Der Beitrag KLEINER DRECKSPATZ AURELIA über Hygiene | Kinderbuch 2017 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Zum Inhalt: Die kleine Aurelia findet Baden und Duschen doof. Viel lieber spielt sie draußen im Schlamm und Dreck, so wie das Abenteurer machen. Doch bei so viel Schmutz am Leib muss sich selbst Aurelias Papa die Nase zu halten. Seine Kleine muss sich mal waschen. Denn sogar Dreckspatzen machen sich sauber. Was erzählt Papa da? Aurelia wird neugierig. Wie wäscht sich denn ein Spatz, eine Katze, ein Bär oder ein Eichelhäher? Ihr Papa kennt sie alle, die speziellen Putzrituale der Tiere. Das muss sie dringend alles selbst ausprobieren… allerdings, bei all der Putzwut im Dreck flüchtet selbst Aurelia zu einem besonderen Ort.
Dorothea Flechsig – Kinderbuchautorin, Geschichtenschreiberin für KiKAninchen und Prinzessin Lillifee und auch noch Verlegerin des Glückschuh Verlags (ich bin beeindruckt!) – gelingt mit Kleiner Dreckspatz Aurelia ein rund um kindgerechtes Lesevergnügen. Das liegt zum einen sicher am Alltagsthema. Mit dem Schwerpunkt Hygiene nähert sich die Autorin der Lebenswelt der Kleinen und der Erziehungsberechtigten an.
Vor allem bei den Jüngsten löst das regelmäßige Putzen eher wenig Euphorie aus. Umso höher ist das Identifikationspotenzial für die kleinen Leser mit der quirligen Hauptfigur Aurelia. Denn dass sich das Mädchen viel lieber in der Natur suhlt, als mit dem Schwamm geschrubbt zu werden, können kleine Dreckspatzen gut nachvollziehen. Diese Vertrautheit zum Geschehen und zur Kinderfigur ist für die jungen Leser von besonderer Bedeutung. Zumal Kinder bis zum 7. Lebensjahr noch nicht in der Lage sind, andere Perspektiven einzunehmen und hier dementsprechend Unterstützung brauchen (sagt Piaget). Diese Unterstützung liefert Dorothea Flechsig, indem sie die Kleinen in Kleiner Dreckspatz Aurelia mit nur reduziertem Text konfrontiert und kindgemäße Bilder von Suse Bauer einsetzt, die für sich alleine stehen und auch leseschwache Kinder abholen.
Ein weiterer Kniff von Dorothea Flechsig für ein kindgemäßes Storytelling ist das Wieder-Aufgreifen von Elementen, wie der Tierreihenfolge. So tauchen die Tiere, von denen Aurelias Papa in Kleiner Dreckspatz Aurelia erzählt, in der gleichen Reihenfolge bei Aurelias animalischer Waschaktion auf. Der rote Faden hilft den Kindern, das Mini-Universum von Aurelia abzustecken und zu einem harmonischen Abschluss zu kommen.
Huch, das Buch ist ja dreckig! So mein erster Gedanke, als ich das Hardcover zu Kleiner Dreckspatz Aurelia in den Händen halte. Dann ein näherer Blick. Ah! Wenn der Titel mit dem Coverbild inhaltlich verschmilzt, hat die Illustratorin etwas richtig gemacht. Ich bin jedenfalls auf die Schmutzflecken reingefallen. Und das obwohl Suse Bauer in diesem Werk eher minimalistisch als realistisch zeichnet.
Dieser grobe Zeichenstil entspricht dem empfohlenen Lesealter von 3 Jahren. So besinnen sich die Bilder im Grundschulstil auf das Wesentliche. Ohne mit zu vielen Details zu überfordern, sondern mit einigen zu überraschen, bleibt somit genug Raum für die eigene Fantasie. Welche putzeifrigen Tiere könnte Aurelia noch nachmachen? Hier lädt die Geschichte zur Anschlusskommunikation mit Eltern und Kindern ein.
Buchtipp: Wer auf den groben Zeichenstil steht, dem kann ich das Bilderbuch Überraschung (2014) von Mies van Hot empfehlen.
Das Buch Kleiner Dreckspatz Aurelia eignet sich hervorragend, um Kindern auf spielerische und deutliche Weise die Wichtigkeit von Hygiene zu vermitteln. Durch die ideale Kombination aus klarem Storytelling und kindlichen Illustrationen bietet das Werk Anlass, gemeinsam mit Kindern Aurelias Welt zu erkunden und sich eigene Gedanken über das Putzverhalten zu machen. Ein unterhaltsames Lesevergnügen, das ohne den pädagogischen Zeigefinger auskommt. Ich vergebe 9 Sterne.
Eckdaten im Überblick
Titel | Kleiner Dreckspatz Aurelia – Wasch dich doch mal |
Erscheinungsjahr | 2017 |
Autor/Illustrator | Dorothea Flechsig (Autorin) Suse Bauer, (Illustratorin) |
Verlag | Glückschuh Verlag |
Seiten | 38 Seiten |
Altersempfehlung | Ab 3 Jahren |
Thema | Körper, Tiere |
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]]>Der Beitrag MOND – EINE REISE DURCH DIE NACHT | Kinderbuch 2018 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Länger wach bleiben, bis die Welt in Dunkelheit getaucht ist. Wo das Leben plötzlich geheimnisvoll wird. Das ist für jedes Kind aufregend. Werden die Spielzeuge wie in Toy Story lebendig? Kommt uns Peter Pan abholen? Oder das Monster? Was nachts passiert, gehört für Kinder genauso zur Faszination wie die Unterwasserwelt. Kein Wunder, dass der Kinderbuchmarkt unzählige Titel rund um die zwielichtige Tageszeit bereithält. Britta Teckentrup reiht sich mit ein und erzählt, wo der Mond die Erde in sein Licht tunkt und welche Wesen keine Schäfchen zählen möchten.
Zum Inhalt: »Hast du je darüber nachgedacht, warum der Mond scheint in der Nacht?«, fragt die Erzähler*innenstimme und zeigt in poetischer Sprache und zauberhaften Bildern, wo und welchen Tieren der Mond seinen Schimmer schenkt. Die Reise durch die Nacht beginnt im Wald, dem Trendmotiv von 2017 und der Kindheitserinnerung der Autorin, die sich heute als Stadtkind bezeichnet.
Ich bin schon inspiriert von der Natur, aber mich zieht es nicht aufs Land. Vielleicht ist es so eine Sehnsucht von früher, da habe ich gegenüber von einem Wald gelebt. Es hat viel mit meiner Kindheit zu tun. | Britta Teckentrup im Gespräch mit Ute Wegmann (Deutschlandfunk)
Im Wald schillern uns Rentiere, Eulen und neugierige Füchse entgegen, die unter dem Mond zwischen Bäumen umherstreifen. Wir begleiten den Mond weiter auf seiner Reise um den Planeten und begegnen Skorpionen in der Wüste, Papageientauchern auf Eisschollen und etlichen Erdbewohnern, die zur späten Stunde an einem fernen Ort zum Leben erwachen. Müde vom ganzen Schauen und Staunen wird das Kind mit Mond – Eine Reise durch die Nacht zum Schluss in den Schlaf geleitet.
Wie bereits in ihrem letzten Bilderbuch Zusammen unter einem Himmel (2017) betreibt Teckentrup auch in Mond – Eine Reise durch die Nacht kein klassisches Storytelling. Anstelle einer Hauptfigur gibt es ein Hauptsymbol, das gleichzeitig den roten Faden spinnt. Dieses Mal ist es nicht der Himmel, sondern der Mond, ein häufiger Gast in Teckentrups Bilderbüchern. Jedoch ist der Mond als hübsche Perforation eher passiv, da er das Geschehen unter ihm lediglich beobachtet und beleuchtet. Seine Reise vollzieht sich zwar auf chronologische Weise. Beginnend mit der Mondsichel, die immer mehr an Volumen gewinnt, zum Vollmond aufblüht, im Neumond abkühlt und schließlich seine Bahnen als abnehmender Mond dreht.
Was man in der Geschichte vermisst, ist eine konkrete Handlung, ein dramaturgischer Anker für die Kinder, der ihnen zeigt, wo das Ziel dieser Reise und der Geschichte liegt. Die Anfangsfrage an das Kind, warum der Mond in der Nacht scheint, bietet eine interaktive und vielversprechende Einleitung. Hier geht es um den Mond, warum und wie er scheint, oder? Nö. Zumindest erhalten die Leser keine Antwort auf das Warum, aber dafür auf das Wer. So schließt die Erzählung ab mit: »Jetzt weißt du, wer die ganze Welt nachts mit seinem Licht erhellt.«
Ohne eine fassbare Hauptfigur, mit der sich Kinder identifizieren können, und ohne den Bezug zum Lebensraum, könnte die emotionale Anteilnahme des Kindes an der Story zudem geringer ausfallen, als bei typischen Kinderbüchern. Was das Kind aber bei der Lesemotivation hält, ist das Spielerische, allen voran der perforierte, sich allmählich ändernde Mond.
Die wichtigste Zutat von Mond – Eine Reise durch die Nacht ist allerdings das Geheimnisvolle, ein bewährtes Motiv der Kinderliteratur. Dieses greift die Illustratorin auf und formt daraus einen Stoff, der zum Mitreimen und Träumen einlädt und die Kinder sanft auf die Nacht einstimmt. Mit starken Panoramabildern, entstanden durch die für Teckentrup typische Mischtechnik aus Collage und strukturiertem Papier, erschafft sie einen wahren Augenschmaus. Als Leser*in ist man aufgefordert, etwas aufmerksamer zu sein, da sich das Geschehen nicht in knalligen Farben wie bei Mies van Houts Überraschung!, sondern in dezenten, deckenden und nächtlichen Farben präsentiert. Das spiegelt sich auch im Text von Mond – Reise durch die Nacht nieder. Als Gutenachtgeschichte eine einwandfreie Empfehlung für kleine und zarte Kinder.
Mit Mond – Eine Reise durch die Nacht ist der renommierten Illustratorin Britta Teckentrup wieder einmal ein künstlerisches Bilderbuch gelungen, das sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ein visuelles Highlight auf dem deutschen Kinderbuchmarkt ist. Ihre Illustrationen verleihen dem gereimten Text eine magische Lebendigkeit und regen die kindliche Fantasie an. Was geschieht denn nachts in Höhlen oder in den Bergen? Ein Bilderbuch, das Raum für eigene Ideen lässt und sich zum gemeinsamen Lesen mit Eltern und Pädagogen eignet. Ich vergebe 8,5 Sterne.
