Das Leben meiner Mutter · von Oskar Maria Graf | Buch 1940 | Kritik

Was eine Milieustudie ist, kann man wunderbar an diesem Buch zeigen: Das Leben meiner Mutter ist eine Art Autobiografie, allein, dass der Autor selbst erst so ungefähr in der Mitte des Buches zur Welt kommt – »was zuvor geschah«, das hat er recherchiert und rekonstruiert und damit dem eigentlichen Helden seiner Geschichte ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt.

Wie aus einer anderen Welt

»Wenn all meine Bücher vergehn – dies Buch bleibt«,

so wird Oskar Maria Graf auf der Rückseite zitiert. Ich möchte ihm beipflichten. 1940 erschienen, sind seit dem Roman ein Weltkrieg zu Ende gegangen, eine Reihe weiterer Kriege begonnen, Länder geteilt und vereint worden, es ist das Internet ins Leben der Menschen getreten und dieses Leben selbst hat sich um über ein Jahrzehnt verlängert, ja, es ist viel passiert…

»Wir kommen vom Elektrizitätswerk […] und wollten uns erkundigen, ob Sie Licht wollen?« […] »Was? … Das Elektrische?«, meinte die Mutter […], »Was soll denn das schon wieder sein?« – Dialogfetzen, S. 351

Jetzt sitze ich hier, am Ikea-Schreibtisch, am Mac, am Schreiben, und neben mir liegt es, das Buch, das bleibt. In siebter Auflage, letztes Jahr noch gedruckt. Über Amazon bestellt. Im Park gelesen, im Sommer. Und Obwohl zwischen heute und damit gerade mal ein Menschenleben liegt, kommen mir die Protagonisten vor, wie aus einer anderen Welt.

Dieses Buch spielt in einem Mikrokosmos, am Starnberger See in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Zeit, da die Leute noch nicht alle paar Monate mal eben den Breitengrad wechselten, last minute , Insel-Hopping, »London, Baby!«. Nichts da.
Stattdessen Petroleum, Pfennige, Postkutschen und unschlagbarer Pragmatismus, S. 61: »Warum hält sich die Pfarrerei so lang?« »Weil’s so uralt ist wie nichts auf der Welt, und weil’s nie gewechselt hat!« Alles klar! Die Menschen in diesem Buch gehen grob miteinander um, haben ein derbes Mundwerk an sich, klare Ansagen, harte Arbeit, fester Glauben, meistens.

Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Modernisierung, natürlich, erste Autos fahren durch die Gegend, Maschinen breiten sich aus. Erzählt aus der Sicht einfacher Bäckersleute, die am See ihr bescheidenes Dasein fristen, die Welt zuweilen nicht mehr verstehen, vieles im urigen Dialekt gesprochen, in der damaligen Denke wiedergegeben, wird der Leser voll hineinversetzt in dieses Milieu. Es macht Spaß und es macht nachdenklich – wie weit wir doch seither gekommen sind… unser Umgang miteinander und mit der Welt, unsere Haltung zum allgegenwärtigen Wandel, das Familienleben, man fragt, liegt in allem ein Fortschritt?

Fazit zu Das Leben meiner Mutter

Der Autor ordnet das Geschehen hin und wieder historisch ein. Zwischen lebhaften, dialogreichen Szenen und atmosphärischen Bildern wird geschichtlicher Kontext gegeben, unaufdringlich, passend. Interessant ist dann vor allem, wie die Zeitzeugen über die Jahrzehnte hinweg dieses oder jenes Thema besprechen, ob Politik oder Kirche oder Klatsch und Tratsch, solches Alltägliche wiederzugeben, darin liegt eine große Kunst, die Oskar Maria Graf mit diesem »Monument der Liebe« (wie Thomas Mann das Buch nannte) gelungen ist.

Aus der Reihe: »Bücher, die ich nie gelesen hätt‘, wenn ich nicht schreiben würd’« Im Rahmen eines eigenen Romanprojekts lese ich zwecks Recherche einige Bücher, die thematisch weder zusammenpassen, noch einen anderweitigen Bezug zu meiner Lebenswelt haben. Werke eben, die nie meinen Weg gekreuzt hätten, wenn ich nicht Orte und Zeiten beschreiben wollte, die außerhalb meiner Bubble liegen.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.