buch zu lesen, um diese Hochzeitsnacht noch einmal mit der Gedankenebene zu durchleben. Sie gibt den Figuren (trotz der hervorragenden Schauspieler) einen Mehrwert.

Florence spürte seine Berührung so deutlich, wie Wärme und den Druck seiner verschwitzten Hand auf ihrer Haut, daß sie sich den langen, gekrümmten Daumen im bläulichen Dämmer unter ihrem Kleid vorstellen, daß sie ihn sehen konnte, wie er da lag, geduldig wie ein Rammbock vor den Stadtmauern […]

Das Buch ist, im Übrigen, stellenweise so explizit bezüglich des Sexuellen, dass Ian McEwan Sorge, eine Verfilmung könne quasi-pornografisch geraten, nicht aus der Luft gegriffen ist. Überhaupt besteht die größte Kunst des Films Am Strand darin, dass die filmische Umsetzung der intimsten Szenen zwischen den beiden Verliebten nicht unfreiwillig komisch geraten sind.

Gedanken zum Ende

Mich persönlich hat tatsächlich die letzte Einstellung sehr gestört: Edward steht am Strand, abgewendet, Florence geht fort. Die Kamera fährt dabei den Hang hinab, immer auf die beiden Schauspieler gerichtet, zwischen denen die Distanz größer wird. Bis sie aus dem Bild ist und er allein am Strand steht. Die Kamera nun von so tief unterhalb des kiesigen Hangs zu ihm hinaufschauend, das wir vom Hintergrund nichts mehr sehen. Nur noch Himmel, Strand und der junge Mann am rechten Bildrand. Ein schönes Bild, eigentlich.

Doch auf dem Weg dorthin, auf der sanften Kamerafahrt während der bedeutsamen Trennung der beiden Protagonisten, schneidet die Kadrage, der Bildausschnitt den Schauspieler Billy Howle immer wieder am rechten Bildrand an. Vielleicht war es der Projektion im Kino geschuldet, dass das Bild dort unschön abgeschnitten schien. In einer letzten Einstellung ist so ein Detail, wem es ins Auge sticht, ein ziemlicher Abtörner. Zieht just dann raus aus der Handlung, wenn man am tiefsten drinstecken sollte.

Die Gewichtung von Szenen

Hinzu kommen die letzten Szenen des Films, der gen Ende von 1962 ins Jahr 1975 und dann ins Jahr 2007 springt. Im Gegensatz zu allen Rückblenden sind diese »Zukunftsblenden« mit Jahreszahlen versehen. Für mich, der ich nichts über Buch und Film wusste und ohne Zeitgefühl im Kino saß, ergab sich der Eindruck, jetzt folge der dritte Akt. Das konkrete Datieren der Szenen verleiht ihnen ein Gewicht, das sie schließlich nicht auf die Waage bringen. Zu kurz, zu ausschnitthaft bleiben sie. Angesichts des liebevoll gestalteten Drumherums – Make-up, Mode, Kulisse – hätte man getrost auf die Einblendung der Jahreszahlen verzichten können. Ich denke, dass hätte die Schlussszenen angemessener ins Gesamtwerk eingefügt.

Was es auch nicht gebraucht hätte, meinethalben, war das tränenreich pathetische Filmfinale. Es ist völlig anders als im Buch und wohl das, was Ian McEwan offenbar »cineastisch interessant« findet. Im Buch hingegen bleibt der Epilog extrem schlicht und viel kühler. Cooler. Florence und Edward sehen sich nach der Trennung am Strand einfach nie wieder. Eiskalt.

Randnotiz: Ein paar Wochen nach unserem Kinobesuch – im Juli 2018 – sind wir übrigens am Chesil Beach gewesen. Sonia und ich haben auf unserer Hochzeitsreise nach Cornwall einen kleinen Zwischenstopp eingelegt, um die Sonne einmal an dieser schönen Kieselbank untergehen zu sehen.

Bloggerin Sonia Lensing am Chesil Beach.