Titel | Mond – eine Reise durch die Nacht |
Originaltitel | Moon – Night Time around the World |
Erscheinungsjahr | 2018 |
Autor/Illustrator | Britta Teckentrup (Autorin, Illustratorin) |
Verlag | arsEdition GmbH |
Seiten | 32 Seiten |
Altersempfehlung | Ab 4 Jahre |
Thema | Nacht |
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]]>Der Beitrag FEMALE TROUBLE mit Divine | Film 1974 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Ein irrer Film. Verbrochen hat ihn der berüchtigte John Waters, Ikone des Untergrund-Kinos. Diesen Ruf verdankt er seinem Durchbruch mit Pink Flamingos (1972), aber eben auch Female Trouble. Wer John Waters über die muntere Mainstream-Komödie Hairspray (1988) kennengelernt hat, mag es kaum glauben: Dieser Typ hat insbesondere in den 70er Jahren einige Meilensteine des schlechten Geschmacks gedreht, die bei vielen Menschen den Magen umdreht. Allein, dass diese Meilensteine die meisten Menschen ohnehin nicht erreichen – man muss schon gezielt nach diesen Filmen suchen. Im Internet ist das nicht schwer, dort tummeln sich John Waters‘ Werke dicht unter der Oberfläche. Denn wie bei allen extremen Auswüchsen des Kinos gibt es auch genug Menschen, die diese als Kultfilme feiern.
Inhalt: Female Trouble handelt von dem Teenager-Mädchen Dawn Davenport (Divine). In der Schule und daheim macht sie Probleme. Zu Weihnachten zerstreitet sie sich so sehr mit ihren Eltern, dass Dawn von zu Hause weg will. Ein Verbrechen, dass ihr daraufhin beim Trampen widerfährt, wird den Verlauf ihres Lebens bestimmen. Dawn gerät auf die schiefe Bahn und macht eine Karriere als Kriminelle.
Hinweis: Liebe Leser*innen, dieser Text enthält Spoiler. Es werden einige Einzelheiten zum Handlungsverlauf sowie das Ende besprochen. Wer zunächst den Film sehen möchte, findet diesen ganz unten verlinkt. Doch Achtung, Female Trouble ist eine trashige Tabu-Orgie und Perversionen-Parade, die Gewalt verherrlicht. Wird den wenigsten Menschen ehrlichen Herzens gefallen. Hoffe ich, irgendwie.
Female Trouble ist der zweite Teil einer losen Trilogie, die Regisseur John Waters selbst als »Trash Trilogy« bezeichnet. Dazu zählen des Weiteren Pink Flamingos (1972) und Desperate Living (1977). Ersterer ist Waters‘ berühmtester, explizitester und extremster Spielfilm, dessen finale Szene wohl nur von Hundeschiss-Fetischisten mit Genuss gesehen werden kann. Letzterer ist Waters‘ einziger Spielfilm ohne Ausnahme-Schauspieler und Drag-Queen Divine vor dessen Tod im Jahr 1988 und auch sein erster Film ohne David Lochary, der wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Desperate Living unter bis heute ungeklärten Umständen starb. Im Drogenrausch versehentlich verblutet, ist eine gängige Vermutung.
In Female Trouble stehen Divine und David Lochary noch in tragenden Rollen vor der Kamera. Divine spielt die Hauptfigur Dawn Davenport sowie (als Doppelrolle) den Mann, der dieses Mädchen am Straßenrand vergewaltigt. David Lochary spielt den Inhaber eines Schönheitssalons, der Dawn gemeinsam mit seiner Frau später zu übelsten Verbrechen anstiftet, um diese in Bildern festzuhalten.
»Crime is beauty«, so die Idee.
John Waters selbst nennt Female Trouble »ein fiktives Biopic über eine Frau, die einer Gehirnwäsche unterzogen wird und daran glaubt, dass Verbrechen gleich Schönheit sei.« Hinsichtlich der Widmung im Vorspann, an den Mörder Charles Watson, schreibt Waters später in einem Text über Leslie Van Houten, ebenfalls Mitglied der Manson-Familie und verurteilte Mörderin, die John Watson als »wirklich gute Freundin« bezeichnet:
Ich bin auch schuldig. Schuldig, die Manson-Morde auf eine spaßige Klugscheißer-Weise in meine früheren Filme eingebaut zu haben. Ohne die geringste Empathie für die Familien der Opfer oder die Leben der gehirngewaschenen Manson-Killer-Kids, die ebenso Opfer waren, in diesem traurigen und schrecklichen Fall.
Inspiriert von Mordtaten, aber frei von Empathie für die Opfer. Das ist Female Trouble. Genug, um den Film als verachtenswertes Projekt unreflektierter Gewalt-Enthusiasten abzutun. Mir selbst indes ist dieser Streifen in einem ganz anderen Zusammenhang begegnet.
Für mein Studium der Philosophie darf ich mich aktuell mit Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter / Gender Trouble (1990) beschäftigen. Bis dato kann ich nicht viel mehr dazu sagen, als dass es kompliziert geschrieben ist. 1998 bekam Butler einmal den Ersten Preis in einer Bad Writing Competition. Mal abgesehen davon, dass solch Negativpreise schlicht gemein sind und mehr über das Wesen der Verleiher*innen solcher Trophäen aussagen, als irgendetwas anderes, hat Butler mit einem Kommentar in The New York Times schlagfertig darauf reagiert:
Wenn das Alltagsdenken [die Umgangssprache] manchmal einen bestimmten gesellschaftlichen Status Quo konserviert, und dieser Status Quo manchmal ungerechte soziale Verhältnisse als natürlich behandelt, dann macht es Sinn, in solchen Fällen das Alltagsdenken [und damit die Umgangssprache] herauszufordern. Eine Sprache, die diese Herausforderung annimmt, kann helfen, den Weg zu einer sozial gerechteren Welt zu weisen.
Die ungerechten sozialen Verhältnisse, um die es Judith Butler geht, sind in Das Unbehagen der Geschlechter inbesondere die zwischen Frauen und Männern. Die Philosophin beschäftigt sich mit der Frage, ob es beim Frau-sein und Mann-sein nicht weniger um natürliche Unterschiede geht, als vielmehr um unterschiedliche Rollenbilder, die wir performen?
In diesem Zusammenhang kommt Butler im Vorwort zu Das Unbehagen der Geschlechter auf den Female Trouble zu sprechen, dessen Hauptdarsteller*in, jene berühmte Drag-Queen Divine auch als Heldin Hairspray (1988) auftritt. Divine wurde 1945 als Harris Glenn Milstead geboren, ein Junge, der schon früh Gefallen daran fand, in Frauenrollen zu schlüpfen – so auch in den Filmen seines Jugendfreundes John Waters.
Divines Darstellung von Frauen weist implizit darauf hin, daß die Geschlechtsidentität eine Art ständiger Nachahmung ist, die als das Reale gilt. Sein/Ihr Auftritt destabilisiert gerade die Unterscheidungen zwischen natürlich und künstlich, Tiefe und Oberfläche, Innen und Außen, durch die der Diskurs über die Geschlechtsidentitäten fast immer funktioniert.
Judith Butler wirft Fragen auf:
Ist die Travestie (also die Darstellung einer Bühne- oder Filmrolle durch Personen des anderen Geschlechts) eine Imitation der Geschlechtsidentität (also der inneren Gewissheit, einem bestimmten Geschlecht anzugehören)? Oder bringt sie die charakteristischen Gesten auf die Bühne, durch die die Geschlechtsidentität selbst gestiftet wird? Ist »weiblich sein« eine »natürliche Tatsache« oder eine kulturelle Performanz?
Antworten auf diese Fragen sucht man statt in Waters‘ Werk wohl lieber in Butlers Buch, dessen Originaltitel Gender Trouble, so legen es Judith Butler Ausführungen nahe, aber immerhin an den Film Female Trouble angelehnt ist.
Hey, spar dir deine Moral.
Schau, jede*r stirbt einmal.
Das, was ich gerne mag,
sind Mord und Totschlag.
Das ist eine Strophe aus dem Song Female Trouble. Gesungen von Divine, geschrieben von John Waters, begleitet dieses Lied den Vorspann des gleichnamigen Films und nimmt ein wenig seiner Haltung und Handlung vorweg.
Der Film beginnt mit einem Text-Insert: »Dawn Davenport *Youth* 1960«. In verspielter blaue Schrift auf violettem Hintergrund schließt sich diese Einblendung nahtlos an den schrillen Vorspann an. Immer wieder wird es solche Text-Inserts geben, die den Film in Kapitel unterteilen, nach den Lebensabschnitten der rastlosen Heldin.
Die erste Szene auf einem Schulkorridor führt Dawn Davenport als Schülerin ein, die ob ihres Haar- und Körpervolumen ins Auge sticht. Sie spricht mit einer Mitschülerin über das Weihnachtsgeschenk, das sie sich von ihren Eltern erhofft: irgendwelche hochhackigen Schuhe namens Cha Cha Heels. Dass sie diese später nicht bekommt, ist das Auslösende Ereignis der Films, das die Handlung ins Rollen bringt.
Hier ist dieser selige Moment bei der Bescherung, als Dawn Davenport nicht kriegt, was sie sich wünscht:
Wer diesen Auftakt für schräg hält: Es ist das normalste Weihnachten der Welt, im Vergleich zu den folgenden Abenteuern der streit- und geltungssüchtigen Heldin.
In einer Szene sagt Tante Ida (gespielt von Edith Massey, die später im Film minus einer abgehackten Hand im Vogelkäfig landet und dort als Haustier gehalten wird) zu ihrem Sohn Gater, von dem sie sich so sehr wünscht, dass er schwul wäre:
Ich mache mir Sorgen, dass du in einem Büro arbeiten und Kinder haben und Hochzeitsjahrestage feiern wirst. Die Welt der Heterosexuellen ist ein krankes und langweiliges Leben.
Krank ja, langweilig nein, so würde ich den weiteren Verlauf des Films in aller Kürze kommentieren. Völlig entkoppelt von etwaiger sexueller Orientierung, die vor der Kamera ausgelebt wird.
