Längengrad · über den Uhrmacher John Harrison | Buch 1995 | Kritik

Das iPhone X steht in den Startlöchern. Die Erwartungen an das Gerät haben sich – von Release zu Release – auf höfliche, aber kontrollierte Euphorie eingependelt. Der Preis steigt, die Kauflust auch, doch in Sachen Funktionalität ist Otto Normalo kaum noch zu schocken. Automatische Gesichtserkennung? Ist ja wohl das Mindeste. Drahtloses Laden? Wurde auch Zeit. Apropos Zeit… reisen wir mal ins Leben des Uhrmachers John Harrison, Held des Buchs Längengrad von Dava Sobel.

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Anlässlich eines Smartphone-Upgrades, das mal wieder routiniert-revolutionär sein soll, lade ich zur Reise in ein Jahrhundert ein, da man noch Sterne statt Pixel beobachtete. Dabei lasse ich die Nostalgie-Keule stecken. Früher war alles besser? Meh. Frag mal die ertrunkenen Seeleute. Denen wäre ein Tool mit Kompass-App auf hoher See nur recht gewesen. Jetzt die 1-Millionen-Euro-Frage: Wer war der Steve Jobs des 18. Jahrhunderts?

Wenn ich in spielerischer Laune bin, mache ich mir aus den Längen- und Breitengraden ein Netz und fange damit im Atlantischen Ozean Wale. – Mark Twain (zitiert nach: Dava Sobel, Längengrad)

Schau heute auf einen Globus und Du bekommst jenes Netz zu sehen, von dem Twain da spricht. Der Null-Breitengrad, aka Äquator, wird von Naturgesetzen definiert. Er setzt den Maßstab für alle anderen, parallel laufenden Breitengrade. Lange Zeit waren nur diese Breitengrad bekannt. Ausschließlich nach ihnen konnte navigiert werden, daher tummelten sich noch alle Beteiligten auf den bekannteren Routen: Walfänger, Händler, Krieger, Piraten drängten sich auf engen Passagen im Meer – und die einen Schiffe fielen den anderen zum Opfer. Schlimmer als alle Feinde war jedoch das Herumirren. 1707 etwa rammte eine Flotte aus 21 Schiffe vor den Scilly-Inseln die Klippen, weil man Entfernungen falsch einschätzte. Über 1500 Seemänner verloren dabei ihr Leben.
Das Problem war der Längengrad. Während sich besagter Null-Breitengrad also von Naturgesetzen festgelegt wird, verschiebt sich der Null-Längengrad »wie der Sand der Zeit« – deshalb war die Bestimmung der Länge (und damit: der Position) insbesondere auf See ein riesiges Problem, »eines, das die klügsten Köpfe der Welt über viele Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte von ein Rätsel gestellt hat«, wie Dava Sobel es formuliert.

In Längengrad stellt die Autorin einige dieser klügsten Köpfe vor – und wie sie von Versuch zu Versuch der Lösung näher kamen. Im Fokus steht dabei ein Mann von geradezu irrem Eifer: John Harrison. Ein Tischler, der anfing, Uhren zu bauen. Einfach so. Er verachtete Shakespeare, verschlang die Principa von Newton und kreierte 1713 (im Alter von 20 Jahren) seine erste Pendeluhr. »Warum er das tat und wieso er ohne Uhrmacherlehre ein so hervorragendes Ergebnis erzielte, bleibt ein Rätsel.« Wie so vieles, was im Kopf dieses Mannes vorgegangen sein muss, der sein Leben daraufhin dem Bau immer kleiner, genialerer Uhren gewidmet hat, teilweise über ein Jahrzehnt an einem bestimmten Modell herumschraubte.

Das klingt nicht besonders spannend, so als Lesestoff – doch weil die Welt so witzig ist, kamen nach Jahrhunderten globaler Ahnungslosigkeit zum Längenproblem just zu Harrisons Zeiten zwei völlig unterschiedliche Lösungsansätze zum Längenproblem auf, verbunden mit einem hochdotierten Preisausschreiben! Und s-e-l-b-s-t-v-e-r-s-t-ä-n-d-l-i-c-h stellte das Schicksal dem etwas kauzigen Harrison einen Bilderbuch-Rivalen an die Seite: den Astronomen Nevil Maskelyne (ja, der heißt sogar wie ein ordentlich Erzfeind!). Wie sich dieses epische Battle zweier „Genies“ abspielte, das ist die Geschichte dieses kleinen, sympathischen Büchleins, das eine ums andere Mal staunen lässt. Nach der Lektüre, jedenfalls, betrachtet man seine normale olle Armbanduhr mit derselben Faszination, mit denen manche die Apple Watch bewundern.

Abschließend ein faszinierender Gedanke aus dem Buch:

Einige moderne Horologen behaupten sogar, dass Harrisons Erfindung die englische Vorherrschaft über die Ozeane erleichtert und letztlich zur Schaffung des britischen Empire geführt habe – denn nur dank des Chronometers habe England die Wellen beherrscht. – S. 163

Natürlich sind es immer viele kleine Schritte, die zu dieser oder jener großen Bewegung geführt haben – selten jedoch lässt sich so konkret auf einen Artgenossen zeigen und sagen: Ohne den wärs vielleicht nicht gewesen. Jetzt bitte nochmal auf die Armbanduhr schauen. Und sich vorstellen: Solch winzige, wandernde Zeiger hat es gebraucht, ehe Hundertschaften von Schiffen springen, Ländereien erobern, Völker unterwerfen konnten, die Grundsteinlegung der modernen Welt, in der wir heute leben.

PS: Dennoch möchte ich selbst von einem Mann wie John Harrison das Etikett »Genie« abkratzen. Vielmehr ist dieser emsige Eigenbrötler ein weiteres Beispiel dafür, wie stark die 10.000-Stunden-Regel ist.

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