Kieselsteine am Chesil Beach

Fazit zu Am Strand

Während der Abspann lief, im Kinosaal, da war ich enttäuscht. Zu abrupt und zugleich ausschweifend erschien mir das Ende, ganz komisch. Ich hätte es mir anders oder einfach nur weggewünscht. Doch lässt man den Film sacken, enthält er viele starke Szenen, die sich im Gedächtnis wieder an die Oberfläche spielen. Nachdem ich mich nun eine Woche lang intensiv mit dem Werk beschäftigt habe, muss ich sagen:

Am Strand gewährt einen seltenen und relevanten Einblick in die Lebenswelten zweier Kinder einer anderen Zeit, von deren Sorgen und Ängsten trotzdem noch vieles in Köpfen unserer Zeit verborgen liegen mag. Ein Film der dafür sensibilisiert, dass Sex nie nur im Kontext einer mehr oder weniger sexuell freizügigen Gesellschaft lebt. Am Ende kommt es immer auf ein paar einfache Individueen und ihre ganz persönlichen Erfahrungen an.


Weitere Filmkritiken:

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AUF WIEDERSEHEN, PAPA über Trennung | Kinderbuch 1995 | Kritik http://www.blogvombleiben.de/buch-auf-wiedersehen-papa-1995/ http://www.blogvombleiben.de/buch-auf-wiedersehen-papa-1995/#respond Sat, 16 Jun 2018 11:58:45 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3910 Kein Abschiedskuss für Papa. Denn Tom ist wütend und gekränkt. Schon wieder wird er von ihm…

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Kein Abschiedskuss für Papa. Denn Tom ist wütend und gekränkt. Schon wieder wird er von ihm verlassen. Dabei hat er doch gar nichts getan. Teddy weiß, wie Tom sich fühlt und erzählt ihm eine Geschichte. Über das Kinderbuch Auf Wiedersehen, Papa von Brigitte Weninger und Christian Maucler.

Tom und Teddy verarbeiten die Trennung

Die Puppen fallen lassen, in den Flur laufen, dem Vater um den Hals fallen, festkrallen. Dinge, die für meine Schulfreundin zum Ritual wurden, während ich das Spektakel aus dem Türrahmen beobachtete. Und das ganze Trara mit meinen 6 Jahren nicht so ganz verstand. Mein Vater war auch toll, klar. Aber gleich so auszurasten? Dass die Gefühlswelt von Trennungskindern eine andere ist, erzählt Brigitte Weninger einfühlsam in ihrem Buch Auf Wiedersehen, Papa.

Bloggerin Sonia Kansy mit dem Kinderbuch Auf Wiedersehen, Papa

Zum Inhalt: Sehnsuchtsvoll. Das ist mein erster Eindruck vom Bilderbuch Auf Wiedersehen, Papa mit Blick auf den Titel und das Cover im Hochformat. In einer einzigen Illustration mit reduzierten Elementen gelingt es Christian Maucler, den Kern der Geschichte aufzuzeigen: Ein Junge im Schlafanzug sitzt mit angewinkelten Knien auf dem Boden, hält seinen Teddybären fest und blickt in die Ferne, zum Schatten seines Vaters. Uns kehrt er dabei die Schulter zu. Hinter ihm – wie im Spiegelbild – sitzt ein kleiner Bär, der ebenfalls mit seinem Kuscheltier seinem Papabären hinterherschaut. Deutlicher könnte ein Titelbild kaum mitteilen, dass das Thema der Kindergeschichte »Abschiednehmen« ist und gleichzeitig auf die Emotionalität der Story einstimmen. Wer dieses Buch in die Hand nimmt, sieht: Das ist kein Friede-Freude-Eierkuchen-Buch. Hier geht es um ernste Kindergefühle.

Ich fühle was, was du auch fühlst

Emotionen, die zwischen fröhlich, traurig, wütend und verletzt hin und her pendeln. Tom reagiert wie ein Kind reagiert, wenn es zwischen den Eltern hin und her gereicht wird. So hält seine Begeisterung für den Vater gerade an, bis dieser ihn wieder verlässt. Beim Abschied weicht Tom aus und verwehrt ihm einen Abschiedskuss. Den Schmerz, den Tom nachfolgend verspürt, lässt er verbal an seiner Mutter aus: »Lass mich in Ruhe!«, und verkriecht sich in seinem Bett.