Aus der Sicht eines (im Vergleich zu John Waters, seiner Entourage und seinen Protagonisten) ziemlichen Otto-Normalos sage ich mal: Man muss diesen Film nicht gesehen haben, fällt nicht in den Kanon von Filmen für lockere Tischgespräche zwischen gelegentlichen Kinogänger*innen. Und man sollte bei diesem Film auch nicht unbedingt etwas essen (mein Fehler). Aber tut man sich Female Trouble trotzdem an, gewährt das Werk einen Blick in eine Parallelwelt, in der all unsere gesellschaftlichen Ideale auf den Kopf gestellt werden. Was ist schön, was ist richtig, falsch, anständig, abartig? Da diese gesellschaftlichen Ideale aber ohnehin nur der hauchdünne Vorhang auf einer Bühne voller verlogener Irrer ist, mag der schonungslose Schandtaten-Schaukasten Female Trouble gar sowas wie ein Kino der Katharsis sein. So weh es auch tut, dieser Film ist vermutlich näher dran am wirklichen Wesen der Menschen, als so bezaubernde Werke wie La La Land (2014) oder Tatsächlich… Liebe (2003).
Genug der Worte, hier gibt es den Film zu sehen: Female Trouble, 97 Minuten, viel Spaß!
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]]>Der Beitrag AUF WIEDERSEHEN, PAPA über Trennung | Kinderbuch 1995 | Kritik erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Die Puppen fallen lassen, in den Flur laufen, dem Vater um den Hals fallen, festkrallen. Dinge, die für meine Schulfreundin zum Ritual wurden, während ich das Spektakel aus dem Türrahmen beobachtete. Und das ganze Trara mit meinen 6 Jahren nicht so ganz verstand. Mein Vater war auch toll, klar. Aber gleich so auszurasten? Dass die Gefühlswelt von Trennungskindern eine andere ist, erzählt Brigitte Weninger einfühlsam in ihrem Buch Auf Wiedersehen, Papa.
Zum Inhalt: Sehnsuchtsvoll. Das ist mein erster Eindruck vom Bilderbuch Auf Wiedersehen, Papa mit Blick auf den Titel und das Cover im Hochformat. In einer einzigen Illustration mit reduzierten Elementen gelingt es Christian Maucler, den Kern der Geschichte aufzuzeigen: Ein Junge im Schlafanzug sitzt mit angewinkelten Knien auf dem Boden, hält seinen Teddybären fest und blickt in die Ferne, zum Schatten seines Vaters. Uns kehrt er dabei die Schulter zu. Hinter ihm – wie im Spiegelbild – sitzt ein kleiner Bär, der ebenfalls mit seinem Kuscheltier seinem Papabären hinterherschaut. Deutlicher könnte ein Titelbild kaum mitteilen, dass das Thema der Kindergeschichte »Abschiednehmen« ist und gleichzeitig auf die Emotionalität der Story einstimmen. Wer dieses Buch in die Hand nimmt, sieht: Das ist kein Friede-Freude-Eierkuchen-Buch. Hier geht es um ernste Kindergefühle.
Emotionen, die zwischen fröhlich, traurig, wütend und verletzt hin und her pendeln. Tom reagiert wie ein Kind reagiert, wenn es zwischen den Eltern hin und her gereicht wird. So hält seine Begeisterung für den Vater gerade an, bis dieser ihn wieder verlässt. Beim Abschied weicht Tom aus und verwehrt ihm einen Abschiedskuss. Den Schmerz, den Tom nachfolgend verspürt, lässt er verbal an seiner Mutter aus: »Lass mich in Ruhe!«, und verkriecht sich in seinem Bett.
Doch Tom ist nicht allein mit seiner Wut und Traurigkeit. Sein Teddybär erzählt ihm eine Geschichte, die Toms Familienleben auf fantasievolle Weise spiegelt. Eine Geschichte in der Geschichte, ein Déjà-vu mit gleichen Rollen und neuen Figuren. Denn Teddy hadert ebenfalls mit der Trennungssituation und vermisst Papabär schrecklich. Dass er immer wieder aufs Neue von seinem Vater verlassen wird, versteht Teddy nicht: »Aber ICH hatte doch keinen Streit mit Papa!« Alles sehr verwirrend für Teddy und Tom. Doch Mamabär findet die richtigen Worte, damit Teddy und Tom inneren Frieden mit ihren Vätern schließen können und sich beim Abschied auf ein Wiedersehen freuen können.
Mit der Trennungsproblematik greift Brigitte Weninger ein sensibles Thema auf, das die zielgruppenrelevanten Kinder vor eine Herausforderung stellt. Wie mit allen heiklen Stoffen, ist das Risiko der Autorin, das Feingefühl zu verfehlen, entsprechend groß. Zumal das Buch laut Klappentext für Sprösslinge ab 3 Jahren empfohlen wird. Doch mit ihrem Debüt, das bereits 1995 erschien, beweist die Kinderbuchautorin und Pädagogin das richtige Maß an Empathie für die Zielgruppe. Das Buch ist nah an der Lebenswelt von Trennungs- und Scheidungskindern angesiedelt.
Hinweis: Ein weiteres Kinderbuch zum Thema Trennung vom Vater ist Die wichtige Dinge (2015) von Peter Carnavas.
In einfacher, kindgerechter Sprache, mit wenig Text und gleichermaßen klaren und feingezeichneten Illustrationen von Christian Maucler konzentriert sich die Handlung auf das Wesentliche, auf die Gefühlslage von Tom und Teddy, die sich von ihren Vätern abgewiesen und vernachlässigt fühlen. Ein Zustand, den Trennungskinder nachempfinden und sich mit beiden Figuren identifizieren können. Durch den Fokus auf die konfliktträchtige Vater-Sohn-Beziehung, die zwischen Freud und Leid hin und her schwankt, rückt die ernste, traurige Stimmung der Story in den Vordergrund. Aus diesem Grund empfiehlt sich das Buch auch bei älteren Kindern zum gemeinsamen Vorlesen mit den Eltern, um anschließend darüber zu sprechen.
Die ganzseitigen, teilweile collagenartigen und seitenüberlappenden Bilder unterstützen die melancholische Atmosphäre des Inhalts ideal, indem die feinen Striche und gedeckten Farben das zarte Kindsgemüt reflektieren. Der innere Konflikt des Kindes wird auf behutsame Weise gelöst, indem die Autorin Mamabär – stellvertretend für Toms Mutter – erklären lässt, was sich so schwer erklären lässt. Am Ende bleibt die eindringliche Botschaft an das Kind zur Elternliebe: »Dieses Liebhaben hört nie auf.«
Um auf einige kritische Käuferstimmen (etwa bei Amazon) einzugehen: Keine Frage, der »Bösewicht« in dem Buch ist die Vaterfigur. Ob dies dem konservativen Rollenverhältnis geschuldet ist oder einfach der Geschichte, ist reine Spekulation. Emanzipierte Stimmen haben recht, die Mutterfigur hätte ebenfalls der Buhmann des Kindes sein können. In dieser Konsequenz müsste jede Geschichte auf das andere Gender übertragen werden. Für die Handlung und den Kern der Geschichte spielt es jedoch aus meiner Sicht keine Rolle, ob die Person mit dem Sorgerecht männlich oder weiblich ist. Für das Identifikationspotenzial des Kindes allerdings schon, so dass Kinder, die bei der Mutter wohnen, einen besseren Zugang zu dem Buch finden.
Was aber auch zählt, ist das Eingehen auf die innere Zerrissenheit des Kindes, welches sich von seinen Erziehungsberechtigten schmerzlich abgewiesen fühlt. Man kann die Trennung von Eltern verurteilen, wie einige Rezensenten, aber man kann ihr Vorkommen in unserer Gesellschaft nicht verleugnen. Für Kinder, die mit diesem Zustand umgehen müssen, ist es umso wichtiger, ihnen eine liebevolle Botschaft zu senden, die sie ein wenig tröstet.
Hinweis: Auf Wiedersehen, Papa wird auch in der Broschüre Kinderbücher zum Thema Trennung/Scheidung der Stadt Aachen vorgestellt (hier: Download als PDF).
In wenigen, aber umso bedeutungsvolleren Worten und Bildern haben Brigitte Weninger und der französische Illustrator Christian Maucler mit Auf Wiedersehen, Papa ein einfühlsames Bilderbuch zum Trennungsthema kreiert. Mit Aufgreifen der Kinderperspektive bringt die Geschichte den betroffenen Kindern Verständnis und Mitgefühl entgegen und hilft, diese konfuse Situation ein wenig besser zu verstehen und mit friedlicherem Herzen »Auf Wiedersehen« zu sagen. Ein empfehlenswertes Werk zum Vorlesen für Kinder in Trennungsverhältnissen, ab 3 Jahren mit Appel an Anschlusskommunikation. Ich vergebe 8 von 10 Sternen für Auf Wiedersehen, Papa.
Titel | Auf Wiedersehen, Papa |
Erscheinungsjahr | 2008 (erstmals 1995 erschienen) |
Autor/Illustrator | Brigitte Weninger (Autor), Christian Maucler (Illustrator) |
Verlag | minedition |
Seiten | 32 Seiten |
Altersempfehlung | Ab 3 Jahre |
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]]>Der Beitrag ÜBERRASCHUNG! von Mies van Hout | Kinderbuch 2014 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Zum Inhalt: Großwerden ist aufregend, denn man weiß nie, was passiert. Mal hofft, mal ärgert und mal staunt man. Aber immer ist jemand da, mit dem man das teilen und an dem man wachsen kann. In dem Bilderbuch Überraschung! erzählt Mies van Hout von den Facetten des Lebens und Aufwachsens. Das tut sie mit nur 12 Worten verteilt auf 12 Seiten, mit eindrucksvollen Illustrationen im Stil ihrer vorangehenden Bestseller Heute bin ich und Freunde.
So beginnt die Geschichte mit einer Vogeldame, die sich Nachwuchs wünscht. Auf der nächsten Doppelseite geht die Geschichte über ins Hoffen und entfaltet sich in Auf und Abs, die jeder Vogel im Laufe seines Daseins erlebt. Was diese bunten Worte bedeuten, zeigt die Niederländerin in Form diverser Vögel. Jeder davon ist einzigartig in seinem Gefieder. Sie stellen die Emotionen kindgerecht und fantasievoll dar. Eine Bildergeschichte über die Entdeckung der farbenfrohen Gefühlswelt von Groß und Klein in der Mutter-Kind-Beziehung.