Doch Tom ist nicht allein mit seiner Wut und Traurigkeit. Sein Teddybär erzählt ihm eine Geschichte, die Toms Familienleben auf fantasievolle Weise spiegelt. Eine Geschichte in der Geschichte, ein Déjà-vu mit gleichen Rollen und neuen Figuren. Denn Teddy hadert ebenfalls mit der Trennungssituation und vermisst Papabär schrecklich. Dass er immer wieder aufs Neue von seinem Vater verlassen wird, versteht Teddy nicht: »Aber ICH hatte doch keinen Streit mit Papa!« Alles sehr verwirrend für Teddy und Tom. Doch Mamabär findet die richtigen Worte, damit Teddy und Tom inneren Frieden mit ihren Vätern schließen können und sich beim Abschied auf ein Wiedersehen freuen können.

Bleibender Eindruck / Zur Wirkung des Buches:

Mit der Trennungsproblematik greift Brigitte Weninger ein sensibles Thema auf, das die zielgruppenrelevanten Kinder vor eine Herausforderung stellt. Wie mit allen heiklen Stoffen, ist das Risiko der Autorin, das Feingefühl zu verfehlen, entsprechend groß. Zumal das Buch laut Klappentext für Sprösslinge ab 3 Jahren empfohlen wird. Doch mit ihrem Debüt, das bereits 1995 erschien, beweist die Kinderbuchautorin und Pädagogin das richtige Maß an Empathie für die Zielgruppe. Das Buch ist nah an der Lebenswelt von Trennungs- und Scheidungskindern angesiedelt.

Hinweis: Ein weiteres Kinderbuch zum Thema Trennung vom Vater ist Die wichtige Dinge (2015) von Peter Carnavas.

In einfacher, kindgerechter Sprache, mit wenig Text und gleichermaßen klaren und feingezeichneten Illustrationen von Christian Maucler konzentriert sich die Handlung auf das Wesentliche, auf die Gefühlslage von Tom und Teddy, die sich von ihren Vätern abgewiesen und vernachlässigt fühlen. Ein Zustand, den Trennungskinder nachempfinden und sich mit beiden Figuren identifizieren können. Durch den Fokus auf die konfliktträchtige Vater-Sohn-Beziehung, die zwischen Freud und Leid hin und her schwankt, rückt die ernste, traurige Stimmung der Story in den Vordergrund. Aus diesem Grund empfiehlt sich das Buch auch bei älteren Kindern zum gemeinsamen Vorlesen mit den Eltern, um anschließend darüber zu sprechen.

Die ganzseitigen, teilweile collagenartigen und seitenüberlappenden Bilder unterstützen die melancholische Atmosphäre des Inhalts ideal, indem die feinen Striche und gedeckten Farben das zarte Kindsgemüt reflektieren. Der innere Konflikt des Kindes wird auf behutsame Weise gelöst, indem die Autorin Mamabär – stellvertretend für Toms Mutter – erklären lässt, was sich so schwer erklären lässt. Am Ende bleibt die eindringliche Botschaft an das Kind zur Elternliebe: »Dieses Liebhaben hört nie auf.«

Umstrittene Buchbewertungen

Um auf einige kritische Käuferstimmen (etwa bei Amazon) einzugehen: Keine Frage, der »Bösewicht« in dem Buch ist die Vaterfigur. Ob dies dem konservativen Rollenverhältnis geschuldet ist oder einfach der Geschichte, ist reine Spekulation. Emanzipierte Stimmen haben recht, die Mutterfigur hätte ebenfalls der Buhmann des Kindes sein können. In dieser Konsequenz müsste jede Geschichte auf das andere Gender übertragen werden. Für die Handlung und den Kern der Geschichte spielt es jedoch aus meiner Sicht keine Rolle, ob die Person mit dem Sorgerecht männlich oder weiblich ist. Für das Identifikationspotenzial des Kindes allerdings schon, so dass Kinder, die bei der Mutter wohnen, einen besseren Zugang zu dem Buch finden.