Hinweis: Ein weiteres Kinderbuch zum Thema Mutter-Kind-Beziehung ist etwa Die wichtigen Dinge (2011).
Mies van Hout besitzt solch einen Wiedererkennungswert, dass ihre Werke selbst für Laien ins Auge stechen. Mit Wachs und Pastell kreiert sie Figuren, die aussehen, als hätten sie ein Feuerwerk verschluckt: knisternd, zischend, wunderbar. Vor schwarzem Hintergrund stellt sie die ausdrucksstarken Vögel ins Rampenlicht und lässt nicht nur den Kindern, sondern auch den Erwachsenen genug Freiraum, sich eigene Gedanken zu den Begriffen und den dazugehörigen Bildern zu machen. Für aufmerksame Augen existieren hier und da wiederkehrende Elemente, so dass sich der ebenfalls erzählende Text und die Visualität harmonisch und humorvoll ergänzen und wie die Farben zu einer Einheit verschmelzen.
Obwohl die Illustratorin das Geschehen auf jeweils einer Seite mit wenigen Komponenten in den Fokus rückt, bietet ihr Werk durch die Perspektivenvielfalt der Figuren und den vielen intelligenten Details genug Stoff zum Fantasieren. Kinder und Eltern finden sich in den starken, alltagsnahen Gefühlen wie etwa dem Ärgern wider, so dass die Mutter-Kind-Geschichte für jedes Kind einen Bezug zur Lebenswelt aufweist.
Hier geht’s zur offiziellen Website des Verlags.
Das Werk Überraschung! widmet Mies van Hout ihrer eigenen Mutter. Sie trifft mit dem Gefühlsthema und der farbenfrohen Aufmachung erneut ins Schwarze und den Kindergeschmack. Nicht nur, dass ihre markanten Bilder ebenfalls einen durchweg kindlichen, verspielten Anstrich haben, auch das Aufzeigen des Lebens im Familiengefüge, bieten Groß und Klein zahlreiche Identifikationsmomente und einen großen Spaß beim Entdecken und Weiterspinnen. Ein Meisterwerk, um mit Kindern das Gefühlsleben zu erforschen.
Titel | Überraschung |
Erscheinungsjahr | 2014 |
Autor/Illustrator | Mies van Hout (Autorin, Illustratorin) |
Verlag | aracari Verlag |
Seiten | 32 Seiten |
Altersempfehlung | Ab 3 Jahren |
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]]>Der Beitrag theAngelcy im zakk, Düsseldorf | Konzert 2018 | Bericht erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Am Dienstag, 5. Juni trat die israelische Band theAngelcy um 20.30 Uhr im zakk – Zentrum für Kultur und Kommunikation – in Düsseldorf auf. Erst fünf Tage vorher hat Sonia via Facebook Wind davon bekommen. Und das, obwohl die Band schon Mitte Mai ihre aktuelle kleine Deutschland-Tour via Post angekündigt hat. Mit einem Bild von fünf der sechs Musiker*innen beim Fotoshooting mit Selfie-Stick, dazu kurz und knackig die Ansage: »Wir herüberkommen!« Gebrochenes Deutsch, das könnte Frontsänger Rotem Bar Or selbst geschrieben haben. Vor über zehn Jahren reiste er als Straßenmusiker durch Europa, lebte monatelang obdachlos in Frankreich und Deutschland, übernachtete in Parks, nur er und seine Gitarre im Schlafsack.
Von Mai bis November war das. Im November wurde es zu kalt. Also fand ich eine Freundin in Hamburg und blieb erstmal bei ihr. | Rotem Bar Or im Gespräch mit Jule Seibel, David Zimmermann (Philipp, aus dem Englischen übersetzt)
Von der Freundin in Hamburg lernte Rotem – das erzählte er beim Konzert in Düsseldorf – deutsche Wörter wie »Penner« oder »Saftsack« (»sack of juice«, übersetzte er für seinen Drummer Udi Naor, »sack of jews!?«, »no!«). Später am Abend fragte Flötist, Klarinettist (und so viel mehr) Uri Marom das Publikum, ob man noch »vielen Dank« sage, oder das altmodisch sei? Oder »Dankeschön« vielleicht? Es werde schon keine »Danke-Polizei« geben, meinte Udi, seinerseits im gebrochenen Deutsch. Die Band hat schon viele Abende hierzulande verbracht. Gesehen habe ich sie zum ersten Mal vor zwei Jahren, im Druckluft in Oberhausen. Damals standen wir, das Publikum, in einem überschaubaren Halbkreis um die Bühne verteilt und erlebten ein wundervoll intimes Konzert, erst von dem belgischen Indie-Pop-Duo Douglas Firs als Vorband, dann von dem erstklassigen Ensemble, das sich theAngelcy nennt. Schon damals mit heiterem Smalltalk und ruppigen Humor zwischen den Liedern.
Hier mein Konzertbericht vom 5. März 2016: Sechs Engel in Oberhausen
Dieses Mal kam theAngelcy ohne Vorband auf die Bühne, und in etwas anderer Besetzung: Den Kontrabass spielte, statt wie bei meinen bisherigen theAngelcy-Konzerterlebnissen (neben Oberhausen sah ich die Band am 21. April 2017 im Treibsand, Lübeck) nicht die Musikerin Gal Maestro, sondern der Mann, der hier kurz dem Konzert rechts neben Drummer Udi in die Kamera lächelt. Nicht.
Übrigens: Udi Naor ist auch als Fotograf unterwegs, hier geht es zu seiner Foto-Website.
Zum Auftakt an diesem Abend im gut besuchten zakk spielte die Band den Song Rebel Angel, der vermutlich speziell als Auftakt-Song für Live-Auftritte geschrieben wurde. Rotem Bar Or singt in seiner unverkennbaren Stimme:
I work for the angelcy,
can’t you see how sweet I can be?
I’m a killer,
I kill with words […]
Der selbsternannte Killer ist tatsächlich ein eher pazifistisch anmutender Poet, der in Texten von bemerkenswerter Klarheit seiner Traurigkeit kundtut. Sei es über die Politik des Staates Israel, sei es über den Krieg oder die menschliche Dummheit im Allgemeinen. Neben Liedern ihres Albums Exit Inside (2016) – etwa meinem Lieblingssong Secret Room oder auch People of the Heavens, das mit an Klapperschlangen in Wüsten erinnert – gaben theAngelcy viele neue Stücke zum Besten. Das zweite Album ist in Arbeit, »im Januar kommen wir wieder«, versprach Rotem. In einem der neuen Lieder sang er (sinngemäß aus dem Gedächtnis zitiert):
We don’t need no holy land
We just need a home
Und dass, wenn Menschen ein Land wären, er selbst ein Fluss sein wolle. Zeilen und Bilder wie diese sind es, die dem instrumentalen Feuerwerk, das die sechs großartigen Musiker*innen auf der Bühne abliefern, das Krönchen aufsetzen. Neben Rotem, Udi, Uri und dem Mann am Kontrabass singen und spielen noch Maya Lee Roman als tanzlustige Streicherin und Mayaan Zimry mit. Letztere steht die meiste Zeit mit Udi hinterm Drumset. Wenn sie nach vorne kommt und an Rotems Seite tritt, dann für ein wundervolles Duett: Giant Heart. Die Band kommt als derart eingespieltes, kongeniales Team daher, dass man kaum glauben mag, dass sich diese Konstellation erst vor ein paar Jahren so gefunden hat.
2010, als Rotem Bar Or nach seinen vier Lehr- und Wanderjahren als Straßenmusiker in Europa (und Asien, laut Deutschlandfunk Kultur) in die Heimat Tel Aviv zurückkehrte, nahm sein Schaffensdrang eine Richtung an. Mithilfe von Freunden und seines damaligen Managers Yaron Gan machte er sich an die Zusammenstellung einer Band. Wer theAngelcy live erlebt, merkt ziemlich deutlich, dass die Ansprüche an die Mitglieder dieser Band-to-be nicht eben niedrig waren. Im Jahr 2011 gab es sie dann endlich, die Band theAngelcy (so übrigens auch die seitens der Künstler*innen gewünschte Schreibweise).
Der Begriff stand lange davor für einen Song-Zyklus, für ein lyrisches und musikalisches Universum des noch obdachlosen und unbekannten Rotem Bar On, ehe daraus der Name seiner Band werden würde. Zwei der sechs Musiker*innen verließen über die vergangenen sieben Jahre das Ensemble und wurden ersetzt, doch im Kern und Klang blieb theAngelcy sich bis heute treu, was auch immer das heißt. Die Musikvideos der Band zum Beispiel könnten stilistisch unterschiedlicher kaum sein. Besonders aus dem Rahmen fällt das Video zum neusten Lied I worry. Es sorgen sich: Ein Mädchen und ein Kampffisch. Oder ein Mädchen über den Kampffisch? Oder nur das Mädchen und der Kampffisch ist ein Symbol für… ach, schaut doch selbst.
Im Interview mit Noemi Schneider (Deutschlandfunk Kultur) gab Rotem Bar On einen für seine Musik bezeichnenden Kommentar ab:
Die Leute haben gesagt: Ich sei talentiert aber, ehrlich gesagt, wenn du jemandem einen Song vorspielst und der sagt dann: »Wow du hast Talent, dass muss im Radio laufen«, dann ist das genau die falsche Reaktion, die richtige Reaktion wäre, wenn die Person weint.
Bevor Sonia und ich gemeinsame Wege gingen, pflegten wir eine Brieffreundschaft und eine Spotify-Playlist. Darüber führten wir einen Gedankenaustausch, der sich mal im Prosa der Briefe, mal in den Lyrics der Lieder ausdrückte. Für Letzteres stöberten wir nach Songtexten und Stimmungen, um die Zeilen und Rhythmen der oder des Anderen aufzugreifen…
We don’t have to talk, let’s dance | aus: Edward Sharpe’s Better Days, hinzugefügt von mir, eines Tages
Give me touch, cause I’ve been missing it | aus: Daughter’s Touch, hinzugefügt von ihr, am darauffolgenden Tage
Und so weiter. Man muss es sich wie ein musikalisches Ballspiel vorstellen, hin und her und hinhören, welche Botschaft wohl im neuen Lied mitschwingt. Schrecklich romantischer-kitschiger Kram natürlich, aber so stolpert man eben über ein Kollektiv von Musiker*innen, die sich Agentur der Engel nennen. Sonia hat mir ihren Spotify-Fund über das Lied Secret Room näher gebracht, vor ein paar Jahren. Seitdem feiern wir diese Perle von einer Band – und freuen uns auf das nächste Album!
If you want my future, take my painful memories,
if you want my beauty, take my disease,
and if you want my passion, take my violence,
if you want to be with me, take my loneliness,
take it all. | aus: Secret Room
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Vor dem Schnittbericht erst noch einmal aus dem Drehbericht vom 9. Mai kurz zusammengefasst. Also: Umgesetzt haben wir unseren Kurzfilm AMUREUS KISS in einem frisch bezogenen Aachener Apartment. In dem sollte noch ne Wand schwarz gestrichen werden. Das bauten wir kurzerhand in die Filmhandlung ein. Damit übernahm der Cast das Streichen (obwohl nach Drehschluss noch ein klitzekleines bisschen nachgestrichen werden musste, wie der fertige Kurzfilm erahnen lässt). Vor der Kamera standen neben Jesse Albert (als Alex) und Stephanie Jost (als Zoey) die Kölner Schauspieler Florian Gierlichs (Noah), Swantje Riechers (Fiona) und Juliana Wagner (Mia). Idee war, das junge, Frust schiebende Ehepaar Alex und Zoey mit ein paar Freunden zu konfrontieren. Diese fegen wie ein Wirbelsturm um sie herum und bringen neuen Schwung in festgefahrene Fronten!
Noah (Florian Gierlichs) ist dabei mehr als nur ein alter Kumpel von Alex. Der hat sich ja schon im Kurzfilm TCHINA WURM (2015) als »schwul oder bi – auf jeden Fall verwirrt« geoutet. Tatsächlich kommt es aber nicht nur zwischen den beiden Jungs im Laufe des Abends (an dem mehr getrunken als gestrichen wird) zu amourösen Annäherungen. Sondern irgendwie zwischen allen. So ein bisschen.
Gedreht haben wir den lieben langen Tag, von morgens 9 Uhr bis spätabends. Mit anschließender Drehschluss-Party, bei der die halb vollendete Wand fertig gestrichen und alle Flaschen leer gemacht wurden. Man soll einen Drehort ja ordentlich verlassen…
Das erklärte Ziel lautete, an einem Tag einen Kurzfilm zu drehen. Bloß, dass ursprünglich ein Film von 9 Minuten Spieldauer geplant war. Weil die ersten beiden Teile dieser Quasi-Kurzfilm-Trilogie (Teil 1: TCHINA WURM, Teil 2 JAW CHILLI) eben je 9 Minuten dauerten und man ja noch seine Neurosen haben dürfen wird. Na, wie dem auch sei, Pustekuchen! Das Konzept »Improvisation« hat etwaige Planungen gesprengt und aus 9 Minuten wurden rund 20 Minuten, die aus diesen 24 Stunden inklusive Aftermath, Pennen und Aufräumen hervorgehen. Wobei nur zwei Bilder im Film – gegen Ende – erst am nächsten Morgen entstanden sind: Die durchs Fenster blinzelnde Sonne und die fertig gestrichene Wand…
Kaum daheim am Schnittplatz, wollte ich mich direkt ans Sichten des Materials machen. Das gestaltete sich aufgrund der Menge an Material als knifflig. Nicht nur, dass wir am Drehtag wirklich fleißig waren und etliches Improzeugs ausprobiert haben. Gedreht wurde außerdem in 4K, einer sehr hohen Bildauflösung. Einfach nur, weil die Kamera es kann. Dabei entstehen immense Datenmengen (allein für AMUREUS KISS kam über 1 Terabyte an Rohmaterial zusammen). Dafür hat man hochwertigeres Footage, aus dem in der Nachbearbeitung mehr herauszuholen ist. Und seien es nur schöne Standbilder wie diese hier:
Weitere Standbilder in Original-Auflösung gibt es hier zu sehen.
Sind das nicht ein paar wunderhübsche Menschen, die wir da vor der Kamera versammelt haben? Und charismatisch und witzig und hach, ein Haufen zum Verlieben. JEDENFALLS: 4K heißt vier Mal so groß wie HD heißt jede Menge Gigabyte heißt Speicherplatznot. Ich möchte in diesem Schnittbericht nicht zu sehr auf langweilige technische Details eingehen. Verkürzt gesagt dauerte es nach Drehschluss noch eine Woche, ehe ich meinen heimischen Arbeitsplatz soweit aufgerüstet hatte, dass ich das Material doppelt sichern und endlich sichten konnte. Ach, darum hätte man sich ja auch vor dem Dreh mal kümmern können, meinst du!?
Kommen wir zum eigentlichen Schnittbericht… nach dem technisch kniffligen Part kam die künstlerische Herausforderung: Wie schneidet man einen Improfilm? Zunächst ist es ja kein reiner Improvisationsfilm wie der Mumblecore-Klassiker Hannah Takes the Stairs mit Greta Gerwig (2007). Einige Szenen und Übergänge basierten auf einem geskripteten Dialog, der zumindest als dramaturgische Richtschnur dienen sollte. Wie sehr sich daran gehalten wurde, mag bei Interesse jede*r für sich selbst nachlesen, hier gibt’s das Drehbuch zu AMUREUS KISS als PDF. Nun glichen unsere Dreharbeiten auch nicht denen des deutschen Mumblecore-Films Papa Gold von Tom Lass (2011), bei dem angeblich kein Take wiederholt wurde. Bei der Vorstellung schaudert’s mir regelrecht. Ich gehöre zu den Filmemachern, die lieber ein paar Takes zu viel von einer Szene machen. Man mag argumentieren, damit verbraucht sich die Frische des Spiels oder Authentizität oder sonstwas. Spätestens am Schnittplatz bin ich froh, ein wenig Auswahl zu haben.
Kurzum: Ich hatte eine Handvoll Szenen vor mir, die wir allesamt mehrmals aus verschiedenen Einstellungen gedreht haben, zum Teil lose auf einem Drehbuch basierend, zum größeren Teil frei improvisiert, zuweilen von Take zu Take unterschiedlich. Mir persönlich hat diese variationsreiche und freie Arbeitsweise sehr gefallen. Die Szenen sind in sich weniger rund, da ihre Anfänge und Enden weniger streng durchkomponiert sind. Stattdessen fühlen sie sich alltäglicher und damit echter an. Alltäglich heißt jedoch auch banal, daher kam es am Ende auf Auswahl und Blickwinkel an.
Wie soll von diesem Abend unter Freunden erzählt werden, damit sich daraus eine Geschichte ergibt, die trotz offener Szenen eine runde Sache ist?
Denn »rund« ist wichtig, denke ich. Diesen Anspruch stelle ich an einen Storyteller, dem ich meine Aufmerksamkeit schenke. Nach der Geschichte soll sich das Gefühl einstellen, ein dramaturgisch durchdachtes Werk oder (in Serien gedacht) Kapitel gesehen zu haben. Das hat nichts damit zu tun, ob der Ausgang eines Handlungsstrangs offen bleibt oder alle Fragen beantwortet werden. Letztlich ist keine Geschichte jemals zu Ende erzählt. Aber eben deshalb könnte ich eben so gut einfach aus dem Fenster sehen, das Leben betrachten, den zig Geschichten um mich herum folgen, die sich ständig und gleichzeitig abspielen, daran die schönen Momente entdecken.
Warum einen Film sehen? Weil ein Film, sofern gelungen, eben »rund« ist. Heißt: das Leben und seine Geschichtenvielfalt verdichtet und einen Fokus gelegt auf die schönen oder bemerkenswerten Momente. Na, man kann viel darüber reden und hat am Ende doch nichts gesagt. Die lieben Leser*innen mögen selbst entscheiden, ob es im Fall von AMUREUS KISS geklappt hat, diesem eigenen Anspruch gerecht zu werden.
Der fertige Film ist nun auf YouTube zu sehen. Wenn er gefällt, würdest du mir einen großen Gefallen damit tun, meinen YouTube-Kanal weiterzuempfehlen und bestenfalls selbst zu abonnieren (ein kleiner Klick für dich, ein großer Schritt auf meinem Weg in den »Selbständig von Webcontent leben können«-Modus – und ein fettes DANKE vorweg!). Hier ist er, unser Kurzfilm AMUREUS KISS:
Kein Schnittbericht ohne ein Wort zur Audiospur! Als Fan der isländischen Band Sigur Rós bin ich vor rund 10 Jahren auf ein inoffizielles Musikvideo zu dem Song Inní mér syngur vitleysingur aufmerksam geworden. Es zeigt einfach nur zwei Frauen und einen Mann im Auto, wie sie auf das Lied abgehen. Sehr sympathisch, macht gute Laune. Es hat mich auf weitere Videos des Mannes aufmerksam gemacht, der darin die Kamera »führte« (wenn man das bei dem spontanen Beifahrer-Dreh so sagen kann). Sein Name ist Pavel Ruminov, ein russischer Regisseur, der neben solch rauen Musikvideos in Homevideo-Ästhetik auch wundervolle, preisgekrönte Spielfilme dreht.
Außerdem ist der Tausendsassa als Musikproduzent unterwegs. Er arbeitet unter anderem mit der russischen Band Sherlock Blonde zusammen. Deren großartig stimmungsvoller Sound floss bereits in die Kurzfilme TCHINA WURM und JAW CHILLI mit ein. Für AMUREUS KISS habe ich nun einmal mehr auf das kongeniale Duo Pavel Ruminov und Natalya Anisimova (die Frontsängerin von Sherlock Blonde und Schauspielerin in Pavel Ruminovs Filmen) zurückgegriffen und drei Songs verwendet, die sie unter dem Bandnamen To Live And Die In Moscow herausgebracht haben. Seit fünf Jahren stehe ich mit Pavel im Mailkontakt, bin begeistert von seinem Antrieb und Schaffen und sage DANKE!, dass wir diese tolle Musik verwenden dürfen.
Doch AMUREUS KISS lebt nicht nur von den drei russischen Songs, sondern auch einem besonderen Score. Die instrumentale Untermalung diverser Szenen stammt von dem Musiker Konstantin Reinfeld. Diesen lernte Hauptdarsteller und Moderator Jesse Albert beim SpokenWordClub in Köln kennen und brachte seine Musik ins Gespräch. Als Mundharmonikaspieler und Komponist hat Konstantin Reinfeld 2015 das Album Algiedi herausgebracht, aus dem ich schließlich eine herrlich abwechslungsreiche Auswahl an Songs für AMUREUS KISS verwenden durfte. Auch dafür vielen Dank! Hier geht es zur offiziellen Website von Konstantin Reinfeld.