Was aber auch zählt, ist das Eingehen auf die innere Zerrissenheit des Kindes, welches sich von seinen Erziehungsberechtigten schmerzlich abgewiesen fühlt. Man kann die Trennung von Eltern verurteilen, wie einige Rezensenten, aber man kann ihr Vorkommen in unserer Gesellschaft nicht verleugnen. Für Kinder, die mit diesem Zustand umgehen müssen, ist es umso wichtiger, ihnen eine liebevolle Botschaft zu senden, die sie ein wenig tröstet.

Hinweis: Auf Wiedersehen, Papa wird auch in der Broschüre Kinderbücher zum Thema Trennung/Scheidung der Stadt Aachen vorgestellt (hier: Download als PDF).

Fazit zu Auf Wiedersehen, Papa

In wenigen, aber umso bedeutungsvolleren Worten und Bildern haben Brigitte Weninger und der französische Illustrator Christian Maucler mit Auf Wiedersehen, Papa ein einfühlsames Bilderbuch zum Trennungsthema kreiert. Mit Aufgreifen der Kinderperspektive bringt die Geschichte den betroffenen Kindern Verständnis und Mitgefühl entgegen und hilft, diese konfuse Situation ein wenig besser zu verstehen und mit friedlicherem Herzen »Auf Wiedersehen« zu sagen. Ein empfehlenswertes Werk zum Vorlesen für Kinder in Trennungsverhältnissen, ab 3 Jahren mit Appel an Anschlusskommunikation. Ich vergebe 8 von 10 Sternen für Auf Wiedersehen, Papa.


 

Titel Auf Wiedersehen, Papa
Erscheinungsjahr 2008 (erstmals 1995 erschienen)
Autor/Illustrator Brigitte Weninger (Autor), Christian Maucler (Illustrator)
Verlag minedition
Seiten 32 Seiten
Altersempfehlung Ab 3 Jahre

 

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Das Unbehagen der Geschlechter, Judith Butler | Buch 1991 | Zusammenfassung http://www.blogvombleiben.de/buch-gender-trouble-1990/ http://www.blogvombleiben.de/buch-gender-trouble-1990/#respond Wed, 13 Jun 2018 07:00:09 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=4167 1990 veröffentlichte die Philosophin Judith Butler ihr (nach ihrer Dissertation) erstes und bis heute bekanntestes Buch:…

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1990 veröffentlichte die Philosophin Judith Butler ihr (nach ihrer Dissertation) erstes und bis heute bekanntestes Buch: Das Unbehagen der GeschlechterGender Trouble. Es wurde bereits kurz nach dem Erscheinen von Vertreter*innen des Feminismus und der Geschlechterforschung (Gender Studies) kontrovers diskutiert.

Der Grund liegt vor allem in der These, dass neben dem sozialen Geschlecht (engl. gender) auch das körperliche Geschlecht (sex) diskursiv geformt wird, durch performative Sprechakte. Dass Natur demnach schon ein Ergebnis kultureller Erkenntnisse (und nicht diesen vorausgehend) sei, das ist diejenige Prämisse von Judith Butler, die den Zugang zu ihrem Werk Das Unbehagen der Geschlechter für viele Leser*innen erschwert.

Die Annahme, dass Körper durch Diskurse und performative Sprechakte konfiguriert werden, bedeutet jedoch nicht, dass Körper als materielle Realitäten vollständig auf Diskurse zurückführbar sind; lediglich, dass es keine von der symbolischen Ordnung unberührte körperliche Materialität gibt.

Hannelore Bublitz, in: Judith Butler zur Einführung (2002), S. 41

Vielfalt in die Kategorien katapultieren

Im Folgenden soll eine grobe Übersicht zu dem Werk Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble und den davon ausgehenden Kontroversen gegeben werden. Hier geht es zu einer Zusammenfassung des Vorworts. Ein PDF der englischen Original-Fassung Gender Trouble von Judith Butler stellt die Mexikanerin Laura González Flores bereit.

Artwork von Drag-Queen Divine, dazu der Text: Zum Wort von Gender Trouble / Das Unbehagen der Geschlechter

In der Doku Judith Butler, Philosophin der Gender (2006) des Sender arte, sinniert die Autorin über den Ursprung von Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble. Dabei geht es um ihre jüdische Familie und deren Assimilation in Amerika. Judith Butler kam 1956 in Cleveland, Ohio zur Welt. Die Familie ihrer Mutter besaß eine Kinos in Cleveland. Wie viele Jüdinnen waren sie in diese neue Industrie eingestiegen, die im 20. Jahrhundert boomte.  