Ist AMUREUS KISS nun ein Mumblecore-Film geworden, wie ursprünglich geplant? Ehrlich gesagt, fürchte ich, nicht ganz. Dafür tragen Inszenierung, Tempo und Musikeinsatz zu sehr die aufdringliche Handschrift, die sich schon in TCHINA WURM und JAW CHILLI abgezeichnet hat. Der Kurzfilm erfüllt einige Mumblecore-Elemente, ist jedoch nicht rein genug, um als echter Mumblecore zu gelten. Dazu hätte es mehr Mut bedurft, das Tempo weiter herausnehmen und die Zügel in Sachen Dramaturgie noch mehr aus der Hand zu geben. Schnittbericht Ende.
In jedem Fall aber war es ein spannendes Projekt! Danke an alle Beteiligten, es war mir eine Freude und Ehre, mit euch zusammenzuarbeiten! Oder mit den Worten Sherlocks:
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Da hat jemand eine Gelegenheit gesehen und sich ordentlich ins Zeug gelegt – und dieser Jemand heißt Andreas Kurowski. Im Laufe des Mittwochabends, nach dem zweiten Haake-Beck, wurde mir langsam klar, wo ich überhaupt bin und was es mit der Location auf sich hat. Es war ein langer Tag, muss ich zu meiner Verteidigung sagen.
Ich habe diesen Tag zur Hälfte am Schnittplatz in Aachen verbracht – und zur anderen Hälfte auf der Autobahn, A1 Richtung Bremen. Dort tankte ich meine Abneigung gegen lichthupende Audis und meinen vor Straßenstaub starren VW Polo auf. Und stillte meinen Durst nach Kaffee, der an der Tanke nur eimerweise ausgeschenkt wurde. Hat mich und meinen Polo auch nicht schneller gemacht, aber paranoider. Auf deutschen Autobahnen fühle ich mich zunehmend wie Mr. Duke im Fledermausland. Kann’s einfach nicht abwarten, bis künstliche Intelligenz endlich menschliche Audifahrer ablöst.
Keiner meiner Artgenossen kann mir glaubwürdig verklickern, er oder sie hätte bei 130 Sachen auf der Piste die Situation unter Kontrolle. Was ist das Gegenteil von »Schwarmintelligenz«? Das Wort würde ich gerne anwenden, auf Hunderte von Homo sapiens, die selbstsicher in Blechkisten dicht an dicht über Asphalt schießen, ohne miteinander kommunizieren zu können. Von einander blenden und anblöken mal abgesehen.
Wo war ich stehengeblieben? Nahe Münster, um den Regisseur Mark Lorei einzusammeln. Mit ihm ging es weiter zum Zielort, Bremen. Im Hansestädtchen an der Weser parkte ich meinen Wagen im Schnoor und betrat besagten Laden. Die gemütliche Baustelle.
Dabei handelte es sich um den Bremer Presse-Club. Ein Ort »für Journalisten, Publizisten, Blogger und alle, die sich der Medienwelt in Bremen und umzu verbunden fühlen«. Weder war ich je in Bremen, noch kenne ich die Redewendung »und umzu«. Aber seit Anfang des Jahres steht ja offiziell »Blogger« auf meiner Visitenkarte, also konnt‘ ich hier so falsch nicht sein. Außerdem kam ich auf Einladung. Nicht in meiner Funktion als Blogger, wohlgemerkt, sondern als Kurzfilm-Fuzzi. Wie, was, warum?
Der Bremer Presse-Club baut um. Als Zwischennutzer hat sich ein junger Typ namens Andreas Kurowski eingenistet, ein paar Möbel reingeschoben und ne Theke hochgezogen und veranstaltet auf der Baustelle jetzt Kulturveranstaltungen mit besonderem Charme. In der Ecke steht ein Klavier, das bald wieder zum Einsatz kommen soll. Auch ein DJ hat schon aufgelegt und zur Musikmassage geladen, anderntags fand ein Kurioses Kneipen-Kwiz statt. Lauter schöne Ideen! Und am Mittwochabend stand auf dem Programm: Kurzfilm_Nacht #1
Als Moderator begrüßte Julius Heeke das Publikum. Er kommt, wie Mark Lorei und ich, aus der Stadt Bocholt im Westmünsterland, wo wir in unserer Jugend fröhlich Filme gedreht haben, ohne einander je über den Weg zu laufen. 80.000 Einwohner sind einfach zu viele. Big City Life. Inzwischen sind wir raus aus Bocholt und der Jugend, aber haben uns immerhin irgendwann kennengelernt.
So kommt’s, dass Julius uns eingeladen hat, die Kurzfilm_Nacht #1 um ein paar Kurzfilme zu bereichern. Mit am Start waren außerdem ein paar Filmemacher aus Bremen, aber der Reihe nach.
Den ersten Film steuerte der Regisseur Leonardo Re bei. Gespräche mit Günter Gelb ist »eine Hommage an die alten 60er Jahre Talkshows und Günter Gaus«. So liest es sich im Statement des Regisseurs auf der offiziellen Website des Films, die so liebevoll eingerichtet ist, wie der Film umgesetzt wurde. Und dass, obwohl wenig Zeit zur Verfügung stand: Gespräche mit Günter Gelb ist im Rahmen einer 48-Stunden-Wettbewerbs entstanden. Die eigentlichen Dreharbeiten dauerten gar nur drei Stunden, in denen mit vier Kameras gedreht wurde. Für jeden der vier Gesprächpartner*innen in der munteren Runde.
Leonardo Re war in der Kurzfilm_Nacht #1 selbst zu Gast und brachte noch ein paar schöne Anekdoten vom Dreh mit. Fun fact: Es wurde richtiger Alkohol getrunken, in der inszenierten Talkshow, kein langweiliger »Fake Fusel«. Doch dass es vor der Kamera drunter und drüber ging lag weniger am Promillegehalt, als daran, dass in diesem improvisierten Spektakel bewusste Fehlinformationen gestreut wurde. So wurde der arme Moderator tatsächlich mit lauter »Fake News« auf seinen Moderationskärtchen verunsichert. Coole Idee und sehr cooler Film, hier zu sehen:
SAMi ist das Werk drei junger Filmschaffender, die Erstaunliches geleistet haben. Es geht um Helge Hoppe, der Regie und Schnitt gemacht hat, Fabian Nolte, der die Hauptrolle übernahm und mit Helge zusammen das Drehbuch schrieb, sowie Moritz Schierenbeck, der dem Film mit seiner Bildregie und Farbkorrektur einen markanten Look verlieh. Die Jungs sind Anfang 20 und damit Vertreter jener Bevölkerungskohorte, die als Generation Y oder Millennials bekannt ist. Vor allem für ihre innige Beziehung zum Internet und einer damit einhergehenden kurzen Aufmerksamkeitsspanne. Entgegen diesem Klischee haben die Filmemacher mit SAMi einen Kurzfilm abgeliefert, der sich viel Ziel lässt, seine Geschichte zu entfalten. In cineastischen Bildern, gemächlichem Tempo und getragen von dem starken Schauspiel Fabian Noltes (aka dailyknoedel) als melancholischer Kauz und Annika Buhrlichs als quirlige Schatzsuchende, erzählt SAMi vom Abschiednehmen. Abschiednehmen vom Leben an sich und dem, was man zurücklässt. Als Drehort diente dem Team dabei das Haus der verstorbenen Großmutter des Regisseurs, womit der Film eine besonders persönliche Note bekommt. Ich möchte an dieser Stelle nicht zu viel verraten. Hier kann man sich das Werk anschauen – mit Musik von Tom Rosenthal übrigens!
Die zweite Hälfte der Kurzfilm_Nacht #1 eröffnete ein Kurzfilm von Mark Lorei, den ich im Frühjahr noch bei dem Dreh seiner Webserie über Preußen und Westfalen begleitete. Mit Mark unterwegs sein, das heißt für mich Hummeln-im-Hintern-Rumzappler immer, ein paar Gänge zurückschalten zu müssen. Gelebte Entschleunigung und Schwelgen in verschiedenen Zeiten, das ist Mark Lorei. Als studierter Historiker interessieren ihn geschichtliche Stoffe. Als leidenschaftlicher Cineast setzt er sie gerne filmisch in Szene. Sieben Stecknadeln basiert gleich auf mehreren historischen Quellen wissenschaftlicher, literarischer und musikalischer Natur.
Der Film erzählt von der verzwickten Liebe eines jungen Arztes (gespielt von Wolf Danny Homann) und seiner adeligen Patientin (Leonie Rainer). Leider ist das klassisch und doch kunstvoll inszenierte Werk nicht online zu finden. Immerhin: auf der Website des Filmfestival Münsters, auf dem Sieben Stecknadeln 2017 gezeigt wurde, finden sich weitere Informationen zum Film.
Den Abschluss der Kurzfilm_Nacht #1 machte unser neuer Kurzfilm AMUREUS KISS, den ich am Anfang dieses Monats mit Jesse Albert und Stephanie Jost in den Hauptrollen gedreht habe. Mit von der Partie (vielmehr: Party, nur halt mit Fake Fusel) waren die Kölner Schauspieler Florian Gierlichs, Swantje Riechers und Juliana Wagner. Wie schon im Drehbericht geschrieben, experimentierte ich bei diesem Kurzfilm erstmals mehr mit Improvisation. Das Ergebnis: Dreharbeiten voller überraschender Momente und ein kniffliger Schnitt, bei dem es darum ging, diese Momente zu einem runden Ganzen zusammenzufügen.
Statt geplanter 9 Minuten ist der Film schlappe 20 Minuten lang geworden. Die Schnittphase endete so pünktlich es eben ging: Eine halbe Stunde vor Abfahrt nach Bremen war die finale Schnittfassung erfolgreich ausgespielt, um am selben Abend prompt vor Publikum aufgeführt zu werden. Wie unser Kurzfilm aufgenommen wurde und was den Schnitt so knifflig gemacht hat, darüber demnächst mehr, im Schnittbericht zu AMUREUS KISS. In Kürze geht auch der Film online!
An dieser Stelle nochmal Danke ans ganze Team, das die Dreharbeiten in Aachen mitgerockt hat. Ebenso ein dickes Dankeschön an Andreas Kurowski und Julius Heeke für die tolle Gelegenheit zu einer kleinen Premierenfeier auf der Kurzfilm_Nacht #1 im Bremer Presse-Club! Über weitere Veranstaltungen, die während der Umbauphase dort steigen, kann man sich auf deren Facebook-Seite informieren.
Der Beitrag AMUREUS KISS auf der Kurzfilm_Nacht #1 im Bremer Presse-Club erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
]]>Der Beitrag AUCH MONSTER MÜSSEN SCHLAFEN | Kinderbuch 2014 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Das Bilderbuch von Ed Vere fiel mir beim Herumstöbern in der Stadtbibliothek auf. Das süße, grüne Monster mit den großen Glubschaugen und dem kleinen Teddybären im Arm hatte mich für sich gewonnen. Ob sich meine Begeisterung auch nach dem Rezensieren noch halten würde, wollte ich prüfen.
Bei dem Bilderbuch Auch Monster müssen schlafen handelt es sich um eine Gute-Nacht-Geschichte der besonderen Art. Keine Feen, keine glitzernden Sternchen und Einhörner zieren die 32 Seiten. Stattdessen sind bunte, witzig und kindlich gezeichnete Monster mit kleinen spitzen Zähnchen zu sehen, die auf einer Wiese herumtollen. Die erste Assoziation, die mir durch den Kopf fegt: Die Monster AG aus dem Jahr 2001.
Wie in dem Film des Pixar Animation Studios und Disney zieht auch Ed Vere drei Jahre später das vermeintlich Gruselige ins Lustige und Niedliche, um die kindliche Angst vor Monstern zu entschärfen. Denn mit dieser universellen Furcht hat vermutlich jedes Kind im Laufe seines Lebens einmal zu tun. Somit widmet sich der Autor einem Thema, das der kindlichen und fantasievollen Lebenswelt entspringt. Mit seiner visuellen Interpretation sieht die gemeinhin bedrohliche Monsterwelt nach heiler Welt aus. Kein Grund zur Panik. Doch nicht zu voreilig.
Buchtipp: Lieber Zootiere als Monster? Hier geht’s zur Kritik des Kinderbuchs Hat das Nilpferd Streifen?
Der Erzähler, der sich ab der ersten Seite direkt ans Kind wendet und zum interaktiven Lesen respektive Zuhören motiviert, stellt diese heile Welt kurzerhand in Frage. Unverblümt fragt er das Kind, ob dieses Monster es vielleicht fressen will. Dabei blickt uns ein dusselig aussehendes Monsterkind entgegen, das eher zum Lachen als zum Gruseln verleitet. Wobei der Gruselfaktor von den Qualitäten des Vorlesers oder der Vorleserin abhängt. Von da an beginnt die Reise des Monsters auf dem Weg zum lesenden Kind, um es ganz vielleicht zu verschlingen. Eine spannende Prämisse mit einem leicht unheimlichen Rahmen. Ich hoffe auf eine schöne Pointe und kindgerechte Handlung.
Der britische Illustrator und Autor Ed Vere hat einen hohen Wiedererkennungswert, der bereits in Büchern wie The Getaway oder Mr. Big in England publiziert wurde. Sein neuestes Werk im deutschen Knesebeck Verlag Der mutige Max (Februar 2018) und die kommende Fortsetzung Schlaf gut, Max! (August 2018) tragen unverkennbar seine Typografie und künstlerische Note. So kommen seine Bilder im Werk Auch Monster müssen schlafen mit groben Strichen, einfachen Formen, kindgemäßen Schriftzügen und reduzierter Detailliertheit aus. Ideal für die begrenzte Informationsaufnahme von Kindern im Alter von 4-6.
Man könnte meinen, ein Schulkind hätte experimentierfreudig zu Wachsmalstiften und Farbe gegriffen. Dieser Kunstgriff ist charmant, weil es die Monster mit dem bösen Ruf in kleine unförmige und süße Wesen wandelt, fernab vom Gruseligen. Durch seinen visuellen wie textlichen Ausdruck (»Klingel Lingel Ling«) strahlt Ed Vere seinen Sinn für kindlichen Humor aus. So werden Hintergründe der Einfachheit halber einfarbig gehalten und die wenigen Details rigoros mit übertüncht. Die breit gefärbten Ebenen und die großen Figuren lassen dementsprechend wenig Raum zum Entdecken, überladen aber auch nicht mit Informationen. Was den Zeichenstil betrifft, ist es eine reine Geschmacksfrage, wobei mir dieses quick & dirty eher im Storyboard, nicht im finalen Werk gefällt. Ein bisschen mehr Mühe hinsichtlich der Ästhetik hätte sich Ed Vere meiner Meinung nach schon geben können.
Was den Inhalt der Story betrifft, muss die Medienpädagogin in mir einen differenzierten Blick einnehmen. Der Grundtenor der Geschichte ist verspielt und humorvoll. Ed Vere gelingt es, das Kind an die Hand zu nehmen und die Reise des Monsters zu eben diesem Kind zu begleiten. Mit lautmalerischen Wörtern, bei dem sich schauspielerisches Talent beim Vorlesen inbrünstig entfalten darf, und mit komischer Monstermimik deeskaliert der Illustrator das Gruselige. Ein Funke schwingt dennoch konstant mit. Da das grüne Wesen mit jeder Seite näher kommt und sich ausmalt, auf welche Weise es das Kind verspeisen könnte, wird die Spannung bis zum Schluss aufgebaut. Umso mehr, da das Kind mit dem Konjunktiv noch keine Bekanntschaft gemacht haben dürfte.
Das Buch endet mit zwei Twists. Der erste süß und komisch, der letzte zu dick aufgetragen: So stellt sich heraus, dass das Monster den weiten Weg auf sich genommen hat, weil es doch nur einen Guten-Nacht-Kuss möchte. An dieser heiteren Stelle hätte ich einen Punkt gesetzt. Stattdessen legt der Autor mit dem letzten Satz noch ein Augenzwinkern drauf: Man solle dem Monster etwas vom Abendessen übrig lassen, nur für den Fall… Ob dieser Scherz zur zarten Schlafenszeit auch den Humor der müden Kinder trifft, hängt wohl vom Fell des Kindes ab.
Ed Vere hat mit seinem Werk ein witziges und spannendes Monster-Gute-Nacht-Buch geschaffen, das sich durch Lautmalerei und Interaktivität perfekt zum Vorlesen eignet. Sein einfacher Comic-Stil verwandelt die Monster in harmlose Kreaturen, so dass der Gruseleffekt vor allem im Text selbst liegt. Aufgrund des offenen Endes und dem fehlenden kindlichen Verständnis für Ironie empfehle ich bei Zartbesaiteten den letzten Satz schlicht wegzulassen. Ich vergebe 7 von 10 Sternen.
Was sagen Andere? Hier findet ihr Auch Monster müssen schlafen bei der Community Was liest du?
Titel | Auch Monster müssen schlafen |
Erscheinungsjahr | 2014 |
Autor/Illustrator | Ed Vere |
Verlag | Fischer Sauerlände |
Seiten | 32 Seiten |
Altersempfehlung | 4-6 Jahre |
Thema | Monster, Gute-Nacht-Geschichte |
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]]>Der Beitrag AUSLÖSCHUNG mit Natalie Portman | Film 2018 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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Eine angenehme Abwechslung, einen Film über eine quasi-militärische Operation ohne Macho-Gehabe zu sehen. Stattdessen sind es fünf Frauen, die sich in die Area X vorwagen (nachdem alle Männer gescheitert sind, muss man wohl dazu sagen). Obwohl die Schauspielerinnen Natalie Portman, Jennifer Jason Leigh, Gina Rodriguez, Tessa Thompson und Tuva Novotny jede für sich eine tolle Performance abliefern, wurde Auslöschung für seine Besetzung kritisiert. Und außerdem sei der Film zu kompliziert. Was hat es mit dieser Kritik auf sich? Schauen wir mal.
Hinweis: Liebe Leser*innen, im Absatz »Erklärungen« wird auf einige Szenen respektive das Setting genauer eingegangen. Ansonsten gibt’s keine Spoiler. Der Film ist aktuell (Sommer 2018) exklusiv nur bei Netflix zu sehen.
Noch ist es eine Besonderheit, aber sie sollte Kinobesitzer*innen mulmig stimmen. Der visuell hervorragende, starbesetzte Science-Fiction-Film Auslöschung lief nur in Amerika, Kanada und China in den Lichtspielhäusern an, am 23. Februar 2018. In allen anderen Ländern übersprang die internationale Auswertung das Kino. Stattdessen hat das verantwortliche Studio, Paramount Pictures, die Rechte an den Streamingdienst Netflix verkauft. Dieser machte Auslöschung schon am 12. März 2018 online verfügbar. Somit war der Film in Deutschland nicht im Kino zu sehen, sondern direkt auf heimischen Endgeräten. Sei es auf dem Tablet, dem Fernseher, oder eben einem Beamer, der dem Kinoerlebnis beachtlich nahe kommt (abzüglich Negativerfahrungen wie klingelnden Handys oder quatschenden Sitznachbarn).
Man kann diese Entwicklung gut oder schlecht finden, das hält den Gang der Dinge nicht auf. Alles, was marktwirtschaftlich Sinn macht, bahnt sich in unserer Gesellschaft seinen Weg und wird auf Dauer angenommen. Auch die Filmindustrie ist ein Ökosystem – und wie Jurassic Park uns lehrte: Das Leben findet immer einen Weg.
Der Grund dafür, dass ausgerechnet dieser Film diesen Weg ging, ist ziemlich banal. Aber auf gewisse Weise ein herrlich ironischer Wink des Schicksals. Was ist passiert? Die Hintermänner der beteiligten Produktionsfirmen haben sich verkracht. Bei einem Testscreening im Sommer 2017 wurde der Film als zu intellektuell und kompliziert empfunden. Zwar konnte verhindert werden, dass der Regisseur sein Werk zu einer gefälligeren Fassung umschneiden musste. Der Kompromiss lief aber darauf hinaus, dass Paramount Pictures keinen kostspieligen Flop an internationalen Kinokassen riskierte.