Für die Generation amerikanischer Juden, die mich aufzog, bedeutete Assimilation offenbar, dass man sich den Geschlechtsrollen aus Hollywood-Filmen anzupasste. So wurde meine Großmutter zu Helen Hayes, […] mein Großvater war so etwas wie Clark Gable […].

In den späten 60ern und frühen 70ern, als ich versuchte, mit der Verteilung der Geschlechtsrollen klarzukommen, war ich mit diesen übertriebenen Rollenerwartungen konfrontiert. […] Vielleicht ist die Theorie von Das Unbehagen der Geschlechter aus meinem Versuch entstanden zu verstehen, wie meine Familie diese Hollywood-Normen verkörpert hat. Und dann auch wieder nicht. Sie versuchten sie zwar zu verkörpern, aber in gewisser Hinsicht war es ihnen gar nicht möglich.

Meine Schlussfolgerung war, dass jeder, der sich bemüht, diese Normen zu verkörpern, auf eine Weise daran scheitert, die viel interessanter ist, als ein Erfolg es sein könnte. | aus: Judith Butler, Philosophin der Gender (2006)

Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble sei eine Schrift, so Butler, in der es darum geht, wie wir als Gesellschaft gewisse Geschlechtsnormen konstruieren. In dieser Schrift wird die Geschlechtsidentität (gender) als eine Tätigkeit beschrieben. Wir stellen etwas dar, handeln in einer bestimmten Weise, sind ständig im Werden begriffen. Darüber definieren wir unsere Identität. Es geht um die Frage, auf welche Arten wir unsere Geschlechtsrollen erschaffen und was wir damit anstellen können?

Übersicht der 3 Haupt-Kapitel

Judith Butlers Buch Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble unterteilt sich in folgende 3 Kapitel.

1. Die Subjekte von Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren

Das erste Kapitel handelt von »Frauen« als Subjekte des Feminismus und der Unterscheidung zwischen körperlichem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender). Zwei zentrale Begriffe dieses Kapitels sind die »Zwangsheterosexualität« (die gesellschaftliche Fixierung auf heterosexuelle Lebensweisen) sowie der »Phallogozentrismus« (demnach viele Festlegungen dessen, was in der Gesellschaft als »weiblich« gilt, von Männern ausgehen). Ist zum Beispiel die »Frau« nur eine sprachlich konstruierte Geschlechter-Kategorie und die Sprache selbst phallogozentrisch? So sieht es die Psychoanalytikerin Luce Irigaray.

Luce Irigarays grundlegendes Argument ist, dass Philosophie seit Platon – und sogar schon vor diesem – auf der Idee eines singulären, operierenden Subjekts beruht, das seine Umwelt betrachtet und zu verstehen versucht – als einzelnes Subjekt; und dass darin die Auslöschung von Unterschieden begründet liegt, und des Weiblichen.

Isabelly Hamley, in: Luce Irigaray by Isabelle Hamley (YouTube, 02:40)

Neben Luce Irigaray geht es um die Schriftstellerin Monique Wittig. Diese stellte die These auf, dass »das Weibliche« das einzige Geschlecht sei, das in einer Sprache repräsentiert wird, die das Weibliche mit dem Sexuellen verknüpft. Wittig ist der Ansicht, dass nur die leiblichen Personen, die keine heterosexuellen Beziehungen im Rahmen der Familie (mit dem Zweck der Fortpflanzung als dem Telos der Sexualität) unterhalten, die Kategorien des Geschlechts anfechten oder zumindest in keiner Komplizenschaft stehen. Butler schreibt über Wittig:

In Erwiderung auf Beauvoirs These »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«, stellt Wittig die Behauptung auf, daß man, anstatt eine Frau zu werden, eine Lesbierin werden kann. Indem sie die Kategorie »Frau(en)« zurückweist, schneidet Wittigs lesbischer Feminismus scheinbar jede Art von Solidarität mit den heterosexuellen Frauen ab […]. 

Was für ein tragischer Fehler ist es […], eine schwule/lesbische Identität durch dieselben Mittel der Ausschließung zu konstruieren, als würde das Ausgeschlossene nicht gerade durch seine Ausschließung stets vorausgesetzt und damit sogar für Konstruktion dieser Identität erfordert. | S. 188-189

Jede Matrix, der eine Binarität zugrunde liegt, (ob nun weiblich/männlich oder lesbisch/schwul), verwirft diejenigen Subjekte, die sich in dieser Matrix nicht unterbringen lassen. Die verworfenen Subjekte werden zum »Anderen«, durch dessen Ausschließung sich die Subjekte innerhalb der Matrix konstituieren.

Das Verworfene [the abject] bezeichnet hier genau jene »nicht-lebbaren« und »unbewohnbaren« Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des »Nicht-Lebbaren« jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen. Diese Zone der Unbewohnbarkeit wird die definitorische Grenze für den Bereich des Subjekts abgeben.

Judith Butler, in: Körper von Gewicht (1997), S. 23

Fragen, die in diesem Kapitel zu erörtern sind:

Wie bringt Sprache selbst die fiktive Konstruktion des »Geschlechts« hervor, die diese verschiedenen Macht-Regime (Zwangsheterosexualität, Phallogozentrismus) trägt? (als solche werden Zwangsheterosexualität und Phallogozentrismus verstanden  in ihnen bündelt sich gesellschaftliche Macht)

Welche Kontinuitäten zwischen Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren suggeriert eine Sprache unterstellter Heterosexualität? Sind diese Begriffe eventuell diskret, also in ihrer jeweiligen Bedeutung gar nicht stetig fest und eindeutig bestimmt?

Und wenn Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren nicht fest bestimmt sind, welche kulturellen Verfahren bringen ihre angeblichen Beziehungen ins Wanken?

2. Das Verbot, die Psychoanalyse und die Produktion der heterosexuellen Matrix

Das zweite Kapitel behandelt unter anderem das Inzesttabu. Dieses untersagt in fast allen Kulturen sexuelle Beziehungen zwischen Blutsverwandten. Das Verbot kann als ein Mechanismus dargestellt werden, der innerhalb eines heterosexuellen Rahmens versucht, bestimmte Geschlechtsidentitäten (gender identities) zu erzwingen. So lässt es sich in strukturalistischen, psychoanalytischen und feministischen Schriften darstellen, drei Perspektiven, die Judith Butler hier vorgestellt.

Sie unterzieht das Inzesttabu einer Kritik vermittels der Repressionshypothese von Michel Foucault. Die Repressionshypothese besagt, dass Macht repressiv individuelle Triebregungen und -äußerungen zurückdränge. Im Fall des Inzesttabus besteht die Repression in einem Verbot inzestuöser Handlungen, womit aber – indirekt – die Zwangsheterosexualität in der männlich bestimmten Sexualökonomie bestärkt wird. Gleichzeitig eröffnet das Inzesttabu eben diese Sexualökonomie jedoch auch für Kritik.

Des Weiteren werden im zweiten Kapitel die Begriffe »Identität«, »Identifizierung« und »Maskerade« analysiert. Sowohl im Werk der Psychoanalytikerin Joan Riviere als auch in anderen Theorien der Psychoanalytik. Fragen, die in diesem Kapitel zu erörtern sind:

Können psychoanalytische Theorien für eine Darstellung der komplexen geschlechtlich bestimmten »Identitäten« angewendet werden?

Handelt es sich bei der Psychoanalyse um eine anti-fundamentalistische Theorie, die sexuelle Vielschichtigkeit bejaht, womit die hierarchischen sexuellen Codes unserer Gesellschaft de-reguliert werden?

Oder arbeitet die Psychoanalyse eben zugunsten dieser Hierarchien, indem sie einen Komplex von Voraussetzungen über Identitätsgrundlagen aufrecht erhält?