So sehr der Regisseur Alex Garland diese Entscheidung bedauert – etwa im Interview mit Tommy Cook (Collider) – macht dies vonseiten des Studios nur Sinn. Paramount Pictures hat bereits zahlreiche Projekte von berüchtigt genialen (respektive vermeintlich erfolgsversprechenden) Filmemachern finanziert. Das Ergebnis: oft künstlerisch wertvoll, aber kommerziell katastrophal. Im Jahr 2017 waren etwa Darren Aronofskys mother! und Alexander Paynes Downsizing zwei vergleichbare Vorhaben, die an den Kinokassen eine Schlappe erfuhren. Statt Paramount für den Verkauf an Netflix also zu kritisieren, sollte man das Studio dafür achten, dass es visionären Regisseur*innen überhaupt noch die Möglichkeit gibt, ihre Ideen zu verwirklichen – auch wenn sie am Mainstream vorbei zielen.
Sucht man für das Aussterben der Kinos einen Schuldigen, muss man wohl auf die Kinogänger*innen selbst zeigen. Diejenigen, die dieser Tage lieber daheim bleiben. Nicht vergessen: Professionelle Streaming-Dienstleister waren die Folge von illegalen Streaming-Machenschaften. Die Leute bleiben nicht zu Hause, weil es Netflix gibt. Netflix gibt es, weil die Leute zu Hause bleiben.
Es zerstörte nichts, sondern veränderte alles. Es erschuf etwas Neues. | Lena (Natalie Portman) in Auslöschung
Was den ironischen Wink des Schicksals anbelangt: In Auslöschung geht es darum, wie Organismen – also bestehende Strukturen – zersetzt und neu formiert werden. Nichts Anderes passiert aktuell (mal wieder) in der Filmindustrie. Dass Auslöschung am Kino vorbei den Weg direkt ins Wohnzimmer findet, ist eine Auslöschung der etablierten Kinos und die Etablierung neuer Kinos daheim. Na, wenn das dem Film nicht eine besondere Würze verleiht.
Der Science-Fiction-Streifen Auslöschung basiert auf dem gleichnamigen Buch von Jeff VanderMeers, der sein literarisches Werk inzwischen zu einer Trilogie ausgebaut hat. Wie gern würde ich mich vor jeder filmischen Interpretation erst einmal mit der zugrunde liegenden Romanvorlage beschäftigen. Dafür ist ein Menschenleben leider zu kurz. Trotzdem stellte ich mir die Frage:
Sollte man im Fall von Auslöschung den Roman von Jeff VanderMeer kennen, ehe man den Film von Alex Garland sieht?
Antwort: nicht unbedingt. Zum Einen hat der Drehbuchautor und Regisseur Alex Garland selbst das Skript basierend auf seinen Erinnerungen an die Lektüre des Romans geschrieben und bewusst nicht streng gemäß der Vorlage. Zum Anderen ist der Film auch (vermutlich: eben deswegen) völlig anders als das Buch. Der YouTuber Brockrin vermutet eine Schnittmenge von 8 Prozent, die Buch und Film gemeinsam haben. Indiewire findet den Film sogar besser als das Buch und führt dazu etliche Gründe auf (englisch).
Kritisiert wurde das Casting von Natalie Portman und Jennifer Jason Leigh übrigens dafür, dass deren Charaktere in der literarischen Vorlage als asiatisch beziehungsweise halb-indianisch beschrieben werden. Allerdings erst im zweiten Buch der Trilogie, das Alex Garland beim Schreiben des Drehbuchs noch nicht vorlag. So sehr ich es persönlich also ätzend finde, wenn amerikanische Schauspieler in Rollen besetzt werden, die eigentlich für andere Ethnien bestimmt sind: Hier kann ich die Argumentation des Regisseurs noch verstehen.
Es beginnt mit einer Halbtotale von Natalie Portman. Sie sitzt in weißer Kluft auf einem Stuhl, vor kahler Wand. Neben ihr ein Beistelltisch, darauf ein Glas Wasser. Deprimierend karges Setting. Schnitt auf eine Nahe im Profil, von der Seite. Die Frau trägt kleine Narben im verstört dreinschauenden Gesicht, das Licht gibt ihrer Haut einen gelbgrünen Stich. Jetzt sehen wir, im Hintergrund, die Glaswand neben ihr, hinter der Menschen in blauen Anzügen stehen und sie betrachten wie ein Tier im Zoo. Wieder ein Schnitt in die Halbtotale, dieses Mal in die andere Richtung. Über die Schultern der Frau hinweg sehen wir drei Menschen in weißen Anzügen, die ihr gegenüberstehen. Der mittlere, bullige Mann fragt:
Was haben Sie gegessen? Sie hatten Vorräte für vier Wochen und waren fast vier Monate da drin.
Der Auftakt zu einem Verhör. Die Frau ohne Zeitgefühl und mit brüchiger Erinnerung wird nach ihren Begleitern gefragt. Eine sei tot, vom Verbleib der Restlichen wisse sie nichts. Soweit der bedrückende Auftakt. Die Anfangsszene erinnert an Filme über Epidemien, Contagion (2011) etwa. Portman scheint eine Infizierte oder Kontaminierte zu spielen. Von dieser Rahmenhandlung aus werden wir zurückgeworfen.
Zurück bis zum Urknall, so scheint es. Ein Feuerball schießt aus dem Weltall auf die Erde nieder. Er schlägt in einen Leuchtturm an einem entlegenen Strand ein, stumm. Dazu fast zärtliche, wenn auch monotone Musik. Abstrakte Bilder einer quellenden, dunklen Masse werden zwischen geschnitten, dann wieder der brennende Leuchtturm. Diese letzte Einstellung, kurz vor dem Titel, ist für heute CGI-Standards leider arg flach und künstlich geraten. Das verwundert mich, denn im großen Ganzen ist der Film visuell grandios geraten.
Die folgende, etwas holprige Exposition mit seltsam aufdringlichen Musikeinsatz spielt sich noch in der »normalen Welt« ab, die wir alsbald verlassen werden. Natalie Portman spielt (in der Rückblende) eine Professorin, ihr Fachgebiet ist die Biologie. Sie erzählt ihren Studenten, wie Zellen aus sich immerzu teilenden Zellen hervorgehen und das jede Zelle des Universums auf einen einzigen Organismus zurückzuführen sei. Atemberaubende Tatsache, wenn man drüber nachdenkt, was man selten tut, im Alltag unserer besagten »normalen Welt.
Doch in diese Welt ist ein Meteorit eingeschlagen, drei Jahre vor Beginn der Filmhandlung rund um Natalie Portmans Charakter. Sie wird Teil eines Teams, das das Areal rund um den eingeschlagenen Meteoriten erkunden soll. Dieses Areal breitet sich langsam aus – und niemand, der hineingeraten ist, kam wieder heraus. Umgeben ist das Areal (genannt: Area X) von einem mysteriösen Schimmer. Was sich dahinter abspielt, ist von solcher Schönheit und Spannung, dass es den für mein Empfinden schwachen Filmauftakt wettmacht.
Als »der Schimmer« wird im Film das gesamte Areal genannt, das sich seit dem Einschlag des Meteoriten von dem Leuchtturm auf einem Landzipfel Floridas her ausbreitet. Das Areal ist umgeben von etwas, das wie ein gewaltiger Ölfilm aussieht. Bloß, dass dieser Ölfilm nicht auf Pfützen am Boden schimmert, sondern wie auf einer gigantischen Seifenblase, die »Außengrenze« des Schimmers.
Innerhalb des Schimmers vollziehen sich seltsame Mutationen. Der Charakter von Tessa Thompson – sie spielt die Physikerin – erklärt den Schimmer als eine Art Prisma. Als Prisma kann man etwa kleine Glasgebilde bezeichnen, in denen sich einfallende Lichtstrahlen brechen und in ihre Farben entfalten – beliebt als Brieföffner, die Dinger. Doch in dem Prisma, das der Schimmer darstellt, werden nicht nur Licht- sondern auch Radiowellen gebrochen. Mehr noch, der Schimmer beeinflusst die DNA der Pflanzen und Tiere in ihm, was zu den Mutationen führt.
Einmal ist ein weißer Hirsch zu sehen, an dessen Geweih rosa Blüten wachsen. Hübscher Anblick eigentlich, stünde hinter ihm nicht sein Doppelgänger, also der gleiche Hirsch noch einmal, der jede Bewegung des Ersteren kopiert. Kleiner Unterschied: Der Doppelgänger sieht halb verrottet aus, wie ein Zombie-Hirsch.
Und ja, es wird noch abgefahrener. Das Internet überschlägt sich mit Bedeutungen, interessant sind etwa die Interpretationsansätze von New Rockstars auf YouTube.
Bei dem Schimmer scheint es sich um ein Konglomerat außerirdischer Organismen zu handeln. Unsere gängigen Vorstellungen davon, wie außerirdisches Leben in unsere Welt vordringen würde, entsprechen unserem eigenen Verhalten: eher kriegerisch. Im berühmten Krieg der Welten sogar: plump kriegerisch. Wie oft sind Menschen im Laufe der Geschichte nicht wie Außerirdische an einem Strand gelandet und haben von dort aus alles mit Waffengewalt platt gemacht, was nicht nach Ihresgleichen aussah? Dass wir dieses markant menschliche Verhalten allzu oft irgendwelchen fiktionalen Aliens andichten, hängt wohl mit mangelnder Vorstellungskraft zusammen.
Mangelnde Vorstellungskraft kann man dem Regisseur Alex Garland (28 Days Later) und seinem Team, sowie dem Autor des zugrunde liegenden Buchs, Jeff VanderMeer, nicht unterstellen. Im Gegenteil: Auslöschung ist absolut fantastisch geworden, voller starker Bilder, packender Momente und versteckter Bedeutungen. Wer seine Freude daran hat, mehr in einem Film zu sehen, als die bunte Oberfläche, ist hier genau richtig. Es gibt, wohlgemerkt, nicht nur zum Schwärmen schöne Naturkulissen, sondern auch abartig brutale Gewalt- und Ekel-Szenen mit monströsen Wesen, also… das nur so am Rande.
Mir persönlich war das Ende (wie schon im von Alex Garland geschriebenen Sunshine) etwas zu fantastisch. Doch wenn man rund 120 Minuten gut unterhalten worden ist, sollte man sich nicht daran stören, dass ein Filmende von den eigenen Wunschvorstellungen abweicht.
Der Beitrag AUSLÖSCHUNG mit Natalie Portman | Film 2018 | Kritik, Review erschien zuerst auf Blog vom Bleiben.
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