3. Subversive Körperakte

Das dritte Kapitel von Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble unterzieht zunächst die Konstruktion des mütterlichen Körpers bei der Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Julia Kristeva einer Kritik. Butler verweist auf die impliziten Normen, die Kristevas Ausführungen zu Geschlecht und Sexualität zuweilen zugrunde liegen. Ein Beispiel von Butlers Beobachtungen:

Scheinbar akzeptiert Kristeva […] den Begriff einer primären Aggression und unterscheidet die Geschlechter je nach dem primären Objekt der Aggression […]. Daher versteht Kristeva die männliche Position als nach außen gerichteten Sadismus, während die weibliche Position ein nach innen gerichteter Masochismus ist. | S. 230

Für diese Kritik zieht Butler wieder den Philosophen Michel Foucault heran. Jedoch nicht, ohne auch Kritik an diesem zu formulieren und auf Widersprüche in seinem Werk hinzuweisen. Butler unterstellt Foucault eine »radikale Fehllektüre« der Tagebücher des intersexuellen Herculine Barbin, die Foucault entdeckte und veröffentlichte. Sowohl Foucault als auch Barbin vertraten, laut Butler, der Ansicht, dass Sexualität »außerhalb jeglicher Konvention« steht. Butlers Meinung nach hingegen sei die Sexualität »gerade von diesen Konventionen geprägt«. Foucaults Lesart von Barbins Tagebüchern verkenne…

…wie diese Lüste immer schon in das zwar unausgesprochene, aber durchgängig wirksame Gesetz eingelassen sind und gerade durch das Gesetz erzeugt werden, dem sie sich angeblich widersetzen. […]

Foucault, der nur ein einziges Interview zur Homosexualität gab und sich dem Moment der Beichte in seinem eigenen Werk stets widersetzt hat, präsentiert uns Herculines Geständnis in einer unverhohlen didaktischen Art und Weise. Handelt es sich hier vielleicht um eine verschobene Beichte, die auf eine Kontinuität oder Parallele zwischen seinem und ihrem Leben verweist? | S. 148, 152

Aller Kritik zum Trotz erweist sich Foucaults Auseinandersetzung mit der Kategorie des Sexus (die differenzierte Ausprägung eines Lebewesens bezüglich seiner Rolle bei der Fortpflanzung) als hilfreich, um zu Butlers Zeiten aktuelle, medizinische Fiktionen als solche zu entlarven.

Außerdem thematisiert Butler Wittigs Vorschlag einer »Desintegration« kulturell konstituierter Körper, deren Morphologie selbst eine »Folgeerscheinung des hegemonialen Begriffsschemas« sei. Mit Rückgriff auf Mary Douglas und einmal mehr Julia Kristeva schreibt Butler hier auch über die Begrenzung und Oberfläche von Körpern als politische Konstruktion.

Die Aufgabe von Das Unbehagen der Geschlechter

Zuletzt schlägt Judith Butler einige parodistische Praktiken vor, die auf einer performativen Theorie der Geschlechter-Akte (gender acts) beruhen. Akte, welche die Kategorien des Körpers und Geschlechts, der Geschlechtsidentität und Sexualität ins Wanken bringen. Ziel ist es, diese Kategorien zu resignifizieren (neu zu bezeichnen) und eine Vervielfältigung innerhalb des binären Rahmens herbeizuführen.

Die Aufgabe [von Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble] ist, sich auf solche definierenden Institutionen: den Phallogozentrismus und die Zwangsheterosexualität zu zentrieren – und sie zu dezentrieren. | Vorwort, S. 9

Wichtige Namen/Personen aus Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble:

Simone de Beauvoir · Jacques Derrida · Mary Douglas · Michel Foucault · Sigmund Freud · Luce Irigaray · Franz Kafka · Julia Kristeva · Jacques Lacan · Claude Lévi-Strauss · Friedrich Nietzsche · Joan Riviere · Jacqueline Rose · Jean-Paul Sartre · Joan Scott · Monique Wittig · uvm.

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ÜBERRASCHUNG! von Mies van Hout | Kinderbuch 2014 | Kritik, Review http://www.blogvombleiben.de/buch-ueberraschung-mies-van-hout-2014/ http://www.blogvombleiben.de/buch-ueberraschung-mies-van-hout-2014/#respond Sun, 10 Jun 2018 03:41:10 +0000 http://www.blogvombleiben.de/?p=3828 Ob Picasso auch mit Wachsmalstiften groß rausgekommen wäre? Diese klebrigen, klobigen Malstifte aus Kindergartenzeiten, bei denen…

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Ob Picasso auch mit Wachsmalstiften groß rausgekommen wäre? Diese klebrigen, klobigen Malstifte aus Kindergartenzeiten, bei denen jeder Strich um mindestens einen Zentimeter daneben geht? Möglich wäre es, wie das kunterbunte Bilderbuch Überraschung! von Illustratorin Mies van Hout zeigt.

Farbenfroh ins Schwarze getroffen

Zum Inhalt: Großwerden ist aufregend, denn man weiß nie, was passiert. Mal hofft, mal ärgert und mal staunt man. Aber immer ist jemand da, mit dem man das teilen und an dem man wachsen kann. In dem Bilderbuch Überraschung! erzählt Mies van Hout von den Facetten des Lebens und Aufwachsens. Das tut sie mit nur 12 Worten verteilt auf 12 Seiten, mit eindrucksvollen Illustrationen im Stil ihrer vorangehenden Bestseller Heute bin ich und Freunde.

Bloggerin Sonia Kansy mit dem Kinderbuch Überraschung! von Mies van Hout

So beginnt die Geschichte mit einer Vogeldame, die sich Nachwuchs wünscht. Auf der nächsten Doppelseite geht die Geschichte über ins Hoffen und entfaltet sich in Auf und Abs, die jeder Vogel im Laufe seines Daseins erlebt. Was diese bunten Worte bedeuten, zeigt die Niederländerin in Form diverser Vögel. Jeder davon ist einzigartig in seinem Gefieder. Sie stellen die Emotionen kindgerecht und fantasievoll dar. Eine Bildergeschichte über die Entdeckung der farbenfrohen Gefühlswelt von Groß und Klein in der Mutter-Kind-Beziehung.

Hinweis: Ein weiteres Kinderbuch zum Thema Mutter-Kind-Beziehung ist etwa Die wichtigen Dinge (2011).

Zur Wirkung des Buches:

Mies van Hout besitzt solch einen Wiedererkennungswert, dass ihre Werke selbst für Laien ins Auge stechen. Mit Wachs und Pastell kreiert sie Figuren, die aussehen, als hätten sie ein Feuerwerk verschluckt: knisternd, zischend, wunderbar. Vor schwarzem Hintergrund stellt sie die ausdrucksstarken Vögel ins Rampenlicht und lässt nicht nur den Kindern, sondern auch den Erwachsenen genug Freiraum, sich eigene Gedanken zu den Begriffen und den dazugehörigen Bildern zu machen. Für aufmerksame Augen existieren hier und da wiederkehrende Elemente, so dass sich der ebenfalls erzählende Text und die Visualität harmonisch und humorvoll ergänzen und wie die Farben zu einer Einheit verschmelzen.

Obwohl die Illustratorin das Geschehen auf jeweils einer Seite mit wenigen Komponenten in den Fokus rückt, bietet ihr Werk durch die Perspektivenvielfalt der Figuren und den vielen intelligenten Details genug Stoff zum Fantasieren. Kinder und Eltern finden sich in den starken, alltagsnahen Gefühlen wie etwa dem Ärgern wider, so dass die Mutter-Kind-Geschichte für jedes Kind einen Bezug zur Lebenswelt aufweist.

Hier geht’s zur offiziellen Website des Verlags.

Fazit zu Überraschung!

Das Werk Überraschung! widmet Mies van Hout ihrer eigenen Mutter. Sie trifft mit dem Gefühlsthema und der farbenfrohen Aufmachung erneut ins Schwarze und den Kindergeschmack. Nicht nur, dass ihre markanten Bilder ebenfalls einen durchweg kindlichen, verspielten Anstrich haben, auch das Aufzeigen des Lebens im Familiengefüge, bieten Groß und Klein zahlreiche Identifikationsmomente und einen großen Spaß beim Entdecken und Weiterspinnen. Ein Meisterwerk, um mit Kindern das Gefühlsleben zu erforschen.


Titel Überraschung
Erscheinungsjahr 2014
Autor/Illustrator Mies van Hout (Autorin, Illustratorin)
Verlag aracari Verlag
Seiten 32 Seiten
Altersempfehlung Ab 3 Jahren

 

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